Feste Strukturen im Angesicht Flüchtiger Ströme

Mubaraks Fall, das Internet und Zygmut Baumans Flüchtige Moderne


Diplomarbeit, 2013

88 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abstract:

1 Einleitung

2 Zygmunt Baumans gegenwartsdiagnostische Theorien
2.1 Moderne, Postmoderne, Flüchtige Moderne – Die Entwicklung der gegenwartsdiagnostischen Theorien Zygmunt Baumans
2.1.1 Die Moderne und der Holocaust
2.1.2 Ambivalenz und Postmoderne
2.1.3 Die Flüchtige Moderne
2.2 Von Festem und Flüssigem – Eine Zusammenfassung

3 Die Einordnung des Mubarak-Regimes und des Internets in die gegenwartsdiagnostische Theorien Zygmunt Baumans
3.1 Das Mubarak-Regime als feste Struktur moderner Ordnung
3.1.1 Eine kurze Historie der politischen Landschaft Ägyptens
3.1.2 Die ägyptische Gesellschaft vor der Revolution
3.1.3 Ägypten vor der Revolution – feste Strukturen moderner Ordnung
3.2 Das Internet als Flüchtige Struktur
3.2.1 Eine kurze Historie des Internets
3.2.2 Das Internet und die Gesellschaft: Technikdeterminismus, Sozialdeterminismus oder dialektischer Ansatz?
3.2.3 Das Internet als vorauseilendes Element der Flüchtigen Moderne
3.3 Darlegung der besonderen Qualität des Aufeinandertreffens des Internets mit dem Mubarak-Regime

4 Feste Strukturen im Angesicht flüchtiger Ströme
4.1 Frühphase: Etwas Flüchtiges dringt ein (1990 – 2010)
4.2 Hauptphase: Revolution! (Januar – März 2011)
4.3 Spätphase: Quo vadis Revolution 2.0? (März 2011 - August 2013)

5 Resümee
5.1 Ergebnis und Zusammenfassung der wichtigsten Punkte
5.2 Weiterführende Diskussion

6 Anmerkungen
6.1 Anmerkungen zur Schreibweise arabischer Namen
6.2 Anmerkungen zu den verwendeten Abbildungen

7 Quellenverzeichnis

Abstract:

Der Pfad zur Flüchtigen Moderne wird von Zygmunt Bauman weitestgehend als eine geradlinige Entwicklung beschrieben, in welcher die flüchtigen Elemente alles Feste hinwegfegen und ersetzen, ohne dass es zu einer Gegenwehr seitens der bestehenden Strukturen kommt. Dabei vermeidet er es, genauer auf das entstehende Spannungsfeld zwischen festen sowie flüchtigen Elementen einzugehen und lässt dabei außer Acht, dass es zur vollständigen Erfassung der Komplexität des derzeitigen sozialen Wandels dennoch eines präziseren Einblick in die Interaktion zwischen festen und flüchtigen Elementen bedarf. Ziel dieser Arbeit ist daher, unter der Annahme von Zygmunt Baumans Thesen zur Moderne sowie der Flüchtigen Moderne, das Spannungsgeld zwischen festen Strukturen und flüchtigen Elementen im Rahmen ihres initialen Aufeinandertreffens zu untersuchen. Dabei wird dargelegt, wie sich feste Strukturen moderner Ordnung im Angesicht flüchtiger Ströme verhalten und umgekehrt. Aufgrund der theoretischen Ausrichtung der Forschungsfrage ist die Untersuchungsmethode der Literaturanalyse im Verbund mit der Übertragung der theoretischen Erkenntnisse auf die tatsächlichen Begebenheiten des gewählten Fallbeispiels der ägyptischen Revolution 2011 erforderlich. Dabei konnte im Rahmen der Arbeit herausgestellt werden, wie flüchtige Elemente eine moderne Ordnung durchdringen können und so im Rahmen der entstehenden Konflikte komplexe Prozesse des sozialen Wandels initiieren. Die Durchsetzung flüchtiger Elemente erfolgt dabei keineswegs linear und Bedarf zu ihrer Etablierung weiterer Faktoren.

1 Einleitung

Die Welt um uns herum verflüchtigt sich. Alte, verfestigte Strukturen schmelzen dahin und werden stetig durch schnellere und beweglichere Aggregatszustände ersetzt. Soziale und politische Strukturen behalten ihre Gestalt nicht mehr für eine längere Zeit bei, sondern werden umgehend wieder eingeschmolzen und dem Wandel unterworfen bevor sie sich zu festen und stützenden Formen entwickeln können. Dies ist das Bild der Gegenwart, welches der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman in seinem Werk Flüchtige Moderne (Bauman [2000] 2003) und seinen zahlreichen weiteren gegenwartsdiagnostischen Publikationen seit den 1990er Jahren hinsichtlich der Entwicklung der Moderne über die Postmoderne hin zu einer verflüchtigten Form der Moderne, von ihm als Flüchtige Moderne betitelt, entwirft. Glaubt man Bauman, so trifft die Tendenz der zunehmenden Verflüchtigung und des konstanten Wandels auf alle Aspekte unseres Lebens in der westlichen Hemisphäre zu, sie erfasst Gesellschaft, Politik, Kultur und Wirtschaft gleichermaßen und breitet sich im Zuge der Globalisierung über den gesamten Erdball aus. Und es ist eben diese zunehmende Verflüchtigung, welche aus Baumans Sicht die gegenwärtige soziale Welt charakterisiert und einen fundamentalen Wandel hin zur Flüchtigen Moderne ankündigt.

Betrachtet man die frühe Moderne, so war diese noch geprägt von Faktoren wie Größe, Gewicht oder Masse, wohingegen gegenwärtig das „Kleinere, Leichtere, Beweglichere“ (Bauman [2000] 2003, S. 20) im Fokus steht. Die Wirtschaft wurde erleichtert durch den Übergang von den festen Fabrikhallen aus Stein und Mörtel des Fordismus in denen “schwere“ Waren gefertigt wurden, hin zu einer “leichteren“, “gewichtsloseren“ Form in der hauptsächlich das Handeln mit Informationen und Dienstleistungen im Mittelpunkt steht. Güter nehmen nun vielfach immaterielle Formen an und so bewegen sich Waren wie beispielsweise Musik oder Bücher zunehmend anhand von Datenströmen anstelle ihr physikalischen Ausgangsformen. Ebenso zirkuliert das Geld freier als jemals zuvor und fließt zum Teil nur auf Basis eines einzelnen Mausklick. Doch nicht nur die Wirtschaft ist im hohen Maße der Verflüchtigung unterworfen, vielmehr dringt diese Entwicklung in alle gesellschaftlichen Bereiche vor und beginnt sie zu verändern. Ob Beziehungen, Arbeitsstrukturen oder Kommunikationsformen, sie alle werden von der zunehmenden Verflüchtigung erfasst.

