Fantastik und Spuk im literarischen Realismus. Das Spuk-Motiv und dessen Funktionen in Storms "Schimmelreiter" und Fontanes "Effi Briest"


Hausarbeit, 2014

17 Seiten, Note: 1,0

Mia Dumont (Autor:in)


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Fontanes Effi Briest und Storms Schimmelreiter als Musterbeispiele für Fantastik und Spuk-Motivik im literarischen Realismus

2. Die Bedeutung von fantastischen Motiven für den literarischen Realismus

3. Die fantastischen Elemente in Storms Schimmelreiter

4. Der Chinesen-Spuk in Fontanes Effi Briest

5. Übergreifende Thesen: Wie kann Fantastisches zu einer realistischen Erzählweise beitragen?
5.1. Fantastische Elemente als Teil der programmatischen „ideellen Durchdringung“
5.2. Fantastische Elemente als „die Verklärung, das Poetische“
5.3. Fantastik als realistische „Moraldidaxe über die Verderblichkeit des Aberglaubens“
5.4. Auslagerung und Historisierung der fantastischen Motive
5.5. Das Irreale als Bewusstseinsrealität: Traum, Wahnsinn oder Halluzination

6. Zusammenfassung der Ergebnisse

7. Literaturverzeichnis

1. Fontanes Effi Briest und Storms Schimmelreiter als Musterbeispiele für Fantastik und Spuk-Motivik im literarischen Realismus

Realismus und Fantastik – diese beiden Begrifflichkeiten bilden auf den ersten Blick ein Paradoxon, sie widersprechen sich. Inwiefern kann etwas Fantastisches zugleich realistisch sein? Dieser Frage soll in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden.

Im literarischen Realismus, einer Epoche, in welcher die möglichst genaue Wiedergabe der Wirklichkeit zur Programmatik gehört, tauchen unübersehbar immer wieder fantastische Elemente in der Literatur auf. Auch wenn dieses Phänomen im Vergleich zur Romantik im Realismus stark marginalisiert ist und die fantastischen Elemente eher eine untergeordnete Rolle innerhalb der realistischen Literatur spielen, so ist die Fantastik im literarischen Realismus doch unbestreitbar präsent. Diese Arbeit soll überprüfen, inwiefern Fantastik und Realismus vereinbar sind und noch einen Schritt weitergehen, indem sie speziell den Fragen nachgehen wird, inwiefern fantastische Elemente zu einer realistischen Erzählweise beitragen können und wie Übernatürliches funktionalisiert wird um realistisch zu erzählen. Zur Beantwortung dieser beiden Fragen werden in der vorliegenden Arbeit zwei der prominentesten Beispiele realistischer Fantastik1 untersucht: Theodor Storms Novelle Der Schimmelreiter und Theodor Fontanes Gesellschaftsroman Effi Briest. In beiden Texten sind fantastische Elemente in Form von Spuk ausgeprägt, deshalb wird sich diese Arbeit präziser mit der Spuk-Motivik im literarischen Realismus auseinandersetzen.

Zunächst soll die Bedeutung von Fantastik für den Realismus im Allgemeinen skizziert werden, im Anschluss wird jeweils das Spuk-Motiv in Storms Schimmelreiter und Fontanes Effi Briest kurz vorgestellt. Obwohl Fantastik und Spuk in der Realismus-Forschung weitgehend marginalisiert wurde2, gibt es speziell zum Schimmelreiter und zu Effi Briest eine Vielzahl an Forschungstexten, welche sich spezifisch mit den fantastischen Elementen innerhalb der Texte befassen. Es liegen verschiedenste Interpretationsansätze sowohl zum Deichspuk als auch zum Chinesenspuk vor. Exemplarisch werden einige dieser Interpretationsansätze auch in dieser Arbeit angeführt, um zu verdeutlichen, welche große Bedeutungsoffenheit übernatürliche Elemente innerhalb eines realistischen Textes bieten. Anschließend werden durch Bezugnahme auf die Aussagen anderer Literaturwissenschaftler fünf textübergreifende Thesen aufgestellt, wie fantastische Elemente in Hinblick auf eine realistische Erzählweise funktionalisiert werden können. Die einzelnen Thesen werden knapp vorgestellt und es wird aufgezeigt, dass sich jede These sowohl auf Der Schimmelreiter, als auch auf Effi Briest anwenden lässt.

