Koffer, Waffen, Drogen, Uhr. Die Funktion der Dinge in Quentin Tarantinos "Pulp Fiction"


Bachelor Thesis, 2012

43 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Koffer
2.1. Die Ordnung der Dinge
2.2. Der Ort der Dinge
2.3. Die Funktion der Dinge

3. Die Waffe
3.1. Das Ding als Subjekt
3.2. Das Ding als Objekt
3.3. Das Ding als Erfahrungsspeicher
3.4. Das Ding als Aktant neben Akteuren

4. Die Drogen
4.1. Die kulturelle Verortung der Dinge
4.2. Die Einverleibung von Dingen
4.3. Die Spiegelung der Dinge
4.4. Die Wahrnehmung der Dinge

5. Die Uhr
5.1. Ding und Identitätsbildung
5.2. Ding und Zeiterfahrung
5.3. Ding und Raumerfahrung
5.4. Ding und Grenzerfahrung

6. Resümee

Bibliographie/Zeitschriften

Internetquellen/Filmographie

1. Einleitung

Nach seinem Erstlingserfolg Reservoir Dogs entzog sich der Regisseur Quentin Tarantino dem Rummel um seine Person und ging nach Amsterdam, wo er das Drehbuch für Pulp Fiction schrieb.[1] Bereits bis zu diesem Punkt liest sich die Geschichte von Quentin Tarantino wie eine Version des “American Dream“: Vom filmsüchtigen Jungen in Kalifornien, der als Platzanweiser in einem Pornokino und als Mitarbeiter in einer Videothek, wo er sich ein „enzyklopädisches Filmwissen“[2] aneignete, arbeitete, zum hoffnungsvollen Regisseur des unabhängigen Films mit Reservoir Dogs. Aber was Quentin Tarantino mit seinen 500 Seiten Drehbuch aus Amsterdam mitbrachte, übertraf alles Dagewesene und machte ihn zu einem der bekanntesten Regisseure der Welt. Pulp Fiction brach nicht nur durch seine verschachtelten Zeitebenen mit dem klassischen Kino, sondern auch durch die Erzählung: Der Film führt eine verwirrende, unerwartete Fülle an Dingen ein, die – auf den ersten Blick – für die Handlung keinen Sinn zu machen scheinen und ein bizarres Eigenleben führen. Ein Aktenkoffer, sonst Insigne einer spießigen Arbeitswelt, entscheidet über Leben und Tod. Waffen, sonst Insignien der Macht, diskreditieren ihre Träger, werden sinnlos brutal eingesetzt, gehen „von selbst“ los und verfehlen aus kürzester Distanz ihr Ziel. Die Droge ist nicht mehr nur Symbol der Zerstörung, sondern auch Symbol des Innenlebens und entscheidende Instanz über Subjekt – und Objektstatus der Konsumenten. Eine billige Taschenuhr verwandelt den unbesiegbaren Helden in ein kleines Kind.

1994 feierte Pulp Fiction bei den Filmfestspielen in Cannes Premiere und gewann dort sogleich die Goldene Palme. Mit einem Oscar in der Kategorie Best original screenplay stieg Quentin Tarantino endgültig in die Riege der Starregisseure auf. Pulp Fiction avancierte seitdem zu einem Kultfilm und wird als einer „der wichtigsten Gangsterfilme der 90er Jahre“[3] angesehen. Neben den agierenden Hauptpersonen existieren aber noch andere, unauffällige „Protagonisten“ im Film, die, bedingt durch ihren Status als Requisiten, in eine Randexistenz gedrängt werden.