Zygmunt Bauman bietet im Rahmen seiner zahlreichen Bücher eine Vielzahl präziser Beobachtungen und Analysen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse mit ihrer Tendenz zur Verflüchtigung und der voranschreitenden Auflösung fester Strukturen in allen Bereichen. Allerdings ignoriert er dabei aber fast vollständig die Interaktion, welche zwischen festen und flüchtigen Strukturen im Rahmen dieses Wandlungsprozesses stattfindet (vgl. auch Ritzer/Murphy 2002, S. 52). Der Pfad zur Flüchtigen Moderne wird von Bauman weitestgehend als eine geradlinige Entwicklung mit nur einer Richtung beschrieben, in welcher die flüchtigen Elemente alles Feste hinwegfegen und ersetzen, ohne dass es zu einer Gegenwehr seitens der bestehenden Strukturen kommt. Dabei vermeidet er es, genauer auf das entstehende Spannungsfeld zwischen festen sowie flüchtigen Elementen im Rahmen der Wandlungsprozesse und die wechselseitige Beeinflussung der beiden Elemente einzugehen. Ich möchte mich von daher der Meinung von George Ritzer und James Murphy anschließen, dass Baumans Arbeiten über die Entwicklung der Moderne hin zur Flüchtigen Moderne zwar den Werkzeugkasten der Soziologie um nützliche Instrumente zur Betrachtung sowie Untersuchung der Gegenwart erweitert haben, es zur vollständigen Erfassung der Komplexität des derzeitigen sozialen Wandels dennoch eines präziseren Einblick in die Interaktion zwischen festen und flüchtigen Elementen bedarf (vgl. Ritzer/Murphy 2002, S. 52). Ritzer und Murphy analysieren und belegen in ihrem Essay Festes in einer Welt des Flusses (Ritzer/Murphy 2002) treffend, dass feste Elemente auch innerhalb einer bereits verflüchtigten Gesellschaft der Postmoderne weiterhin als Instrumentarien dienen können, um flüchtige Ströme umzulenken, zu bremsen oder zu kanalisieren und legen dar, welche Formen der Interaktion sich aus diesem Einsatz ergeben. Aufgrund dessen möchte ich im Zuge dieser Arbeit noch einen Schritt weiter zurück gehen und das initiale Aufeinandertreffen von Gesellschaften mit festen Strukturen moderner Ordnung mit der aufkommenden Verflüchtigung und den daraus resultierenden Phänomenen betrachten. Somit verhält sich der in dieser Arbeit zu untersuchende Bereich im Grunde spiegelbildlich zu dem von Ritzer und Murphy untersuchten: Nicht verbleibende feste Elemente in einer verflüchtigten Gesellschaft sollen betrachtet werden, sondern vielmehr das erste Eindringen flüchtiger Elemente in eine feste Struktur moderner Ordnung. Die Forschungsfrage, welcher dabei unter der Annahme von Baumans Theorien zur Flüchtigen Moderne nachgegangen werden soll, ergibt sich aus dem Versuch der Untersuchung des Spannungsfeldes zwischen festen Strukturen und flüchtigen Elementen im Rahmen ihres eben beschriebenen Aufeinandertreffens. Wie verhalten sich feste Strukturen moderner Ordnung im Angesicht flüchtiger Ströme und umgekehrt? Will man diesen Fragen nachgehen und geht man davon aus, das in den meisten westlichen Ländern die Transformation von festen Strukturen moderner Ordnung hin zu einer Form der Flüchtigen Moderne bereits weitestgehend abgeschlossen ist, so ist es sinnvoll, die Grenz - und Außenbereiche dieser globalisierten Entwicklung zu betrachten und sich dorthin zu begeben, wo die Ausläufer der Flüchtigen Moderne gerade zum ersten Mal auf die noch existierenden festen Formen moderner Ordnung treffen und diese zu durchdringen beginnen.

Blickt man auf das aktuelle Weltgeschehen, so zeigt insbesondere die Entwicklung im Rahmen des arabischen Frühlings, Zeichen eines massiven Wandels fester Strukturen im Angesicht flüchtiger Ströme. Die ehemals festen und autokratisch geprägten Strukturen der dortigen Regime brachen im Frühjahr 2011 in einer nie für möglichen gehaltenen Welle des Protestes zusammen und befinden sich seit diesen Tagen in einem konstanten Prozess der Umformung und Neufindung. Eine bedeutende Rolle in diesen Umstürzen wurde dabei auch immer wieder, insbesondere in Ägypten und Tunesien, dem Internet zugeschrieben. Einer technischen Innovation, die sich wohl wie keine zweite als Motor und als Sinnbild für die Beschleunigung- und Verflüchtigungstendenzen der Postmoderne bezeichnen lässt. Mit seiner zunehmenden Präsenz in allen unseren Lebensbereichen und seiner inhärenten Eigenschaft, im Grunde alles, mit dem es in Berührung kommt - Güter, Märkte, Menschen oder Informationen - zu verflüchtigen, durchdringt es immer mehr Räume. Insbesondere die Verflüchtigung von Informationen durch die neuen Medien haben das Internet für Staaten wie Ägypten oder Tunesien nicht nur zu einem Fenster in die westlichen Konsumgesellschaften gemacht, sondern auch zu einem mächtigen Kommunikationsinstrument jenseits der staatlichen Kontrolle über das die Bürger ihren Unmut gegenüber dem repressiven Regimen akkumulieren und ihren Widerstand organisieren konnten.

Zielsetzung dieser Untersuchung ist mithin das Spannungsfeldes zwischen festen Strukturen und flüchtigen Elementen anhand der Ereignisse im Rahmen des Arabischen Frühlings zu untersuchen. Als Ausgangspunkt dafür kann aufgrund des limitierten Rahmens dieser Arbeit nicht der gesamte arabischer Raum, sondern nur ein einzelnes Fallbeispiel betrachtet werden. Diese Bearbeitung bezieht sich von daher ausschließlich auf die Ereignisse im Rahmen der ägyptischen Revolution im Frühjahr 2011, denen aufgrund der hohen Relevanz Ägyptens im arabischen Raum eine besondere Bedeutung zukommt. Anhand des Aufeinandertreffens der festen Strukturen moderner Ordnung, welche in den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen Ägyptens immer noch zu einem großen Teil vorherrschend sind, mit der verflüchtigten Struktur des Internets, soll deren wechselseitige Beziehung und Beeinflussung dargelegt werden. Zudem wird aufgezeigt, wie sich feste Strukturen moderner Ordnung im Angesicht flüchtiger Ströme und umgekehrt verhalten. Im Rahmen der Untersuchung soll damit der eingangs skizzierten Forschungsfrage nachgegangen werden und Baumans Theorien mit den realen Ereignissen und Entwicklungen in Ägypten in Verbindung gesetzt werden. Aufgrund der theoretischen Ausrichtung der Forschungsfrage ist dafür die Untersuchungsmethode der Literaturanalyse im Verbund mit der Übertragung sowie Anwendung der theoretischen Erkenntnisse auf die tatsächlichen Begebenheiten des gewählten Fallbeispiels erforderlich.

Daraus ergibt sich folgender Aufbau der Arbeit: Nach der Einleitung (Abschnitt 1) sollen im ersten Schritt Baumans gegenwartsdiagnostische Theorien zur Moderne zusammengefasst werden. Dies umfasst in erster Linie die Entwicklung der Moderne von ihrer ursprünglich festen hin zu ihrer gegenwärtigen verflüchtigten Form. Abschließend werden die wichtigsten Merkmale von festen Strukturen der Moderne und flüchtigen Strukturen der Flüchtigen Moderne zusammenfassend herausgestellt, um so eine Möglichkeit der Kategorisierung anhand dieser Kriterien zu bieten (Abschnitt 2.2). Die Einordnung der Hauptelemente der Untersuchung - die ägyptische Gesellschaft sowie das Mubarak-Regime auf der einen Seite und das Internet auf der anderen Seite - in diese Kategorien soll anschließend im Rahmen der strukturellen und historischen Betrachtung ebendieser erörtert werden (Abschnitt 3). Hierbei wird kurz auf die Debatte zum technologischen Determinismus eingegangen sowie der Unterschied des Internets zu anderen bisherigen technologischen Innovation dargelegt. Die Analyse des Aufeinandertreffen der zuvor theoretisch eingeordneten Elemente erfolgt sodann anhand der Untersuchung des Fallbeispiels der ägyptischen Revolution, insbesondere im Hinblick auf das Spannungsfeld zwischen festen sowie flüchtigen Strukturen und ihrer wechselseitigen Beziehung zueinander (Abschnitt 4). Abschließend werden die Untersuchungsergebnisse diskutiert und zusammengefasst sowie ein Ausblick auf potentielle zukünftige Entwicklungen gegeben (Abschnitt 5).

2 Zygmunt Baumans gegenwartsdiagnostische Theorien

Zygmunt Bauman ist wohl unbestrittenen einer der Klassiker der Soziologie der Gegenwart und einer der renommiertesten Soziologen der Postmoderne. Ausgezeichnet 1989 mit dem Amalfi-Preis, 1998 mit dem Theodor W. Adorno-Preis sowie 2010 mit dem Prinz-von-Asturien-Preis, prägen seine Arbeiten wie nur wenige andere den Diskurs in der gegenwartsdiagnostischen Soziologie.

Baumans Gesamtwerk erstreckt sich über mehr als 50 Jahre und umfasst mittlerweile mehr als 30 Bücher sowie eine Vielzahl von Aufsätzen. Nicht nur der lange Zeitraum und die hohe Anzahl sowie Frequenz seiner Veröffentlichungen, sondern auch die vielfältigen Einflüsse aus Nachbarwissenschaften der Soziologie, ähnlich wie die große Bandbreite der bearbeitenden Thematiken, machen die Aneignung und Erfassung des Gesamtwerkes Zygmunt Baumans schwierig. So behandelt er in verschiedenen Arbeiten so unterschiedliche Themenbereiche wie den Holocaust, die Globalisierung, das europäische Gemeinschaftskonzept bis hin zum Online-Dating. All dies allerdings immer im Hinblick auf die unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Moderne und ihre Auswirkungen auf Mensch und Gesellschaft.

