Vorschulalter. Die Bedeutung der Bewegung für die Gesamtentwicklung des Kindes

Unter besonderer Berücksichtigung der Montessori-Pädagogik


Mémoire de Maîtrise, 2003

116 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhalt

I. Einleitung

II. Allgemeinpädagogische Aspekte
A. Kindheit und Bewegung
1. Bewegte Kindheit
1.1 Kindheit
1.2 Eigenaktivität
1.3 Kinderwelt - Bewegungswelt
2. Veränderte Kindheit
2.1 Verändertes Bewegungshandeln
2.2 Veränderte Bewegungswelt
3. Zusammenfassung
B. Bedeutung von Bewegung für die kindliche Entwicklung
1. Gesunde und körperliche Entwicklung
2. Kognitive Entwicklung
3. Soziale Entwicklung
4. Emotionale Entwicklung
C. Motorische Entwicklung des Kindes im Vorschulalter von O bis 6 Jahren
1. Prinzipien der motorischen Entwicklung im Alter von 0-3 Jahren
2. Verlauf der motorischen Entwicklung
2.1 Motorische Entwicklung im Neugeborenenalter
2.2 Motorische Entwicklung im Säuglingsalter
2.3 Motorische Entwicklung im Kleinkindalter
2.4 Motorische Entwicklung im frühen Kindesalter
3. Zusammenfassung
D. Wesentliche Grundlagen für die Bewegungserziehung
1. Neuromotorische bzw. -psychologische Grundlagen
1.1 Sensorische Integration nach Ayres’ Ansatz
1.2 Ein Überblick über das Nervensystem
1.2.1 Das Zentralnervensystem
1.2.1.1 Das Rückenmark
1.2.1.2 Struktur und Funktion des Gehirns
1.2.2 Die Nervenzellen und ihre Verbindungen
1.2.2.1 Neuronen
1.2.2.2 Nervenbahnen und Kerne
1.2.2.3 Bahnung und Hemmung
1.3 Aufbau und Funktion des Nervensystems
2. Sensomotorische Grundlagen
2.1 Sinneserfahrung
2.2 Der Prozess der Wahrnehmung
2.2.1 Grundbegriffe der Wahrnehmung
2.2.2 Wahrnehmung und Bewegung
2.3 Aufbau und Funktion der Sinnessysteme
2.3.1 Der Sehsinn - das visuelle System
2.3.2 Der Hörsinn - das auditive System
2.3.3 Der Geruchssinn - das olfaktorische System
2.3.4 Der Geschmacksinn - das gustatorische System
2.3.5 Der Tastsinn - das taktile System
2.3.6 Der Bewegungs-, Kraft- und Stellungssinn - das kinästhetische System
2.3.7 Der Gleichgewichtssinn - das vestibuläre System
2.4 Förderung der Wahrnehmungsfähigkeit
3. Psychomotorische Grundlagen
3.1 Entstehungsgeschichte und Weiterentwicklung
3.2 Begriffsklärungen
3.3 Zielsetzung psychomotorischer Förderung
3.3.1 Die entwicklungspsychologische Begründung
3.3.1.1 Bewegung
3.3.1.2 Die kognitive Entwicklung
3.3.2 Die interaktionspsychologische Begründung
3.3.2.1 Assimilation und Akkommodation
3.3.2.2 Selbstkonzept
4. Zusammenfassung

III. Das Montessori-Konzept der Bewegungserziehung
A. Überblick über Montessoris anthropologische und entwicklungspsychologische Grundlagen
1. Eine eigenständige Anthropologie des Kindes
1.1 Entdeckung des Kindes
1.1.1 Lange Kindheit: Die schöpferische Periode
1.1.2 Doppelte Embryonalzeit
1.1.2.1 Der geistige Embryo
1.1.2.2 Das Kind - Mittel zur Anpassung
1.1.2.3 Nebule
1.1.3 Geistesform des Kindes
1.1.3.1 Der absorbierende Geist
1.1.3.2 Mneme
1.2 Das Kind als Baumeister des Menschen
2. Grundvorstellung der Bewegung und anthropologische Begriffe
2.1 Einheit von Leib und Geist
2.2 Inkarnation
2.3 Selbstverwirklichung
3. Entwicklungsstufen und sensible Phasen
3.1 Zur Theorie der sensiblen Phasen
3.2 Die Entwicklungsstufen des jungen Menschen und ihre pädagogische Bedeutung
3.2.1 Phase 0-6 Jahre
3.2.1.1 Phase 0-3 Jahre
3.2.1.2 Phase 3-6 Jahre
3.2.2 Phase 6-12 Jahre
3.2.3 Phase 12-18 Jahre
4. Polarisation der Aufmerksamkeit
4.1 Entdeckung des Phänomens als „Schlüssel der Pädagogik“
4.2 Zyklus der Aktivitäten
4.2.1 Die vorbereitende Stufe
4.2.2 Die Stufe der großen Arbeit
4.2.3 Die Stufe der Ruhe am Schluss des Aktivitätszyklus
4.3 Normalisierung
5. Zusammenfassung
B. Vorbereitete Umgebung als pädagogisches Rahmenkonzept
1. Theoretische Grundauffassung
2. Zur Struktur der „vorbereiteten Umgebung“
2.1 Die Vorbereitung der Umgebung
2.2 Die Vorbereitung des Materials
2.2.1 Merkmale des Montessori-Materials
2.2.2 Materialgruppen
2.3 Die Vorbereitung des Erziehers
C. Bewegungserziehung bei Maria Montessori
1. Der historische Zugang zum pädagogischen Denken der Bewegung Montessoris
1.1 Jean Marc Gaspard Itard (1775-1838)
1.2 Édouard Séguin (1812-1880)
2. Die Bewegung in ihrer Beziehung zu Instinkt und Vernunft
2.1 Der Mensch und die Tiere
2.2 Wille und Muskel
2.3 Bewegung der Hand
3. Die Bewegungserziehung in ihrer Bedeutung für die Gesamtentwicklung
3.1 Zentrum und Peripherie des Kindes
3.2 Entwicklung des Kindes durch die Peripherie
3.2.1 Entwicklung der neuropsychologischen Systeme
3.2.2 Die Entwicklung der Sinnessysteme
3.2.3 Entwicklung der Intelligenz
3.3 Der Aufbau der Persönlichkeit durch die Organisation der Bewegung
3.3.1 Nachahmendes Handeln und Aktivitätszyklus
3.3.2 Die Eroberung der Unabhängigkeit
3.3.3 Aufbau der Persönlichkeit
4. Zusammenfassung
D. Bewegungsübungen im Montessori-Kinderhaus
1. Übungen des täglichen Lebens
2. Übungen der Stille
3. Gehen auf der Linie
4. Gymnastische und rhythmische Übungen
5. Umgang mit dem Montessori-Material
E. Anregungen der Bewegungserziehung für die Praxis im Kindergarten
1. Freispiel
2. Turnstunde
2.1 Geräteturnen
2.2 Gleichgewichtskontrolle
2.3 Handgeschick
2.4 Rhythmik
3. Schwimmen

IV. Ergebnis und Ausblick

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

I. Einleitung

Die Wiederentdeckung des Bewegungsbegriffs für die Entwicklung des Kindes ist längst keine Neuigkeit mehr. Im gesundheitlichen Diskurs ist der Ruf nach ausreichendem Bewegungsausgleich inzwischen quer durch das gesundheitswissenschaftliche Lager laut geworden, besonders im Zusammenhang mit psycho-sozialen Problemen und Verhaltensauffälligkeiten von Kindern als Folgeerscheinungen eines Bewegungsdefizits. Aber auch in der erziehungswissenschaftlichen Debatte kann man seit längerem auf unterschiedlichen Ebenen ein wachsendes Interesse für die Bedeutung der Bewegung bei Kindern feststellen.[1]

Entscheidend für die Debatte ist dabei die Feststellung, dass das Kind mit den veränderten äußerlichen Lebensbedingungen in seinem Bedürfnis nach Eigentätigkeit immer mehr eingeschränkt wird. Daraus geht die Notwendigkeit einer Integration von Bewegung ins Alltagsleben bzw. in die Erziehungsumgebung hervor.

Der Montessori-Pädagogik ist, vor allem in dieser Problemstellung, der Versuch zu verdanken, eine systematische Beziehung zwischen dem Begriff der Bewegung und dem der körperlich-seelischen Entwicklung des Kindes herzustellen, indem besonders die Bedeutung der Bewegung bei Kindern im Vorschulalter betont wird. Das „Vorschulalter“ – verstanden als der gesamte Zeitraum der ersten sechs Lebensjahre des Kindes – ist, so Montessoris Ausgangspunkt, eine sensible Entwicklungsphase des Kindes, in der grundlegende Entwicklungsschritte in den einzelnen Bereichen der kindlichen Persönlichkeit stattfinden.

