Rechtsphilosophie. Besprechung von Fällen der Rechtssicherheit, Zweckmäßigkeit, Gerechtigkeit und Wiederaufnahme


Hausarbeit, 2014

27 Seiten, Note: 14 Punkte


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

A. Aufgabe 1)
I. Verhältnis von Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit nach Radbruch
1. Einleitung
2. Bestandteile der Rechtsidee
3. Verhältnis von Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit zueinander
II. Bewertung

B. Aufgabe 2a)
I. Voraussetzungen des strafrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens
1. Allgemeines
2. Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten
3. Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Angeklagten
II. Vergleich der gesetzlichen Voraussetzungen für die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten und zuungunsten des Angeklagten

C. Aufgabe 2b)
I. Berücksichtigung von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit nach gegenwärtiger Rechtslage
II. Denkbare Erweiterungen der Wiederaufnahmetatbestände zuungunsten des Angeklagten
1. Geständnis des Täters
2. Neue Tatsachen oder Beweismittel

Literaturverzeichnis

A. Aufgabe 1)

I. Verhältnis von Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit nach Radbruch

1. Einleitung

Radbruch benennt in seinem Werk „Rechtsphilosophie“ die Bestandteile der Rechtsidee.1 Er beschreibt damit die Anforderungen, die ein ideales Gesetz erfüllen sollte und erstellt damit gleichsam eine allgemeine Richtschnur für den Gesetzgeber. Das ideale Gesetz, dass der Rechtsidee vollkommen entspricht, ist in der Realität naturgemäß kaum denkbar. Radbruch zeigt allerdings zusätzlich auf, warum aus seiner Sicht das ideale Gesetz eine Utopie bleiben muss: Die einzelnen Bestandteile der Rechtsidee laufen einander zuwider. Schon in der Überschrift zu § 9 seines Werks2 spricht er von „Antinomien der Rechtsidee". Mit der bereits wertenden Bezeichnung als „Antinomien“ nimmt Radbruch das im Folgenden entwickelte Ergebnis vorweg: Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit sind nach seinen Ausführungen zwar unverzichtbare Bestandteile der Rechtsidee, stehen aber zueinander in einem Spannungsverhältnis.

2. Bestandteile der Rechtsidee

a) Gerechtigkeit

Radbruch benennt in § 9 seines Werks3 als erste und nächstliegende Anforderung der Rechtsidee die Gerechtigkeit. Dabei bezieht er sich auf seine vorangegangenen Ausführungen zum „Begriff des Rechts“4, in denen er unter anderem herausgearbeitet hat, wie Gerechtigkeit als Bestandteil der Rechtsidee aufzufassen ist. Hier hält Radbruch es zwar für naheliegend und auch zutreffend, die Gerechtigkeit bezogen auf das menschliche Individuum als Erscheinungsform des „sittlich Guten“, also als eine menschliche Tugend anzusehen, die jedem das Seine5 (sein Recht) zugestehen, also jedem gerecht werden will. Eine gerechte Gesinnung sei allerdings immer auf die „objektive Gerechtigkeit“ gerichtet. Diese objektive Gerechtigkeit betrifft nach Radbruchs Ausführungen nicht den Charakter eines menschlichen Individuums, sondern das „Verhältnis zwischen Menschen“. Radbruch benennt daher „das Ideal der (objektiven) Gerechtigkeit“ als „ideale Gesellschaftsordnung“. Die Gerechtigkeit im Verhältnis der Menschen einer Gesellschaft untereinander beschreibt er als zentrales Element der Rechtsidee. Die Rechtsidee findet idealerweise ihren äußeren Ausdruck im Recht einer Gesellschaft6 ; das Recht dient folglich der Gestaltung der Gesellschaftsordnung im Sinne der Rechtsidee.