Aufgrund des soeben skizzierten Gesamtumfanges und der vielfältigen thematischen Bezüge in Baumans Werken, ist ein vollständiger Überblick über sein Werk in diesem Rahmen weder möglich, noch ist er zweckdienlich. Der Fokus dieser Arbeit soll vielmehr auf den gegenwartsdiagnostischen Überlegungen zur Entwicklung der Moderne liegen, die Zygmunt Bauman seit dem Ende der 1980er Jahre veröffentlicht hat. Für eine umfangreiche Gesamtdarstellung von Baumans Werken lässt sich im deutschsprachigen Raum auf Junge (2006), im englischsprachigen auf Smith (1999), Beilharz (2000), Tester (2004) und Blackshaw (2005) sowie auf die dänische Gesamtdarstellung von Jacobsen (2004) verweisen (vgl. hierzu auch Junge 2006, S. 9). Im folgenden Abschnitt soll mithin ein Überblick über die für diese Arbeit relevanten Teile Baumans umfangreichen Schaffens zur Moderne, Postmoderne und Flüchtigen Moderne gegeben werden.

2.1 Moderne, Postmoderne, Flüchtige Moderne – Die Entwicklung der gegenwartsdiagnostischen Theorien Zygmunt Baumans

Zygmunt Baumans Hauptwerk lässt sich im Grunde in drei Phasen unterteilen in denen er den Übergang von der Moderne bis zur flüchtigen Moderne beschreibt und analysiert. In den Ende der achtziger Jahre verfassten Arbeiten, insbesondere Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust (Bauman [1989] 1992), beschäftigt sich Bauman vorerst mit der Moderne als Ordnungsform, deren oberstes Ziel die Schaffung einer absoluten Ordnung ist. Dabei deutet er den Kern der Kultur der Moderne als einen beständigen Kampf gegen die Ambivalenz sowie gegen alles Uneindeutige und nicht Klassifizierbare. Insbesondere diese Überlegungen zur Ambivalenz in der Moderne läuten den Übergang in die zweite Phase ein, in der Bauman sich mit Moderne und Ambivalenz (Bauman [1991] 2005) mit dem Übergang der Moderne in die Postmoderne beschäftigt. Diese Auseinandersetzung ist geprägt durch die Realisierung, dass die Moderne ihren inneren Feind die Ambivalenz, durch dessen Bekämpfung sie sich gleichfalls konstituiert, nicht gewinnen kann, da Ambivalenz jedem Ordnungssystem inhärent ist. Von diesem Punkt ausgehend entwickelt Bauman schrittweise eine Soziologie der Postmoderne, bis er mit Flüchtige Moderne (Bauman [2000] 2003) eine weitere perspektivische Wendung hin zur Flüchtigen Moderne vornimmt, einer Ordnungsform, welche für Bauman die Starrheit klassischer Ordnungsansprüche gänzlich hinter sich gelassen hat und sich nun in einem Prozess der Formauflösung und Entgrenzung befindet.

Aufgrund der spätestens seit dem Ende der achtziger Jahre vorherrschenden und obig dargelegten, kontinuierlichen Anknüpfung der Werke Baumans untereinander, lassen sich seine Theorien zur Moderne, Postmoderne und Flüchtigen Moderne nicht isoliert voneinander betrachten. Von daher soll der nun folgende Abschnitt die Zusammenhänge zwischen den einzelnen dieser drei Phasen sowie deren Inhalte noch einmal näher erläutern, da Baumans gegenwartsdiagnostischen Theorien die Grundlage respektive den Bezugspunkt dieser Arbeit darstellen und von daher elementar für die weitergehenden Untersuchungen sind.

2.1.1 Die Moderne und der Holocaust

Eine genaue Datierung dessen, was die Wissenschaft als Moderne bezeichnet, fällt gemeinhin deutlich schwerer, als es sich aufgrund des vielfachen und leichtfüßigen Gebrauches des Wortes annehmen lässt. Bauman ist sich der Unschärfe des Begriffes durchaus bewusst, definiert diesen für sich aber ebenfalls nur lose als eine Periode und eine „gesellschaftliche Formation, die […] im Verlauf des siebzehnten Jahrhunderts entstand und ihre letzte Gestalt […] während des neunzehnten Jahrhunderts annahm“ (Bauman [1992] 1995, S. 221). Im Allgemeinen hält Bauman das Thema der exakten Datierung der von ihm betrachteten Perioden nur für eine der vielen „foci imagarii, die, wie Schmetterlinge, den Augenblick nicht überleben, da eine Nadel durch ihren Leib gestoßen wird, um sie an einem Platz zu fixieren“ (Bauman [1991] 2005, S. 17). Von daher verzichtet Bauman zumeist auf eine genauere Datierung der Anfänge und Übergänge von Moderne, Postmoderne und später flüchtiger Moderne. Zudem will Bauman die Moderne von Modernismus abgegrenzt sehen, da Letzterer eher als Trend beziehungsweise als Übergangsphase in einen neuen Abschnitt zu sehen sei. Diesen Abschnitt tituliert Bauman bereits als „postmoderne Situation“ oder schlichtweg als Postmoderne (vgl. Bauman [1991] 2005, S. 15 f.).

Der Ausgangspunkt von Baumans Betrachtungen und Überlegungen zur modernen Periode, findet sich in seiner Auseinandersetzung mit dem Holocaust im Rahmen seines Werkes Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust (Bauman [1989] 1992). Hierbei rekonstruiert er im Gegensatz zur zumeist vorherrschenden Meinung, den Genozid an den Juden nicht als deutschen Sonderweg (vgl. Joas 1996; 1998, Maier 1988), sondern vielmehr als eine in den Strukturen der Moderne angelegte Möglichkeit. „Der Holocaust wurde inmitten der modernen, rationalen Gesellschaft konzipiert und durchgeführt, in einer hoch entwickelten Zivilisation und dem Umfeld außergewöhnlicher kultureller Leistungen; er muss von daher als Problem dieser Gesellschaft, Zivilisation und Kultur betrachtet werden.“ (Bauman [1989] 1992, S. 10) Mit dieser Aussage knüpft Bauman direkt an Max Webers Rationalisierungsthese an und versucht darauf aufbauend anhand intensiver Studien zu zeigen, dass der Holocaust nur unter dem Einsatz des Instrumentariums der gesetzgebenden Vernunft, unter Verwissenschaftlichung, Rationalisierung, Distanzierung von den Objekten, Bürokratisierung und Effizienzsteigerung des Verwaltungsapparates sowie der damit einhergehenden Entkoppelung der moralischen Bewertungen der Handlungen realisiert werden konnte. „Der Holocaust entsprang genuinen rationalistischen Überlegungen und wurde von einer Bürokratie in Reinkultur produziert“ (Bauman [1989] 1992, S. 31). Die Juden galten zu Zeiten des NS-Regimes als Fremdkörper innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung, da sie im gesellschaftlichen Ordnungsentwurf der Nationalsozialisten nicht vorkamen. Um dieses Konzept durchzusetzen, war es aus der Perspektive des vorherrschenden Ordnungsentwurfes folgerichtig die Juden dem Genozid zu unterwerfen. Auf Basis dieses Verständnisses handelt es sich für Bauman beim Holocaust keinesfalls um das „irrationale Hervorbrechen nicht überwundener Relikte prämoderner Barbarei“, sondern vielmehr ist der Holocaust „ein legitimer Bewohner im Haus der Moderne, er könnte in der Tat in keinem anderen je zu Hause sein“ (Bauman [1989] 1992, S. 31). Zwar bringt die moderne Bürokratie laut Bauman nicht zwangsläufig genozidartige Phänomene hervor, doch hält er die Grundsätze eines instrumentellen Rationalismus eindeutig für ungeeignet, um Phänomene dieser Art zu verhindern. Somit sei der Holocaust zwar nicht durch die bürokratische Kultur als solche determiniert gewesen, aber gerade diese Kultur, „die Gesellschaft ja als administratives Objekt und Konglomerat von >Problemen< begreift, die einer Lösung harren, schuf die Atmosphäre, in welcher der Gedanke des Holocaust langsam, aber kontinuierlich reifen und zur Vollstreckung gebracht werden konnte“ (Bauman [1989] 1992, S. 32).