Mit Blick auf Montessoris Konzept der Persönlichkeitsentwicklung wird in dieser Untersuchung der Begriff der Bewegung zentral. Während in der allgemeinen Erziehungswissenschaft die Bewegung im Vorschulalter des Kindes ein Thema neben anderen ist, wird die Bewegung hier als im menschlichen Wesen wirkendes Grundprinzip verstanden, das über die Persönlichkeit des Kindes hinausreicht. Denn, sich auf das eigene anthropologische Verständnis des Kindes berufend, sieht Montessori das Kind als „Baumeister des Menschen“.

Der Arbeit liegt die Einsicht zugrunde, dass eine Theorie der Bewegung als Prinzip der Persönlichkeitsbildung sowohl Elemente des heute dominierenden naturwissenschaftlichen Denkens als auch der geisteswissenschaftlichen Anthropologie vereinen muss. Demgegenüber kann der Begriff der Bewegung aber m. E. grundsätzlich nicht isoliert von pädagogischen praktischen Dimension behandelt werden, die das Kind, so meint Montessori, zur Verwirklichung seiner inneren Möglichkeiten hinführen soll. Die allgemeine Hauptziele dieser Hinführung liegen in der Entfaltung der gesamten Persönlichkeit des Kindes, nämlich der produktiven Entfaltung des Fühlens und des Denkens und des Handels des Kindes selbst. So scheint die Entscheidung für die Bewegung als das Prinzip der Persönlichkeit für Montessori letztlich eine Erfahrungstatsache zu sein. Es sind nämlich ihre Beobachtungen, die Montessori zu den anthropologischen Entdeckungen des wahren kindlichen Wesens geführt haben und zu der damit zusammenhängenden entwicklungspsychologischen Analyse der Kindheit. Dies hat systematische Konsequenzen für die gesamte Vorgehensweise der Untersuchung: Die Methode einer kontextbezogenen Betrachtung muss so für die gesamte Aufbaustruktur der Arbeit bestimmend sein.

Zuerst wird versucht, die Bedeutung der Bewegung für die Gesamtentwicklung des Kindes im Vorschulalter aus allgemeinpädagogischer Sicht zu erörtern. Vorgestellt wird hier das pädagogische Bestreben, Bewegungsangebote gerade im Vorschulalter als sinnvollen Auslöser für Entwicklungs- und Lernprozesse zu verstehen, und die neuro-, senso- und psychomotorische Frühförderung in der Bewegungswelt des Kindes als Grundlage aller Entwicklungsprozesse des Kindes. Gezeigt wird, dass Bewegungserziehung demnach nicht in erster Linie auf eine Erweiterung sportmotorischer Fähigkeiten ausgerichtet sein sollte, sondern auf eine Förderung der Gesamtpersönlichkeit.

Zweitens unternimmt es die Untersuchung, Montessoris anthropologisches Bewegungs­verständnis zu erklären, das in der Bewegung eine lebensnotwendige Aufbauarbeit des Kindes sieht. Für Montessori ist jedes Kind mit dem Auftrag auf die Welt gekommen, sich selbst zu verwirklichen. Dafür bringt es die notwendige eigene Aktivität mit, die sich zuerst in seinem starken Bewegungsdrang offenbart, der als selbstständiger Trieb zur Selbstverwirklichung verstanden werden kann. Mit diesem Gedanken zur Selbst­verwirklichung gibt Montessori ihrer pädagogische Anthropologie den bestimmenden Ausgangspunkt.

Anschließend wird die bei Montessori angelegte interne Perspektive für die Erziehung der Bewegung und ihre Bedeutung für die Gesamtentwicklung der Kinder untersucht. Dabei sind Theorie und Praxis der Bewegung miteinander verwoben. Die Untersuchung dessen, was Montessori inhaltlich zum Begriff der Bewegung aussagt, führt zu Vorschlägen einer praktischen Umsetzung in vorbereiteten Lernumgebungen. Hier wird auf die Feststellung Wert gelegt, dass die Aufgabe der Erziehung allein in ihrer Funktion als Hilfe zu suchen ist. Montessoris Angebot an Material und Bewegungsübungen – im Kinderhaus Grundlage für die kindliche Gesamtentwicklung – werden in diesem Sinne als Hilfe zur Selbsthilfe[2] verstanden. Einzelne Bewegungsübungen werden außerdem analysiert und ihre Bedeutung wird diskutiert. Weitere Anregungen der Bewegungserziehung werden auch in allgemeinpädagogischer Hinsicht für die Praxis im Kindergarten ergänzt.

II. Allgemeinpädagogische Aspekte

A. Kindheit und Bewegung

Seit den siebziger Jahren ist das Thema ‚Kind und Bewegung‘ stärker in den Blick der Öffentlichkeit geraten.[3] Aber das natürliche Umfeld bietet leider immer weniger Bewegungsanreize, weshalb im Alltag vieler Kinder Bewegung eine untergeordnete Rolle spielt. In den achtziger Jahren bildete sich daher eine verstärkte öffentliche Diskussion zur ‚veränderten Kindheit‘ heraus. Eine weitere Einschränkung der kindlichen Bewegungsmöglichkeiten und –anreize hat in den letzten zwei Jahrzehnten stattgefunden.[4] Die wachsende Bewegungsarmut und die fortschreitende Technisierung sind zu einem ernstzunehmenden Problem geworden. Durch die Einengung des Bewegungsraumes in den modernen Großstädten und die phantasielose Errichtung von konstruierten Spielplätzen und -geräten wird die Gesundheit der Kinder immer stärker gefährdet.

Angesichts der weitreichenden Bedeutung von Bewegung sowie im Hinblick auf die Einschränkung des kindlichen Bewegungs- und Erfahrungsraumes und den damit offensichtlich einhergehenden Bewegungsmangel-Folgeerscheinungen wird verstärkt auf die Notwendigkeit einer Integration von Bewegung in den Lebensalltag von Kindern bzw. auf ausreichende Bewegungsmöglichkeiten hingewiesen.

1. Bewegte Kindheit

1.1 Kindheit

Kindheit ist eine bewegte Zeit; in keiner anderen Lebensstufe spielt Bewegung so eine große Rolle wie in der Kindheit. Vom ersten Lebenstag an entfalten sich die personellen Fähigkeiten und Kräfte in zahlreichen Situationen des Bewegungshandelns. Vor allem das Alter zwischen 2 und 6 Jahren kann als Zeit eines riesigen Betätigungs- und Bewegungsdrangs, unaufhörlicher Entdeckungen und ständigen Erprobens und Experimentierens bezeichnet werden.[5] Das Kind entdeckt sich und die Welt durch Bewegung, es eignet sich seine Umwelt über seinen Körper und seine Sinne an.

Die Bewegung ist somit ein wichtiger Bestandteil des Kinderalltags: „Laufen, hüpfen, herumtollen - Momente eines Kinderalltags, die Bewegungs- und Lebenslust spiegeln. [...] Das Einfache ist noch aufregend und beglückend. Es ist schön, schnell zu laufen, hoch zu springen, mit anderen im Kreis herumzuwirbeln; zu jauchzen und zu lachen, im Augenblick aufzugehen und zu genießen.“[6] Kinder spielen aus Freude an der Bewegung und am Bewegungsspiel; wichtig ist für sie das Erleben des Augenblicks, der momentane Spaß an der Sache selbst, nicht das gezielte Hinarbeiten auf Ziele in der Zukunft. Die Bewegung trägt dazu bei, das Kind zur Selbständigkeit zu erziehen und die Fähigkeit zu aktiver Lebensbewältigung zu entwickeln.

1.2 Eigenaktivität

Das Neugeborene ist primär reaktiv, doch diese Phase wird bald überlagert von aktivem Tun. Eigenaktivität entfaltet das Kind bei der Erkundung seiner Umwelt. Schon der Säugling sucht sich neugierig in seiner Welt umzuschauen. Alles wird berührt, in den Mund genommen, vom Krabbelkind angesteuert. Auch der eigene Körper wird erforscht, jede neue Bewegung immer wiederholt. Kinder sind von einer erstaunlichen Unermüdlichkeit im immer erneuten Repetieren.[7]

Der Aspekt der Eigenaktivität des Kindes ist ganz entscheidend für den Ansatz Langevelds, der schreibt: „Unter Kindheit muss nun ein Stadium des ganzen Menschen verstanden werden, des Menschen als eines sich selbst deutenden und in dem Rahmen auch sich selbst bestimmenden Wesens in seiner aktuellen Beziehung zur Welt.“[8] Das eigene Tun ermöglicht Kindern, ihre Umwelt zu verstehen, sich in ihr zurechtzufinden und auch die eigenen Möglichkeiten zu erkennen, auf diese Umwelt Einfluss zu nehmen. Eigenaktivität ist eine wesentliche Voraussetzung für die kindliche Entwicklung, die als Prozess ständigen Strebens nach Unabhängigkeit von den Erwachsenen angesehen werden kann.