Diese fünf Thesen sollen beweisen, dass sich die beiden Konzepte Fantastik und realistisches Erzählen keineswegs ausschließen, sondern, ganz im Gegenteil, gegenseitig ergänzen können. In einem finalen Kapitel werden die Ergebnisse dieser Arbeit schließlich noch einmal zusammengefasst.

2. Die Bedeutung von fantastischen Motiven für den literarischen Realismus

Während in der Epoche der Romantik Fantastik und Spuk in der Literatur omnipräsent und Teil der Programmatik waren, überrascht, dass auch im literarischen Realismus fantastische Elemente vertreten sind. Die realistischen Programmatiker strebten einen Epochenbruch zur Romantik an, eine „vollständige Abwicklung der romantischen Vergangenheit“3, daher überrascht die Präsenz von Fantastik im Realismus umso mehr. Trotz alledem ist die Existenz einer realistischen Fantastik unübersehbar, „obwohl sie von der Programmatik ausgehend nicht erwartbar ist, und von der Forschung weitgehend marginalisiert wurde[…].“4

Vor allem Theodor Storm wird immer wieder als Hauptvertreter der realistischen Fantastik genannt, nicht nur seine Novelle Der Schimmelreiter ist stark mit übernatürlichen Elementen aufgeladen, auch seine Erzählung Am Kamin, natürlich seine Spukgeschichten-Sammlung Neues Gespensterbuch und zahlreiche weitere Texte von Storm sind voller fantastischer Elemente. Neben Storm zählen unter anderem auch Theodor Fontane, vor Allem mit seinem Roman Effi Briest und Gottfried Keller mit seiner Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe und seinem Roman Der grüne Heinrich zu den wichtigsten Vertretern der realistischen Fantastik.

Es bestehen allerdings offensichtliche Unterschiede zwischen der romantischen und realistischen Fantastik: Während in der Romantik fantastische Elemente häufig das Hauptthema eines literarischen Textes waren und die Texte zentral auf die übernatürlichen Handlungselemente ausgerichtet waren, so sind die fantastischen Elemente im Realismus stark zurückgenommen. Texte des literarischen Realismus, in welchen fantastische Elemente vorhanden sind, enthalten auch noch Handlungsstränge, welche „restlos natürlich erklärbar sind“.5 Fantastische Elemente sind zwar zentrale Motive innerhalb realistischer Texte, sie haben allerdings keinen unmittelbaren Einfluss auf die Kausalität der Handlung, wie es in romantischen Texten häufig der Fall ist. Insgesamt sind realistische Texte weniger auf die fantastischen Elemente hin „‚zentriert‘“6, Fantastik ist im Realismus nicht als ein im Text isolierbares, sondern als relationales Phänomen zu betrachten.7 Fantastische Elemente entfalten ihre Bedeutung innerhalb realistischer Texte erst in Zusammenhang mit den natürlichen Themen und Motiven.

Auch wenn die Fantastik nicht Hauptthema des Realismus war, eher eine marginale Rolle in der realistischen Literatur einnahm, so ist die Fantastik trotzdem von großer Bedeutung. Gregor Reichelt formulierte treffenderweise:

Je ärmer die realistische Literatur an fantastischer Literatur als Gattung, desto reicher ist sie an bedeutungskonstitutiven Kontexten, die etwas über die Funktion dieses Fantastischen, seine Zugehörigkeit zu den Gegenständen ‚mimetischer‘ Darstellung aussagen.8

Dieser Aussage wird in den folgenden Kapiteln nachgegangen: Es werden beispielhaft fünf Thesen aufgestellt, welche Funktionen der Fantastik innerhalb der realistischen Literatur zukommen können. Diese werden aufzeigen, dass Fantastisches durchaus zu einer ‚mimetischen‘ Darstellung beitragen kann.

3. Die fantastischen Elemente in Storms Schimmelreiter

Theodor Storm Novelle Der Schimmelreiter aus dem Jahre 1888 ist durchzogen von fantastischen Elementen. Schon der Titel bezieht sich auf etwas Übernatürliches: zentrales fantastisches Element der Novelle ist die Spukerscheinung des Schimmelreiters, deren Erscheinen vor einem Deichbruch warnt. Der Schimmel als fantastisches Element ist in verschiedenen Manifestationen innerhalb des Textes vorzufinden: als Spukfigur, als realer Gegenstand eines Kaufgeschäfts, als tatsächliches Pferd des Deichgrafen Hauke Haien, als auferstehendes Pferdegerippe auf Jevershallig oder auch als vermutete Tauschleistung eines Teufelspakts. Alle diese Erscheinungsformen sind zwar zumeist unabhängig voneinander, sie lassen sich analytisch trennen, die Bedeutungen der unterschiedlichen Manifestationen überlagern sich allerdings, so dass sie alle zu dem Gesamtbild des spukenden Schimmelreiters beitragen.9

