Seeing the seen, hearing the heard. Körperlichkeit und Audio-Vision in Kathryn Bigelows "Strange Days"


Masterarbeit, 2013

67 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Körperlichkeit im Kino
2.1 Rückbezug 1: Die leibgebundene Wahrnehmung (Merleau-Ponty)
2.2 Rückbezug 2: Der Körper des Films (Sobchack)
2.3 Der Illusionsbegriff und die Körperlichkeit der Immersion bei Voss
2.4 Der Kinozuschauer als Resonanzkörper

3. Die filmanalytische Methode: Audio-Vision und Zuschauergefühl
3.1 Added Value
3.2 Sound und Raum
3.3 Temporalisierung und Modi des Hörens
3.4 Das Zusammenspiel von Ton und Bild in der Zeit

4. strange days – Eine audiovisuelle Analyse
4.1 Eine Thriller-Dystopie mit verdoppelter Erlebnis-Struktur
4.2 Der Beginn des Films und die (brüchige) Verflechtung von Film- und Zuschauerkörper
4.3 Alternation und das Affektbild des maximal erfahrenden Gesichts

5. Schlussbetrachtung

6. Literaturverzeichnis

7. Filmographie

1. Einleitung

“A film is an act of seeing that makes itself seen, an act of hearing that makes itself heard, an act of physical and reflective movement that makes itself reflexively felt and understood.” (Sobchack 1992: 3) Der Film strange days (Kathryn Bigelow, USA 1995) setzt eine der zentralen Aussagen von Vivian Sobchack emblematisch ins eigene Bild: In einer dystopischen Diegese kurz vor der Jahrtausendwende ermöglicht eine Technik namens SQUID(superconducting quantum interference device), individuelle Erfahrung (scheinbar) synästhetisch aufzunehmen, auf Discs zu speichern und erneut und intersubjektiv abzuspielen. Protagonisten ‚erleben‘ – sehen, hören, fühlen – was eine andere Figur erlebt hat. Mit der Thematisierung eines solchen zukunftstechnologischen Mediums, welches durch retroaktive Simulation eine ganzheitliche, körperliche Erfahrung ermöglicht, die wiederum ihren eigenen medialisierten Status selbst zu tilgen scheint, berührt der Film strange days bekannte und breit bearbeitete Diskurse seiner eigenen Form, vor allem jene der kinematographischen Illusion und Fiktion. Die Tatsache, dass der Film dieses maximal somatische Erleben in filmische Bilder zu übersetzen versucht, sorgt für eine verdoppelte Rezeptionssituation in der Diegese und einer Film-im-Film-Konstellation: Äußerst pointierte p oint of view -Sequenzen durchziehen den gesamten Film und setzen das SQUID-Erleben der Protagonisten ins Bild. Gleichzeitig scheinen diese virtuos und intensiv gestalteten Szenen subjektiver Wahrnehmungsbilder aber auch eindeutig auf den tatsächlichen Zuschauer des Films abzuzielen und diesen in die Struktur verdoppelter Wahrnehmungsebenen einweben zu wollen. Das thematisch verhandelte seeing-seen schreibt sich in der tatsächlichen rezeptionstheoretischen Situation (außerhalb der Leinwand) fort. Diesen Vorgang gilt es genauer in den Blick zu nehmen. Dafür sollen im ersten Teil dieser Arbeit die Überlegungen zu einer filmtheoretischen Körpertheorie von Vivian Sobchack und Christiane Voss, die in strange days bereits auf Handlungsebene eine äußerst anschauliche Repräsentation erfahren, rekapituliert werden. Im Vergleich zur semiotischen und psychoanalytischen Filmtheorie werten diese die Rolle der Körperlichkeit beim Filmerleben deutlich auf und proklamieren eine konkrete Verbindung von Zuschauerkörper und Film, ohne diese jedoch wirklich anschaulich zu machen. Erstes Ziel dieser Arbeit ist es daher, diese Ins-Bild-Setzung für den speziellen Fall strange daysanalytisch zu konkretisieren. Dies soll im Analyseteil mit einer dichten Beschreibung der Inszenierungsstrategien einerseits und der dadurch im Zuschauer ausgelösten affektiven Reaktionen und modulierten Emotionen andererseits erreicht werden. Um die Abstände und Verbindungen der rezeptiven Schichtungen des Films auszuloten, erscheint eine rein visuelle Analyse auf Ebene der Bildgestaltung und Montage jedoch nicht ausreichend zu sein. Ein besonderes Augenmerk soll daher auch auf das Sound Design und dessen Zusammenspiel mit der visuellen Ebene gerichtet werden. Um diese im Vergleich zur Bildanalyse allzu oft vernachlässigte Dimension der Tonebene mit einem analytischen Hintergrund auszustatten, wird im zweiten Teil der Arbeit das Konzept der Audio-Vision von Michel Chion vorgestellt. Ausgehend von dem für Chion zentralen Begriff des added value soll dessen äußerst zeichentheoretische und kognitive Argumentation hinsichtlich der angestrebten, immer in Bezug zu einem Zuschauergefühl stehenden analytischen Vorgehensweise entsprechend kritisch hinterfragt und methodisch geformt werden.Mit dieser theoretischen wie methodischen Folie soll dann die Inszenierung derpov-Sequenzen im Sinne einer Interaktion von Ton und Bild und als Strategie der Erzeugung und Modulierung eines Zuschauergefühls genauer betrachtet werden. Neben dem auch im Hinblick auf strange days wichtigen Einfluss des Sounds auf das Wahrnehmen von Räumlichkeit (etwa bei der Frage nach einem tonalen Äquivalent zum point of view) soll es dabei vor allem um das Erkennen und Beschreiben von in der Zeit ablaufenden Ausdrucksbewegungengehen, die sich im Zusammenspiel unterschiedlicher Gestaltungsebenen manifestieren und sich auf die Gemütsbewegung des Zuschauers und dessen emotionalen Zustand auswirken. Durch die genaue Analyse zweier zentraler Szenen des Films soll dann deutlich werden, wie dieser einen dystopischen und medienkonsumkritischen Standpunkt nicht nur in seiner Narration, sondern auch durch seine den realen Zuschauer einbeziehende Affektpoetik bedeutungskonstituierend verhandelt.