In der vorliegenden Arbeit soll anhand des Films Pulp Fiction veranschaulicht werden, inwiefern Dingen ein konkreter Einfluss auf Handlungszusammenhänge zugesprochen werden kann. Gerade Pulp Fiction ist für eine Untersuchung in diesem Kontext prädestiniert. Der Koffer, der bereits seit Erscheinen des Films in das Zentrum von Mutmaßungen und Verschwörungstheorien rückte, bildet die Grundidee für diese Arbeit. Die explizite Darstellung von Waffengewalt und Drogenmissbrauch birgt viele Möglichkeiten der Dingbetrachtung, insofern sie in enger Verbindung zu den Menschen und deren Handlungen stehen und somit eine wechselseitige Beziehung evoziert wird, die besonders im behandelten Film auffällig ist. Durch verschiedene Szenen, die im Folgenden vorgestellt werden, wird dieser Korrelation Rechnung getragen und es ist Ziel dieser Arbeit, die verstecke Fokussierung des Films auf Dinge aufzuzeigen. Der im letzten Kapitel behandelten Uhr wird selbst in Pulp Fiction ein eigenes Kapitel zugesprochen, was ihre Wichtigkeit unterstreicht.

Es soll also verdeutlicht werden, dass eine solche Wirkungsmacht sowohl in den persönlichen Biographien der Figuren im Film als auch in der außerfilmischen Rezeption der Zuschauer vorliegt. Die Arbeit will den Blick gegenüber den Dingen in unserer Umgebung öffnen und die Wertigkeit, die weitreichende Co-Abhängigkeit, in der wir uns befinden, aufzeigen. Das vielfältige Erkenntnisinteresse gegenüber der Ding-Betrachtung schlägt sich in einer breiten Literaturauswahl nieder, die sich in verschiedensten Disziplinen verortet sieht[4]. Für diese Arbeit wurde vorwiegend die kulturwissenschaftliche Literatur zum Thema berücksichtigt. Der Kern dieser ist zwar die Annahme einer „transkulturellen, für das menschliche Subjekt fundamentalen Bedeutsamkeit der Dinge.“[5] Doch ist diese wissenschaftliche Erkenntnis abgegrenzt von der gängigen Annahme der bloßen Präsenz der dinglichen Umwelt ohne jegliche Reflexion ihrer Bedeutung für das menschliche Leben ebenso wie der tief verwurzelte Glaube an „unsere prätendierte Souveränität im Reich der Dinge“[6]. Die folgenden vier Kapitel versuchen, auf unterschiedliche Weise an die Bedeutung und Funktion der Dinge heranzutreten. Die Untersuchungen sind innerhalb des filmischen Universums angesiedelt und der Einfluss, die Konsequenzen, die Handhabung der Dinge beziehen sich auf die beschriebenen Figuren. Daher ist die weitreichende Wirkung des Koffers, der Waffen, der Drogen und der Uhr lediglich als Verweis auf die außerfilmische Realität zu verstehen und soll Verknüpfungen zum eigenen Ding-Umgang herstellen. In jedem Kapitel wird deshalb durch verschiedene Herangehensweisen versucht, die jeweiligen Dinge auch außerhalb der Welt von Pulp Fiction zu situieren und somit die Verbindung zum Leser dieser Arbeit herzustellen. Während im ersten Kapitel der Koffer als Gegenstand an sich betrachtet wird, soll ein kurzer Einblick hinter die Kulissen im zweiten Kapitel die Auseinandersetzung hinsichtlich der Waffen entschärfen. In den letzten beiden Kapiteln werden die Drogen und die Uhr historisch eingebettet, um die Kontinuität ihrer Bedeutung zu verdeutlichen.

Filmwissenschaftliche Referenzen in Verbindung mit der Rezeption der Zuschauer sollen vermitteln, dass gerade das Medium des Films geeignet ist, den Blick auf Dinge zu intensivieren sowie normative Blicke aufzuheben. Darüber hinaus wird im Ansatz versucht, Raumbezüge herzustellen, die aufzeigen sollen, dass Raum nicht homogen[7] gedacht werden kann, sondern immer in einer gleichberechtigten Verbindung mit Zeit.[8]