1.3 Kinderwelt - Bewegungswelt

Um Eigenaktivität entfalten zu können, muss dem Kind eine Umgebung gewährt werden, in der es versuchen und realisieren kann, selbstbestimmt zu handeln. Die Entwicklung der Raumerfassung geschieht mit allen Sinnen und ist besonders an die Entwicklung der Bewegung gebunden. Die Aktivität des Kindes besteht darin, den fremden Raum zu verkleinern, indem es sich selbstverständlich darin bewegt und ihn damit zu einem vertrauten Raum macht. Um sich gesund und harmonisch entwickeln zu können, brauchen Kinder eine Bewegungswelt, in der alle Einrichtungen, die für Kinder gemacht sind, sich auf die zunehmenden Bewegungsbedürfnisse der Kinder einstellen. Im gesamten Tagesablauf sollte Kindern einerseits viel Freiraum für selbstgewählte, situative Bewegungsspiele gegeben, andererseits aber auch durch offene Bewegungsangebote und regelmäßige angeleitete Bewegungserziehung die Handlungsmöglichkeiten der Kinder erweitert werden.

2. Veränderte Kindheit

Zimmer beklagt, dass die heutige Kindheit als eigenständige Lebenswelt gefährdet ist, worunter sie den Ersatz selbständigen Handelns vor allem durch ständig steigenden Medienkonsum einerseits und durch die Einschränkung des Spielraumes (Spielplätze, Spielflächen, soziale Haltungen usw.) andererseits meint.[9] Auch für die Kinder ist die Technisierung und Automatisierung des Lebens an die Stelle der Bewegung getreten.[10] Das Kind wird somit in seinem Bedürfnis nach Eigentätigkeit immer mehr eingeschränkt.

2.1 Verändertes Bewegungshandeln

Der zentrale Aspekt der veränderten Kindheitsbedingungen ist der Rückgang an Gelegenheiten für aktives Tun des Kindes. Obwohl heutzutage Kinder so viele Sachen zum Spielen, so viele Einrichtungen für ihre Freizeit, ihre musischen und sportlichen Aktivitäten haben, sind sie „gleichzeitig so arm an Möglichkeiten, sich ihrer Umwelt über die Sinne, ihren Körper selbständig zu bemächtigen.“[11]

Immer weniger unterscheidet sich das Bewegungshandeln des Kindes von dem des Erwachsenen. Die Bewegungsspiele der Kinder sind die genormten Sportarten, die von Erwachsenen in derselben Weise betrieben werden.[12] Kinder benötigen dafür keine Phantasie und Erfindungsgabe, sondern begeben sich in eine fertige Spiel- und Bewegungswelt, aus deren reichhaltigem Angebot sie je nach Mode, Werbung, Kostenaufwand und Bewegungsvermögen ihre Auswahl treffen.[13] Die kindlichen Bewegungstätigkeiten finden deshalb weniger im hausnahen Bereich oder in der sozialen Nachbarschaft statt, sondern dort, wo die jeweiligen spezialisierten Anbieter sind. Deren Spezialisierung geht einher mit der Einseitigkeit der angebotenen Bewegungs­möglichkeiten.

2.2 Veränderte Bewegungswelt

Das Industriezeitalter ist durch Technisierung, Verkehrserschließung, Wohnungsenge und eine an natürlichen Bewegungsmöglichkeiten verarmte Umwelt gekennzeichnet. Darüber hinaus sind die oft phantasielos konstruierten und häufig auch noch schlecht gewarteten Spielplätze in den städtischen Wohngebieten ebenfalls nicht dazu geeignet, den Kindern attraktive Freispielalternativen und Kontaktmöglichkeiten zu bieten. Beengte Wohn-verhältnisse oder die Gestaltung komfortabler, aber bewegungsfeindlicher Umwelten gehen an den Bedürfnissen der Kinder vorbei.

In unserem Alltag haben Kinder daher sehr wenig Möglichkeiten, natürliche Angebote aus der Umwelt aufzunehmen. An die Stelle freier Straßenspiele ist ein Überangebot an Spielwaren getreten, die in der Regel vorfabriziert sind und nur eine eindimensionale Handhabung zulassen. Das führt dazu, dass Kinder heute das Drinnenspielen dem Draußenspielen vorziehen, kaum mehr Eigentätigkeit entwickeln und mehr alleine als mit anderen spielen.

Die Bewegungswelt der Kinder hat sich von Strassen, Plätzen, Flüssen, Wäldern zu den Turnhallen, Sportplätzen, Hallenbädern verlagert.[14] Diese Verinselung nimmt Kindern sinnliche Bewegungserfahrungen. Die Erfahrung besteht aus Inseln, die nicht mehr durch unmittelbare, konkrete Bewegungserfahrungen angeeignet werden, sondern bei denen jeweils auf der jeweiligen Insel intensiv mit dem einzelnen Kind erlebt wird, während die dazwischen liegenden Räume kognitiv nicht repräsentiert sind. Zwischen diesen Inseln besteht kein Zusammenhang, Kinder erleben ihren Alltag nicht als selbstbestimmbaren Freiraum und als zusammenhängende Zeiteinheit, sondern als zerstückeltes Termingeschäft, das sich in z.T. völlig verschiedenen Welten abspielt.

Zwischen dem Bewegungsraum und dem Bewegungshandeln gibt es starke Wechselwirkungen, die Räume strukturieren die Bewegungen und je eintöniger, enger oder normierter ihre Spiel- und Bewegungsräume sind, desto mehr verlagern sich ihre Erfahrungsmöglichkeiten auf phantasieärmere sekundäre Erfahrungen.

3. Zusammenfassung

Bewegte Kindheit als eine Herausforderung zu begreifen, heißt vor allem, dass der kindliche Bewegungsdrang als eines der vitalsten Grundbedürfnisse zu seinem Recht kommen muss und Erwachsene Kinder als neugierige, aktive, selbsttätige Menschen begreifen müssen. Die Erfüllung seiner Bewegungsbedürfnisse ist für die Persönlichkeitsentfaltung des Kindes unersetzlicher Bestandteil und muss anerkannt und gesichert werden. Viel mehr als beim Erwachsenen muss beim Kind das Bewegungshandeln lebendig und erlebnisreich sein, um mit allen Begleiterscheinungen des Empfindens und Fühlens konfrontiert zu werden. Dafür muss den Kindern eine kindgemäße Bewegungswelt geschaffen werden.

B. Bedeutung von Bewegung für die kindliche Entwicklung

Das Kind ist in der Bewegung eine Einheit, in der verschiedene Entwicklungsbereiche zusammenwirken. Die Bedeutung der Bewegung für das Kind als ein Element, das die gesamte Entwicklung fördert, wird in diesem Abschnitt an einzelnen Entwicklungs­faktoren im Detail diskutiert. Das Kind entwickelt sich als ganze Person durch die handelnde Auseinandersetzung mit seiner Umwelt und damit entwickelt es sich sowohl im körperlichen als auch im kognitiven, sozialen und emotionalen Bereich.

1. Gesunde und körperliche Entwicklung

Vielseitige und regelmäßige körperliche Bewegung stellt eine notwendige Bedingung für eine gesunde körperliche Entwicklung dar. Es ist davon auszugehen, dass das Kind sich nicht nur bewegen will, sondern sich auch bewegen muss. Neben ungelenken, freien spielerischen Möglichkeiten sollten allerdings auch gezielte Maßnahmen eingerichtet werden, um jedes Kind richtig zu vielfältiger, intensiver Bewegung anzuregen. Vielfältigkeit[15] und Intensität[16] sind nämlich die entscheidenden Kriterien für eine Bewegungsförderung zur Gesundheitsförderung.

Es ist medizinisch nachgewiesen, dass körperliche Bewegung auf das vegetative Nervensystem, Herz, Kreislauf, Atmung und Muskulatur eine positive Wirkung ausübt. Dies gilt für jeden Altersbereich, ganz besonders aber für das Vorschulalter von 0 bis 6 Jahren, in denen der Organismus sich im Aufbau befindet.[17] Der Organismus des kindlichen Körpers benötigt zur Ausbildung leistungsfähiger Organe genügend Bewegungsreize, wobei aktive Bewegung hier der entscheidende Entwicklungsreiz ist. Je nach Dauer, Umfang, Häufigkeit und Intensität der Belastung kommt es zu unterschiedlichen Anpassungserscheinungen bei den verschiedenen Organsystemen des kindlichen Körpers. Die Struktur und Leistungsfähigkeit eines Organs sind nicht nur abhängig von seinem Erbgut, sondern vor allem auch von der Qualität und Quantität, mit der es trainiert wird. Zur Sicherstellung der Funktions- und Leistungsfähigkeit bedarf der menschliche Organismus einer regelmäßigen Beanspruchung.[18]

2. Kognitive Entwicklung

Der Erwerb der Bewegungskoordination ist nach Piaget eine positive Voraussetzung für die Schulung der Intelligenz des Kindes. Auf ihm basiert die Entwicklung aller kognitiven Funktionen, die sich allein in der handelnden Auseinandersetzung des Kindes mit den Objekten seiner Umwelt herausbilden können.[19]

Die Ergebnisse einer empirischen Studie von Zimmer (1981)[20] an 300 Kindern im Alter von 4 bis 6 Jahren bestätigen einen engen Zusammenhang zwischen der Bewegungs­entwicklung eines Kindes und seiner Intelligenz sowie dem Grad seiner Selbständigkeit. Zudem konnte nach einem gezielten, regelmäßigen Bewegungsangebot über einen Zeitraum von einem Jahr hinweg nicht nur eine Zunahme der motorischen Leistungen festgestellt werden, sondern die Kinder der Experimentalgruppen zeigten nach Beendigung des Versuchsjahres auch einen erheblich höheren Intelligenzquotienten als Kinder mit geringeren motorischen Fähigkeiten, die keine zusätzlichen Bewegungsangebote erhielten.