2. Körperlichkeit im Kino

2.1 Rückbezug 1: Die leibgebundene Wahrnehmung (Merleau-Ponty)

Der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty bündelt in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung (1966) die Konzepte der Intentionalität und des Daseins bei Husserl und Heidegger, und erweitert diese, indem er dabei den Fokus (s)einer Theorie der Welterfahrung besonders auf die Leiblichkeit des wahrnehmenden Subjektslegt. Vor allem die allgemeine Betonung der Ersten-Person-Perspektive durch die Phänomenologie und der Begriff des In-der-Welt-Seins (vgl. Heidegger 2006: § 12+13, S. 52ff.) werden dabei nochmals spezifiziert und erweitert. Die für die Untersuchung der Beziehung von Dasein und Welt so entscheidende Subjektivität als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung und Erkenntnis versucht Merleau-Ponty in deren Leiblichkeit zu verorten und näher aufzuschlüsseln.

Der Leib-Begriff dient der Philosophie ganz allgemein zur Konzeptualisierung der Perspektive des menschlichen Subjekts im Verhältnis zur dieses umgebenden und von ihm wahrgenommenen Wirklichkeit. Während durch den Begriff des Körpers das äußere Dasein des Menschen eher materiell und organisch gefasst wird, meint der Leib das äußere Dasein eines Subjekts und ist transzendentalphilosophisch gedacht. Der Leib ist sozusagen der körperliche Bezug des Subjekts zur Welt/Wirklichkeit, die „ Quelle für die Erfahrung erscheinender Tatsachen“ (HWPH, Bd. 5, S.179 Leib, Körper). Er „bestimmt unsere Situation des Denkens der Welt“ (ebd.). Dieser Zusammenhang von Leiblichkeit, Subjektivität und Bewusstsein wird in der Phänomenologie auch schon vor Merleau-Ponty vor allem bei Edmund Husserl wichtig.

Husserls Konzept der Intentionalität, welches ganz grundsätzlich eine Gerichtetheit des Subjektbewusstseins zu den Dingen als Basis der (erkennenden) Wahrnehmung meint, schließt auch eine perzeptuelle Intentionalität mit ein (vgl. Zahavi 2004: 58ff.). Einen Grundgedanken des phänomenologischen Programms – dass Wahrnehmung und Erkenntnis einer Person immer durch die Perspektive ebendieser Person bestimmt sind, dass Denken und Meinen ohne einen immer schon vorhandenen und beeinflussenden persönlichen Kontext nicht möglich sind – bezieht Husserl dabei explizit auf den Leib des Subjekts. Er betont die Eigenbezüglichkeit dieses Leibes und setzt ihn als zentralen Bezugspunkt von Wahrnehmung und Wirklichkeitskonstitution ein. „Das Subjekt ist leiblich verankert, und entsprechend ist die Erscheinungsweise der Welt von unserer Leiblichkeit bestimmt. Die Welt ist uns also, wenn man so will, in leiblicher Erschlossenheit gegeben.“ (Zahavi 2007: 58). Die Erfahrung von Raum und den Gegenständen in diesem ist überhaupt erst durch diese Leiblichkeit möglich und dabei immer auch eine Art Selbsterfahrung, die präkognitiv funktioniert und daher nicht reflektiert wird (werden kann). „Unsere Erfahrung perzeptueller Objekte ist begleitet von einem mitfungierenden, jedoch unthematisierten Erlebnis der Position und Bewegung des Eigenleibes, einem sogenannten kinästhetischen Erlebnis“ (ebd.: 59). Die Betonung der ontologischen Bedingtheit des Subjektleibs bleibt bei Husserl jedoch im Paradigma der Perzeption verankert, das verkörperte Subjekt wird als absoluter Bezugspunkt immer in einer vektorialen Verhältnismäßigkeit (zu den Dingen) gedacht.

Hier setzt nun Merleau-Ponty an, spitzt Husserls These zu und befreit sie so aus einem eher starren und rekonstruktiv argumentierenden Subjekt-Objekt-Denken. Dabei betrachtet er vor allem die Endgültigkeit und Gerichtetheit der maximalen Reduktion Husserls, die zu den Dingen selbst zurückführt, kritisch. Stattdessen postuliert er eine vorgelagerte Welterfahrung und überführt diese Reduktion gewissermaßen auf die Leiblichkeit des Subjekts. Der Leib als Zentrum unserer Welterfahrung ist so nicht mehr nur in Bezug zur Möglichkeit der Perzeption von Dingen zu setzen, sondern wird allumfassender installiert: nicht nur vor den Dingen, sondern auch vor dem Wahrnehmen und Denken. Daraus folgt eine nicht zu hintergehende Dimension dieses Leibes selbst: Er kann gerade nur vor-reflexiv bewusst sein, da er immer schon als „ totales Bezugszentrum “ (ebd.: 60) fungiert.[1] Dan Zahavi findet dafür ein anschauliches Beispiel: Während es bei einem beginnenden Essen in einem Restaurant mit Husserl gedacht darum gehen würde, dass ich, um Messer und Gabel greifen zu können, deren Verhältnis und Position zu mir selbst kennen muss und damit meinen Leib immer in den Dingen mitdenke, geht es bei Merleau-Ponty darum, dass allein die Tatsache, dass das Messer auf dem Tisch ist, heißt, dass ich nach ihm greifen kann. „ Der Leib ist keine Scheibe zwischen mir und der Welt, sondern unser primäres In-der-Welt-sein […]“ (Zahavi: 60f.).[2]

Merleau-Ponty versteht den Leib also als eine Art Verbindungsglied von Körper und Geist, „als eine Figur des Dritten, als ein Scharnier zwischen Bewusstsein und Seinsstruktur, Subjekt und Objektsphäre “ (Tedjasukmana 2008). Er stellt damit die für ihn so wichtige Schnittstelle des Verhältnisses von Ausdruck und Wahrnehmung in Bezug auf Sinnproduktion dar:

Wir haben aufs neue gelernt, unseren eigenen Leib zu empfinden, wir haben, dem objektiven, distanzierten Wissen vom Leib zugrunde liegend, ein anderes Wissen gefunden, das wir je schon haben, da der Leib immer schon mit uns ist und wir dieser Leib sind. In gleicher Weise werden wir eine Erfahrung der Welt zu neuem Leben zu erwecken haben, so wie sie uns erscheint, insofern wir zur Welt sind durch unseren Leib und mit ihm sie wahrnehmen. (Merleau-Ponty 1966: 242f.).