2. Der Koffer

2.1. Die Ordnung der Dinge

Das erste zu betrachtende Ding in dieser Arbeit reiht sich inmitten eines der prägnantesten Merkmale des Films Pulp Fiction ein und gibt ihm somit eine gewisse Ordnung. Neben der innergeschichtlichen Funktion als wichtigstes Besitztum des Gangsterbosses Marsellus Wallace gibt der Aktenkoffer der achronologischen Struktur der Erzählung im Film einen Rahmen. Der Titel des Films verweist hierbei konkret auf die in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts bekannte Trivialliteratur in Form von Groschenromanen. Damals wie heute ist diese Form der Literatur einem unterbrochenen Blick unterworfen. Die Leichtigkeit und Kurzweiligkeit der erzählten Geschichten erlaubt es dem Leser, das Buch phasenweise zu konsumieren. Daher ist es nicht problematisch, solch ein Buch in den kurzen, freien Phasen eines arbeitsreichen Tages zu lesen; zwischen Tür und Angel einen kleinen Ausschnitt der Erzählung zu gewinnen. Eine inhaltliche Verknüpfungsarbeit des Rezipienten ist dabei unausweichlich, da die Bruchstücke immer wieder neu verbunden werden müssen.[9] Der hier behandelte Film erfordert selbiges engagiertes Verknüpfen beim Zuschauer. Um die verschachtelten Geschichten des Films zu entschlüsseln, bedarf es aber einiger Querverweise und wiederkehrender Schnittstellen. Marsellus Wallace ist eine der wichtigsten Figuren, die die Handlungen miteinander verbindet. Er ist nur in wenigen Szenen zu sehen und dennoch verweisen alle Geschichten auf ihn. Einem Mann, der im Untergrund agiert und dem eine Masse an kriminellen Handlangern zur Verfügung steht, wird nicht gleich ein Gesicht gegeben. Eine derart wichtige Autorität erscheint oft wie ein Mythos, seine Handlungen und Entscheidungen werden durch Dritte ausgeführt und dennoch ist seine Anwesenheit allgegenwärtig. Wallace hat sich in der Vergangenheit einen Ruf erarbeitet, den er in der Gegenwart durch andere aufrecht erhält. Seine Präsenz findet sich aber nicht nur in der verbalen Übermittlung seines menschlichen Umfeldes wieder. Sie ist darüber hinaus an Dinge weitergegeben worden, die als Substitut an seiner statt den Raum einnehmen: der Aktenkoffer ist das prägnanteste unter ihnen. Es wird anhand zweier Szenen weiterführend gezeigt, inwiefern er die Erzählung, den Raum und die Zuschauer beeinflusst. Im Unterschied zu den kommenden Kapiteln werden hier gleich zu Beginn beide Szenen beschrieben.

Die Gangster Vincent und Jules haben den Auftrag, den von drei Kleinkriminellen entwendeten Aktenkoffer ihres Bosses Marsellus Wallace zurückzuholen. Sie dringen dazu in die Wohnung der Diebe ein, die sich der gefährlichen Situation vollkommen bewusst sind. Der Mann auf dem Sofa sagt Vincent schließlich, wo der Koffer in der Küche zu finden ist. Dieser gibt die Zahlenkombination „666“ ein und vergewissert sich über den Inhalt des Koffers. Erst nach zufriedenstellender Kontrolle erschießen die beiden Gangster die Männer in der Wohnung, nicht ohne ihnen vorher bewusst zu machen, mit wem sie sich angelegt haben.

Die zweite Szene steht in der linearen Handlungsfolge im Zusammenhang mit der eben beschriebenen Szene, ist aber die Letzte im Film. Vincent und Jules fahren nach ihrer Odyssee mit dem blutverschmierten Auto in ein Diner, um dort zu frühstücken. Die Zuschauer erkennen, dass die beiden bereits in der ersten Szene des Films anwesend waren, in der Pumpkin und Honey Bunny das Restaurant überfallen haben. Vincent ist bereits vor Beginn des Überfalls auf der Toilette. Durch einen herausfordernden Blick von Jules wird Pumpkin auf ihn aufmerksam und verlangt seine Brieftasche. Daraufhin fällt ihm der Koffer ins Auge, dessen Inhalt er erfahren möchte. Als er geöffnet wird, ist Pumpkin so abgelenkt, dass es Jules möglich ist, ihn zu überwältigen. Der Gangster macht dem Gelegenheitsdieb nun unmissverständlich deutlich, dass er momentan eine Entwicklung durchmacht und ihn nicht töten möchte. Er hätte wegen des Koffers viel zu viel durchgemacht, als dass er ihn den beiden geben würde. Stattdessen überlässt er Pumpkin die 1500 Dollar aus seiner Brieftasche. Das Überfall-Pärchen verlässt das Diner.

