Psychoanalytische Literaturwissenschaft am Beispiel von Kafkas Erzählung "Das Urteil"


Term Paper, 2012

17 Pages, Grade: 2,0


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Inhaltsverzeichnis

1. Die Psychoanalytische Literaturwissenschaft 3
1.1. Eine Einleitung
1.2. Die Psychoanalyse nach Sigmund Freud

2. Die Traumanalyse und -theorie
2.1. Franz Kafka und der (Tag-)Traum

3. Kafka und Freud
3.1. Psychoanalytisches Wissen im Urteil

4. Die Vater-Sohn-Beziehung und der ödipale Komplex im Urteil

5. Kafka-Parabeln als Rorschach-Tests
5.1. Thesenkritik

Literaturverzeichnis

1. Die Psychoanalytische Literaturwissenschaft

1.1. Eine Einleitung

Die psychoanalytische Literaturwissenschaft gilt, in Anlehnung an die um 1890 von Sigmund Freud entwickelte Behandlungstherapie „Psychoanalyse“, begründet auf einer Theorie über Aufbau und Funktion des menschlichen Seelenlebens, als eine der etabliertesten und dennoch immer noch „modernsten“ Methoden der hermeneutischen Literaturwissenschaft. „Die Psychoanalytische Literaturwissenschaft konzentriert sich auf literarische Darstellungen bzw. Manifestationen psychischer Phänomene und untersucht neben den Texten selbst, die mit der Produktion und Rezeption literarischer Texte verbundenen psychischen Aktivitäten.“, so Thomas Anz im Reallexikon.

Die psychoanalytische Literaturwissenschaft ist allerdings keinesfalls lediglich eine Kopie der Psychoanalyse nach Freud, welche den medical turn in der Gesellschaft um 1900 herum für sich nutzen wollte, sondern die Psychoanalyse und die psychoanalytische Literaturwissenschaft gehen eine Art Symbiose ein: „Anfangs suchten Freud und seine Schüler in ihren Auseinandersetzungen mit Literatur vor allem anschauliche Bestätigungen ihrer theoretischen Konzepte.“

So erklärte Freud etwa den „ödipalen Konflikt im Prozeß der Subjektwerdung“ anhand von Sophokles „König Ödipus“. Zentrale Themen der Psychoanalyse sind die familiären Beziehungen (Vater – Sohn - Mutter), Liebe und Hass, Schuldbewusstsein und Bestrafungsphantasien (→ ödipales Drama), Konflikte zwischen homo - und heterosexuellen Wünschen (Vater – Sohn - Liebesbeziehung), Eifersucht und Rivalität.

1.2. Die Psychoanalyse nach Sigmund Freud

Eine der wichtigsten Grundannahmen der Freudschen Psychoanalyse ist wohl die Theorie Freuds über das menschliche Seelenleben: Kern allen Handelns sind Sexual- und Aggressionstrieb. „Freud geht davon aus, dass sich im Seelenleben das „Es“, der Bereich des Unbewußten, das „Über - Ich“, der Bereich der sozialen Normen und Anforderungen, und das „Ich“, die Instanz der Realitätsprüfung, voneinander unterscheiden lassen.“ Das „Ich“ stellt die Vernunft beziehungsweise die kanalisierten Triebimpulse dar, praktisch das realisierte Handeln. Das „Es“ sind die bewussten / unbewussten Triebregungen des biologischen Menschen und das „Über - Ich“ das Gewissen / die moralische Instanz, geformt durch Bildung, Kultur und Erziehung. Psychosomatische Beeinträchtigungen und psychische Störungen resultieren aus ungelösten inneren Konflikten; aus einem Ungleichgewicht der drei Instanzen.
Freud bemerkte auch Analogien der Psychoanalyse zur Literatur, da sich beide in ihren literarischen Darstellungsformen ähneln: „Die erzählten Krankengeschichten seien „wie Novellen zu lesen“. “ (GW 1, 227).“