Merleau-Ponty implementiert ein Kommunikationsmodell menschlicher Erfahrung, das über das körperliche In-der-Welt-sein funktioniert und welches Wahrnehmung als äußerst aktiven und immer schon relationalen Prozess, als leibhaften Austausch definiert. Unsere Perspektive auf die Welt ist folglich nicht nur durch die relationale Beziehung unseres Leibes zu den Dingen bestimmt, sondern sie wird durch den Leib überhaupt erst möglich, er fungiert als „ Knotenpunkt lebendiger Bedeutungen “ (ebd.: 182). Das In-der-Welt-sein wird so bei Merlau-Ponty zu einem Zur-Welt-Sein. Folglich kann auch das Bewusstsein von meinem Leib nie objektivierend sein, denn nur durch den Leib bin ich überhaupt. Die ganze Radikalität dieses Ansatzes einer so grundlegend in der eigenen Körperlichkeit verankerten Wahrnehmung wird anhand eines auf den ersten Blick eher simplen Vergleichs Merleau-Pontys deutlich: „ Der eigene Leib ist in der Welt wie das Herz im Organismus “ (ebd.: 239). Entscheidend für eben all dieses Zur-Welt-Sein und damit alle Subjekt-Objekt-Beziehungen (wobei der Mensch dabei Subjekt wie auch Objekt anderer Subjekte sein kann[3] ) ist der Leib, dessen Erfahrung vor jeglicher erkenntnistheoretischer Konstruktion anzusiedeln ist. Wahrnehmung ist nach Merleau-Ponty immer schon Bindung an einen Sinn.[4] Dieser Sinn ergibt sich aus der Beziehung der subjektiven Leiblichkeit zur Welt. Wir begreifen und wissen unsere Welt durch unseren Leib und seine Erfahrung mit ihm (vgl. z.B. Merleau-Ponty 1966: 117 unten und 170).[5] Die klassische kartesianische Dichotomie von Geist und Leib ist folglich in diesem Modell aufgelöst, Merleau-Ponty etabliert stattdessen ein System der Ganzheit von Wahrnehmungs- und Ausdrucksakten.[6] Eine absolut objektive Betrachtungsweise, die dann erst in einem zweiten Schritt und über kognitive Prozesse in eine Erkenntnis überführt wird, kann es somit nicht geben. Wahrnehmen und Erkennen geschieht immer schon in einem vorgelagerten, nicht über ein klassisches Verständnis von Denken einholbaren ‚Raum der Erfahrung‘. Der Leib ist nicht nur Teil davon, sondern die konstituierende Komponente: „Endlich ist mein Leib für mich so wenig nur ein Fragment des Raumes, dass überhaupt kein Raum für mich wäre, hätte ich keinen Leib“ (Merleau-Ponty 1966: 127).[7]

Die Nähe zu zeitgenössischen, somatischen Kinotheorienklingt hier bereits deutlich an, und es verwundert kaum, dass diese ihren Ursprung unter anderem in einer Renaissance der Überlegungen Merleau-Pontys Anfang der 1990er Jahre haben. Allen voran verantwortlich dafür ist die amerikanische Medientheoretikerin Vivian Sobchack, die in ihrer Phänomenologie des Kinos mit dem Konzept der filmischen Verkörperung (embodiment) Ansätze Merleau-Pontys aufnimmt und weiterführt.

2.2 Rückbezug 2: Der Körper des Films (Sobchack)

In dem für die Neophänomenologie und die daraus hervorgegangene sogenannte embodiment -Theorie zentralen Werk Sobchacks beschäftigt sich diese ebenfalls mit leiblich gebundender Wahrnehmung und Sinnproduktion, beziehtjedoch das Verhältnis von (Zuschauer-)Subjekt und dessen Erfahrungs- bzw. Ausdrucksweise explizitauf den Umgang mit modernen audio-visuellen Medien, und hier vor allem auf den Film.[8] In ihrer paradigmatischen Monografie The Address of the Eye (Sobchack 1992) liest sie Ansätze Merleau-Pontys neu und entwickelt diese im Diskurs des Bewegt-Bildes weiter. Die von Merleau-Ponty proklamierte (nicht zu hintergehende) Ganzheit von Ausdrucks- und Wahrnehmungsakten appliziert Sobchack auf den Film und dessen Interaktion mit dem Zuschauer. Der bei einer Projektion vor uns zum Ausdruck kommende Kinofilm („ visibly and audibly expressed before us “, Sobchack 1992: 4) lagert die präkognitive Erfahrung des leiblichen Daseins in der Welt, welche Merleau-Ponty als überhaupt erst konstitutiv für jede Erfahrung und jeden Ausdruck installiert, gewissermaßen aus und macht diese direkt erfahrbar.[9]In an unprecedented way, the cinema makes visible and audible the primordial origins of language in the reversibility of embodied and enworlded perception and expression “ (ebd.). Wahrnehmung und Ausdruck sind dabei Teil desselben Aktes, zwei Seiten der gleichen Medaille, der/die jenseits jedweder kognitiver Bewusstseinsprozesse immer schon durch das leibgebundene Dasein in der Weltexistiert. Sobchack leitet diese Ganzheit später nochmal über Merleau-Pontys wenige Kommentare zum Kino und dessen proklamierte Verbindung zu Gestaltpsychologie und Existenzphilosophie her (ebd.: 164ff.): Der (Kino-)Film als gestaltphänomenologisches Paradigma macht demnach Wahrnehmung in seiner Struktur und Organisation sichtbar.