Eine andere Untersuchung von Diem (1976)[21] erbrachte den Nachweis, dass sich die Konzentrationsfähigkeit durch gezielte Stimulation der Bewegung im Vorschulalter von 0-6 Jahren verbessern lässt. Auch diese Untersuchung zeigt, dass frühe Bewegungsangebote zur Verbesserung der geistigen Leistungen führen können. Denn Bewegung dient dem Kind vor allem in den ersten sechs Lebensjahren als Mittel der Erkenntnisgewinnung und trägt somit maßgeblich zum Aufbau der kindlichen Wahrnehmungs- und Begriffswelt bei.

3. Soziale Entwicklung

Im Kindesalter vollzieht sich der Kontakt zu anderen Personen im wesentlichen über Bewegungshandlungen, so dass sie notwendige Bedingung für die soziale Entwicklung des Kindes sind. Es lernt, sich mit den Verhaltensweisen anderer Personen auseinanderzusetzen und entwickelt Anpassungsfähigkeit an das Können und die Ansprüche der Gruppe.

Soziale Lernprozesse werden entscheidend beeinflusst durch die Erfahrung, die Kinder im alltäglichen Umgang und im Zusammenleben mit anderen machen. Insbesondere im gemeinsamen Bewegungsspielen lernen Kinder auf vielfältige Weise Formen sozialen Handelns kennen, das es ihnen ermöglichen, sich in der Welt zu orientieren und in ihr zu leben. So werden sie zunehmend fähig, ihre eigene soziale Kompetenz aufzubauen, um mit Partnern oder in Gruppen zu spielen und zu handeln.

Mit einer Bewertung der eigenen Fähigkeiten durch andere wird das Kind außerhalb der Familie vor allem im Kindergarten konfrontiert, in dem der erstmalige Kontakt mit einer größeren Kindergruppe ausschlaggebend ist. Hier wird die Grundlage für den Erwerb sozialer Verhaltensweisen gelegt, die das Hineinwachsen des Kindes in seinen sozialen Horizont wesentlich beeinflussen.

4. Emotionale Entwicklung

Die emotionale Entwicklung des Kindes ist abhängig von Situationen, die es erlebt. In ihnen verspürt es Freude und Ärger, Erfolg und Enttäuschung, Einsamkeit und Geborgenheit, Angst und Gefahr, Sicherheit und Hilfe. Vielfältige Bewegungstätigkeiten erlauben dem Kind die Erfahrung mannigfaltiger derartiger Situationen. Es ist davon auszugehen, dass die Gefühlsentwicklung eines Kindes problemloser verläuft, wenn es die Gelegenheiten zu reichhaltigen Erfahrungen in abwechslungsreichen Bewegungshandlungen vorfindet und wahrnimmt.[22]

Auch das Selbstwertgefühl des Kindes, ein wesentlicher Bestandteil der emotionalen Entwicklung, entwickelt sich durch Bewegungsfähigkeiten. Im Zusammenhang mit den kindlichen Bewegungsfähigkeiten entsteht ein erstes Selbstkonzept eigener Fähigkeiten, das wesentlichen Einfluss auf das emotionale Verhalten von Kindern hat. Eine wichtige Vorbereitung für die Entwicklung eines positiven Selbstwertgefühls ist das Bereitstellen von Situationen, in denen das Kind selbst aktiv werden kann.

Seinem Bewegungsdrang folgen zu können, vermittelt dem Kind ein Gefühl der Zufriedenheit. Beispielsweise wirken sich positive Bewegungserfahrungen im emotionalen Bereich auf die Selbstsicherheit des Kindes aus, es findet leichter soziale Anerkennung in der Gruppe und wird künftige Bewegungsangebote selbstbewusster annehmen, was wiederum Fortschritte in der Bewegungs-entwicklung begünstigt.[23] Kinder mit positivem Selbstkonzept gehen insgesamt mit geringerer Ängstlichkeit und größerer Kraft an neue und schwierigere Aufgaben heran.

C. Motorische Entwicklung des Kindes im Vorschulalter von O bis 6 Jahren

Wie bereits ausgeführt, wird der Bewegung ein entscheidender Anteil an der Gesamtentwicklung des Kindes zuerkannt. Um diese Entwicklung zu fördern, dem Kind also seiner jeweiligen Entwicklungsstufe entsprechende Bewegungsmöglichkeiten geben zu können, muss man zunächst wissen, welche Bewegungsabläufe für welche Entwicklungsstufe typisch und angemessen sind. Diese Entwicklung des Kindes soll hier im Sinne der motorischen Ontogenese[24] analysiert und betrachtet werden. Bevor ich auf die einzelnen Entwicklungsphasen der motorischen Entwicklung des Kindes eingehe, ist es sinnvoll, sich zunächst mit einigen allgemeinen Tendenzen und Prinzipien vertraut zu machen.

1. Prinzipien der motorischen Entwicklung im Alter von 0-3 Jahren

Die motorische Entwicklung im Alter von 0-3 Jahren ist durch die Prinzipien der Differenzierung und der Integration gekennzeichnet.[25] Die motorische Entwicklung vollzieht sich in den ersten Lebensmonaten mit großer Schnelligkeit. Die Bewegungen werden differenzierter, aus den unkoordinierten Massenbewegungen des Säuglings werden immer gezieltere Einzelbewegungen. Mit dieser Differenzierung, die eine fortschreitende Verfeinerung, Erweiterung und Strukturierung von Funktionen und Verhaltensweisen kennzeichnet, geht eine scheinbar entgegengesetzte Tendenz der Zentralisation bzw. der Integration einher, denn mit der Zunahme von Einzelleistungen setzt gleichzeitig eine Koordinierung und übergeordnete Steuerung dieser Funktionen im zentralen Nervensystem[26] ein. Differenzierung und gleichzeitige Integration sind Entwicklungsprinzipien, die sowohl auf physiologischer Ebene (Zentralnervensystem) als auch auf motorischer und psychischer Ebene (emotionale Reaktionen) beobachtet werden können.[27] Die Entwicklungsprinzipien des Bewegungsverhaltens im Säuglings- und im Kleinkindalter erfolgen nach folgenden Gesetzmäßigkeiten:[28]

- Prinzip der cephalocaudalen Entwicklungsrichtung

Die cephalocaudale Entwicklungsrichtung äußert sich darin, dass die motorische Genese geordneter Bewegungen vom Kopf ausgeht und fußwärts fortschreitet. Diese Tendenz ist in der gesamten motorischen Entwicklung des 1. Lebensjahres sehr ausgeprägt und besonders in der Entwicklung der aufrechten Haltung und der Fortbewegung deutlich nachweisbar.
- Prinzip der zentral-peripheren Entwicklungsrichtung
Die zentral-periphere Entwicklungsrichtung der motorischen Genese ist eine generelle Folge motorischer Lernprozesse. Es kommt im Fortschreiten der koordinierten Selbstbewegungen der Muskeln zum Ausdruck. Die Kontrolle der Muskeln, die dem Zentrum des Körpers naheliegen (d.h. der größeren, fundamentaleren Muskeln), gelingt eher als die Kontrolle der entfernteren, feineren Muskeln. Das hat zur Folge, dass grobmotorische[29] Ganzkörperbewegungen den feinmotorischen[30] Bewegungen der Extre­mitäten vorausgehen.