2. Die Traumanalyse und -theorie

Inhaltliche Brücken lassen sich auch zwischen der Freudschen Psychoanalyse und dem (Tag-)Traum, sowie der Phantasie, der Kunst und der Dichtung schlagen. Die Kunst bzw. die künstlerische Tätigkeit an sich, der Schaffensprozeß als solcher, ähnelt in einer Art und Weise dem kindlichen Spiel, welches oft Schlüssel der Psychoanalyse ist. „Unter den Anforderungen des Realitätsprinzips versucht noch der Erwachsene, Erfahrungen nachzustellen, die er als Kind machte; der ursprünglich im Spiel erreichte Lustgewinn wird jetzt durch Phantasie und Tagtraum substituiert.“ Freud führt vor allem den (Tag-)Traum auf (unerfüllte) narzißtische oder sexuelle Wünsche zurück. Ebenso die (Ver-)Dichtung. „Im sogenannten „Primärprozeß“ werden unterschiedliche vorbewusste Vorstellungen zu einem Gemeinsamen „verdichtet“, auf Nebensächliches „verschoben“ oder durch „Symbole“ ausgedrückt, […] bewußtseinsfähigen Vorstellungen anverwandelt. Erst nach passieren der Zensurschranke werden die so verwandelten Vorstellungen im „Sekundärprozeß“ bearbeitet und mitteilbar gemacht: auf diesem Weg entsteht durch die „Traumarbeit“ der „manifeste Traum.“

Die Traumforschung, die auf der Theorie Freuds fußt, befasst sich mit drei Fragen: Die nach der Bildung eines Traumes (Generierung), die Frage nach dem Sinn der Inhalte und deren Bedeutung, sowie der psychologischen (oder biologischen) Funktion von Träumen. Freud beschäftigte sich vor allem mit der Funktionsfrage und klärte durch diese auch die anderen Fragestellungen auf. Demnach kann ein Traum verschiedene Funktionen inne haben: Schutz des Schlafes vor Gedanken vom Tag und den Triebwünschen des infantilen Es und den „Betrug“ des moralischen Über-Ichs, indem der Traum jenem quasi in einem safe mode die folgenlose Einlösung und das Erleben der Triebe und Wünsche vorgaukelt. Tageserlebnisse und jene unerfüllten Triebe und Wünsche sind es also, die Träume erzeugen können. Unerledigtes, Ungelöstes, Unterdrücktes, und Unterbewusstes.

2.1. Franz Kafka und der (Tag-)Traum

Auch im Urteil sind traumähnliche und albtraumähnliche (kafkaeske) Motive wiederzufinden, ja, das Urteil selbst kann vielleicht auch mit einem Albtraum verglichen werden. Doch dazu später mehr.

Kafkas ungesundes Verhältnis zum Schlaf an sich lässt sich womöglich auch in seinen Werken wiederfinden: So lag der Autor etwa oft stundenlang im Bett oder auf dem Sofa, am helllichten Tage, ohne fest zu schlafen. Nachts allerdings wandte er sich seinen Tätigkeiten als Schriftsteller zu, konnte danach nur wenig oder kaum schlafen. „Er klagte über quälende Wachzustände zwischen Dämmern und Träumen, die ihm Kräfte raubten.“ Kafkas Schlaflosigkeit bildete also wohl oft die Bedingung seiner literarischen Arbeit, wie etwa im Urteil, welches er in einer einzigen Nacht niedergeschrieben haben will.

3. Kafka und Freud

3.1. Psychoanalytisches Wissen im Urteil

Dass psychoanalytisches Wissen in Kafka-Werken gefunden werden kann, beruht auf Franz Kafkas persönlichem Interesse und seiner Beschäftigung mit Sigmund Freud. Gerade im, von Kafkas Gedanken an den eigenen Vater durchdrungenem Urteil lassen sich der Ödipus-Komplex und die Konfliktsituation eines autoritären Vaters und seines ewig kleinen Sohnes nachweisen. So beschreibt etwa Peter-André Alt Kafka als „regelmäßigen Vortragsbesucher“ psychoanalytischer Seminare. Der junge Mann ist interessiert und nimmt in den Jahren 1912 und 1913 mehrfach an Themenabenden der Schüler Freuds teil. „Kafka sah die Psychoanalyse zeitlebens als intellektuellen Beitrag zum Verständnis der Moderne, mit dem er sich prinzipiell zu befassen hatte, obgleich er von seiner medizinischen Leistung nicht überzeugt war“, so Peter-André Alt. Kafka hielt die Psychoanalyse für eine Spiegelschrift: Ihr Entziffern sei mühsam, das Ergebnis stimmig, passiert wäre allerdings nichts.