Die Betonung der Ähnlichkeit und Verstrickung von (filmischer) Technologie und (menschlicher) Intentionalität bei Merleau-Ponty nimmt Sobchack auf und präpariert so einen zentralen Punkt ihrer Argumentation heraus: die Parallelisierung von Film und (Zuschauer-)Subjekt als in ihrer Leiblichkeit verankerte ‚intentionale Instrumente‘: „ If modes of intentional consciousness correlate and correspond to technical methods, then the film is to cinematic technology as human perception and its expression is to human physiology “ (ebd.: 166). Sowohl die Perzeptions-Struktur der menschlichen Wahrnehmung (nach Merleau-Ponty) als auch die des (Kino-)Films sind demnach Produkt einer instrumentellen Instanz, die sich in einer erfahrenen und erfahrbaren Intention ausdrückt und durchaus im Sinne eines Apparates, der erst durch sein Dasein die Welt konstruiert/erfahrbar macht, deren Teil er eigentlich ist, funktioniert. Es ist dies der Leib. Sobchack beschreibt den Film als wahrnehmendes Subjekt (und gleichzeitig in seinem Ausdruck wahrgenommenes Objekt, vgl. ebd.: 167) mit eigener Leiblichkeit (film’s body), ohne dabei aber in eine wie auch immer geartete Metaphorik abzugleiten (vgl. ebd.: 165). So kann sie dann bereits auf der ersten Seite des Textes einen Zitat-Teil Merleau-Pontys in eine ihrer Hauptargumentationslinien überführen:

More than any other medium of human communication, the moving picture makes itself sensuously and sensibly manifest as the expression of experience by experience. A film is an act of seeing that makes itself seen, an act of hearing that makes itself heard, an act of physical and reflective movement that makes itself reflexively felt and understood. (Sobchack 1992: 3f.)

Für Sobchack kommt es bei der Filmrezeption folglich zu einer Konstellation verdoppelter Ebenen: Der Zuschauer sieht, fühlt und erfährt den Film, welcher wiederum selbst sieht, fühlt und erfährt und dies zum Ausdruck bringt. Bedingung und Konsequenz dieser Überlegung ist,wie bereits oben angedeutet, eine spezifische (Re-)Formulierung der Subjekt-Objekt-Konstitution und –Beziehung. Film ist folglich nicht mehr nur als Objekt, welches Körper, Dinge und Handlungen zeigt, sondern eben auch als sehendes, wahrnehmendes Subjekt, das vom Rezipienten gewissermaßen mitfühlend beobachtet wird,zu verstehen.[10]Watching a film, we can see the seeing as well as the seen, hear the hearing as well as the heard, and feel the movement as well as see the moved.” (ebd.: 10 ).

Gleichzeitig und in Verbindung mit den von Sobchack herausgestellten reversiblen Austauschprozessen im Kommunikationsakt des Filmschauens impliziert dies auch ein Zuschauer-Subjekt, das zum Objekt des Films und damit auch zum Objekt einer Wahrnehmung werden kann, die seiner eigenen Wahrnehmung ganz ähnlich ist.Durch die Parallelisierung ähnlicher Wahrnehmungsakte kommt es zu einer Art reflexiver Selbsterfahrung: „[…] we can see the film‘s seeing as the seeing of another who is like myself, but notmyself“ (ebd.: 136, Hervorhebungen im Original kursiv).Die Transformation der leiblichen Erfahrung vom Film zurück auf den Rezipienten führt zu dessen sinnlicher Eigenwahrnehmung im Prozess dieser Transformation. Es ergibt sich so zum einen ein beobachtendes Sehen (viewing-view), zum anderen ein beobachtetes Sehen (viewed-view), welche in der Verschmelzung zweier Kommunikationsakte (des Körpers des Films und des Körpers des Zuschauers) aufgehen.[11] Film und Zuschauer sind Objekt und Subjekt, sehen und werden gesehen, fühlen und werden gefühlt, und ‚beobachten‘ sich auf einer Metaebene gewissermaßen auch selbst dabei.[12] Neben dieser Reflexivität wird auch die gegenseitige Inkorporierung der Perzeption des jeweils anderen dieser zwei Körper in ihrer Organisation der wahrnehmbaren Welt für Sobchack entscheidend: „[…] While, as spectators, we spatially and temporally include the film’s expressed perception within our own, the film’s body spatially and temporally includes us or others like us”(Sobchack 1992: 222).

Der Filmkörper oder genauer die Körperlichkeit des Films ist bei Sobchack die Schnittstelle zwischen Film und Zuschauer, die entscheidende Komponente eines „ sensual engagement “ (Sobchack 2004: 62), einer Verknüpfung, welche den Zuschauer in seiner Körperlichkeit und damit in seiner emotionalen Verfasstheit mobilisiert. Diese Mobilisierung kann graduell durchaus unterschiedlich ausfallen:

Certainly, some individual films like The Piano and those films grouped by Williams as “body genres” foreground sensual engagement in explicit image and sound content and narrative focus as well as in a more backgrounded manner–that is, not just in the content of their imagery or sound or narrative focus, but through the kinetic activity and sensory experience of what I have, in The Address of the Eye, called the “film’s body”. Other films may show us bodies in sensual engagement, but do so in a non-sensual manner, thus distancing us rather than soliciting a similar experience through the “attitude” of their mediating vision. Nonetheless, I would maintain that all films engage the sensemaking capacity of our bodies as well as of our minds–albeit according to different ratios (or “rationalities”) (ebd.: FN 39).

Wenn auch im Hinblick auf eine tatsächliche Analyse am Film die Verfasstheit des Filmkörpers, also konkret auszumachende Attribute eben jenes, in Sobchacks Ausführungen zumeist, wie auch hier, implizit bleiben, so wird doch klar, dass es sich dabei um mehr als Aktionsbilder, narrative Inhalte und etwaige Figurenpsychologie handeln muss. Gleichzeitig scheinen aber auch Sobchacks sich oftmals ausschließlich auf die Kamera (den Kamerablick) konzentrierenden Ausführungen verkürzt, da dabei Parameter wie zum Beispiel die Ebene der Montage eine nur untergeordnete Rolle zu spielen scheinen.