Im Folgenden werden zwei sehr unterschiedliche Interpretationsansätze des Schimmelreiters vorgestellt, um exemplarisch aufzuzeigen, wie bedeutungsoffen dieses fantastische Element ist und wie stark auch der Wunsch anderer Literaturwissenschaftler ist, die fantastischen Elemente in Der Schimmelreiter mit der Realismus-Programmatik zu vereinbaren. Eine sehr starke Meinung vertritt Albert Meier in seinem Artikel „>>Wie kommt ein Pferd nach Jevershallig?<<“: Er plädiert für die These, dass der gesamte Schimmelreiter-Spuk innerhalb der Novelle absolut unrealistisch ist – und das aber auch sein darf, da nur die äußerste Rahmenhandlung der Novelle Anspruch auf Realitätsnähe hat.10 Die literarische Mimesis in Der Schimmelreiter, welche ja von der Programmatik des Realismus gefordert wird, bezieht sich nach Meier „[…]auf die nicht näher bezeichnete Journal-Erzählung, die sich dem übergeordneten Erzähler des ersten Rahmens […] so tief eingeprägt hat.“11 Der Inhalt dieser Journal-Erzählung ist weitgehend historisiert und mehrfach zurückdatiert12 und in dieser vor-realistischen Zeit „[…] können Gespenster durchaus auf Realitätskompatibilität prätendieren […].“13

Eine ebenso starke, wenn auch vollkommen differierende These, wird von Winfried Freund in Deutsche Phantastik vertreten. Laut Freund wurde Hauke Haien in vorhergehenden Interpretationen häufig als Held missverstanden, in Wahrheit ist er aber ein „notorischer Egoist und Egozentriker, […] besessen von der Dämonie der Macht. Er ist die Verkörperung der Hybris, in seiner Selbstüberhebung gewiß, alle anderen weit zu überragen.“14 Aufgrund dieser Eigenschaften ist Hauke Haien „[…] dazu verurteilt, als spukender Wiedergänger für seine Schuld an den Mitmenschen zu büßen und in gespenstischer Verfremdung vor der Maßlosigkeit des Geltungsstrebens zu warnen.“15 Mit realistischen Mitteln wäre, laut Freund, dieser Grad einer Hybris nicht mehr darstellbar gewesen, „erst im phantastischen Zerrbild des spukenden Wiedergängers mit den hohlen Augen im bleichen Gesicht, im flatternden schwarzen Mantel auf dem Schimmel tritt die Verzerrung des Menschlichen grell und erschreckend zutage.“16 Fantastik wird im Schimmelreiter, nach Meinung Freunds, zum „Medium deformierter Humanität.“17

4. Der Chinesen-Spuk in Fontanes Effi Briest

Wie in Der Schimmelreiter ist in Theodor Fontanes Gesellschaftsroman Effi Briest, welcher erstmals 1895 veröffentlich wurde, eine Spukerscheinung in mehreren Manifestationen vertreten. Hierbei handelt es sich um den Chinesen, welcher als reale Person in Kessin existiert hat und auf einem Stück Land neben dem Friedhof begraben liegt.18 Der Chinese existiert aber auch in Form des Chinesen-Bildchens (vgl. EB, S. 64), welches Effi bis nach Berlin verfolgt und als Spukerscheinung, die im Saal über Effis Zimmer haust (vgl. EB, S. 56). Insgesamt durchzieht das Motiv des Chinesen den Roman in verschiedensten Zusammenhängen und Erscheinungsweisen. Diese laden zu mindestens ebenso viele Interpretationen wie Der Schimmelreiter ein.

Generell lässt sich feststellen, dass der Chinese per se kein Handlungselement darstellt, er wirkt stets nur in kontextualen Zusammenhängen bedeutungskonstituierend. Das lässt sich auch daran erkennen, dass keine narrative Geschlossenheit der Chinesengeschichte vorliegt, der Leser erfährt nie, was es mit dem Chinesen tatsächlich auf sich hat. Umso bedeutungsoffener ist dieses Spuk-Motiv.