2.2. Der Ort der Dinge

Noch bevor bestimmte Werte und Einflüsse durch den Konsumenten oder Besitzer auf ein Ding einwirken, erzeugen sie „einen Überschuss an Materialität oder Dinghaftigkeit, der nicht im Dienst des Subjekts aufgeht.“[10] Es ist demnach wichtig zu zeigen, dass ein Ding durch seine Form, die Räumlichkeit oder die Farbe aus sich heraustritt und in eine vielschichtige Situation eingebettet ist.[11] Die mit der Räumlichkeit zusammenhängende Lokalität der Dinge wird wiederum durch andere Dinge definiert. Die Abstände und die Zwischenräume bedingen die Konstellation zueinander[12] und verorten das Objekt in Abhängigkeit zur gegenständlichen Umwelt und nicht zu den Personen. Nach Etablierung in den jeweiligen Szenen grenzt sich der Koffer deutlich von den umgebenen, profanen Objekten ab. Die Voluminosität als zweiter Faktor der Räumlichkeit rekurriert auf die Oberfläche, die nicht nur bloße Fläche ist, sondern die Aufgabe hat, etwas zu umhüllen.[13] Speziell bei einem Koffer ist diese Eigenschaft bedeutend, da die Hülle beziehungsweise das Material, den Inhalt vor neugierigen Blicken schützt. Allgemein kann gesagt werden, dass ein Aktenkoffer das übliche Transportmittel für wichtige Unterlagen eines Geschäftsmannes ist. Das Aussehen und die Verarbeitung sind charakteristisch für einen nach außen propagierten elitären Status, der zusätzlich mit einer Aura des Geheimnisvollen umgeben ist. Durch ihre raumkonstituierende Wirkung kann der Farbe des Objektes ein besonders hoher Stellenwert zugesprochen werden.

„ Durch seine Farbigkeit organisiert das einzelne Ding den Raum im ganzen, d.h. tritt in Konstellation zu anderen Dingen bzw. zentriert den Raum bei einer Übermacht seiner Farbe und tönt oder tingiert zugleich alle anderen Dinge.“[14]

Die schwarze Farbe dieses Objekts korrespondiert auch mit der Kleidung seines Trägers.[15] Dies passiert ebenso im übertragenen Sinn. Das schwarze Leder des Koffers schützt seinen Inhalt ebenso wie der schwarze Anzug die Gangster vor öffentlichem Argwohn. Der Anzug ist nicht nur Berufskleidung und Zeichen für Professionalität, sondern auch für Kühle und Passivität gegenüber dem gewalttätigen Job. In der zweiten beschriebenen Szene tragen die beiden Gangster T-Shirts und kurze Hosen, was an der Rechtmäßigkeit, im Besitz eines Aktenkoffers zu sein, zweifeln lässt. Die Männer ziehen so mehr Aufmerksamkeit auf sich, da Freizeitkleidung nicht mit einem Aktenkoffer harmoniert. Das Schloss an diesem soll einen bestimmten Inhalt schützen, zeigt jedoch auch gleichzeitig Außenstehenden, dass der Träger eine bedeutsame Person mit exklusiven Informationen ist. Ein Koffer dieser Art fungiert zugleich als Erkennungsmerkmal, das einer „äußeren Nivellierung unterschiedlicher Personengruppen“[16] vorgreift.