Weiter stellt Radbruch die These auf, Gerechtigkeit im Sinne objektiver Gerechtigkeit bedeute Gleichheit.7 Auch hier seien aber verschiedene Arten des Verständnisses von Gleichheit möglich. Gleichheit könne sich auf das angemessene Verhältnis von Gütern beziehen – hier nennt Radbruch beispielhaft das Verhältnis von Lohn zu Arbeit – , Gleichheit könne aber auch im Sinne der Gleichbehandlung von Menschen z.B. bei Bestrafung aufgefasst werden. Gleichheit könne sich darüber hinaus als absolute oder relative Gleichheit darstellen: Absolute Gleichheit bei Gleichwertigkeit von Gütern, relative Gleichheit durch verhältnismäßige unterschiedliche Behandlung bei verschieden starken Ausprägungsformen (z.B. Verschuldensanteile bei mehreren Tatbeteiligten).8 In diesen Überlegungen sieht er die Verbindung zu der Lehre des Aristoteles von der Gerechtigkeit. Aristoteles unterscheide die „absolute Gleichheit zwischen Gütern“ (Lohn und Arbeit) als „ausgleichende Gerechtigkeit“ von der „austeilenden Gerechtigkeit“, die sich als „verhältnismäßige Gleichheit“ in der Behandlung von menschlichen Individuen äußert.9 Radbruch überträgt diese Unterscheidung auf das geltende Rechtssystem: Die ausgleichende Gerechtigkeit sei die Gerechtigkeit des Privatrechts, die austeilende Gerechtigkeit die Gerechtigkeit des öffentlichen Rechts. Hieraus leitet Radbruch eine übergeordnete Funktion der austeilenden Gerechtigkeit ab. Die austeilende Gerechtigkeit sei die „Urform der Gerechtigkeit“, denn sie verleihe den Beteiligten erst die erforderliche Gleichberechtigung, um ausgleichende Gerechtigkeit beanspruchen und üben zu können.

Als Ergebnis hält Radbruch fest, dass die austeilende Gerechtigkeit jene Gerechtigkeit ist, an der sich der Rechtsbegriff ausrichten muss.10

b) Zweckmäßigkeit

Neben der Gerechtigkeit stellt Radbruch als zweiten Bestandteil der Rechtsidee die Zweckmäßigkeit dar. Gerechtigkeit in Form von Gleichheit erfordere zwar verhältnismäßige Gleichbehandlung der Sachverhaltstypen. Das Erfordernis der Gleichbehandlung lasse aber offen, welche gleiche Behandlung den einzelnen Sachverhalten zukomme.11 Dies bestimme sich durch die Zweckmäßigkeit. In ganz ähnlicher Weise hat sich Radbruch bereits zu § 7 „Der Zweck des Rechts“ eingelassen.12 Hier beleuchtet er auch näher, was unter Zweckmäßigkeit im gegebenen Zusammenhang zu verstehen ist. Zweckmäßigkeit im Sinne Radbruchs leitet sich vom Zweck des Rechts ab, zweckmäßig ist, was dem Zweck des Rechts dient. Dabei sieht Radbruch den Zweck des Rechts und den Zweck des Staates untrennbar miteinander verbunden.13

Neben der Gerechtigkeit sei der ethische Wert des Guten von gleicher absoluter Geltung; das Recht sei beiden Werten zu dienen bestimmt. Rechtszweck und folglich auch Staatszweck sei also neben der Gerechtigkeit der ethische Wert des Guten.14 Als Grundlage der ethischen Güter, denen ein absoluter Wert zukommt, bezeichnet Radbruch folgende drei Dinge: Menschliche Individualpersönlichkeiten, menschliche Kollektivpersönlichkeiten, menschliche Werke. Daraus leitet Radbruch die entsprechenden Werte, die Zweck des Rechts sein können, ab: Individualwerte, Kollektivwerte, Werkwerte.15

Das Recht (und der Staat) könne nicht allen diesen Werten gleichermaßen dienen, denn sie stünden zueinander in einer Konkurrenz, die Förderung des einen bedinge die Vernachlässigung oder Verletzung des anderen.16 In welcher Variante sich der ethische Wert des Guten im Staatszweck auspräge, hänge von dessen politischer Gewichtung ab. Räumt der Staat der menschlichen Einzelpersönlichkeit, dem Volk als Gesamtpersönlichkeit oder menschlichen Werken den Vorrang ein? Radbruch entscheidet nach dieser Priorisierung individualistische, überindividualistische und gänzlich transpersonale Auffassungen.17

Zusammenfassend ergibt sich danach: Die individualistische Auffassung erhebt das menschliche Individuum zum vorrangig zu schützenden und zu fördernden Gegenstand, hinter dem nationale und kulturelle Interessen zurückstehen. Die überindividualistische Sichtweise erhebt die Interessen des Kollektivs (der Gesellschaft, des Staatsvolks) über die Interessen Einzelner, Individuen und Kultur dienen dem Kollektiv. Die gänzlich transpersonale Sichtweise stellt Interessen am Erhalt und der Fortentwicklung menschlicher Kultur über nationale oder individuelle Interessen.18 Radbruch drückt die einzelnen Auffassungen noch einmal verkürzt mit den Schlagworten „Freiheit“, „Nation“ und „Kultur“ aus.