Zusammenfassend sind es somit nicht allein die Veranlagungen und Instrumentarien der Bürokratie, die den Holocaust in Baumans Augen möglich machten. Vielmehr bedurfte es zusätzlich des erwähnten übergeordneten Ziels, dem Streben nach dem Aufbau einer vollkommenen Ordnung (vgl. Junge 2006, S. 55). Die Verbindung von bürokratischer Rationalisierung und einem angestrebten Ordnungsentwurf, der sich als entscheidendes Strukturmerkmal der Moderne vor die gesellschaftliche Ordnung stellt, diese Kombination von Mittel und Zweck, war letztlich die Voraussetzung, die den Holocaust überhaupt möglich machte. Dieser ist mithin nach Baumans Auffassung letztlich ein Versuch der Moderne, mit typisch modernen Mitteln Unordnung sowie Uneindeutigkeit aus der Kultur zu entfernen und den übergeordneten Ordnungsentwurf durchzusetzen.

Mit seiner Strukturbeschreibung der Moderne als eine gewaltförmige und an Effizienzkriterien orientierte Form der Sozialgestaltung durch den Staat mit dem Ziel der Unterwerfung der Gesellschaft im Zuge der Durchsetzung eines Ordnungsentwurfes, ist Bauman ein wichtiger Beitrag zur Erfassung der sozialen Konsequenzen der Moderne gelungen (vgl. Junge 2006, S. 58). Seine Abhandlung zum Holocaust bildet die Basis zur Definition der Moderne als eine Kultur der Ordnung. Zugleich zeigt sie auf, dass es innerhalb der Moderne zu einem fortwährenden Kampf um die Verwirklichung dieser einen eindeutigen Ordnung kommt.

Eben jener Kampf um die eindeutige Ordnung ist es auch, der sich als die auszeichnende Aufgabe der Moderne bezeichnen lässt oder wie Bauman es formuliert: Die Moderne stellt sich die „Aufgabe […] der Ordnung als Aufgabe“ (Bauman [1991] 2005, S. 16). Doch bevor die Ordnung zum Ziel respektive zur Aufgabe werden konnte, musste sie zunächst formuliert werden. In der Zeit vor der Moderne gab es laut Bauman keine Ordnung und wo es keine Ordnung gab, existierte auch nichts, was nicht Ordnung, also Chaos war. Bauman bezeichnet Ordnung und Chaos als „moderne Zwillinge“ (Bauman [1991] 2005, S. 16), die in den Zusammenbruch der göttlichen Weltordnung im Zuge der Aufklärung hineingeboren wurden und wie Yin und Yang untrennbar miteinander verbunden sind. Das Erkennen der Unterscheidung von Ordnung und Chaos war schlussendlich gleich einem zweiten Sündenfall „der letzte Seufzer der vergehenden Welt; und der erste Laut der neugeborenen Moderne“ (Bauman [1991] 2005, S. 17). Diese quasi aus dem Nichts heraus geborene Urdichotomie von Ordnung und Chaos wird nach ihrer Entdeckung zum Archetyp aller Aufgaben, welche alle anderen Aufgaben zu bloßen Metaphern ihrer selbst werden lässt (vgl. Bauman [1991] 2005, S. 16). Die Moderne lässt sich somit als die Zeit des Bewusstseins der Ordnung bezeichnen, sie ist mithin eine Zeit, „da Ordnung […] reflektiert wird“ (Bauman [1991] 2005, S. 17).

Von diesem Punkt an, muss Baumans Entwurf der Moderne als ein zweigeteiltes Konstrukt betrachtet werden. Auf der einen Seite steht stets der erstrebenswerte Zustand der Ordnung und auf der anderen der zu vermeidende sowie vehement zu bekämpfende Zustand des Chaos. Unter dieser Prämisse und im Bezug auf die Aussage Friedrich des Großen, dass der Menschen eine Pflanze sei, die man züchten müsse (vgl. Bauman [1991] 2005, S. 51 f.), entwickelt Bauman die Metapher des modernen Staates als Gärtner. So wie ein Gärtner nützlichen Bewuchs vom Unkraut trennt, um sicher zu stellen, dass der Garten nach seinen Vorstellungen wächst und gedeiht, ist die moderne Staatsführung daran interessiert, einen Ausbruch der von ihm geführten Menschen aus der vorgesehenen Ordnung zu verhindern. Im Rahmen dieser Entwicklung wird Ordnung und die Möglichkeit diese zu erzwingen, zum Fluchtpunkt der Moderne, doch trifft der gärtnerisch aktive Staat dabei auf einen Gegner, dem er nicht Herr werden kann: die Ambivalenz.

2.1.2 Ambivalenz und Postmoderne

Bauman definiert Ambivalenz[1] zunächst als eine „Möglichkeit, einen Gegenstand mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen“ (Bauman [1991] 2005, S. 11). Für Bauman gehört sie fest zur conditio humana und ist somit jeder gesellschaftlichen Ordnung immanent. Die Existenz der Ambivalenz basiert letztlich auf dem Versagen der „Nenn-(Trenn-)Funktion“ (Bauman [1991] 2005, S. 11) von Sprache, die ihre Hauptfunktion des Benennens und des Klassifizierens nicht vollständig erfüllen kann, da es keine wirklich eindeutigen Klassifizierungen gibt und geben kann. Benennungs- und Klassifizierungsfunktionen stellen sich zwischen eine stabile, geordnete und damit für Menschen bewohnbare Welt sowie eine kontingente Welt des Zufalls, in welcher menschliche Überlebenswaffen wie Gedächtnis und Lernfähigkeit nutzlos sind. (vgl. Bauman [1991] 2005, S. 12) Die oberste Aufgabe dieser Funktionen ist es somit Ordnung aufrecht zu erhalten und Zufall sowie Kontingenz zurückzudrängen. Aus diesem Grunde erfahren wir Ambivalenz als Bedrohung und als Unbehagen, denn sie „wirft die Berechnung von Ereignissen über den Haufen und bringt die Relevanz erinnerter Handlungsstrukturen durcheinander“ (Bauman [1991] 2005, S. 12). Eine Situation wird dann ambivalent, wenn sich die sprachlichen oder gesellschaftlichen Strukturierungswerkzeuge als inadäquat erweisen, da die vorherrschende Situation entweder in keine der gebildeten Klassen oder in mehrere gleichzeitig fällt. Somit ist keines der erlernten Muster oder eventuell sogar mehrere anwendbar. Das Resultat ist letztlich ein Gefühl der Unentschiedenheit, Unentscheidbarkeit sowie ein daraus resultierender Kontrollverlust. Mit der Unvorhersehbarkeit der Konsequenzen, kehrt der Zufall zurück, der ursprünglich durch das Bestreben nach Strukturierung ausgeschlossen werden sollte (vgl. Bauman [1991] 2005, S. 12 f.). Doch da Ambivalenz ein Nebenprodukt des Versuches der Strukturierung sowie der Klassifikation ist, verlangt sie laut Bauman nach immer mehr Bemühen um Klassifikation (vgl. Bauman [1991] 2005, S. 14). Daher werden beim Bekämpfen der Ambivalenz durch das Schaffen von zunehmend genaueren Klassifizierungen und präziseren Definitionen, immer höhere Ansprüche an die Transparenz der Welt gestellt und somit zeitgleich immer weitere Einfallstore für Mehrdeutigkeit geschaffen. Der Kampf gegen die Ambivalenz ist folglich zugleich „selbstzerstörerisch und selbsterzeugend“ (Bauman [1991] 2005, S. 14), indem jede sprachliche als auch gesellschaftliche Ordnung letztlich immer auf das von ihr Ausgeschlossene, nicht Klassifizierbare und damit einhergehend auf das durch sie nicht Realisierte verweist. Dieser Umstand führt dazu, dass sich die Moderne einem unbesiegbaren Gegner gegenüber sieht, in dessen ständiger Bekämpfung - dem Kampf gegen die Ambivalenz, das nicht Klassifizierbare, das Uneindeutige - sie sich zugleich konstituiert.