Durch die Zahlenkombination „666“ wird wiederum der Bezug zu Marsellus Wallace hergestellt. Die personalisierte Zahl kann als Zeichen der Zusammengehörigkeit gedeutet werden und verweist auf das umfassende Gefüge aus Subjekt und Objekt.[17] Die Kombination wird in der außerfilmischen Rezeption als wichtiger Hinweis auf den Inhalt des Koffers hinzugezogen. Fest steht, dass „666“ die biblische Zahl des Antichristen und eine Relation zum amoralischen, kriminellen Boss der Unterwelt somit naheliegend ist. Das Objekt kann daraus resultierend einerseits als die gegenständliche Personifikation des Bosses angesehen werden. Seine Delegation ist aus diesem Grund aber noch viel weitreichender. Der Koffer ist das auslösende Moment in der Szene. Die Welle der daraus resultierenden Gewalt geht über auf das aggressive Verhalten der Gangster, auf die Angst der Diebe und findet ihren finalen Ausgang im Gebrauch der Schusswaffen. Ein in der Vergangenheit liegendes Ereignis und ein nicht präsenter Auftraggeber stellen die normale Ordnung von Raum und Zeit auf den Kopf. Indem abwesende Instanzen Handlungen in die Gegenwart transportieren und diese zeitgleich auf Menschen und Dinge ableiten, wird die enge Verbindung von menschlicher und nicht-menschlicher Entität deutlich.[18] Durch diese Zusammenhänge wird angezeigt, dass nicht nur Personen, sondern auch konkrete Gegenstände eine Erzählung forcieren können und die Macht haben, in den Mittelpunkt der visuellen Narration zu rücken, um die komplexen Verknüpfungen zwischen den Handlungen und den Personen zu veranschaulichen.[19] Auch wenn die Zahlenkombination das Objekt personalisiert, haben im Film verschiedene Figuren den Koffer im Besitz. Der Ausgangspunkt mag von Marsellus Wallace ausgehen, doch steht der Koffer für jeden der ihn besitzenden und umgebenden Personen für etwas anderes. Für die Diebe versprach er ein lukratives Geschäft, für die Gangster ist er ein Symbol der Loyalität gegenüber ihrem Boss. Und für Marsellus Wallace selbst? Dinge sind nicht immer eingebettet in eine bloße symbolische Repräsentation. Durch Filmtechniken wie die Großaufnahme wird zuallererst auf den Gegenstand selbst verwiesen.[20] Durch diese Selbstreferentialität tritt die Bedeutung des Inhalts im Koffer in den Hintergrund. Dieser steht allein für sich und für seine Funktion, den Handlungsverlauf mit zu konstituieren. Dahingehend ist es nicht grundlegend wichtig, sich an die breite Diskussion und die Mutmaßungen um den Inhalt anzuschließen, sondern die durch diesen Anlass provozierten Handlungsverläufe der Figuren festzuhalten, die wiederum essentiell für den Film sind. Mit Hilfe von Beleuchtungseffekten strahlt der Koffer beim Öffnen, was eine Lebendigkeit suggeriert.[21] Das dort Sichtbare ist völlig einnehmend und die jeweilige Person ist abgelenkt und muss wiederholt gefragt werden, bevor sie antwortet. Das sichergestellte Diebesgut bedeutet für Vincent und Jules die Beendigung ihres Auftrages. Für die drei Männer in der Wohnung deutet der Verlust des Koffers auf ihr daraufhin sicheres Todesurteil hin.