Alle drei Auffassungen sieht Radbruch als gegensätzlich19 an, stellt aber gleichzeitig dar, dass das Erstreben jeweils eines Ziels erst das Erreichen eines anderen Ziels ermöglicht. So werde Persönlichkeit nur erreicht, indem das Individuum seine eigenen Interessen zurückstellt und sich einer Sache ganz verschreibt – z.B. als Künstler oder Wissenschaftler. Auch eine Nation werde nicht gebildet, indem eine Nation angestrebt werde, sondern indem die Gesamtheit, das Volk, ohne eigene Interessenverfolgung „allgemeingültige Aufgaben“ – gemeint ist hier wohl: kultureller Art – zu seiner Sache macht. Das kulturelle Werk verweise wiederum als Einzelwerk auf die Persönlichkeit, die es geschaffen habe, die Kultur werde in ihrer Gesamtheit zusammengefasst durch das generationenübergreifende und die Individuen einschließende „Gesamtbewusstsein der Nation“.20

Radbruch sieht nun aus den Einzelkomponenten der Zweckmäßigkeit einen geschlossenen Ring gebildet, in dem die Individualpersönlichkeit, die Gesamtpersönlichkeit oder die Werkkultur jeweils geprägt durch die Staatsauffassung eine Betonung erhalten, ohne dass dies die Geschlossenheit des Rings berühren würde.21

Diese Betonung wird nach Radbruch grundsätzlich durch die politischen Parteien wahrgenommen. Er stellt allerdings fest, dass der Gedanke der Werkkultur offenbar nicht im Einklang steht mit dem Interesse eines Volkes, das zwingend die staatliche Förderung des Individuums oder zumindest des Kollektivs erwarte. Daher findet er den transpersonalen, auf die Werkkultur gerichteten Gedanken nicht als Gegenstand der Parteipolitik. Er sei aber erkennbar in nicht-nationalen Gebilden wie Religionsgemeinschaften.22

c) Rechtssicherheit

Als drittes und letztes Element der Rechtsidee nennt Radbruch die Rechtssicherheit. Dabei sieht Radbruch die Positivität des Rechts als zwingendes Erfordernis der Rechtssicherheit an.23 Recht müsse (fest-) gesetzt sein, um eindeutig zu sein und eine einheitliche Anwendung zu gewährleisten. Die Rechtsetzung müsse dabei auch mit der Macht, das Recht durchzusetzen, verbunden sein24, denn nur damit werde aus theoretischem Recht praktische Rechtsanwendung, die dem Ziel der Rechtssicherheit – Ordnung und Frieden innerhalb eines Staates25 – diene. Als inhaltliche Anforderungen, die der Rechtssicherheit dienen, nennt Radbruch die Praktikabilität des Rechts, also die möglichst zweifelsfreie Anwendbarkeit, mit der Auslegungsfragen und Streitfälle vermieden werden können.

Im Folgende erkennt Radbruch an, dass auch die Abkehr vom positiven Recht ausnahmsweise im Sinne der Rechtssicherheit liegen kann, z.B. dann, wenn zwischenzeitlich entstandenes Gewohnheitsrecht oder revolutionäres Recht sich gegenüber dem positiven Recht durchgesetzt, es überholt hat.26

Die der Rechtssicherheit dienende Rechtssetzung findet Radbruch im Besonderen außerhalb des materiellen Rechts im formellen Recht oder Verfahrensrecht, z.B. dem Prozessrecht. In § 25 seines Werks („Der Prozess“) beschreibt er anschaulich, dass das Prozessrecht zwar der Anwendung des materiellen Rechts – z.B. des Strafrechts – dienen soll, dessen Anwendung aber gleichermaßen entgegenstehen kann, z.B. weil Rechtskraft oder Verjährung die materiell-rechtlich richtige Entscheidung verhindern.27 Damit offenbart Radbruch gleichzeitig die Funktion der Rechtssicherheit im gesellschaftlichen Zusammenleben: Zur Wahrung der inneren Ordnung und des Rechtsfriedens sollen Umfang, Dauer und Aufwand rechtlicher Auseinandersetzungen begrenzt werden.