- Prinzip der kontralateralen Mitbewegungen

Unter den kontralateralen Mitbewegungen werden spiegelbildliche Bewegungen der jeweiligen Gegenseite des Körpers verstanden. Wenn beispielsweise eine Bewegung mit dem rechten Arm erfolgt, dann bleibt sie nicht auf diesen beschränkt, sondern der linke Arm führt ebenfalls eine entsprechende Bewegung aus.
- Prinzip der Hypertonie der Muskulatur
Dieses Prinzip kann als Ergänzung des letztgenannten angesehen werden. Die Hypertonie der Muskulatur ist schon in den ersten Lebensmonaten bei der Bewegungsausführung des Neugeborenen auffällig. Bewegungen werden zunächst mit zu hohem Krafteinsatz und zu großer Muskelanspannung ausgeführt, da das Kind noch nicht über die notwendige Steuerungsfähigkeit verfügt. Dadurch wird manchmal der Eindruck eckiger und ungelenker Bewegungen erweckt. Sie äußert sich motorisch besonders in der Entwicklung des Greifens und der Fortbewegung.

Diese im Säuglingsalter und auch im Kleinkinder beobachtbaren Prinzipien erklären, dass in dieser Altersphase bis zum frühen Kindesalter die Veränderungen der Bewegungen gravierend und schnell sind und das Kind lernt, Kontrolle über seine Körperbewegungen zu erreichen.

2. Verlauf der motorischen Entwicklung

Die motorische Entwicklung eines Kindes ist jedoch nicht allein von angeborenen Anlagen bestimmt, sondern muss als das Ergebnis von vielfältigen Lernerfahrungen betrachtet werden. Die Entwicklung der Motorik[31] wird daher als eine kontinuierliche Veränderung interpretiert, in der sich das Bewegungsverhalten eines Kindes aufgrund seiner aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt zunehmend ausdifferenziert.

Obwohl innerhalb der einzelnen Entwicklungsreihen und im zeitlichen Auftreten bestimmter Aneignungsstufen erhebliche individuelle Unterschiede auftreten können, die zumeist auf die gegenständliche und mitmenschliche Umwelt zurückzuführen sind, ist es sinnvoll, in diesem Abschnitt die Entwicklung elementarer motorischer Fertigkeiten[32] in den jeweiligen motorischen Entwicklungsstufen des Kindes aufzuzeigen. Um einen Überblick über die motorische Entwicklungsabläufe des Kindes zu haben, stelle ich folgende Tabelle auf:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.1 Die Entwicklungsphasen des Kindes in der motorischen Ontogenese[33]

2.1 Motorische Entwicklung im Neugeborenenalter

(Geburt bis 3. Lebensmonat)

Der Mensch wird motorisch weitgehend unentwickelt geboren und ist auch nicht in der Lage, sich selbständig mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen. Von den wenigen angeborenen Reflexe sind als wichtigste zu nennen: das Atmen, Schreien, Saugen und Schlucken. Hierbei handelt es sich um unbedingtreflektorisch gesteuerte Bewegungen, die lebensnotwendig und für die motorische Entwicklung von grundlegender Bedeutung sind. Außer diesen Reflexbewegungen zur Sicherung des Lebens gibt es noch einige andere, die vor allem Schutzreflexe für die Atmungsorgane und die Augen darstellen.[34] In den letzen vier Monaten vor und den ersten vier Monaten nach der Geburt besteht das motorische Verhalten des Menschen vornehmlich aus Reflexen, d.h. unwillkürlichen, stereotypen Antworten auf spezifische Reize.

Das Neugeborene führt im Wachzustand fast ausschließlich solche Bewegungen aus, die als ungerichtete Massenbewegungen zu bezeichnen sind. In der krampfhaft-eckigen Verlaufsform der ungeordneten und ungerichteten Massenbewegungen äußert sich eine wesentliche Besonderheit der Bewegungsausführung im Neugeborenenalter. Ein Neugeborenes kann bereits einige Empfindungen seines Körpers deuten und mit Reflexbewegungen darauf reagieren. Es macht viele Bewegungen, die ziellos und zufällig zu sein scheinen, die jedoch erforderlich sind, damit später gut geordnete Bewegungen gemacht werden können.[35]

2.2 Motorische Entwicklung im Säuglingsalter

(4. Lebensmonat bis zur Wende im 1. Lebensjahr)

Im Säuglingsalter vollzieht sich eine schnelle und augenfällige motorische Entwicklung. Es bilden sich erste zielgerichtete Bewegungen und damit typisch menschliche Handlungen heraus. In dieser Phase besteht das wichtigste Merkmal der motorischen Entwicklung darin, dass die Aneignung erster koordinierter Bewegungen erfolgt. Die wichtigsten motorischen Entwicklungen im Säuglingsalter umfassen das gezielte Greifen, die aufrechte Haltung und die selbständige Fortbewegung. Die Anfänge des freien Gehens sind motorisches Kriterium für den Abschluss des Säuglingsalters.

Schon im Säuglingsalter lassen sich neben charakteristischen motorischen Entwicklungs­sequenzen erhebliche interindividuelle Unterschiede hinsichtlich des Zeitpunktes ihres Auftretens feststellen. Die Ursachen für diese Unterschiede sind auch in den verschieden­artigen Umweltbedingungen zu suchen, in denen Kindern aufwachsen. In der Entwicklungspsychologie hat die Beobachtung der beträchtlichen Unterschiede zwischen Entwicklungsverläufen verschiedener Individuen dazu geführt, die Analyse von gruppen- und personenspezifischer Entwicklung und den Bedingungen differentieller Ent­wicklungsverläufe in den Vordergrund zu stellen.[36] Im Sinne des Theorieansatzes von Schilling handelt es sich bereits im Säuglingsalter nicht um eine bloße Funktionsreifung. Motorische Entwicklung wird nicht nur durch Reifungsvorgänge bestimmt, sondern durch Umweltbedingungen und die Aktivität des Kindes mitbestimmt. Diese Aussage trifft für das Kleinkind und für das frühe Kindesalter verstärkt zu.[37]

Trotz der Bedeutung früher Bewegungserfahrungen muss jedoch vor einem gezielten Frühtraining gewarnt werden, das nicht in die ersten Lebensjahre gehört. Der Motopädagoge Kiphard erhebt Bedenken gegen eine spezifische Übungspraxis vor dem Erreichen der organischen Reife (der Bewegungs- und Sinnesorgane), da sich häufige Frustrationserlebnisse entsprechend negativ auswirken können. Es ist völlig ausreichend, wenn Bewegungen während der Ausprägung des Kindes durch geeignete Bewegungsangebote unterstützt werden. Dabei entscheidet das Kind selbst über den Zeitpunkt und welches Angebot ihm gelegen kommt. Diese Selbststeuerung des Kindes ist von besonderer Bedeutung, da die Entwicklung keinesfalls nur von äußeren Bedingungen, sondern wesentlich auch vom Kind selbst, von seinem eigenen Wollen und Bestreben nach einer Veränderung und Verbesserung seines Bewegungsverhaltens bestimmt wird.

2.3 Motorische Entwicklung im Kleinkindalter

(Beginn 1. bis Beginn 3. Lebensjahr)

Mit der Aneignung des zielgerichteten Greifens, der aufrechten Körperhaltung und besonders den Anfängen des freien Gehens um die Wende des 1. Lebensjahres haben die Kinder einen wesentlichen Anteil in ihrer motorischen Entwicklung bewältigt. Nunmehr erweitert sich ihr Erfahrungsbereich und besonders ihr zunehmender motorischer Aktionsradius beträchtlich. Damit sind erheblich gesteigerte Möglichkeiten zur aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt und verstärkte Kontaktmöglichkeiten mit anderen verbunden. Im Laufe des 1. Lebensjahres schreitet daher seine Selbständigkeitsentwicklung immer weiter voran. Äußeres Merkmal für die wachsende Selbständigkeit ist das Bewegungsverhalten eines Kindes, dessen Verbesserung modifiziert wird und dadurch den Erwerb neuer Fertigkeiten ermöglicht.[38]

So versucht und erwirbt das Kind zahlreiche neue Bewegungsformen, wobei die naturgemäßen Anregungen oder gezielten Einwirkungen von ausschlaggebender Bedeutung sind. Aufbauend auf den elementaren Bewegungsmustern des Säuglingsalters setzt sich im Kleinkindalter die Entwicklungsreihe der Lokomotion[39] vom aufrechten Gehen zu vielfältigen Formen der Fortbewegung fort: Bewegungsformen wie Gehen, Steigen, Balancieren, Niederspringen, Laufen, Hüpfen und Springen; Bewegungsvarianten wie Kriechen, Wälzen, Rollen, Schieben, Ziehen, Klettern, Hängen und Schwingen kommen hinzu. Auf der Grundlage der Greifbewegungen bilden sich Bewegungen wie Werfen, Fangen, komplexe Objektmanipulationen, Zeichnen und Schreiben.[40]

Bereits diese Aufzählung zeigt, wie viele und verschiedenartige Bewegungsformen im Vergleich zum vorangegangenen Lebensabschnitt erworben werden. Deshalb ist diese Phase in motorischer Hinsicht eine Phase der Aneignung vielfältiger Bewegungsformen.[41] In der Entwicklung der Bewegungsformen werden im Leben der Kleinkinder Sprache und Denken bedeutsam. Gegen Ende des ersten und im Laufe des zweiten Lebensjahres beginnt die Entwicklung der Sprache, die für die gesamte geistige Entwicklung von entscheidender Bedeutung ist. Auch die Ausbildung der Sprechmotorik und des Sprechens ist von der Entwicklung der allgemeinen Motorik abhängig. Die motorische Entwicklung steht daher mit Sprache und Denken im engen Zusammenhang und in ständiger Wechselwirkung.