Kafka verstand Freuds Lehren als aktuelles Interpretationsprogramm seiner Zeit, sozusagen als hermeneutischen Schlüssel. Allerdings betrieb er selbst keine intensiveren Studien, weshalb psychoanalytische Ansätze in seinen Werken stets kritisch zu betrachten sind, da unklar ist, inwiefern diese bewusst eingeflossen sind. Doch gerade dieses unvollständige Wissen Kafkas um Freuds Studien ist interessant: sein Tagebucheintrag vom 23. September 1912, welcher in zeitlicher Nähe zur Entstehung des Urteils steht, in dem er „Gedanken an Freud“ notiert, muss also nicht zwingend bedeuten, dass in dieses Werk psychoanalytische Muster und Motive, welche sich zur psychoanalytischen Interpretation eignen, miteingeflossen sind. Alt ist davon überzeugt, dass diese Notiz „hier als Chiffre für jene Vaterwelt steht, die in der Erzählung selbst […] eine mythische Dimension gewinnt.“

„Der Analytiker ist ein Mann des Wortes, der Kontrolle über die physischen Befunde des Kranken anstrebt, indem er ihn durch das Medium der Sprache diszipliniert.“, so Alt weiter über die Arbeit eines Psychoanalytikers. Eine Ansicht, die wohl auch Kafka teilte.

Es wäre also möglich, dass Kafka in seiner Parabel Das Urteil bekannte, von Freud publizierte „Krankheitsbilder“, wie etwa den Ödipus-Komplex mit einfließen ließ, um sie eben durch die sprachliche Form aufzuzeigen und eventuell durch dieses „zur Sprache bringen“ jenen (den Krankheiten und Komplexen) so die Macht nehmen wollte. Ein nicht ganz unzweifelhafter Beleg hierfür ist die Tatsache, dass Franz Kafka mit seinem eigenen Vater zeitlebens ein schwieriges Verhältnis hatte, welches er etwa auch in Brief an den Vater von 1919 zum Ausdruck bringt. Im Alter von 36 Jahren hatte Kafka bereits die bekannten Novellen, darunter auch Das Urteil veröffentlicht und befand sich quasi auf dem Höhepunkt seiner Schriftstellerkarriere. Im Brief an den Vater thematisiert die Erzählinstanz (Kafka) das schwierige Verhältnis zu seinem Vater und klagt diesen in einem buchlangen Brief an. „Ein reifer Mann und Künstler vom Format Franz Kafkas bleibt in einen ausweglosen „Proceß“ mit dem eigenen Vater verstrickt, sieht sich außerstande, sein Kind-Vater-Verhältnis zu verwandeln in die freie Begegnung zwischen zwei „ebenbürtigen“ Männern.“, erklärt Wilhelm Emrich im Nachwort zu Kafkas Brief. Es ist daher naheliegend, dass die Psychoanalytiker ihr Augenmerk gerne und oft auf den in Kafka-Werken immer wiederkehrenden Ödipus-Komplex lenkten und Kafka selbst einen Vater-Komplex unterstellten oder die bloße Existenz eines solchen in der menschlichen Psyche durch Kafka-Parabeln zu beweisen. Franz Kafka gibt mit „Hinweisen“ wie „Mein ganzes Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte. Es war ein absichtlich in die Länge gezogener Abschied von

Dir.“ natürlich auch Anhaltspunkte, seine Novellen als schriftliche Ausdrücke eines ins Extreme gehenden Ödipus-Komplexes zu verstehen, dennoch müssen psychoanalytische Interpretationen nicht zwangsläufig in diese Richtung gehen, ja, sie müssen sogar kritisch solche Aussagen und vermeintliche Hinweise untersuchen. „Nicht das Werk ist aus dem Vater-Komplex kausal abzuleiten und zu „erklären“, sondern umgekehrt, der Vater-Komplex durch das Werk zu interpretieren und in jener überpersönlichen Bedeutsamkeit ins Bewusstsein zu heben, die dem Werk selber als weltliterarischem Ereignis zukommt.“

Auch hier also wieder eine, sich vom Autor, von Kafka, entfernende Interpretation, die das verarbeitete oder das auffindbare Themenmaterial nicht als neurotisches Gespinst des Autors auffasst, sondern dieses eher als „verarbeitetes Wissen der Gesellschaft“ betrachtet. Der Ödipus-Komplex in Kafka-Parabeln ist vorhanden, aber es ist nicht zwingend Kafkas eigener Komplex, sondern vielmehr ist seine Thematisierung eher eine Art Beweis für die Existenz dessen in der Realität und in der Gesellschaft.

Kafka-Parabeln, Das Urteil, sind / ist also ein Blick hinter die Kulissen der Welt, ein Vorhang, den Kafka da zieht oder ein Schlüssel, der Verborgenes und Verwobenes zum Vorschein bringt. Er decke die Lügen der Welt auf, erklärt Emrich: „Besteht doch die einzigartige Leistung des Werkes Kafkas in der kritischen Distanz, mit der er die Schleier der Lüge, die unsere menschlichen Lebens- und Denkformen überdecken, zerreißt, die unsichtbaren Geister und Mächte, die unser Dasein bestimmen, zitiert, beschwörend ans Licht bringt und entlarvt.“

Die „elementaren seelischen Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen, Müttern und Töchtern, Männern und Frauen“ sind kafkaesk im Urteil wiederzufinden, in extremer, auf die Innenwelt der Erzählinstanz fokussierter Form, aber dennoch klar und deutlich genug formuliert, um hier nicht von egozentrischer Spiegelung der Innenwelt auf die Außenwelt auszugehen, sondern um der Annahme gerecht zu werden, hier im Urteil seien weltliches Wissen und zwischenmenschliche Formen des Destruktiven verarbeitet und besonders herausgearbeitet worden.

