Der Mann ohne Eigenschaften - ein Mann ohne Angst und Verzweiflung?


Trabajo, 2004

18 Páginas, Calificación: sehr gut


Extracto


Inhalt

I. Verzweiflung und Angst – zwei Aspekte einer Figurenanalyse

II. Verzweiflung als Konsequenz von Daseinsangst
1. Freiheit als Zwang?
2. Was ist Verzweiflung?
3. Die Angst des Menschen

III. Vier Formen der Verzweiflung
1. Die Zwangsneurose – Verzweiflung der Notwendigkeit
2. Hysterie – Verzweiflung der Möglichkeit
3. Depression – Verzweiflung der Unendlichkeit
4. Schizoidie – Verzweiflung der Endlichkeit

IV. Heilung durch Literaturwissenschaft?

V. Literaturhinweise:
1. Primärliteratur:
2. Sekundärliteratur:

I. Verzweiflung und Angst – zwei Aspekte einer Figurenanalyse

In Anlehnung an den Aufsatz von Eugen Drewermann, der die Gedanken Søren Kierkegaards über Angst und Verzweiflung in die Neurosenlehre der Psychoanalyse überträgt, möchte ich die vier dort analysierten Formen der Verzweiflung (Zwangsneurose, Hysterie, Depression und Schizoidie) an einigen Figuren Musils aus Der Mann ohne Eigenschaften darstellen. Meine Seminararbeit versucht auch, Ulrich als Menschen zu beschreiben, der frei von Daseinsangst und deren Konsequenzen lebt – fern jeder Verzweiflung.

Ich möchte versuchen, einen Zusammenhang herzustellen, zwischen Ulrichs Streben nach einem essayistischen Lebensprogramm ohne Angst und Verzweiflung und seinem Denken als Möglichkeitsmensch. Zum besseren Verständnis der vier Formen der Verzweiflung werde ich diese nicht nur (negativ) am Mann ohne Eigenschaften zeigen (wie sie bei Ulrich gerade nicht auftreten), sondern auch (positiv) in ihrem Vorkommen bei anderen Figuren.

Dabei wäre es allerdings falsch, sich vorzustellen, das Schema der vier Verzweiflungsformen wäre bei Menschen tatsächlich streng gegliedert vorzufinden. Auch wenn Neurosenformen nicht nur als Krankheit oder als Konsequenz frühkindlicher Schäden zu sehen sind, sondern als „Spiegel von Konflikten die dem menschlichen Dasein insgesamt zukommen oder sogar deren Grundlage bilden“[1], wäre es naiv, sich vorzustellen, es gäbe einen rein depressiven oder rein zwangsneurotischen Menschen. Diese vier Typen sind der Versuch einer vereinfachenden Darstellung seelischer Konflikte und menschlicher Verzweiflung. Weder treffen wir in unserer Wirklichkeit auf diese vier Typen in Reinform, noch in den Figuren in Der Mann ohne Eigenschaften.

Ich setze voraus, dass der Leser diese vier Kategorien als Werkzeug versteht, als Methode der Figurenanalyse ohne zu glauben, man könne die Figuren nach diesem Muster ausreichend charakterisieren. Daher werde ich zugleich immer auch mögliche Einwände anführen, warum die Figuren jenen Typen auch widersprechen. Sicher wäre es interessant, mehrere Charaktere nach diesem Schema zu analysieren und noch andere Belegstellen für eine Typisierung zu finden. Das übersteigt aber den zeitlichen Rahmen meiner Seminararbeit, deren Ziel die Charakterisierung Ulrichs, des Manns ohne Eigenschaften ist – als Mann ohne Angst und Verzweiflung.

Meine Figurenanalyse wird allerdings nicht ohne eine philosophische Einleitung auskommen, in der kurz erklärt wird, wie die Begriffe „Angst“, „Freiheit“, „Verzweiflung“ von Kierkegaard her[2] in meiner Arbeit zu verstehen sind.