2.3. Die Funktion der Dinge

Das Zusammenspiel aus Jules moralischer Kehrtwende, nachdem er durch die an ihm vorbeigeschossenen Kugeln knapp dem Tod entkommen ist sowie der Inhalt des Koffers, den Pumpkin sieht, evozieren in der zweiten Szene kein Blutbad, sondern eine fast friedliche Lösung der Situation. Generell sind die Umstände im Restaurant andere, insofern die Gangster durch das Ablegen ihrer Anzüge ihres nach außen markierten, unnahbaren Status entledigt wurden und als „Opfer“ auftreten. Den beiden Gelegenheitsgangstern kommt dabei sicher zugute, dass sie zunächst nur auf den in einer Sinnkrise steckenden Jules treffen und sich ihrer eigenen Unzulänglichkeit gegenüber den Berufskriminellen nicht bewusst sind. Obwohl der Koffer über die Länge des Films auratische Tendenzen zeigt, indem die ihn besitzenden Personen vor Gefahren geschützt zu sein scheinen, ist er lediglich Ursprung des nachfolgenden Verlaufs. Um die Funktion des Koffers im Folgenden genauer zu untersuchen, bedarf es des von Hitchcock geprägten Begriffs des MacGuffin. Für den legendären Regisseur ist dieser „eine Finte, ein Trick, ein Dreh[…]“.[22] Der MacGuffin sei überdies zwar für die handelnden Figuren im Film wichtig, jedoch nicht für den Erzähler der Geschichte. Er ist in diesem Sinne austauschbar und gerade deshalb unwichtig, ja sogar das Nichtigste am ganzen Film.[23] Ist also der Koffer in Pulp Fiction im Grunde überhaupt nichts? Speziell in Bezug auf die Rezipienten ist die Annahme nicht haltbar. Es ist von enormer Bedeutung, die Neugier des Publikums zu wecken, wenngleich konstatiert werden kann, dass der Anlass der Neugier, in diesem Fall der Inhalt des Koffers, austauschbar ist.[24] Für den weiteren Verlauf der Handlung ist es nicht relevant, ob sich im Koffer Diamanten, wichtige Papiere oder gar die Seele von Marsellus Wallace befindet - zumindest auf der Seite des Autoren. Wenn es diesem möglich ist, den MacGuffin durch einen anderen zu ersetzen aber gleichzeitig die Geschichte in den Grundzügen nicht ändern zu müssen, ist es sinnvoll die von Hitchcock proklamierte „Nichtigkeit“ hinsichtlich des Autors zu interpretieren.[25] Eine Auslegung in diese Richtung spart allerdings weitestgehend die Zuschauer aus, für die der Inhalt im Koffer vielleicht nicht aufgedeckt wird, der MacGuffin als Handlungsmotivation und in seiner Bedeutung für die Figuren allerdings nachvollziehbar sein muss.[26] Die Frage, die sich am Ende stellt, ist, ob die provozierte Neugier im Verlauf des Films befriedigt werden soll oder der Erfolg dessen von dieser Erkenntnis abhängig ist? Auf Grund der Tatsache, dass der Kofferinhalt jenes „dramaturgische Element [bleibt], das zwar der Anlass für einen Großteil der im Vordergrund stehenden Handlungen ist, jedoch keinen Einfluss auf deren konkreten Verlauf hat“[27], ist ein frühes, spätes oder nie stattfindendes Enthüllen des Geheimnisses irrelevant. Pulp Fiction hätte indes nur halb so viel Kultstatus erlangt und nur halb so viele Foren im Internet gefüllt, wenn uns bekannt wäre, was den Schein auf die Gesichter der Personen geworfen hat.

Entgegen der frühen Anfänge des Films stehen nicht mehr nur der Regisseur und sein Film im Vordergrund. Dieses Konglomerat wird nach Gilles Deleuze dank Hitchcock um einen Faktor erweitert. Der Zuschauer ist jene wahrnehmende Instanz, deren Reaktion zum „integralen Bestandteil des Films“[28] wird. Selbst ein Regisseur wie Tarantino, der altbekannte Muster des Erzählens durchbricht und einer chronologischen Abfolge keine Wichtigkeit beimisst[29], ist auf kleinste Verweise und wiederkehrende Elemente angewiesen, um die Aufmerksamkeit des Publikums aufrechtzuerhalten. Gerade diese Hommage an verschiedenste Genres und das „kulturelle Recycling“[30] ist es, die die Filme Tarantinos interessant und das Beobachten und Entschlüsseln jedes noch so kleinen Details zu einem „Fansport“ gemacht hat. In diesem Durcheinander sind es daher die zunächst unauffälligen Gegenstände, die auf die Existenz einer, für den Film wichtigen, Person hinweisen oder durch Selbstreferenz der Handlung einen Anlass geben und zuletzt einer achronologischen Struktur einen Rahmen verleihen.

[...]


[1] vgl. Dallos/Tesarik (2000), S. 134.

[2] Dallos/Tesarik (2000), S. 134.