Daraus ergibt sich ein Bild, welches zeigt, dass die Moderne für Bauman letztlich ein von vorneherein zum Scheitern verurteilter Krieg gegen die Ambivalenz ist. Sie ermöglicht sich dadurch selbst, dass sie sich eine unmögliche Aufgabe stellt. „Die unmögliche Aufgabe wird durch die foci imaginarii der absoluten Wahrheit, der reinen Kunst, der Menschlichkeit als solcher, der Ordnung, der Gewißheit, der Harmonie, des Endes der Geschichte gestellt. Wie alle Horizonte können sie niemals erreicht werden. […] Wie alle Horizonte bewegen sie sich kontinuierlich mit der Zeit und verleihen auf diese Weise dem Gehen die hilfreiche Illusion eines Ziels, eines Wegweisers und eines Zwecks“ (Bauman [1991] 2005, S. 26 f.). Schlussendlich ist es eben die Ambivalenz und die mit ihr verbundene Sisyphosaufgabe, die die Moderne zur Postmoderne drängt. Der Übergang zur Postmoderne wird dabei gekennzeichnet durch eine bestimmte Stufe der Reflektion der Moderne (vgl. hierzu auch ausführlich Lyotard 1988), während derer der Moderne bewusst wird, dass all ihre Bemühungen umsonst sind. „Postmoderne ist nicht mehr (aber auch nicht weniger) als der moderne Geist, der einen langen, aufmerksamen und nüchternen Blick auf sich selbst wirft, auf seine Lage und seine vergangenen Werke, nicht ganz überzeugt von dem, was er sieht, und den Drang zur Veränderung verspürt. Postmoderne ist die Moderne, die volljährig wird: die Moderne die sich selbst aus der Distanz betrachtet statt von innen, die ein vollständiges Inventar von Gewinn und Verlust erstellt, sich selbst psychoanalysiert, die Absichten entdeckt, die sie niemals zuvor so gründlich analysiert hat, und findet, dass sie sich gegenseitig ausschließen und widersinnig sind. Postmodern ist die Moderne, die sich mit ihrer eigenen Unmöglichkeit abfindet“ (Bauman [1991] 2005, S. 428 f.).

Die Postmoderne ist somit zudem als ein Teil der Moderne zu sehen und stellt kein losgelöstes Phänomen dar, da sie die Anlagen der Moderne immer noch in sich trägt und aus ihnen gespeist wird. Sie ist quasi als ein neuer Bewusstseinszustand der Moderne zu verstehen, welcher zu dem Zeitpunkt entsteht, an dem die Moderne das notwendige Scheitern ihres Versuchs der Etablierung einer eindeutigen Klassifikationsordnung und Schaffung einer ambivalenzfreien Homogenität realisiert. Diese Bewusstwerdung wird geprägt durch die Anerkennung der immer weiter voranschreitenden Dominanz von Ambivalenz sowie Ambiguität im sozialen Raum und damit der Einsicht der Sinnlosigkeit des Unterfangens ihrer vollständigen Beseitigung. Unter dieser Prämisse kann der gärtnerisch agierende Staat der Ambivalenz nur noch Herr werden, indem er sich zunehmend aus der Aufgabe ihrer Beseitigung zurückzieht und diese damit einhergehend in einen Bereich außerhalb der Gesellschaft verlagert wird: in das Private. Somit wird die Auseinandersetzung mit der Ambivalenz und die Aufgabe ihrer Bewältigung in die Verantwortung eines jeden Einzelnen übergeben. Die Anstrengung zur Auflösung der Ambivalenz wird zu etwas Persönlichem „und ebenso das Scheitern der Anstrengung. Und der Vorwurf für das Scheitern. Und das Schuldgefühl, das der Vorwurf mit sich bringt.“ (Bauman [1991] 2005, S. 311). Der herrschende staatliche Ordnungsentwurf wird mithin von der Auseinandersetzung mit der Ambivalenz nicht mehr tangiert, auch wenn dabei seine Macht zur Erzwingung einer eindeutigen Ordnung geringer geworden ist. Doch ist es nicht nur der übergeordnete Ordnungsentwurf des Staates, den die Postmoderne angreift, sie attackiert dabei auch jegliche Form der Gewissheit. Konnten Zweifel an der Wahrheit von Wissen unter den Prämissen der Moderne stets durch weiterführende Klassifizierungen und Erklärungen beseitigt werden, so entsteht im Übergang zur Postmoderne eine zweite Form des Zweifels: Ein Zweifel, welcher sich schließlich in der Überzeugung manifestiert, dass die Gewissheit, nach der die Wissenschaft strebt, keine ist. Dieser Zweifel bezieht sich nicht mehr länger nur auf den Inhalt des Wissens, sondern zielt auf seine Struktur (vgl. Junge 2006, S. 62). Denn in der Abstinenz einer übergeordneten Ordnung, entsteht konkurrierendes Wissen und es gibt kein allgemeingültiges Kriterium mehr zur Bestimmung welches als falsch auszuschließen und welches als gültig und richtig zu betrachten ist. Vielmehr wird ein Raum für eine ambivalente und pluralistische Perspektive geschaffen, unter der sich eine Vielzahl ungewisser Deutungsansprüche und Handlungsmöglichkeiten sammelt, welche ohne die normative Regulierung des Staates in sozialen Auseinandersetzungen um Anerkennung und Realisierung kämpfen.

Diese konstanten und unlöslichen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bestimmen von nun an die soziale Agenda und werden zur treibenden Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung in der Bauman Solidarität als die einzige große Chance der Postmoderne ausmacht. Er schreibt: „Die Postmoderne ist eine Chance der Moderne. Toleranz ist eine Chance der Postmoderne. Solidarität ist eine Chance der Toleranz“ (Bauman [1991] 2005, S. 404). Genauer ausgeführt bedeutet dies, dass die Postmoderne insofern eine Chance der Moderne ist, da sie die Moderne reflektiert und ihr damit ermöglicht einen Blick auf ihre innere Struktur zu werfen und die Unmöglichkeit ihrer Aufgabe, der Schaffung einer eindeutigen Ordnung, zu erkennen. Setzt sich diese Erkenntnis schlussendlich durch, so ist Toleranz die Chance, welche dem neuem Bewusstseinszustand der Moderne (also der Postmoderne) bleibt, um die Gewaltsamkeit der modernen Ordnungsverhältnisse zu verhindern (vgl. Junge 2006, S. 62 f.). Aus dieser Situation heraus kann nun wiederum Solidarität entstehen, welche die Koexistenz unterschiedlicher Entwürfe innerhalb der Gesellschaft ermöglicht und sich den Absolutheitsansprüchen der klassischen modernen Ordnungsentwürfe verweigert. Das Eintreten dieser Solidarität, ist dabei aber laut Bauman eine schwache Hoffnung dritten Grades, hängt ihre Verwirklichung doch vorerst von der erfolgreichen Realisierung der beiden vorangegangenen Größen, der Reflektion der Moderne sowie der Entwicklung von Toleranz, ab. Und auch damit nicht genug, denn wie Bauman feststellt, gibt es zwar keine Solidarität ohne die Toleranz für die Andersheit des Anderen, „aber Toleranz ist nicht die hinreichende Bedingung für Solidarität. Noch ist Solidarität die vorherbestimmte Konsequenz der Toleranz“ (Bauman [1991] 2005, S. 413). Neben den Aspekten der Akzeptanz und der Toleranz des Anderen, muss zudem ein Bewusstsein erwachsen, welches über das Individuum hinausgeht und das gesellschaftliche Kollektiv als Lebens- und Schicksalsgemeinschaft begreift. Dem entgegen steht aber die durch die Privatisierung der Ambivalenz geschaffene Situation, in der „jede bestehende und zukünftige soziale Streitfrage als private Sorge interpretiert“ (Bauman [1991] 2005, S. 411) wird. Ein Umstand, der die postmoderne Gesellschaft laut Bauman de facto gegen Systemkritik, gesellschaftlichen Dissens und revolutionäres Potential immunisiert hat. Die Reduzierung der Politik auf die reine Verantwortlichkeit für Aspekte der öffentlichen Sicherheit und den damit einhergehendem Rückzug aus den Aufgaben des Sozialmanagements hat „die Übel der Gesellschaft desozialisiert und soziale Ungerechtigkeit in individuelle Unfähigkeit oder Gleichgültigkeit übersetzt“ (Bauman [1991] 2005, S. 412). Jeder potentielle Dissens ist damit von vorneherein entpolitisiert und wird vom Individuum als persönliche Ängste, Sorgen und Probleme interpretiert oder wie Bauman schreibt: „In der postmodernen Gesellschaft spiegelt sich Versagen in Schuld und Scham, nicht in politischem Protest“ (Bauman [1991] 2005, S. 412).