II. Verzweiflung als Konsequenz von Daseinsangst

1. Freiheit als Zwang?

Wenn ich die Freiheit als Voraussetzung für menschliches Handeln sehe, dann unterliegt die Freiheit selber nicht mehr der freien Wahl des Menschen. Denn schon die Entscheidung gegen die Freiheit steht dem Menschen frei. Er kann sich also in jedem Fall zunächst entscheiden. Das heißt aber auch, er muss sich entscheiden, weil er die Freiheit hat. So kann die Freiheit auch als Last oder als Zwang empfunden werden und schließlich in Angst münden. Das bedeutet, es gibt nicht nur eine Angst vor Unfreiheit, sondern auch vor der eigenen Freiheit. Insofern der Mensch die Aufgabe, also auch die Möglichkeit hat, sich selbst zu werden, hat er die Möglichkeit zur Freiheit. Diese Freiheit kann der Menschen eben nicht frei wählen, er muss sie wählen. Dieser Freiheit entkommt er nicht. Darin liegt eine Angst begründet. Die Angst liegt in der Möglichkeit zur Freiheit begründet, weil man nicht nur Stellung (zu seinem Verhalten und damit zu seinem Selbst) beziehen kann, sondern auch muss. Die eigene Freiheit wird der Mensch allerdings los, wenn er aus Angst in einem misslungenen Selbstverhältnis zu sich steht, das heißt, wenn er verzweifelt ist. Verzweiflung als Missverhältnis im Selbstverhältnis führt den Menschen in Unfreiheit, wodurch er das Problem mit seiner Freiheit zwar gelöst hätte, er sich aber einem neuen Problem unterwirft, nämlich der Verzweiflung.

2. Was ist Verzweiflung?

Der Mensch als Synthese[3] von Seele und Körper, von Zeitlichem und Ewigen verlangt nach einer Synthese von Möglichkeit und Notwendigkeit, von Endlichem und Unendlichem.

Genau diese Synthese misslingt, wenn der Mensch sein Selbst verfehlt. Dann wird nur einer der beiden Pole angesteuert und die Balance – zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit, zwischen Endlichem und Unendlichem – wird gestört. Das Resultat heißt Verzweiflung.

Ist der Ursprung der Verzweiflung die Angst und ist der Ursprung der Angst die Möglichkeit (oder auch der Zwang) zur Freiheit, lässt sich der Schluss ziehen, der eigentlich Ursprung der Verzweiflung sei die Freiheit des Menschen.

Aber nur wer unter der Freiheit nicht leidet, sonder nur wer sie sucht und sich im entscheidenden Augenblick auch der Herausforderung der Freiheit stellt – wie Ulrich mit seinem essayistischen Lebenskonzept – verzweifelt nicht an seiner Freiheit, sondern erlebt erst durch sie die Möglichkeit zur Selbstwerdung. Angst ist dabei eine ambivalente Erscheinung, denn sie ist nicht nur unangenehm für die Menschen, sondern zugleich die Voraussetzung zur Überwindung von Angst. Daher spricht Kierkegaard auch davon, der Mensch müsse lernen, sich zu ängstigen[4].

3. Die Angst des Menschen

Der Mensch hat Angst. Warum hat er Angst? Weil er erst werden muss, was er ist, was er sein soll? Muss der Mensch sein Wesen, seine Bestimmung erst suchen? Diese Vorstellung vom Wesen des Menschen als „nicht festgelegtes Tier“ als „weltoffen“ und „exzentrisch“ finden wir nicht nur bei Kierkegaard, sondern bei vielen anderen Philosophen[5], worauf ich nicht näher eingehen werden, da meine Arbeit von einer literaturwissenschaftlichen Fragestellung ausgeht und weniger von einer anthropologischen. Natürlich ist die Frage nach dem Menschen immer eine, die Fragen nach Freiheit, Angst und Verzweiflung des Menschen, Fragen nach Ethik, Erkenntnisfähigkeit oder Subjektivität verbindet. Meine Arbeit will natürlich nicht alle diese Fragen beantwortet (wenngleich Musil genau das in seinem Mann ohne Eigenschaften zu versuchen scheint), sondern Figuren aus Musils Mann ohne Eigenschaften analysieren und das mit Blick auf ihre Ängste und die daraus resultierenden Formen der Verzweiflung.