Für das Bewegungsverhalten der Kleinkinder sind besonders der ausgeprägte Bewegungsdrang, das Probier- und Nachahmungsbedürfnis, der häufige Wechsel in der Tätigkeit und die kontaktarme Bewegung der Kinder nebeneinander typisch. Die motorischen Lernprozesse umfassen im wesentlichen die genannten Bewegungsformen bis zur Beherrschung der Grobkoordination.

2.4 Motorische Entwicklung im frühen Kindesalter

(Beginn 3. bis 6./7. Lebensjahr)

Die im Kleinkindalter erworbenen Bewegungsgrundformen werden von der Grobform zur Feinform hin ausdifferenziert und verbessert. In diesem Zeitraum werden die Einzelbewegungen verfeinert, zunehmend aufeinander bezogen und in Folge dieser Integrationsprozesse zu ersten Bewegungskombinationen zusammengefügt.

Die Haupttendenzen der motorischen Entwicklung in dieser Phase bestehen daher in der beträchtlichen Vervollkommnung vielfältiger Bewegungsformen sowie in der Aneignung erster Bewegungskombinationen. Nach Winter äußert sich diese Vervollkommnung in drei Richtungen: als qualitative Verbesserung der Bewegungsabläufe, als quantitative Leistungssteigerung und als Zunahme der variablen Verfügbarkeit der Anwendungsfähigkeit in unterschiedlichen Situationen.[42] Darüber hinaus gelingt es dem Kind nun, Bewegungsformen untereinander zu kombinieren, z.B. Laufen, Springen, Werfen und Fangen. Fortschritte werden besonders hinsichtlich der koordinativen Fähigkeiten, wie z.B. der Gleichgewichtsfähigkeit, aber auch hinsichtlich der fein­motorischen Geschicklichkeit deutlich.

Das frühe Kindesalter ist nach Winter eine Phase der raschen motorischen Entwicklung. Wesentliche Ursachen dafür sind das ausgeprägte Bewegungs-, das weiterwirkende Nachahmungsbedürfnis, die Neugierde des Kindes, sein Aktivitätsdrang, und sein andauerndes Streben nach neuen Erkenntnissen und Erfahrungen. Im Vergleich zum 2. und 3. Lebensjahr nimmt dabei der häufige Wechsel in den Handlungen sowie die rasche Interessenverlagerung allmählich ab. Die Aufmerksamkeitsspanne des Kindes wird mit der Beschäftigung immer anhaltender und größer. Es ist in der Tätigkeit mit Ernst und Hingabe bei der Sache und resigniert nicht mehr so schnell, wenn sich Schwierigkeiten einstellen. Während der 4 Jahre (3. - 7. Lebensjahr) wird das Kind ein reifes Wesen, das sprechen und zu vielen Menschen Kontakt aufnehmen kann. Die zunehmende Sprech- und Denkfähigkeit des Kindes ist anschaulich und konkret. Die verbale Informations­aufnahme ist gut schulbar, die Informationsverarbeitung im motorischen Handeln bleibt dagegen noch sehr begrenzt.[43]

Die Bewegungsausführung wird im Vergleich zum Kleinkindalter offensichtlich kraft­voller, schneller und im räumlichen Umfang größer. Auch die Bewegungsstruktur, der Bewegungsrhythmus, die Bewegungskopplung und die Bewegungselastizität verbessern sich deutlich. Besonders die im täglichen Spiel oder durch Schulung entwickelten Bewegungsformen werden vielfach schon recht sicher und in guter Koordination beherrscht.[44] In den altersspezifischen Eigenheiten der Bewegungsausführung ist das frühe Kindesalter keine einheitliche Phase. Bei Drei- und Vierjährigen sind noch weitgehend die Merkmale der kleinkindlichen Bewegungsausführung feststellbar. Sichtbare Veränderungen ergeben sich jedoch bei den 5- und 6jährigen Kindern.

3. Zusammenfassung

Die Phase der Kindheit dient also vornehmlich dem Erwerb der grundlegenden Bewegungsfertigkeiten des Alltags. Die tägliche Beschäftigung mit dem Kind trägt zur Entwicklung seiner Sinne bei und fördert das soziale Bindungsstreben des Kindes. Die Aktivität des Kindes bewirkt sein nachhaltiges Bewegen entsprechend seinen Möglichkeiten und führt damit zur Übung und Kräftigung. Neben den Anregungen zur motorischen Auseinandersetzung mit der Umwelt ist die Unterstützung durch Erwachsene notwendig. Eine grundlegende Förderung der motorischen Entwicklung des Kindes besteht darin, ihm eine adäquate Bewegungswelt zu präsentieren, in der die grundlegenden Bewegungsformen als Hauptmittel zur motorischen Vervollkommnung unterstützt werden.

D. Wesentliche Grundlagen für die Bewegungserziehung

Bewegungsangebote sind gerade im Kindesalter von 0-6 Jahren an sich schon sinnvolle Auslöser für Entwicklungs- und Lernprozesse. Besonders neuro-, senso- und psychomotorische Intervention ist zur Entwicklungsförderung im Vorschulalter, zum Aufbau und zur Erweiterung der Gesamtentwicklung des Kindes unverzichtbar. Diese Frühförderung gilt als Grundlage aller kindzentrierter Erziehungskonzepte der Bewegungserziehung.

1. Neuromotorische bzw. -psychologische Grundlagen

Die Neuropsychologie ist ein interdisziplinärer Bereich, der Beziehungen zwischen Neurologie,[45] Psychologie und Biologie umfasst.[46] Da sie Lernfähigkeit und Verhaltensweisen des Kindes als neurologische Prozesse betrachtet, wirkt sie auch in den pädagogischen Bereich, vor allem im Hinblick auf die Bewegung des Kindes. Ohne ein Mindestmaß an neuromotorischen bzw. -psychologischen Kenntnissen sind manche Verhaltensweisen von Kindern, vor allem von Säuglingen, deren Reflexmotorik vornehmlich neuromotorisch ist, nicht zu begreifen. Bevor ich die Struktur und Funktion des Nervensystems kurz erläutere, werde ich zunächst die sensorische Integration nach Ayres‘ Ansatz darstellen, um die neurologischen Prozesse besser verstehen zu können.

1.1 Sensorische Integration nach Ayres’ Ansatz

Als amerikanische Therapeutin und Hirnforscherin lenkt A. J. Ayres in ihrem Buch „Sensory Integration and the Child“[47] die Aufmerksamkeit vor allem auf die Bedeutung des Gehirns für die kindliche Entwicklung. Nach Ayres benutzt jede Bewegung des Kindes die sinnliche Verarbeitung, die das Gehirn bereits bei früheren Aktivitäten gespeichert hatte. Wenn ein Kind sich bewegt oder etwas tut, speichert es dabei ständig zahllose Informationen,[48] die über die Sinneskanäle aufgenommen werden. Und es muss in seinem Gehirn eine Integration der sinnlichen Wahrnehmungsprozesse[49] entwickeln, um die ankommenden Informationen gebrauchen und zweckmäßig einsetzen zu können. Diese Integration der Sinne nennt Ayres „sensorische Integration“.[50] Sie ist der Prozess des Ordnens und Verarbeitens von Sinnesempfindungen[51] und -eindrücken im gesamten Nervensystem, so dass das Gehirn eine brauchbare Körperreaktion und ebenso sinnvolle Wahrnehmungen, Gefühlsreaktionen und Gedanken erzeugen kann. Daher ist das Gehirn für Ayres in erster Linie eine „Verarbeitungsmaschine“[52] sinnlicher Empfindungen bzw. Eindrücke. Die sensorische Integration sortiert, ordnet, speichert und vereint alle sinnlichen Eindrücke des Individuums zu einer vollständigen und umfassenden Hirnfunktion.

Für Ayres sind Empfindungen daher „Nahrung“[53] für das Nervensystem. Jeder Muskel, jedes Gelenk, jedes lebenswichtige Organ, jeder kleinste Hautabschnitt und die Sinnesorgane am Kopf senden ihre sensorischen Empfindungen zum Gehirn. Jede einzelne Empfindung ist eine Form der Information. Das Nervensystem benutzt diese Informationen, um Reaktionen auszulösen, die Körper und Geist an die Informationen und die mit ihnen verbundenen neuen Situationen anpassen. Das Gehirn bedarf eines beständigen Informationszuflusses mannigfaltiger Empfindungen, um sich entwickeln zu können und in der richtigen Weise zu funktionieren. Solange der Körper mit all seinen Sinnen als ein Ganzes zusammenwirkt, sind Anpassung und Lernen für das Gehirn zu erzielen.