3. Verhältnis von Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit zueinander

Radbruch zählt abschließend Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit zu den Bestandteilen der Rechtsidee. In § 9, aber auch in § 25 seines Werks28 setzt er sich ausführlich mit der Wirkung und Wechselwirkung dieser drei Faktoren auseinander.

Gerechtigkeit steht, wie unter a) ausgeführt, für Gleichheit. Gleichheit sieht Radbruch als nicht ausreichend an, um daraus den Rechtsinhalt abzuleiten. Sowohl der Gesichtspunkt, unter dem ein Sachverhalt als gleich oder ungleich zu beurteilen sei, als auch die Art der Behandlung, also die Rechtsfolge, müssten aus dem Rechtszweck beantwortet werden. Hier nimmt Radbruch Bezug auf seine Erläuterungen zur Zweckmäßigkeit in § 4 „Der Begriff des Rechts“. Danach ist die Ausprägung der Zweckmäßigkeit abhängig von der politischen Gewichtung der persönlichen Freiheit, der Nation und der Kultur durch den Staat. Radbruch sieht aufgrund der Abhängigkeit von den Parteiauffassungen die Zweckmäßigkeit des Rechts als „relativistisch“ an. Das Recht habe aber als gesellschaftliche Ordnung eine derart hohe Bedeutung, dass die widerstreitenden Auffassungen der Parteien keine ausschlaggebende Wirkung haben dürften. Radbruch findet in der Rechtssicherheit das maßgebliche ordnende Element innerhalb der Rechtsidee.29

Zweckmäßigkeit nimmt wegen der Abhängigkeit von Staats- und Rechtsauffassungen innerhalb der Rechtsidee eine untergeordnete Rolle ein, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit stehen nach Radbruch übergeordnete Funktionen zu. Aber auch zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit nimmt Radbruch eine weitere Abstufung vor. Er hält das Vorhandensein einer Rechtsordnung, die zur Befriedung führt, für wichtiger als deren Gerechtigkeit oder Zweckmäßigkeit.30

Unabhängig von seiner eigenen Einschätzung sieht er auch hier einen politischen Spielraum. Nicht nur die Ausprägung der Zweckmäßigkeit (vgl. b), auch die Priorisierung der einzelnen Komponenten der Rechtsidee, Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit, stehe in einer Abhängigkeit zur Staats- oder Parteiauffassung. Daher sieht Radbruch nicht nur innerhalb der Zweckmäßigkeit, sondern auch innerhalb der Rechtsidee selbst die Staats- oder Parteiauffassungen als gestaltendes Element.31

Im Anschluss formuliert Radbruch den Kerngedanken seiner Ausführungen zu § 9 „Antinomien der Rechtsidee“ 32: Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit fordern jeweils einander, um die Rechtsidee vollständig abzubilden, sie konkurrieren aber innerhalb der Rechtsidee miteinander.33 Je stärker eine der Komponenten betont wird, um so mehr rücken zwangsläufig eine oder beide anderen Komponenten in den Hintergrund.

Dies beleuchtet Radbruch am Beispiel des Verhältnisses der Gerechtigkeit zur Zweckmäßigkeit. Gerechtigkeit zeige sich in Gleichheit, hierzu sei immer eine Typisierung, eine „Generalisierung“ erforderlich. Demgegenüber müsse Zweckmäßigkeit so weit wie möglich den Einzelfall berücksichtigen. Das gleiche unaufhebbare Spannungsverhältnis sieht Radbruch im Strafrecht, wo die Bestrafung gleicher Taten entsprechend gleich ausfallen muss, die Umstände einer jeden Tat aber individuell sind und entsprechend dem Zweck des Rechts Berücksichtigung finden müssen.34

Rechtssicherheit sieht Radbruch im Kontrast zu Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit. Positives Recht gelte, wenn es einmal gesetzt und auch durchsetzbar sei, grundsätzlich ohne Rücksicht darauf, wie Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit sich im Gesetz wiederfinden. Durch das Erfordernis der Durchsetzbarkeit stehe die Rechtssicherheit in einem engen Verhältnis zur Macht, die ihrerseits einen Gegensatz zum Recht darstelle.