2.3 Der Illusionsbegriff und die Körperlichkeit derImmersion bei Voss

Christiane Voss verfolgt in ihrer Theorie des Kinozuschauers als Leihkörper eine dezidiert phänomenologische Rezeptionsästhetik. In ihrer medienphilosophischen Analyse des Verhältnisses von Leinwand-/Raum-/Soundgeschehen und dessen Aufnahme und Verarbeitung durch den Filmbetrachter etabliert sie, wenn man so will, eine räumlich-somatische Filmwahrnehmung. Dabei greift Voss explizit die Überlegungen zur an den Leib gebundenen Wahrnehmung Merleau-Pontys und Sobchacks Theorie des „ cineästhetischen Körpers “ (zitiert nach Voss 2006a: 79) auf.[13]

Um Voss‘ Ansatz weiter auszudifferenzieren muss zunächst etwas grundlegender ihr Ästhetik-Verständnis im Hinblick einer Verstrickung von Rezeption und Produktion erläutert werden. Dabei werden, wie im künstlerischen Kontext und hier ganz besonders auch im Bereich des Kinos nicht anders zu erwarten, die eng verwobenen Begriffe der Immersion und Illusion zentral. Im Folgenden soll dabei eine stringent auf das Leihkörper-Modell zugeschnittene und keinesfalls umfassende Diskussion dieses Begriffspaares präsentiert werden.

Mit ihren Ausführungen zur Teilhabe des Zuschauers im Kinobearbeitet Voss einen Komplex, der in der Theoriegeschichte des Filmsunter verschiedenen Vorzeichen immer wieder im Zentrum stand und dessen affektiv-emotionale und damit körperliche Dimension ebenfalls auch schon vor der Popularität der somatischen Filmtheorie (und deren embodiment-Konzept) ab den 1990er Jahren betont und in Ansätzen heraus präpariertwurde.[14] Als (vor allem rhetorischer) Anstoß dient dabei oftmals die mit dem Begriff der Illusion einhergehende etymologische Konnotation des Täuschens, welche es zu tilgen gilt, um soden das Kino seit Beginn dessen Geschichte begleitenden ideologiekritischen Skeptizismus, demzufolge der Zuschauer dem Illusionismus des Kinos passiv ausgeliefert ist, zu entkräften. Auch Voss‘Ausführungen verlaufen entlang dieser Argumentationslinie: Den lebendigen Eindruck eines Films im Kino sieht sie demnach nicht als Folge einer Täuschung, sondern vielmehr ausgehend von einem Miterleben. „ Denn Filmwahrnehmung führt normalerweise weder zum Einbruch der Wirklichkeitsauffassung noch zur Revision unseres empirischen Wirklichkeitsverständnisses “ (ebd.: 74). Bei der Film-Rezeption im Kino handelt es sich also um eine Art ‚gewusste Illusion‘, welche Voss nun als deutlich affektiv gebunden interpretiert. Bereits Albert Michotte van den Berck bezieht dieses Erleben auf „ Phänomene der Empathie “ und entbindet sie einem unbedingten begrifflichen Kognitivismus:

Diese stellen sich ein, wenn der Zuschauer eine Handlung, die von einer anderen Person ausgeführt wird, in gewisser Weise ‚erlebt‘ und sich nicht darauf beschränkt, die Handlung auf rein intellektuelle Art zu verstehen, in dem er sie einer bestimmten begrifflichen Kategorie zuteilt (Michotte van den Berck 2003: 126).

Die Basis einer gelungenen Filmwahrnehmung stellt dabei die Affizierung des Rezipienten durch das auf der Leinwand ablaufende Geschehen, welchem der Zuschauer (reflexiv) einen Modus von Wirklichkeit zuspricht, dar. „Für die spezifisch illusionäre Dimension des Kinos besagt das dann: Wir werden dort von einer auf der Leinwand erscheinenden Wirklichkeit in einer Weise angesprochen, die es uns erlaubt, zumindest vorübergehend an ihr So-Sein in affektiver Einstellung zu glauben“ (Voss 2006a.: 72).[15] Der diesem Denkansatz zugrunde liegende Illusionsbegriff ist so ein anderer als der oben kurz skizzierte täuschungstheoretische und geht mehr in eine medizinisch-psychiatrische Richtung: In Abgrenzung zu einer Halluzination, die ‚aus dem Nichts kommt‘ und nicht reflektiert werden kann, wird die Illusion hier als zwar verzerrte Wahrnehmung definiert, die jedoch affektiv an ein je individuelles Subjekt rückgebunden ist und so auf einer bewussteren Ebene abläuft. „ Hier wird ein Wahrnehmungsmodus gekennzeichnet, in dem der Illudierte einen Gegenstand seiner Umwelt nicht schlechthin falsch, sondern in affektiver Bedeutung selektiv wahrnimmt und in diesem Sinne umdeutet “ (Voss 2006a: 75). In der Illusion fallen so Wahrnehmung und Projektion zusammen, das Wechselspiel von sinnlich Gegebenem und dem Hinzufügen beziehungsweise Umdeuten von Wahrnehmungen (durch Wahrnehmungen!) auf Seiten der Rezeption wird zentral.[16] Der Eindruck der Lebendigkeit bei der Filmwahrnehmung ist somit nach Voss nicht die Folge einer über den fiktionalen Status des Wahrgenommenen hinwegtäuschende Verblendung, sondern einer Einfühlung des Rezipienten: Neben der semantischen Dimension (filmischer Narration) ist vor allem das empathische Miterleben entscheidend. Zum einen identifiziere ich mich mit Figuren, ich erlebe das, was die Figuren erleben, mit. Zum anderen scheinen neben dieser sehr offensichtlichen Protagonisten-Identifikation aber auch noch weitere, subtilere Parameter des Mediums für das ‚Spüren‘ eines Films durch den Betrachter entscheidend zu sein: Rhythmus, Bildaufbau, Farbgebung, die Verwendung von Sound et cetera. Wichtige Rahmenbedingungen einer solchen somatischen Filmerfahrung sind neben der bereits beschriebenen Illusionsbereitschaft natürlich auch die filmspezifischen Verfahren der Absorption und das Kino-Dispositiv.[17] Die diegetische Verdichtung und Rhythmik auf der Leinwand haben eine spezifische Konzentration des Betrachters und entsprechende mentale, affektive und kognitive Reaktionen desselben zur Folge. Dies alles wird unterstützt durch die örtlich-spezifischen Eigenschaften des Kinoraums in Bezug auf Verdunkelung, Sound- und Bild-Steuerung und eingeschränkte Beweglichkeit.