In einem extremen Umfeld der Homosozialität beleuchtet Kafka den Ödipus-Komplex so punktuell, dass der Psychoanalyse hier natürlich fruchtbaren Boden geschenkt wird. Die Vater-Sohn-Beziehung wird mit dem Urteil, mit dem Selbstmord des Sohnes zur Spitze getrieben. Ein Finale, welches verdeutlicht, auch wieder in einer abstrakten und abartigen Extremsituation, dass ein Vater und sein Sohn sich nicht wirklich lieben können, dass der Sohn nicht ebenbürtig ist und dem Vater gegenüber in infantiler Abhängigkeit, im sinnlosen Zirkel von Anklage und Entlastung steht.

4. Die Vater-Sohn-Beziehung und der ödipale Komplex im Urteil

„Die Liebe kann nur durch Opfern und Schlachtung des Sohnes erreicht werden, der die Last aller Schuld auf sich nimmt. Kafkas Opfer- und Selbsttötungsvisionen spiegeln den Zustand einer patriarchalischen, religiösen und kulturellen Weltordnung, in der das Selbst der Frau ausgegliedert ist, in der die Frau zur duldenden Jungfrau, Mutter, Königin verklärt und damit als hinnehmende Leidende dem männlichen Weltgefüge unterworfen wird, oder in der sie als verlockende Dämonin denunziert und ausgestoßen wird.“ Hier lenkt Emrich den Fokus auf die im Urteil marginal vorkommende Rolle der Frau. Die Einheit von Vater und Sohn steht im Mittelpunkt, eine patriarchalische Machtverteilung in einer Hierarchie, von oben nach unten unter Ausschluss der Frau. Die Frau ist nur ein Objekt. Ein passives Wesen, wie etwa Frieda Brandenfeld in Das Urteil, die als agierende Person, wie etwa der Vater schlicht und ergreifend nicht auftaucht, sie ist lediglich durch ihre Briefe indirekt „präsent“.

Sie wird als „klassisch abendländisches Weib“ dargestellt: ohnmächtig. Lediglich in ihrer Rolle als dämonische Verführerin hat sie quasi „Macht“ über den Mann, wobei diese Form der Macht eine trügerische ist, da sie nur darin besteht, den Mann zu locken und durch angebotene Befriedigung persönliche Ziele zu erreichen. Belohnung für sexuelle Dienste etwa. Die Frau, die im ödipalen Drama als begehrte Person gilt, aber nicht um ihrer Person willen, sondern um Herrschaftsansprüchen gerecht zu werden, die Autorität des Vaters zu untergraben, indem der Sohn quasi durch den „Brautraub“ die eigene Potenz unter Beweis stellt und gleichzeitig die des Vaters ausschaltet. Auf der anderen Seite ist die Frau auch potenzieller Rivale und Störfaktor in der Vater-Sohn-Beziehung und muss deshalb schon ihrer Macht beraubt werden. Die Liebe zwischen Vater und Sohn sei eine strenge Bindung, die sogar womöglich die Selbsttötung, den sinnlosen Selbstmord des Sohnes im Urteil rechtfertigt.

Denn auch im Urteil wird die Beziehung zwischen Georg Bendemann und seinem Vater wiederholt als romantische Liebesbeziehung dargestellt. So konfrontiert etwa der Vater Georg: „Glaubst Du etwa, ich hätte Dich nicht geliebt ?!“ Auch sind für den Vater die Braut und der Freund Georgs Rivalen um die Liebe des Sohnes: „Wie du jetzt geglaubt hast, du hättest ihn untergekriegt, so untergekriegt, dass du dich mit deinem Hintern auf ihn setzen kannst und er rührt sich nicht, da hat sich mein Sohn zum Heiraten entschlossen!“

Allerdings darf hier ein wichtiger Aspekt nicht außer Acht gelassen werden: Im Urteil und auch im Brief an den Vater ist nicht immer zwingend von Kafkas eigenem Vater, beziehungsweise von Georgs Vater die Rede. Der ödipale Komplex weitet sich auch auf die symbolische Gestalt des Vaters aus, welche die „Personifikation der innerfamiliären Autorität“ darstellt.