Ausdrücklich sieht Radbruch keine Lösung der der Rechtsidee innwohnenden Konfliktsituation durch einen rein funktionalen Einsatz der drei Bestandteile der Rechtsidee dergestalt, dass die Zugehörigkeit einer Norm zum Recht an deren Gerechtigkeit, der Inhalt der Norm an deren Zweckmäßigkeit und die Geltung der Norm an deren Rechtssicherheit zu messen wäre. Denn tatsächlich sei die Frage, ob eine Norm dem Rechtsbegriff entspricht, „nach dem Maßstabe bezweckter Gerechtigkeit“ zu beurteilen; durch die Formulierung „bezweckte Gerechtigkeit“ führt Radbruch Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit zu einem einheitlichen Maßstab zusammen. Der Inhalt einer Norm werde aber von allen drei Bestandteilen der Rechtsidee, wenn auch hauptsächlich von der Zweckmäßigkeit, beeinflusst.35

Schließlich stellt Radbruch klar, dass die Rechtssicherheit nur scheinbar die Geltung positiven Rechts bestimmt. Dessen Geltung müsse im Fall unrichtigen oder ungerechten positiven Rechts auch aus dem Blickwinkel der Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit überprüft werden.36

Als Ergebnis hält Radbruch fest, dass das Recht in seinen Wirkungen gemeinsam bestimmt wird durch Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit, obwohl diese Bestandteile Vektoren gleich das Recht in unterschiedliche Richtungen zu betonen suchen. Diese nicht zuletzt politisch geprägte Priorisierung erfahre das Recht im Polizeistaat zugunsten der Zweckmäßigkeit, die den von der staatlichen Macht beabsichtigten Rechtszweck der Gerechtigkeit und Rechtssicherheit überordnet. In der Naturrechtslehre werde das Prinzip der Gerechtigkeit betont, aus dem sich ohne Berücksichtigung einer Zweckmäßigkeit der gesamte Rechtsinhalt ergeben soll, im Rechtspositivismus werde zugunsten der Rechtssicherheit und der daraus folgenden Positivität des Rechts die Prüfung der Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit hintangestellt. Anhand dieser einseitigen Priorisierungen verdeutlicht Radbruch die Widersprüchlichkeit, die den Bestandteilen der Rechtsidee innewohnt. Eine allgemeingültige Lösung bietet Radbruch nicht an. Er sieht gerade in den zuwiderlaufenden Bestrebungen von Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit das Gerüst, das die Rechtsidee trägt und vergleicht dieses System der konkurrierenden Richtungen mit einem gotischen Bauwerk, dessen „Massen einander tragen, indem sie sich widerstreben“.37

In seinen Ausführungen zu § 25 („Der Prozess“) seines Werks38 stellt Radbruch die Beziehungen zwischen Rechtsidee und Staatsinteresse dar. Nur die Zweckmäßigkeit deckt sich mit dem Staatsinteresse, Gerechtigkeit im Sinne von Gleichheit erfordert die Gleichbehandlung auch solcher Sachverhalte, die von der Staatszweckmäßigkeit nicht berührt sind, Rechtssicherheit verlangt, dass der Staat positives Recht auch gegen sich gelten lassen muss. Radbruch vertritt hier die These, das Recht diene dem Staat, wenn der Staat dem Recht diene, wenn er sich also Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zu eigen macht.39

Radbruch sieht den inneren Widerstreit der Komponenten der Rechtsidee gespiegelt im Prozessrecht. Das Urteil werde im Interesse der Rechtssicherheit rechtskräftig, auch wenn es materiellem Recht zuwiderläuft und verfahrensrechtliche Mängel aufweist. Hier schlägt Radbruch die Brücke zu seiner in § 9 bereits getroffenen Aussage40, dass die Geltung ungerechten und unrichtigen positiven Rechts auch vom Standpunkt der Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit auf seine Gültigkeit geprüft werden kann. Daraus leitet er ab, dass auch das rechtskräftige Urteil wegen schwerwiegender materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Fehler als nichtig angesehen werden kann.41