Die Faszination der Filmrezeption ergibt sich so aus dem Wechselspiel zwischen dem Wissen um die künstliche Erschaffung, Abfolge und Verortung der filmischen Erzählung und dem gleichzeitigen, alle Sinne voll ansprechenden und affektiv durchlebten Realismus. Die Spannung zwischen dieser „ realen Wucht “ (Voss 2006b: 64), der gleichzeitigen (gewussten wie gefühlten) Irrealität und dem ständigen Versuch diese auszubalancieren ist für Voss der entscheidende Ansatzpunkt, um zu ihrer Theorie des Leihkörpers zu kommen. „ Dabei zeigt es sich, dass die phänomenologische Dimension der Einfühlung keine esoterische Größe ist, sondern als eine spezifische Form von implizitem Wissen ausweisbar wird “ (Voss 2006a: 73).[18]

2.4 Der Kinozuschauer als Resonanzkörper

Die oben erörterte, ausbalancierende Verstrickung macht es für Voss unmöglich, Film und Zuschauer getrennt voneinander zu denken. Vielmehr kommt dem (Leib des) Zuschauer(s) als Subjekt der Filmwahrnehmung eine konstitutive Rolle bei der Verlebendigung filmischer Realität zu. „ Der Betrachter eines Films trägt durch seine eigene, primär leiblich fundierte Welterfahrung […] wichtige Informationen aus seiner Lebenswelt und Realität projektiv in den Kosmos des Fiktiven ein “ (Voss 2006b: 69). Diese Verstrickung des Zuschauers in das Filmgeschehen hat somit also einen grundsätzlich leiblich-affektiven und nicht einen rein kognitiv-reflexiven Charakter. Zuschauer und Leinwand gehen dabei ein reziprok-permeables Verhältnis ein, das den Zuschauer bzw. dessen Leib eben auch als Objekt der Filmwahrnehmung einfasst – neben der Projektion kommt es also auch zu einer fiktiv-narrativen Strukturierung der Wahrnehmung des Zuschauers durch das Leinwandgeschehen. Hand in Hand mit Sobchacks cinesthetic body, welcher ihre Überlegungen über die Hybridisierung der Begriffe coenaesthesia (‚Körpergefühl‘), synaesthesia (Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung) und cinema zusammenbringt, geht es also darum, „eine starre Subjekt-Objekt-Trennung mit Blick auf das Verhältnis von Leinwandgeschehen und Zuschauerposition aufzuheben, sofern der ‚cinästhetische Körper‘ gerade als ein dritter Term beides umgreift und dieses Verhältnis als eine reziprok dynamische Relation erfahrbar macht“ (Voss 2006a: 80).

Die offensichtlichste und für Voss gleichzeitig auch wohl wichtigste projizierende Verlebendigung des Zuschauers im Verlauf seiner Wahrnehmung des Kinoerlebnisses ist das ‚Annehmen‘ und Modifizieren der generellen Zweidimensionalität des Leinwandgeschehens. Diese Modifikation ist eine konkret somatische, der Zuschauer leiht sozusagen der Leinwand mithilfe seines Leibes die dritte Dimension. [19] Voss‘ These ist demzufolge, dass es der Zuschauerkörper in seiner geistigen und sensorisch-affektiven Resonanz auf das Filmgeschehen ist, welcher der Leinwand allererst einen dreidimensionalen Körper verleiht und somit die zweite Dimension des Filmgeschehens buchstäblich in die dritte Dimension seines spürbaren Körpers ‚kippt‘. Der Betrachter wird somit zum temporären ‚Leihkörper‘ der Leinwand und ist damit seinerseits konstitutiver Bestandteil der filmischen Apparatur (Voss 2006b: 71).

Der Leihkörper des Zuschauers dient dabei nun als tatsächlicher Raum, als „ leiblich-somatischer Bedeutungsraum “ (ebd.), der sinnstiftend auf eine narrative Fiktion hin funktioniert. Dabei mangelt es diesem aber nicht an ausreichender Reflexivität im Sinne der Möglichkeit zu differenzieren, um das Abgleiten in eine täuschungstheoretische Illusion zu unterbinden. Gleichzeitig kommt es, ähnlich wie auch in Sobchacks Argumentation (auch wenn Voss an dieser Stelle nicht explizit auf sie rekurriert), zu einer permeablen Reversibilität, welche Voss vor allem auf Ebene der zeitlichen Dimension der Filmerzählung analysiert und damit auch den Einfluss des filmischen Narrativs auf den Rezipienten betont. So wird neben der Verlebendigung der Diegese durch körperliche Verräumlichung „ auch umgekehrt eine fiktiv-narrative Verzeitlichung des Leihkörper möglich “ (ebd.: 72). Diese narrative Strukturierung bestimmt nun in Kombination mit den Projektionsleistungen die gezielte (gesteuerte) Sinnproduktion. Es kommt folglich zu einer die somatische Filmerfahrung konstituierenden Dopplung, „ indem der Leihkörper dem Film auch in seiner narrativ-zeitlichen Struktur semantisch folgt, die er selbst somatisch durchläuft “ (ebd.).[20] Voss verfeinert und vertieft diese Verschmelzung von Film- und Affektbedeutung noch durch ihre Theorie der „ narrativen Emotionen “ (Voss 2006b: 75), welche die Gleichgestaltigkeit von Emotionen und Filmerzählung im Hinblick auf eine narrative Struktur postuliert und so die semantische Dimension der Leihkörperschaft auf einer zweiten, sehr viel kleinteiligeren Ebene nochmals bekräftigt und sie in auffälliger Analogie zu Sobchack zu dem Ergebnis kommen lässt, dass „ das Leinwandgeschehen zum thematischen [emotionalen, Anm.d.A.] Objekt und Organisationsprinzip des Verständnisses der eigenen somatisch-synästhetischen Reaktionen wird “ (ebd.: 78),vgl. dafür vor allem aber auch Voss 2004). Damit führt also die Reflexion über den (kino-)filmischen Illusionsvorgang zu einem um den Leib des Zuschauers erweiterten Begriff des Kinos selbst, welcher das Ineinandergreifen von Empfindungen inklusive deren sinnhafte Deutungen und den audiovisuellen Abläufen als ästhetische Erfahrung behauptet.