Es lässt sich somit sagen, dass Ambivalenz im Zuge der Realisierung und der Anerkennung als inhärente Eigenschaft jeder Ordnung eine andere Rolle innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung einnimmt, als noch zu den Zeiten ihrer proklamierten Vernichtung. Die Ambivalenz ist nicht mehr länger der Erzfeind, den es auszulöschen gilt, sondern sie ist im Gegenteil „zu einer der Stützen in dem Postmoderne genannten Spiel geworden“ (Bauman [1991] 2005, S. 441). Mit den Mitteln der Privatisierung des Dissenses und der damit einhergehenden Zerstreuung der Unzufriedenheit, gelingt dem postmodernen Staat eine Form der Herrschaft, welche mit deutlich weniger Zwang und geringerer ideologischer Mobilisierung auskommt. Die allgemeine Unzufriedenheit kann nicht mehr im Kollektiv akkumuliert und artikuliert werden, da sie zunehmend im Privaten ausgefochten und nicht mehr auf die machthabenden Institutionen projiziert wird, so dass ihre weitgehende Zerstreuung indirekt zur Reproduktion bzw. zum Fortbestehen des Systems beiträgt (vgl. Bauman [1991] 2005, S. 441). Letztlich führen die genannten Umstände dazu, dass im Prinzip die Unmöglichkeit einer Revolution und damit einer potentiellen Umwälzung der sozialen und politischen Verhältnisse innerhalb der Postmoderne aufgezeigt wird. Ein Umstand, mit dem Bauman sich eingehender in Die Krise der Politik (Bauman [1999] 2000) und Society under Siege (Bauman 2002) befasst. Dabei zeichnet er das Bild einer Gesellschaft, in der das klassische Muster der Politik aufgrund der zuvor genannten Gründe nicht mehr anzutreffen ist. Die Brücke zwischen privaten und öffentlichen Leben ist nicht mehr existent, so dass es den Bürgern nicht mehr gelingt „private Sorgen in öffentliche Probleme zu übersetzen und umgekehrt öffentliche Probleme in den privaten Sorgen auszumachen und zu identifizieren“ (Bauman [1999] 2000, S. 9). So kommt es zu einer Suche nach einer neuen Politik respektive einer neuen Form des Politischen. Diese ist getrieben von der Erfahrung der Diskrepanz zwischen wachsender Freiheit durch den Rückzug des Staates auf der einen Seite und der durch ebendiesen Rückzug nicht mehr vorhandenen Gewährleistung der kollektiven Sicherheitsmechanismen auf der anderen Seite, was wiederum dazu führt, dass die Ausübung der neu gewonnenen individuellen Freiheit ein hohes Risiko mit sich bringt, da kein gesellschaftliches Auffangnetz mehr existiert. Somit erfährt das Individuum ein Missverhältnis zwischen potentiell möglicher und praktisch umsetzbarer individueller Freiheit. Im Verbund mit dem Zusammenbruch der Brücke zwischen Privatem und Öffentlichem ergibt sich daher eine kollektive Ohnmacht, welche laut Baumann nur überwunden werden kann, wenn ebendiese Brücke wieder aufgebaut und die Balance zwischen beiden Bereichen – dem Öffentlichem und dem Privaten - wieder hergestellt wird. Nur durch dieses Gleichgewicht kann eine funktionierende bürgerschaftliche Öffentlichkeit entstehen, die sich wieder ihrer eigentlichen Hauptaufgabe, der politischen Regulation widmet, denn letztlich kann das Erlangen der individuellen Freiheit laut Bauman immer nur das Resultat einer kollektiven Anstrengung sein (vgl. Bauman [1999] 2000, S. 15) und nicht im Rahmen einer fragmentierten Gesellschaft ohne Kollektivbewusstsein gelingen.

Bauman sieht dabei den zunehmenden Verlust des Bürgertums und seine Ersetzung durch den „Triumph des zügellosen, individuellen und individualisierenden Konsumismus über die ‘moralische Ökonomie‘ und die gesellschaftliche Solidarität“ (Baumann [2007] 2009, S. 189) als einen entscheidenden Vorgang in der bewussten Zerschlagung des gesellschaftlichen Kollektivs, um die Privatisierung der Ambivalenzen und Probleme des postmodernen Lebens zu ermöglichen. Sinnbildlich für diese Entwicklung zitiert er eine Interview Aussage Margaret Thatchers: „So etwas wie ‚Gesellschaft‘ gibt es nicht! Es gibt nur individuelle Männer und Frauen und es gibt Familien“ (Thatcher 1987, zitiert nach Bauman [2007] 2009, S. 188). Die Atomisierung durch fortschreitende Individualisierung und Konsum führt letztendlich zu einem Zustand, in dem sich eine ausschließliche Orientierung an individuellen Lebensstilen mit dem alleinigen Ziel der persönlichen Bedürfnisbefriedigung anstelle politischer und gesamtgesellschaftlicher Orientierungen etabliert, was Bauman auch als „life politics“ (vgl. Bauman 2002, S. 119 ff.) bezeichnet und einen erheblichen Einfluss auf die Gestalt der Politik in der Postmoderne ausübt. Denn im Rahmen der Wahl eines der zahlreichen Lebensstile (und der angestrebten Möglichkeit diesen jederzeit wechseln zu können), wird auch das Desinteresse und der Rückzug aus allem Politischen zu einer gesellschaftlichen Option, während mit der Privatisierung der Politik die soziale Einbettung politischen Handelns immer weiter reduziert wird. „Unter dem Beifall einiger begeisterter Beobachter der neuen Trends wird das Vakuum, das Bürger hinterlassen, die sich in Scharen von den politischen Schlachtfeldern zurückziehen, um als Konsumenten wiedergeboren zu werden, von betont überparteilichem und streng unpolitischem ‘Verbraucheraktivismus‘ ausgefüllt“ (Baumann [2007] 2009, S. 189). Den Begriff des Verbraucheraktivismus respektive consumer activism entleiht sich Bauman dabei von Frank Furedi (vgl. Furedi 1999) und bezieht sich mit diesen auf das zunehmende Engagement der Bürger in Zeiten des Konsumismus in Nischengruppierungen und Splitterparteien wie Umweltschutzorganisationen oder anderen Lobbys, welche sich allesamt einem einzelnen hochtrabenden moralischem Ziel verschrieben haben, aber keine gesamtgesellschaftlichen Veränderungen anstreben und dabei den Blick auf diese zu verschleiern drohen. „These groups express an outlook which is oriented towards ‘quality-of-life issues’ such as consumer affairs, environmentalism and good government. […] The rise of consumerism in America coincides with declining interest in issues of economic equality and sympathy for the poor” (Furedi 1999). So bleibt zwar neben der Wahl des vollkommenen Rückzugs aus allem Politischen noch die Wahl der zum gerade gewählten Lebensstil passenden Lobbygruppe, doch weisen die hier engagierten Individuen nicht die entscheidenden Merkmale von Bürgern einer Polis auf, da sie sich nicht mit öffentlichen, sondern im Grunde privaten Problemen und dem Befriedigen ihrer individuellen Bedürfnisse sowie Interessen befassen. Diese Entwicklung führt schlussendlich laut Bauman dazu, dass selbst die zum Teil noch vorhandene kritische Theorie und Praxis „so fragmentiert, singulär und episodisch wie das postmoderne Leben selbst“ (Bauman [1999] 2000, S. 184) verläuft.