II. Bewertung

Radbruchs Ausführungen zur Rechtsidee sind in weiten Teilen nachvollziehbar. Radbruchs drei Komponenten der Rechtidee möchte man jedoch eine weitere hinzufügen: Recht hat nicht nur einen Rechtsetzer (i.d.R. der Staat), der das positive Recht nach seinen Zweckinteressen inhaltlich gestaltet, es hat auch Adressaten. Um seinen Zweck, die Gestaltung der Gesellschaftsordnung erfüllen zu können, muss ein grundsätzlicher Konsens zwischen Gesetzgeber und Gesellschaft über den Inhalt des Rechts bestehen – andernfalls droht die von Radbruch beschriebene Vernichtung positiven Rechts durch revolutionäres Recht. Zur Rechtsidee gehört daher aus meiner Sicht auch die Akzeptanz der Gesellschaft, nicht bezogen auf jede einzelne Gesetzesnorm, aber in den Grundzügen der Rechtsordnung. Aus diesem Gedanken leitet sich zum einen ab, dass Gesetze möglichst einfach und verständlich sein müssen, um von der Gesellschaft als Recht angenommen zu werden. Gleichzeitig verlangt die Gesellschaft einen Einklang des Rechts mit dem „Rechtsempfinden“, dem gesellschaftlichen Konsens zur Gerechtigkeit. Diesen Konsens sehe ich in den Grundrechten des Menschen42, wie sie über nationale Grenzen hinweg Anerkennung finden. Recht muss im Einklang mit den Menschenrechten stehen; deren Berücksichtigung erscheint aus meiner Sicht als Voraussetzung für die Akzeptanz des Rechts durch die Gesellschaft.

[...]


1 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 9

2 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 73 ff.

3 Radbruch, Rechtsphilosophie

4 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 4, S. 34 ff.

5 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 4, S. 35 mit Verweis auf Ulpian, Corpus Iuris Civilis, Digesten 1, 1, 10, „iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi“ - Die Gerechtigkeit ist der beständige und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zukommen zu lassen.

6 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 4 S. 34

7 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 4 S. 35

8 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 4 S. 36

9 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 4 S. 36

10 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 4 S. 36; § 9 S. 73

11 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 9 S. 73, § 4 S. 37

12 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 7 S. 54

13 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 7 S. 54

14 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 7 S. 54

15 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 7 S. 55

16 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 7 S. 55

17 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 7 S. 56

18 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 7, S. 57 f.

19 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 7 S. 60,

20 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 7 S. 61

21 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 7 S. 61

22 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 7 S. 61

23 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 9 S. 73

24 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 9 S. 73 f.

25 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 9 S. 74

26 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 9 S. 75

27 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 25 S. 167

28 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 9, S. 73 ff. und § 25, S. 166 ff.

29 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 9 S. 73

30 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 9 S. 74

31 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 9 S. 74 f.

32 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 9 S. 73 ff.

33 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 9 S. 74

34 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 9 S. 75

35 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 9 S. 76

36 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 9 S. 77

37 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 9 S. 77

38 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 25 S. 166 ff.

39 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 25 S. 166 f.

40 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 9 S. 77

41 Radbruch, Rechtsphilosophie, § 25 S. 168

42 Niedergelegt z.B. in der Charta der Grundrecht der Europäischen Union oder in „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10.12.1948

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Rechtsphilosophie. Besprechung von Fällen der Rechtssicherheit, Zweckmäßigkeit, Gerechtigkeit und Wiederaufnahme
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Fachbereich Rechtswissenschaft)
Veranstaltung
Rechtsphilosophie I - Neumann
Note
14 Punkte
Autor
Jahr
2014
Seiten
27
Katalognummer
V293407
ISBN (eBook)
9783656914372
ISBN (Buch)
9783656914389
Dateigröße
464 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rechtsphilosophie, Rechtssicherheit, Zweckmäßigkeit, Gerechtigkeit, Wiederaufnahmeverfahren, Gustav Radbruch
Arbeit zitieren
Isabel Jung (Autor:in), 2014, Rechtsphilosophie. Besprechung von Fällen der Rechtssicherheit, Zweckmäßigkeit, Gerechtigkeit und Wiederaufnahme, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/293407

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