In vielen Forschungstexten werden dem Chinesen psychologische, gesellschaftskritische oder erzähltechnische Funktionen zugewiesen.19 Psychologisch wird er zumeist als „Angstapparat aus Kalkül“ (EB, S. 141) interpretiert, welcher von Innstetten verwendet wird um Effis Psyche zu steuern.20 Schließlich wird Innstetten jedoch von seiner eigenen Fiktion manipuliert21 und der psychologische Effekt des Chinesen treibt Effi sogar in die Arme von Crampas. Es ist eine Funktion des Chinesen, „[…] unausgesprochene oder unaussprechbare psychologische Mechanismen sichtbar zu machen […].“22 Gesellschaftskritisch wird der Chinese häufig als Symbol des Fremdseins und des Außenseitertums verstanden, welches den Chinesen mit Effi verbindet: auch sie ist eine Fremde, eine Außenseiterin in der Kessiner Gesellschaft. Das den beiden Figuren gemeinsame Außenseitertum wird noch im Tod symbolisiert, da weder Effi, noch der Chinese auf einem christlichen Friedhof beigesetzt werden.23 Erzähltechnisch wird der Chinese häufig als narrative Strategie zum Ausdruck der Figurenbeziehungen interpretiert. Beispielweise Innstetten gegenüber muss Effi ihre Gefühle in Bezug auf den Chinesen für sich behalten, das verdeutlicht die Distanz zwischen den beiden Figuren, Roswitha gegenüber kann sich Effi jedoch vollständig öffnen, sie wird ihre engste Vertraute.24

[...]


1 Vgl. Reichelt, Gregor: Fantastik im Realismus. Literarische und gesellschaftliche Einbildungskraft bei Keller, Storm und Fontane. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, S. 84.

2 Vgl. ebd. S. 83.

3 Vgl. Reichelt, Fantastik im Realismus, S. 91.

4 Ebd. S. 83.

5 Reichelt, Fantastik im Realismus, S. 10.

6 Ebd.

7 Vgl. ebd. S. 11.

8 Ebd. S. 29.

9 Vgl. Reichelt, Fantastik im Realismus, S. 170.

10 Vgl. Meier, Albert: >>Wie kommt ein Pferd nach Jevershallig?<< Die Subversion des Realismus in Theodor Storms Der Schimmelreiter. In: Hans Krah (Hg.): Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen; Festschrift für Marianne Wünsch. Kiel: Ludwig 2002, S. 167-179.

11 Ebd. S. 175.

12 Vgl. Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Novelle [1888]. Stuttgart: Reclam 2011, S. 3.

Für Theodor Storms Novelle Der Schimmelreiter wird im Folgenden die Sigle ‚DS‘ festgelegt.

13 Meier, >>Wie kommt ein Pferd nach Jevershallig?<<, S. 175.

14 Freund, Winfried: Deutsche Phantastik. Die phantastische deutschsprachige Literatur von Goethe bis zur Gegenwart. München: Fink 1999, S. 171.

15 Ebd.

16 Ebd. S. 171 f.

17 Ebd. S. 172.

18 Vgl. Fontane, Theodor: Effi Briest. Roman [1895]. 4. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer 2012, S.88. Für Theodor Fontanes Gesellschaftsroman Effi Briest wird im Folgenden die Sigle ‚EB‘ festgelegt.

19 Vgl. Rainer, Ulrike: Effi Briest und das Motiv des Chinesen. Rolle und Darstellung in Fontanes Roman. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 101 (1982), S. 545-561, hier S. 546.

20 Vgl. Reichelt, Fantastik im Realismus, S. 195 f.

21 Vgl. Rainer, Effi Briest und das Motiv des Chinesen, S. 559.

22 Vgl. ebd. S. 548.

23 Vgl. ebd. S. 550.

24 Vgl. ebd. S. 555.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Fantastik und Spuk im literarischen Realismus. Das Spuk-Motiv und dessen Funktionen in Storms "Schimmelreiter" und Fontanes "Effi Briest"
Hochschule
Universität Bayreuth
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
17
Katalognummer
V294626
ISBN (eBook)
9783656924098
ISBN (Buch)
9783656924104
Dateigröße
434 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Fantastik, Spuk, Realismus, Effi Briest, Der Schimmelreiter
Arbeit zitieren
Mia Dumont (Autor:in), 2014, Fantastik und Spuk im literarischen Realismus. Das Spuk-Motiv und dessen Funktionen in Storms "Schimmelreiter" und Fontanes "Effi Briest", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/294626

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