Wenn Empfindungen in einer gut integrierten Weise dem Gehirn zufließen, kann es diese Empfindungen nutzen, um daraus Wahrnehmungen[54], Verhaltensweisen und Lern­prozesse zu bilden. „Je mehr Wahrnehmungsfelder im Gehirn beteiligt sind, desto mehr Assoziationsmöglichkeiten für das tiefere Verständnis werden vorgefunden, desto größer werden Aufmerksamkeit und Lernmotivation.“[55] Um Empfindungen besser zu integrieren, wird das Kind versuchen, sich an diese Empfindungen erneut anzupassen. Bewegungen des Kindes helfen dabei dem Gehirn, sich mit den Empfindungen ordnend auseinanderzusetzen. Ayres stellt fest, dass bei jedem Kind ein ausgeprägter innerer Aktivitätsdrang besteht, um „Bausteine“[56] zu entwickeln, die jeweils das Fundament für eine komplexere und reifere Entwicklung des Nervensystem bilden.

1.2 Ein Überblick über das Nervensystem

Das Nervensystem ist nach Ayres ein zusammengeschaltetes Netzwerk von Nervenzellen und über den ganzen Körper verteilt. Die Strukturen des Nervensystems umfassen das Zentralnervensystem und Nervenzellen, die in der Haut, in den Muskeln, Gelenken, inneren Organen und den Sinnesorganen des Kopfes verteilt sind. Sensorische Nerven übermitteln Nachrichten von den Sinnesorganen, die Reize und Informationen aus der Außenwelt aufnehmen und sie zu der zentralen Schalt- und Steuerstelle des Menschen, dem Zentralnervensystem führen. Motorische Nerven leiten z.B. Befehle vom Gehirn zu den Muskeln oder anderen Reaktionen.

1.2.1 Das Zentralnervensystem

Das Zentralnervensystem stellt also die Steuerungs- und Überwachungsinstanz für das gesamte Lernen und Verhalten dar. Zum Zentralnervensystem gehören Rückenmark und Gehirn.

1.2.1.1 Das Rückenmark

Das Rückenmark enthält zahlreiche afferente (aufsteigende) Nervenbahnen, die sensible Informationen dem Hirn zuführen, und andere Nervenbahnen, die motorische Informationen zu den efferenten (absteigenden) Nerven bringen, welche diese Impulse an die Muskeln und Organe weiterleiten. Die beiden Nervenbahnen werden im Rückenmark zusammengefasst. Sie stellen die Verbindung zwischen dem Gehirn und der Körperperipherie her.[57]

1.2.1.2 Struktur und Funktion des Gehirns

Der wichtigste Teil des Zentralnervensystems ist das Gehirn, das die zentrale Steuerung für die körperlichen und geistigen Tätigkeiten ist. Es setzt sich aus unterschiedlichen Gebieten zusammen, denen ganz bestimmte Funktionen zugeordnet werden können. Es hat „motorische Zentren“, mit Hilfe derer alle Bewegungen wie Gehen, Greifen etc. gesteuert werden, und „sensorische Zentren“,[58] in denen die Berührungsreize der Haut und die Stellungsreize aus den Gelenken und der Muskulatur wahrgenommen werden. Außerdem gibt es Sehzentren und Hörzentren. Jeweils bestimmte Körperregionen der linken und rechten Seite sind den entsprechenden Gehirnbezirken kreuzweise zugeordnet. Zu den wichtigen funktionellen Einheit des Gehirns gehören der Hirnstamm, das Kleinhirn, das Zwischenhirn mit dem limbischen System, dem Thalamus und dem Hypothalamus, das Großhirn.

- Der Hirnstamm

Der Hirnstamm ist ein kleiner Nervenzylinder, der sich etwa in Höhe der Ohren befindet. Er regelt wichtige autonome Funktionen wie Atmung, Kreislauf und Verdauung; er ist für die Steuerung der einfachen Halte- und Stellreflexe und für die Kontrolle der Körperstellung im Raum zuständig.

Der zentrale Kern des Hirnstamms besteht aus einer Gruppe von Neuronen und Kernen, die als die retikuläre Formation (Formatio reticularis)[59] bezeichnet wird. Diese netzförmige Nervenmaße enthält sensorische Informationen aus allen Sinnesbereichen und verknüpft sie miteinander. Die Hauptaufgabe der Formatio reticularis besteht darin, die Großhirnrinde zu wecken. Sie steuert über aufsteigende Impulse den Wachheitszustand und den Grad der Aufmerksamkeit des Zentralnervensystems. Ihre weitere Funktion ist die Hemmung oder Verstärkung von sensorischen Reizen auf dem Weg der Übertragung zur Großhirnrinde. Dadurch schützt sie das Gehirn vor Reizüberflutung.[60] Die vestibulären Kerne[61] im Hirnstamm verarbeiten auch einen großen Teil der Information von allen anderen Sinnesorganen, speziell von den Rezeptoren in den Gelenken und Muskeln, also der Eigenwahrnehmung.[62]

- Das Kleinhirn

Das Kleinhirn befindet sich an der Rückseite des Hirnstamms. Es verarbeitet propriozeptive und vestibuläre Empfindungen, die dazu beitragen, Körperbewegungen gleichmäßig und korrekt ausführen zu können. Es ist daher das Zentrum für die Koordination aller Bewegungen. Über das Kleinhirn laufen alle Nachrichten aus den Sinnesorganen und die Befehle, die von der Großhirnrinde an die Muskeln gegeben werden. Darüber hinaus verarbeitet es alle anderen Arten von Empfindungen.

[...]


[1] Im Gegensatz zu diesem ernstzunehmenden Problem der wachsenden Bewegungsarmut des Kindes ist in den vergangenen Jahren die Aufmerksamkeit für die Bewegungsförderung von Kindern zunehmend gestiegen. Eine Untersuchung, die in zwei Klassen im Kindergarten von der Universität Hannover Fachbereich Erziehungswissenschaften durchgeführt wurde, kommt beispielsweise zu dem Schluss, dass eine gezielte und effektive Bewegungsförderung die Stabilisierung der Gesamtpersönlichkeit der Kinder positiv unterstützt. (Vgl. Beckmann, U. und B. Bollmeyer unter Mitarbeit von D. Eggert: Eine Untersuchung zur Wirksamkeit psychomotorischer Förderung in Vorschulklassen. In: Praxis der Psychomotorik. Zeitschrift für Bewegungserziehung. Jg. 28 (2003), Heft: 1, S. 4-13).

[2] Vgl. Ludwig, H.: Maria Montessori – Leben, Werk, Grundgedanken. In: Ludwig, H. (Hg.): Erziehen mit Maria Montessori. Ein reformpädagogisches Konzept in der Praxis. Freiburg 1997, S. 22.

[3] Zu dem Thema ‚Kind und Bewegung‘ finden immer häufiger regionale und bundesweite Kongresse von gesellschaftspolitischen Kommissionen sowie Verbänden für ‚Kinderbelange‘ statt (z.B.: ‚Kinder brauchen Bewegung - Brauchen Kinder Sport?‘ - Kongress der Deutschen Sportjugend in Kooperation mit der Deutschen Turnerjugend und der Universität in Osnabrück (vom 21.-23.02.1991 in Osnabrück); ‚Kindliche Bewegungswelt im High-Tech-Zeitalter‘ - 4. Symposium der Deutschen Olympischen Gesellschaft (vom 03.-05.11.1995 in Hannover); ‚Bewegte Kindheit‘ - Kongress der Universität Osnabrück und der Bundesarbeitsgemeinschaft zur Förderung haltungs- und bewegungsauffälliger Kinder und Jugendlicher e.V. (vom 29.02.- 02.03.1996 in Osnabrück); ‚Kinder in Bewegung - Vom Kinderturnen zum Sport mit Jugendlichen‘ - Kongress der Deutschen Turnerjugend (vom 02.-05.10.1997 in Göttingen); ‚Kongress Spielraum und Bewegung: Was Kinder Brauchen!‘ - Spielraum Fachinformation und Universität Osnabrück (vom 26.-28. 02. 1998 in Hannover).

[4] Vgl. Hunger, I.: Handlungsorientierungen im Alltag der Bewegungserziehung. Schorndorf 2000, S. 11ff.

[5] Vgl. Zimmer, R.: Handbuch der Bewegungserziehung. Freiburg 81998, S. 12.

[6] Ehni, H. u.a.: Kinderwelt: Bewegungswelt. Seelze 1982, S. 6.

[7] Vgl. Bock, I.: Pädagogische Anthropologie der Lebensalter. München 1984, S. 38ff.

[8] Langeveld, M.J.: Kind und Jugendlicher in anthropologischer Sicht. Eine Skizze. Heidelberg 1959, S. 15.