Die Angst gehört zum Wesen des Menschen, stellen wir mit Kierkegaard[6] fest. Doch wovor haben wir Angst? Bei Kierkegaard finden wir nicht ausschließlich vier Formen, sondern einerseits die Angst vor der Vernichtung, vor dem Tod, vor Unfreiheit, vor seinem Schicksal und andererseits die Angst vor der Zukunft, vor dem Leben, vor der Freiheit, der Möglichkeit oder der Veränderung. Auch beschreibt er eine Angst vor Sinnverlust, Leere, fehlende Selbstbestimmung und vor eigenem Handeln und vor sich selber. Einer nähere Betrachtung werden aber nur folgende vier Formen der Verzweiflung unterzogen.

Kierkegaard unterscheidet die Angst vor der Möglichkeit von der Angst der Notwendigkeit und die Angst vor der Endlichkeit von der Angst der Unendlichkeit.

Diese vier Formen der Angst deuten Kierkegaard und (mit Bezug auf dessen Schrift Die Krankheit zum Tode) Drewermann als vier Formen der Verzweiflung. In diesen Verzweiflungsformen wird die Angst konkret sichtbar. In der Angst des Menschen wird seine Möglichkeit zur Freiheit sichtbar.

Angst betrifft nach Kierkegaard nicht eine Situation, sondern den Menschen selber. Angst hat der Mensch in erster Linie nicht aufgrund einer Gefahr, sondern aufgrund seiner psychischen Verfassung. Dieser Auffassung entspricht was Drewermann über die Verzweiflung schreibt:

„Verzweifelt ist der Mensch nie über etwas Äußeres, sondern stets über sich selbst, und gerät er in Verzweiflung über etwas Äußeres, so zeigt dies nur, dass er immer schon verzweifelt war.“[7]

Wenn ein Mensch an seiner Situation verzweifelt, dann hat er immer schon in Verzweiflung gelebt. Nicht erst die Katastrophe verursacht die Verzweiflung, sie macht nur sichtbar, was immer schon in der Psyche des Menschen gelegen hat.

Wir müssen also, um die Gründe für die Verzweiflung der Musilschen Charaktere aufzuspüren, nicht nach deren Schicksalsschlägen im Mann ohne Eigenschaften fragen, sondern vielmehr, wie Musil deren Psyche konstruiert hat.

Da meine Arbeit im Rahmen eines literaturwissenschaftlichen Seminars zu schreiben ist, werde ich die Verzweiflungsformen nicht wie Drewermann gemeinsam mit deren Entstehung und Heilungsmöglichkeiten, sondern anhand meiner Figurenanalyse problematisieren.

[...]


[1] Drewermann, S. 161.

[2] Vgl. Arne Gron, S. 105 – 136.

[3] Vgl. Drewermann, S. 134

[4] Vgl. Gron, S. 11.

[5] Vgl. Schüßler, S. 49-85.

[6] Vgl. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, 15.

[7] Drewermann, S. 142.

Final del extracto de 18 páginas

Detalles

Título
Der Mann ohne Eigenschaften - ein Mann ohne Angst und Verzweiflung?
Universidad
University of Vienna  (Germanistik)
Calificación
sehr gut
Autor
Año
2004
Páginas
18
No. de catálogo
V29413
ISBN (Ebook)
9783638309219
ISBN (Libro)
9783638760751
Tamaño de fichero
476 KB
Idioma
Alemán
Notas
Literarische Existenzanalyse als Herausforderung für die Literaturwissenschaft
Palabras clave
Mann, Eigenschaften, Mann, Angst, Verzweiflung
Citar trabajo
Renate Enderlin (Autor), 2004, Der Mann ohne Eigenschaften - ein Mann ohne Angst und Verzweiflung?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29413

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