Inwieweit sich dieser Dualismus aber konkret verwirklicht und analytisch beschreiben lässt, bleibt in den filmphilosophischen Ausführungen weitgehend offen.

3. Die filmanalytische Methode: Audio-Vision und Zuschauergefühl

3.1 Added Value

Hören funktioniert anders als Sehen. Im komplexen Vorgang menschlicher Wahrnehmung besitzt die auditive Komponente verglichen mit der dominant insistierenden visuellen eine andere Qualität. Sie offenbart sich weniger bewusst, erscheint vielschichtiger und funktioniert vor allem auch körperlicher. Akustisches Wahrnehmen ist zwar primär an das Sinnesorgan Ohr gebunden, verwirklicht sich aber durchaus, in Verbindung mit dem Tastsinn, synästhetisch. Vor allem bei sehr hohen Lautstärken gerichteter Töne, wie sie bei einer Filmvorführung im Kinosaal vorkommen, werden die von Schallwellen erzeugten Vibrationen auch taktil aufgenommen. Und dies schon von einem kaum früher zu denkenden Zeitpunkt an: Hören ist im Vergleich zu etwa Schmecken oder Sehen der primärste (archaischste) unserer Sinnesvorgänge, schon vor unsere Geburt nehmen wir im Mutterleib Geräusche war (vgl. Chion 1994: VIIf. und ausführlicher das erste Kapitel in Chion 1984[21] ).

Walter Murch beschreibt diese spezifische Qualität des (Film-)Tons in seinem Vorwort zu Michel Chions Monographie Audio-Vision metaphorisch als „ dancing shadow “ (Chion 1994: XVIII), welcher über eine „ mysterious perceptual alchemy “ (ebd.: VIII) das Filmbild zwar entscheidend, aber gewissermaßen unsichtbar beeinflusst. Mit einer weiteren Metapher leitet Murch das Programm von Chions Ausführungen zum Film ein: Die unterdrückte Königin Sound soll endlich Gleichberechtigung erfahren gegenüber dem regierenden König Bild, das Ungleichgewicht in der theoretischen wie analytischen Auseinandersetzung der beiden Parameter getilgt werden.[22] Dabei, und das macht bereits der Titel des Buches auf prägnante Art und Weise deutlich, geht es Chion weder um eine Polemik gegen eine nun mal äußerst visuell geprägte Kultur noch um einen Vorzeichenwechsel im Sinne einer das Bild dominierenden (Re-)Positionierung des Filmsounds. Vielmehr soll durch die genauere Betrachtung der auditiven Ebene des Films (gerade eben auch in ihrer spezifischen Singularität) ein Gleichgewicht hergestellt werden, um dann in einem, wenn man so will, zweiten Schritt das Zusammenspiel von Ton und Bild näher zu beleuchten und für eine akkuratere Analyse fruchtbar zu machen. Chion installiert dafür vor allem im ersten Teil seines Buches ein ganzes Arsenal an Begrifflichkeiten, die Ton-Phänomene einerseits in ihrer Diversität und ihrer oftmals unterschätzten Bedeutung für das Filmerleben genau zu fassen versuchen, gleichzeitig aber immer auch schon als konkret auf den Film anwendbare Analyseinstrumente funktionieren sollen.[23]

[...]


[1] Zahavi argumentiert hier mit Sartre, vgl. Sartre 1993: 566ff.

[2] Heidegger beschreibt dieses In-der-Welt-sein als Fundament menschlicher Lebensvollzüge und benennt diese mit dem Begriff der Existenzialien. Im Gegensatz zu dieser ‚ontologischen Tatsache‘ des Seins stehen dingliche (beschreibbare) Eigenschaften und Qualitäten des Körpers, die er als Kategorien bezeichnet. Heidegger sieht so, ähnlich wie Merleau-Ponty, das In-der-Welt-sein als Bedingung der Möglichkeit von Welt überhaupt an, verfährt in seinen Ausführungen aber deutlich formalistischer und bezieht seine Modelle vor allem nicht auf die Leiblichkeit des Subjekts zurück (vgl. Heidegger 1967: 41ff.).

[3] Zur Intersubjektivitäts-Theorie der Phänomenologie vgl. Kapitel 8 in Zahavi 2007: 67ff.

[4] Merleau-Ponty übernimmt hier für seine Überlegungen den Husserlschen Begriff der ‚fungierenden Intentionalität‘, welche der Intentionalität des menschlichen Bewusstseins vorgelagert ist und so nicht zu reflektieren ist, da sie selbst Bedingung dieser (Selbst-)Reflexion ist. Vgl. dazu die Ausführungen im Kapitel zur Zeitlichkeit, S.466ff.

[5] Roland Barthes holt dieses Modell in Le plaisir du texte wieder ein und bringt es erneut auf den Punkt: „ Qu'est-ce que la signifiance? C'est le sens en ce qu'il est produit sensuellement" (Barthes 1973: 97).

[6] Gleichzeitig wird dadurch auch das Gegenstandsfeld der Transzendentalphilosophie enorm erweitert, da eine der Erfahrung vorgeschaltete Erkenntniskritik aufgegeben wird.

[7] Das Verhältnis von Leib und Wahrnehmung nimmt 50 Jahre vor Merleau-Ponty bereits Henri Bergson mit seiner Abhandlung Materie und Gedächtnis in den Blick, die trotz ihres höheren Abstrahierungsgrades einige Verwandtschaft zu Merleau-Pontys Überlegungen aufzeigt. Vgl. Hier vor allem das erste Kapitel Von der Auswahl der Bilder bei der Vorstellung. Die Funktion des Leibes (Bergson 1991).

[8] Die im Deutschen gemachte Unterscheidung von Körper und Leib gestaltet sich in der englischen Sprache schwieriger, da das Wort body beide Begriffe meinen kann. Sobchack spricht daher vom (Zuschauer-)Leib als lived-body. Bei der Beschreibung der zentral werdenden Leiblichkeit des Films bleibt sie jedoch nicht konsequent und spricht von film’s body (statt genauer von film’s lived-body). Im Folgenden soll daher auch von Filmkörper die Rede sein, zumal die Grenze hier ohnehin nochmal verschwommener erscheint.