[9] Vgl. Zimmer, R.: Handbuch der Bewegungserziehung. a.a.O., S. 17ff .

[10] Vgl. Grude, U.: Kindgerechte Bewegungsförderung. Hamburg 1995, S. 15.

[11] Zimmer, R.: Handbuch der Bewegungserziehung. a.a.O., S. 17.

[12] Beispielsweise fällt eine extreme Häufung von Bildungskursen für Eltern mit Babys und Kleinkindern auf, z.B. die sogenannten PEKiP-Kurse (= P rager E ltern Ki nd P rogramm) oder das „Babyschwimmen“ und die „Tobekurse“, die versuchen den geschilderten Bewegungsmangel auszugleichen. Diese werden aber zum größten Teil nur von einem bestimmten Elterntypus besucht und müssen bezahlt werden.

[13] Vgl. Größing, S.: Bewegungskultur und Bewegungserziehung. Schorndorf 1993, S. 127f

[14] Vgl. ebd., S. 111f

[15] Vielfältigkeit heißt hier durch Variationen der Tätigkeiten alle Bereiche der Muskulatur zu stimulieren.

[16] Intensität ist die Voraussetzung dafür, dass die Tätigkeit zum Entwicklungsreiz wird.

[17] Vgl. Engels, A.: Körperliche Entwicklung und Bewegungserziehung. In: Dollase, R. (Hg.):

Handbuch der Früh- und Vorschulpädagogik. Bd. 2. Düsseldorf 1978, S. 296ff.

[18] Vgl. Zimmer, R.: Handbuch der Bewegungserziehung. a.a.O., S. 52

[19] Vgl. Scherler, K.: Sensomotorische Entwicklung und materiale Erfahrung. Schorndorf 1975, S. 137.

[20] Vgl. Zimmer, R.: Motorik und Persönlichkeitsentwicklung bei Kindern : eine empirische Studie

zur Bedeutung der Bewegung für die kindliche Entwicklung. Schorndorf 21996, S. 138f.

[21] Vgl. Diem, L.: Auf die ersten Lebensjahre kommt es an. Intelligenz durch Bewegungstraining. Stuttgart 1976.

[22] Vgl. Größing, S.: Bewegungskultur und Bewegungserziehung. a.a.O., 157

[23] Vgl. Scheid, V./Prohl, R.: Kinder wollen sich bewegen. Dortmund 31988, S. 15.

[24] Entwicklung des Individuums von der Eizelle zum geschlechtsreifen Zustand.

[25] Vgl. Oerter, R.: Moderne Entwicklungspsychologie. Donauwörth 181980, S. 22.

[26] Das Gehirn bildet hier eine Art Schaltstelle, in der die Einzelleistungen miteinander verbunden und aufeinander abgestimmt werden (Vgl. II., D., 1.: Neumotorische bzw. –psychologische Grundlagen).

[27] Vgl. Zimmer, R.: Handbuch der Bewegung. a.a.O., S. 70

[28] Vgl. Winter, R.: Die motorische Entwicklung des Menschen von der Geburt bis ins hohe Alter (Überblick). In: Meinel, K./Schnabel, G.(Hg.): Bewegungslehre - Sportmotorik. Berlin 91998, S. 243f.

[29] Als grobmotorische Bewegungen werden solche Bewegungen bezeichnet, die durch die Aktivität größerer Muskeln oder Muskelgruppen erzeugt werden. Hierunter fallen z.B. Bewegungen von Armen, Beinen, Rumpf.

[30] Feinmotorische Bewegungen werden von kleineren Muskeln bzw. Muskelgruppen gesteuert. Hand- und Fingerbewegungen sind hierfür typische Beispiele. Häufig wird Fein- sogar mit Handmotorik gleichgesetzt.

[31] Motorik ist hier die Gesamtheit der aktiven, vom Gehirn aus gesteuerten, koordinierten Bewegungen des menschlichen Körpers.

[32] Beherrschte Geschicklichkeitsleistungen.

[33] Vgl. Winter, R.: Die motorische Entwicklung des Menschen von der Geburt bis ins hohe Alter. a.a.O., S. 240.

[34] Vgl. ebd., 241.

[35] Vgl. Ayres, A.J.: Bausteine der kindlichen Entwicklung. Berlin 31998, S. 25ff.

[36] Vgl. Scheid, V.: Bewegung und Entwicklung im Kleinkindalter. Schorndorf 1989, S. 59.

[37] Vgl. ebd., S. 61.

[38] Vgl. Zimmer, R.: Handbuch der Bewegungserziehung. a.a.O., S. 74.

[39] Zu lat. „locus“ (Ort, Stelle) und „motio“ (Bewegung), Bewegung von einem Platz zum anderen.

[40] Vgl. Scheid, V.: Bewegung und Entwicklung im Kleinkindalter. a.a.O., S. 59.

[41] Vgl. Winter, R.: Die motorische Entwicklung des Menschen von der Geburt bis ins hohe Alter. a.a.O., S. 251.

[42] Vgl. Winter, R.: Die motorische Entwicklung des Menschen von der Geburt bis ins hohe Alter. a.a.O., S. 261.

[43] Vgl. Ayres, A.J.: Bausteine der kindlichen Entwicklung. a.a.O., S. 42ff.

[44] Vgl. Winter, R.: Die motorische Entwicklung des Menschen von der Geburt bis ins hohe Alter. a.a.O., S. 263.

[45] Wissenschaft vom Aufbau und der Funktion des Nervensystems.

[46] Milz, I.: Montessori-Pädagogik. neuropsychologisch verstanden und heilpädagogisch praktiziert.

Dortmund 1999, S. 29.

[47] Dieses Buch ist von Inge Flehmig und Rolf W. Flehmig ins Deutsche übersetzt worden: „Bausteine der kindlichen Entwicklung“ (Berlin 31998)

[48] Vgl. Ayres, A.J.: Bausteine der kindlichen Entwicklung. a.a.O., S. 167.

[49] Vgl. II., D., 2: Sensomotorische Grundlagen.

[50] Ayres, A.J.: Bausteine der kindlichen Entwicklung. a.a.O., S. 7.

[51] Empfindungen kommen durch Energien zustande, die Nervenzellen stimulieren, wodurch neurale Prozesse verursacht werden.

[52] Ayres, A.J.: Bausteine der kindlichen Entwicklung. a.a.O., S. 46.

[53] Ebd., S. 56.

[54] Die Bedeutung, die das Gehirn einem Sinneseindruck beimisst. Empfindungen sind objektiv; Wahrnehmung ist subjektiv.

[55] Vester, F.: Denken, Lernen, Vergessen. München 191992, S. 142.

[56] Ayres, A.J.: Bausteine der kindlichen Entwicklung. a.a.O., S. 24.

[57] Vgl. Zimmer, R.: Handbuch der Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer ganzheitlichen Erziehung. Freiburg 92001, S. 33.

[58] Ebd., S. 33.

[59] Das Wort „retikulär“ bedeutet soviel wie netzförmig.

[60] Vgl. Kesper, K./Hottinger, C.: Mototherapie bei sensorischen Integrationsstörungen. München

1992, S. 15.

[61] Eine Anhäufung von Zellen im Hirnstamm, die die Gleichgewichtssinneseindrücke verarbeiten und anderen Gehirnzentren übermitteln, um eine entsprechende Anpassungsreaktion vorzubereiten.

[62] Propriozeption oder Tiefensensibilität: Vom lateinischen Wort proprius: selbst, eigen = Eigenwahrnehmung.

Fin de l'extrait de 116 pages

Résumé des informations

Titre
Vorschulalter. Die Bedeutung der Bewegung für die Gesamtentwicklung des Kindes
Sous-titre
Unter besonderer Berücksichtigung der Montessori-Pädagogik
Université
University of Münster
Note
1,7
Auteur
Année
2003
Pages
116
N° de catalogue
V29144
ISBN (ebook)
9783638307345
ISBN (Livre)
9783638715645
Taille d'un fichier
883 KB
Langue
allemand
Annotations
Ziel dieser Arbeit war es, die Bedeutung der Bewegung für die Gesamtentwicklung des Kindes im Vorschulalter unter besonderer Berücksichtigung der Montessori-Pädagogik zu untersuchen und mit Rückgriff auf die anthropologischen und entwicklungs-psychologischen Grundlagen dieses Bewegungsverständnisses eine Perspektive für einen Beitrag zur Bewegungserziehung zu gewinnen, auf die ihre weitere theoretische und praktische Arbeit angewiesen ist.
Mots clés
Bedeutung, Bewegung, Gesamtentwicklung, Kindes, Vorschulalter, Berücksichtigung, Montessori-Pädagogik
Citation du texte
MA. Mansoon Ahn (Auteur), 2003, Vorschulalter. Die Bedeutung der Bewegung für die Gesamtentwicklung des Kindes, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29144

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