Die aus den Gegebenheiten der postmodernen Situation resultierenden Lebensformen hatte Bauman dabei bereits ein paar Jahre zuvor in seiner Essay-Sammlung Flaneure, Spieler und Touristen (Bauman [1995] 1997) skizziert und untersucht. Die Nachfolge der modernen Lebensform des Pilgers, der stets das feste Ziel vor Augen hatte seine Identität in der Zukunft zu finden, treten vier postmoderne Ausprägungen an: der Spaziergänger, der Vagabund, der Spieler und der Tourist (vgl. ausführlich zu jeder einzelnen Ausprägung Bauman [1995] 1997, S. 150 ff.). Im Gegensatz zum Pilger verfolgen diese kein übergeordnetes Ziel mehr, sie sind vielmehr auf einem Weg der kein Ankommen kennt, da Identität nicht mehr gesucht sondern zu vermeiden versucht wird. Durch die Zunahme der Ambivalenz in der Postmoderne kommt es zu einer Auflösung des Wunsches nach Identitätsfindung respektive -stabilisierung sowie zur Suche nach einer Lebensform, die jegliche Art der Identitätsfestlegung und damit auch den Zweifel an dieser umgeht. So sind die Lebensformen der Postmoderne im Grunde immer Fluchtbewegungen der Individuen: ein Fliehen vor der Ambivalenz und vor der Festlegung (vgl. Junge 2006, S. 74; Bauman [1995] 1997, S. 149). Sie bilden die Grundlage für die postmoderne Strategie der Ungebundenheit und Flexibilität. Alle vier Lebensformen teilen von daher die Eigenschaft, dass alle Ihre Begegnungen und Beziehungen, sofern überhaupt gestattet, entweder fragmentarisch oder episodisch oder aber sogar beides sind (vgl. Bauman [1995] 1997, S. 84). Fragmentarisch sind sie in Hinblick darauf, dass bei jeder Begegnung immer nur ein Teil des vielseitigen Selbst und seiner Begierden offenbart wird, „der Rest bleibt zeitweilig außer Kraft gesetzt, heimlich beiseite gestellt oder offen als privat zurückgehalten“ (Bauman [1995] 1997, S. 85). Episodisch sind sie, da jede Begegnung so abläuft, als habe sie keine Vergangenheit und auch keine Zukunft. All das, was ein Bestandteil der Begegnung ist, wird im Moment der Begegnung selbst kreiert und während ihres Ablaufs verbraucht. „Jede Begegnung erhält den Anschein einer in sich geschlossenen Entität“ (Bauman [1995] 1997, S. 85). Diese Ausprägungen postmoderner Begegnungen dienen der angestrebten Maxime der Folgenlosigkeit und der Unverbindlichkeit postmoderner Beziehungen. Die Vergesellschaftung in der Postmoderne ist gekennzeichnet durch ihre ständige Prozessualität, welche keine Geschichtlichkeit und damit einhergehend auch keinen kontinuierlichen Strom kollektiver Probleme erzeugt (vgl. Junge 2006, S. 79). Sozialität in der Postmoderne ist ein zielloses Prozessieren von Vergesellschaftung, da die Sozialisierung im Gegensatz zur Moderne kein Telos mehr besitzt, welches in Einklang mit einem übergeordneten Ordnungsentwurf definiert wird. Eine normative soziale Integration ist in der Postmoderne also nicht mehr möglich. Dies führt dazu, dass die Individuen nun zwar frei von den Ordnungsansprüchen der Moderne sind, doch resultiert aus dem verlorenen Führungsanspruch der Gesellschaft gegenüber den Einzelnen, ein Unbehagen, welches laut Bauman bezeichnend für die Postmoderne ist. War der Initiator für ein Gefühl des Unbehagens in der Moderne noch das hohe Maß an gesellschaftlicher Sicherheit und die damit einhergehende Unmöglichkeit der individuellen Freiheit, so ist das Unbehagen in der Postmoderne vielmehr geprägt durch die Gewährung von zu viel individueller Freiheit und dem Fehlen der zur Orientierung der Individuen notwendigen Sicherheiten, ausgelöst durch das Schwinden der gesellschaftlichen Kraft zur Erzwingung von Ordnung (vgl. Bauman [1997] 1999, S. 11). Unbehagen in der Postmoderne und in der Moderne verhalten sich somit im Grunde spiegelbildlich zueinander (vgl. Kastner 2000, S. 154) und stehen in enger Verbindung zu Sigmund Freuds Unbehagen in der Kultur (Freud [1930] 1993; vgl. auch Junge 2006, S. 99 f.).

Folgt man schlussendlich Baumans Fokus auf Ambivalenz als das zentrale Ordnungsproblem der Postmoderne, so lässt sich die andauernde Bewegung und die zunehmende Verflüchtigung sozialer Ordnung als direktes Resultat von Ambivalenz verstehen. Denn unterhöhlt von Ambivalenzen zerbricht die Idee der vollkommenen Ordnung und macht Platz für eine postmoderne Situation, am Ende deren Entwicklung nicht mehr die Ordnung an sich im Mittelpunkt steht, sondern vielmehr die Praxis des Ordnens (vgl. Junge 2006, S. 110; Junge 2003) in das Zentrum rückt. Die Ära der Flüchtigen Moderne beginnt, eine Ära die das Feste der modernen Ordnungsansprüche hinter sich gelassen hat und sich jetzt in einem Prozess hin zur vollkommenen Entgrenzung und Formauflösung wiederfindet.

2.1.3 Die Flüchtige Moderne

Waren Baumans Bücher seit dem Ende der 1980er Jahre geprägt von der Untersuchung und der Beschreibung der Gegenwart als postmoderne Gesellschaft, so wechselt er mit dem Erscheinen von Flüchtige Moderne im Jahre 2000 (Bauman [2000] 2003 dt.: Flüchtige Moderne) ein weiteres Mal die Leitmetapher hinzu der des Flüssigem respektive des Flüchtigen. Dem Bildnis des als Gärtner agierenden Staates wird nun das Bild eines dahin strömenden Flusses als Versinnbildlichung der sich ständig verändernden Situationen der Individuen gegenüber gestellt. Ging es in der Moderne stets um das Auslöschen von Ambivalenz innerhalb ihrer Ordnung und war die Postmoderne geprägt von der stetigen Zunahme ebenjener Ambivalenzen, so ist das Konzept der Ordnung in der Flüchtigen Moderne nicht mehr länger das einer feststehenden und bewegungslosen Formation. Vielmehr hat es sich durch die Allgegenwärtigkeit der Ambivalenz in eine Form der Ordnung verwandelt, deren Charakteristikum in ihrer Flüchtigkeit, Fragilität und Instabilität besteht. Ins Zentrum der Ordnung der Flüchtigen Moderne rückt nun der kontinuierliche Prozess des Relationierens und des Anordnens von Interessen, Bedürfnissen und Beziehungen, ohne dass der Zustand einer langfristigen Stabilität erreicht wird. Die reine Prozessualität des Relationierens und Anordnens erzeugt dabei das Phänomen der Flüchtigkeit (vgl. Junge 2006, S. 110).

Das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit verschiebt sich zudem weiter in Richtung zunehmender Freiheit und immer weniger Sicherheit. Dies geht einher mit der voranschreitenden Etablierung einer Risikogesellschaft, in der Risiken weder staatlich, noch durch ein Kollektiv eingebettet sind und alleine durch das Individuum getragen werden müssen (vgl. Bauman [2000] 2003, S. 44 f.). Die daraus resultierende Privatisierung von Risiken und die immer weiter voranschreitende Individualisierung werden zusätzlich verstärkt durch den Wandel des Kapitalismus von seiner schweren, noch in der Moderne vorherrschenden Form der fordistischen Produktion und Schwerindustrie, hin zu einer leichteren Form, deren Mittelpunkt postfordistische Produktionsformen wie die Erzeugung von Dienstleistungen bilden. Die Individuen sind zugleich Wählende und Ressource innerhalb der neuen Konsumgesellschaft. Sie werden damit selber zu Konsumgütern „und es ist die Eigenschaft, ein Konsumgut zu sein, die sie zu vollwertigen Mitgliedern jener Gesellschaft macht“ (Bauman [2007] 2009, S. 77). Dabei ist es die Aufgabe eines jeden Einzelnen seinen Marktwert kontinuierlich zu steigern, auch um damit verbunden mehr Wahlmöglichkeiten zu erhalten. Erlangt werden kann dies nur durch “Fitness“ welche in der Flüchtigen Moderne an die Stelle der Gesundheit als neuer Idealzustand des Körpers tritt und damit auch diesem der Flüchtigkeit unterwirft. Bei Fitness geht es nicht primär um die Erlangung eines spezifischen Zieles in der Gegenwart, sondern vielmehr darum, die Bereitschaft respektive das “Fit-sein“ für alle zukünftigen unbekannten Herausforderungen durch einen flexiblen und adaptiven Geist sowie Körper zu gewährleisten, um so keine Opportunitäten verstreichen zu lassen. „Während Gesundheit ein Zustand des ‘Nicht mehr, aber auch nicht weniger‘ ist, bleibt Fitneß [sic] auf der Seite des ‘Mehr‘ offen: Sie bezieht sich keineswegs auf einen bestimmten Standard körperlicher Leistungsfähigkeit, sondern vielmehr auf ein (im Idealfall grenzenloses) Potential der Erweiterung.“ (Bauman [2000] 2003, S. 94) Und während die Unterwerfung des Produzenten- sowie Soldatenkörpers in der Moderne noch im Kollektiv erfahren wurde und somit auch eine kollektive Form des Widerstandes erzeugte, ist das ständige Streben nach Fitness eine einsame Aufgabe, bei der Defizite selbstverschuldet und mithin auch selbst zu beseitigen sind.