[9] Die paradoxe Dopplung des Erfahrungsbegriffs an dieser Stelle macht deutlich, dass das, was Merleau-Ponty zu fassen versucht, eben nicht (und nie!) konsistent begrifflich gefasst werden kann.

[10] Sobchack macht jedoch deutlich, dass es sich beim Film selbstverständlich nicht um ein menschliches Subjekt handeln kann. Sie beschreibt daher den Film als sehendes Subjekt („viewing subject“), welches eben durch seine Eigenschaft der Gleichzeitigkeit (und dadurch Austauschbarkeit) von Wahrnehmung und Ausdruck mit dem Zuschauer (und im Übrigen auch dem Filmemacher!) parallelisiert werden kann und in (nicht an den Menschen gebundenen) intersubjektiven Prozessen erfasst werden kann (vgl. Sobchack 1992: 21f.). Zur Kritik an der Gleichgestaltigkeit von Zuschauer- und Kamerawahrnehmung bei Sobchack und einem deleuzianischen Ausweg vgl. Kappelhoff 2005: 146. Der Diskussion, inwieweit sich Sobchacks Konzepts zu sehr bzw. ausschließlich auf die Kamera(-Bewegung) konzentriert, möchte der Analyse-Teil dieser Arbeit mit der Einbeziehung verschiedenster Gestaltungsebenen (Sound Design, Farblichkeit, Mimik/Gestik etc.) begegnen.

[11] Wobei Sobchack den Begriff viewing-view grundsätzlich nochmal deutlich weiter definiert: „ Vision is always already a visual ‘viewing view’, producing visible ‘moving images’” (vgl. Sobchack 1990: 21).

[12] Zur etwas verkomplizierteren Selbstreflexivität des Film-Körpers und seiner unterschiedlich verräumlichten und verzeitlichten Form vgl. Sobchack 1992: 221ff.

[13] Sobchack entwickelte in den 1990er und 2000er Jahren ihre oben beschriebenen Überlegungen (vor allem mit stärkerem Fokus auf Sinnproduktion) weiter und konzeptualisierte diese unter dem Neologismus des cinesthetic body/subject (vgl. Sobchack 2004).

[14] Vgl. u.a. Metz 1972: 20 ff. oder etwa Michotte van den Berck 2003 (1953). Zu den Konzepten der Einfühlung und Immersion vgl. vor allem die zahlreichen Publikationen von Robin Curtis, etwa in Koch/Voss 2006. Auch Siegfried Kracauer betont trotz einer eher gesellschaftstheoretischen Ausrichtung seiner Ausführungen in seiner Theorie des Films die Körperlichkeit des rezipierenden Subjekts, auch wenn der Leib-Begriff bei ihm dabei nicht vorkommt. Vgl. Kracauer 1964: 216 (auch Hansen 2011). Wulff befreit den Empathie-Begriff von einer oftmals ausschließlich figurenorientierten Konzeption (Wulff 2003). Für die somatische Theorie vgl. neben Sobchack vor allem Shaviro 1993, Williams 1989 und Marks 1999.

[15] Diese Illusion wird oft als eine Art Kontrakt beschrieben. Im Zuge der Betonung der affektiven, nicht-kognitiven Wahrnehmungsebene des Zuschauers in dieser Arbeit erscheint diese Metapher aber eher unzutreffend.

[16] Voss erläutert und unterfüttert in ihrem Aufsatz Filmerfahrung und Illusionsbildung diese These mit der Ästhetik Robert Musils noch weiter. Vgl. Voss 2006a: 76-79.

[17] Auch dieser Begriff hat eine lange Tradition in der Fiktionstheorie und nimmt seinen (modernen) Ursprung in Coleridges willing suspension of disbelief.

[18] Voss erläutert dieses im Grunde buchstäbliche Verständnis von implizitem Wissen (wir wissen/können mehr, als wir sagen/reflektieren können) nochmals am Ende des Aufsatzes mithilfe von Ausführungen des Philosophen Michael Polanyi etwas genauer. Vgl. Voss 2006a: 82-85.

[19] Merleau-Ponty spricht in Das Auge und der Geist in Bezug auf die menschliche Wahrnehmung von einem Primat der dritten Dimension und merkt an, dass man diese deshalb eigentlich die erste Dimension nennen müsste (Merleau-Ponty 2003: 293ff.).

[20] Dieses grundsätzlich erst einmal äußerst abstrakte Ergebnis soll im analytischen Teil dieser Arbeit dann eine Konkretisierung erfahren.

[21] In englischer Übersetzung auch Chion 1999. In deutscher Sprache auch Chion 1996.

[22] In Analogie zu weiteren zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit Film-Ton (Flückiger 2001, Altman 1992) soll in dieser Arbeit der Begriff Sound bzw. Sound-Design als umfassender Terminus verwendet werden und erst einmal sowohl homo- wie heterodiegetische Musik und Geräusche als auch die Dialog-Ebene einschließen. In der konkreten Analyse muss diese Melange selbstverständlich wieder aufgeschlüsselt werden, um die einzelnen Parameter singulär und dann auch in ihrem Zusammenspiel betrachten zu können.

[23] Chion entwickelte einige dieser Begriffe und Konzepte bereits in seinen beiden in den 1980er Jahren veröffentlichten Werken La Voix au Cinéma (Chion 1982, in engl. Übersetzung Chion 1999) und Le Son au Cinéma (Chion 1985). Das 1991 im französischen Original entstandene L‘Audio-Vision lässt sich demnach als zugespitzte Erweiterung betrachten.

Ende der Leseprobe aus 67 Seiten

Details

Titel
Seeing the seen, hearing the heard. Körperlichkeit und Audio-Vision in Kathryn Bigelows "Strange Days"
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Theaterwissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
67
Katalognummer
V294263
ISBN (eBook)
9783668326699
ISBN (Buch)
9783668326705
Dateigröße
809 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
seeing, körperlichkeit, audio-vision, kathryn, bigelows, strange, days
Arbeit zitieren
Danny Gronmaier (Autor:in), 2013, Seeing the seen, hearing the heard. Körperlichkeit und Audio-Vision in Kathryn Bigelows "Strange Days", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/294263

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