[3] Hickethier, K. „Filmanalyse: PULP FICTION“, in: J. Felix, (Hrsg.), Moderne Film Theorie, Mainz: Bender, 2002, S. 97. zitiert nach Albani (2004), „Filmanalyse: Pulp Fiction( Quentin Tarantino, 1994) “, S. 1.

[4] Einen guten Überblick gibt Kathi Loch (2009), S. 10.

[5] ebd.

[6] Böhme (2006), S. 42.

[7] In den Kulturwissenschaften ist seit Ende der 1980er Jahre ein Spatial Turn entstanden, der sich gegen Container-Räume als starre, festgeschriebene Einheiten richtet und an Handlungsräume, die sich als Relationen von Objekten und Akteuren konstituieren (vgl. Moritz Csáky/Christoph Leitgeb. „Kommunikation-Gedächtnis-Raum: Orientierung im spatial turn der Kulturwissenschaften“, in: Moritz Csáky und Christoph Leitgeb (Hrsg.), Kommunikation - Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem „Spatial Turn“, Bielefeld: transcript, 2009, 7-10.).

[8] Hinsichtlich des Mediums Film wird der Topological Turn hier als geeigneter aufgefasst, da der engen Verschränkung von Zeit und Raum Rechnung getragen wird. Das Topologische betont die Genese des Raums als zeitrelative, veränderliche und von symbolischen Besetzungen abhängige Verbindung von Orten (vgl. Ott (2009), S. 61 sowie Kapitel 4.4. dieser Arbeit).

[9] Albani (2004), „Filmanalyse: Pulp Fiction ( Quentin Tarantino,1994) “, S. 1.

[10] Loch (2009), S. 110.

[11] vgl. Böhme (1995), S.168-172 zitiert nach Loch (2009), S.110f.

[12] vgl. Böhme (1995), S. 168.

[13] vgl. Böhme (1995), S. 168.

[14] Böhme (1995), S. 171.

[15] Mihm (2001), S. 107.

[16] vgl. Mihm (2001), S. 110.

[17] Mihm (2001), S. 71.

[18] vgl. Latour (2002), S. 231. Latour betont das Handeln eines verschwundenen Akteurs, der im Hier und Jetzt aktiv ist und ein Leben inmitten technischer Delegierter evoziert. Somit entsteht ein neuer Hybrid aus den Gangstern und der Waffe (vgl. Kaptitel 3.4. dieser Arbeit)

[19] vgl. Macho (2007), S. 237.

[20] vgl. Macho (2007), S. 238.

[21] vgl. Macho (2007), S. 239.

[22] Truffaut (1990), S. 125.

[23] vgl. Truffaut (1990), S. 126f.

[24] vgl. Fuxjäger (2006), S. 128.

[25] vgl. Fuxjäger (2006), S. 132.

[26] vgl. Fuxjäger (2006), S. 150f.

[27] Fuxjäger (2006), S. 138.

[28] Deleuze (1990), S.270 zitiert nach Macho (2007), S. 237.

[29] vgl. Dallos/Tesarik (2000), S. 135.

[30] Dallos/Tesarik (2000), S. 136. Hier schließe ich mich der Definition von Dallos und Tesarik an, wonach eine Verbindung aus „Zitat“ (der kulturelle Hintergrund Tarantinos, sein Filmwissen und seine Kompetenz im Reich der Populärkultur) und „Verarbeitung“ (Auswahl der passenden Elemente sowie deren spezifische Abwandlung) zum „Recycling“ führt.

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Details

Title
Koffer, Waffen, Drogen, Uhr. Die Funktion der Dinge in Quentin Tarantinos "Pulp Fiction"
College
Humboldt-University of Berlin
Grade
1,3
Author
Year
2012
Pages
43
Catalog Number
V292661
ISBN (eBook)
9783656897538
ISBN (Book)
9783656897545
File size
627 KB
Language
German
Keywords
dinge, tarantino, drogen, pulp fiction, latour, film
Quote paper
Carolin Langsch (Author), 2012, Koffer, Waffen, Drogen, Uhr. Die Funktion der Dinge in Quentin Tarantinos "Pulp Fiction", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/292661

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