Zudem wandelt sich in der Flüchtigen Moderne auch der Umgang mit Identität. War die Suche nach eine beständigen Identität noch prägend für die Moderne und deren vorherrschende Lebensform des Pilgers, so tritt in der Flüchtigen Moderne das Problem der Selbsterfindung sowie -festlegung an ihre Stelle, welches hauptsächlich mit der Frage verbunden ist: Was könnte ich sein? (vgl. Bauman 2001, S. 147). Der Rückgriff auf wirksame soziale Normierungen, auf kollektive Aspekte wie Klassenidentität, Klasseninteresse oder Provenienz zur Beantwortung dieser Frage ist dabei nicht mehr möglich. Vielmehr ist auch die Entscheidung der Identifikation der Privatisierung unterworfen und wird zusätzlich durch die Bedingung erschwert, dass im Rahmen der sozialen Beschleunigung die bindende sowie dauerhafte Wahl einer Identifikation keine Option mehr darstellt. Als erfolgreich kann Identifikation, respektive die Wahl einer solchen, innerhalb der Konsumgesellschaft der Flüchtigen Moderne deshalb nur dann bezeichnet werden, wenn sie jederzeit revidiert und kurzfristig durch eine andere Wahlentscheidung ersetzt werden kann (vgl. Junge 2004; Junge 2006). Somit ist das Individuum in einem kontinuierlichen Prozess der Selbsttransformation gefangen, durch den neben der Privatisierung nun auch die Flüchtigkeit Einzug in die Identifikation hält.

Zusätzlich zu der Umstellung von Identität auf Identifikation wird außerdem das Soziale durch Sozialität ersetzt. Unter Bezug auf Michel Maffesoli (Maffesoli [1988] 1996) beschreibt Bauman den Verlust der Fähigkeit des Sozialen als Anker im Identifikationsprozess zu fungieren, da das Soziale keine Einheit mehr darstellt und nicht mehr von Kontinuität geprägt ist. Stattdessen muss Sozialität immer wieder aufs Neue erfunden werden, um dem beschleunigten Vergesellschaftungsprozess der Konsumgesellschaft wie ihn auch Hartmut Rosa (Rosa 2005) beschreibt, Rechenschaft zu tragen und kein Trend oder Ereignis zu verpassen. Das Individuum ist aufgrund des Verlustes des Sozialen aber stetig auf der Suche nach einer sozialen Verankerung in der gerade Identität stiftenden Bezugsgruppe und nach einem imaginierten „Wir“ (vgl. Bauman 2004b, S. 24). Die Hoffnung der Flüchtigkeit der eigenen Identifikation durch eine Gemeinschaft zu entkommen, unterwirft auch die Sozialität der Flüchtigkeit und lässt die Flüchtige Moderne immer instabiler werden (vgl. Junge 2006, S. 116). Die flüchtige Sozialität überträgt sich dabei auf alle Formen der sozialen Beziehungen. Zugehörigkeiten, Neigungen oder Affinitäten erscheinen nicht mehr als gegeben wie einst noch in der Moderne, sondern werden gewählt. Dabei ist, wie es sich schon in den Lebensformen der Postmoderne abzeichnete, Bindungslosigkeit das relevanteste Merkmal für Zugehörigkeiten und Beziehungen in der Flüchtigen Moderne. Die Individuen verlieren zunehmend die Fähigkeit und den Willen (längerfristige) Bindungen und Beziehungen einzugehen, da sie als Restriktion erfahren werden und somit die eigene Fitness einschränken könnten. Eines der bezeichnendsten Beispiele für diesen Umstand liefert dabei letztlich der Begriff des “Lebensabschnittgefährten“ (vgl. Junge 2006, S. 116).

Aus diesem Konglomerat von verflüchtigten Strukturen im Sozialen und in den Identifikationsprozessen ergibt sich ein prekäres Bild vom Leben in der Flüchtigen Moderne, welches geprägt ist von Instabilität und Unsicherheit. „In short: liquid life is a precarious life, lived under conditions of constant uncertainty“ (Bauman 2005, S. 2). Unter diesen Umständen der Unbeständigkeit und der Unsicherheit ist eine soziale Figuration nicht mehr möglich. Das Soziale verflüchtigt sich und determiniert daher auch keine Wahlentscheidungen mehr, sondern lässt diese als individualisierte und privatisierte Entscheidungssituationen zurück, wodurch sich der gegenseitige Bedingungskreislauf zwischen dem Übergang der Identität zur Identifikation und des Sozialen zur Sozialität schließt.

Menschen, die in diesem beschleunigten Vergesellschaftungsprozess nicht mithalten können - entweder weil sie die falsche Wahl getroffen haben oder von vorne herein vom Wählen ausgeschlossen waren - werden zum menschlichen Abfall der Flüchtigen Moderne. Bauman greift diese Problematik mit seinem Buch Verworfenes Leben (Bauman [2004] 2005) auf und skizziert eine Situation, in der das Identifikationsproblem der oberen gesellschaftlichen Schichten stark von dem der unteren divergiert. Während die Identifikationswahl der Ersteren bestimmt wird durch die Frage nach dem besten Angebot, geht es bei den Letzteren in einem kontinuierlichen Kampf hinsichtlich der wenigen ihnen überhaupt zur Verfügung stehenden Identifikationsoptionen darum, in dem beschleunigten Vergesellschaftungsprozess Schritt halten zu können, nicht unterzugehen und zu Abfall zu werden. „The meaning of the ‘underclass identity’ is an absence of identity; the effacement or denial of individuality“ (Bauman 2004a, S. 39). Die Beschleunigung zeigt sich dabei in den immer geringeren Halbwertszeiten von Identifikationen und Identifikationsangeboten. Sie sind in der Konsumgesellschaft an den Marktwert gebunden und sobald dieser erlischt, verschwindet das Identifikationsangebot vollständig und wird durch ein neues ersetzt. Das konsumeristische Syndrom tritt an die Stelle seines produktivistischen Bruders aus der Moderne. Flüchtigkeit und Begehren treten an die Stelle von Werten wie Dauer und Haltbarkeit (vgl. Junge 2006; Bauman 2005, S.83 f.). Verkörpert wird das konsumeristische Syndrom vor allem durch drei Elemente: Geschwindigkeit, Exzess und Abfall (vgl. Bauman 2005, S.84). Geschwindigkeit spiegelt dabei die beschleunigten Marktprozesse wider, welche wiederum beschleunigend auf den Vergesellschaftungsprozess wirken. Exzess steht für die nicht zu befriedigenden Bedürfnisse des Konsumenten, die zu Konsum im Übermaß führen. Unter der Prämisse der wachsenden Bedeutung von Geschwindigkeit und Exzess nimmt dann auch die Produktion gesellschaftlichen Abfalls zu (vgl. Junge 2006, S. 118 f.). Abfall in der Flüchtigen Moderne entpuppt sich zudem als ein notwendiges Produkt für deren Fortbestand. Denn ohne Abfall gäbe es keine Produktion und ohne diese kein Erzeugen gesellschaftlicher Verhältnisse (vgl. Junge 2006, S. 120).

[...]


[1] Ergänzend sei unter Verweis auf Junge (Junge 2006, S. 60 f.) zu erwähnen, dass das, was Bauman als Ambivalenz bezeichnet, genau genommen Ambiguität ist. Ambiguität, also Zweideutigkeit deutet auf ein klassifikatorisches Problem hin, während Ambivalenz, also Zweiwertigkeit, auf eine erlebte Erfahrung hindeutet. Junge (Junge 2006, S.60 f.), weist zudem darauf hin, dass Bauman mit der Differenz beider Begriffe zu spielen scheint, um sich Analyseperspektiven offen zu halten, welche nicht nur die Beschreibung eines Klassifikationsproblems, sondern auch die von Handlungen und Erfahrungen gestattet.

Ende der Leseprobe aus 88 Seiten

Details

Titel
Feste Strukturen im Angesicht Flüchtiger Ströme
Untertitel
Mubaraks Fall, das Internet und Zygmut Baumans Flüchtige Moderne
Hochschule
Universität Hamburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
88
Katalognummer
V293049
ISBN (eBook)
9783656903062
ISBN (Buch)
9783656903079
Dateigröße
1141 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Postmoderne, Soziologie, Internet, Arabischer Frühling, Ägypten, Mubarak, Tahir Platz, Liquid Modernity, Revolution 2.0, Arabische Revolution, Social Media, Facebook, Twitter
Arbeit zitieren
Daniel Schuldt (Autor:in), 2013, Feste Strukturen im Angesicht Flüchtiger Ströme, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/293049

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