Wenn man quasi annehme, die weltliche oder gar die geistliche Ordnung spiegele sich in dem kleinen Konstrukt der Familie wieder, so wäre Kafka oder Georg Bendemann ein Vasalle unter dem König (weltlich) oder ein Priester unter Gott (geistlich). Stets gibt es eine hierarchische Rangordnung, in welcher einer den untersten Rang besetzen muss. Er hat immer eine hohe und starke Macht über sich, wird mit ihr ständig konfrontiert und muss feststellen, dass er eine ohnmächtige Nichtigkeit in der Welt darstellt. Frustration und Depression machen sich breit. So beschreibt spricht etwa auch das lyrische Ich im Brief an den Vater von einem „mich oft beherrschendem Gefühl der Nichtigkeit“ und vergleicht sich mit dem Vater: „Ich mager, schwach, schmal. Du stark, groß, breit. Schon in der Kabine kam ich mir jämmerlich vor, und zwar nicht nur vor Dir, sondern vor der ganzen Welt, denn Du warst für mich das Maß aller Dinge.“

Das „Maß aller Dinge“ ist vielleicht auch Georgs Vater für Georg. Er ist die Neuschöpfung des Vaters, welche ihm die Mutter ermöglicht hat. Eine bloße Kopie, wenn man es so vereinfacht darstellen möchte. Eventuell erfährt Georg auch dadurch eine Denunzierung seiner Person, weil er glaubt, stets im Schatten seines „Schöpfers“ zu stehen. Der Vater zieht den Sohn groß und die Rollenverteilung von Erzieher und Zögling ist klar, bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Sohn Georg Bendemann sich seiner eigenen Identität bewusst wird. Hier beginnt die Abspaltung vom Vater, die sich vor allem im aufkommenden Konflikt um die Verlobung Georgs widerspiegelt: „Wie du jetzt geglaubt hast, du hättest ihn untergekriegt, so untergekriegt, daß du dich mit deinem Hintern auf ihn setzen kannst und er rührt sich nicht, da hat sich mein Sohn zum Heiraten entschlossen.“

Hier wird klar, dass sich Vater und Sohn voneinander entfernen, dass der Plan des Vaters, seine Schöpfung zu kontrollieren, versagt hat. Diese hier im kleinen Rahmen der Familie dargestellten Formen des ödipalen Konfliktes, lassen sich also auch im Großen in Weltordnungen wiederfinden und sie sind allesamt Grund für Konflikte und Auseinandersetzungen; für Machtspiele um eine Position, die kein Gegenüber duldet.

Dieses „Dilemma der Söhne“, welches wohl das zentrale Motiv des Urteils darstellt, wird auch im gleichnamigen Buch von Urs Ruf behandelt.

Georg Bendemanns Jugend wird als unschön beschrieben, er hätte unter der (oben beschriebenen) Autorität des Vaters gelitten und der Wunsch, sich ein eigenes und autarkes Leben aufzubauen scheint unerfüllbar. Nach dem Tod der Mutter ändert sich die Rollenverteilung, Georg erlangt die Führungsposition im Betrieb und er hat eine Heirat in Aussicht. Er stellt sich also langsam aber sicher neben, eventuell auch über, den Vater. Er hat nun Macht. Und somit beginnt das „Dilemma der Söhne“.

Der Vater sieht im „Aufblühen der Jugend [Georgs] die Ursache seines eigenen Untergangs“ und verurteilt ihn eventuell deshalb zum Tode. „Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher wußtest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch! - Und darum wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!“

Hier manifestiert sich also die eigentliche Rollenverteilung zwischen Vater und Sohn, Schöpfer und Geschaffenem: Der Vater Georg Bendemanns spricht über ihn ein Todesurteil und Georg akzeptiert und vollstreckt es, womöglich wohlwissend darüber, dass es keinen Ausweg aus dieser Hierarchie gibt. Wie ein Gott entscheidet der Vater über Leben und Tod und wie ein sterblicher Mensch, bleibt Georg nichts übrig, als diese göttliche Kraft, dieses Todesurteil zu akzeptieren, ganz so, als hätte er selbst über sein eigenes Leben keine Herrschaft, da es ja der Vater ist, der ihm Leben schenkte. „Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen“ könnte hier als biblisches Motiv wiedergefunden werden.

Auch Urs Ruf beschreibt das Urteil des Vaters als „die Karikatur eines alttestamentlichen Berichts über ein göttliches Strafgericht.“

Das Motiv von Vater und Sohn, von Richter und Gerichtetem nimmt nur im Todesurteil die Spitze seiner grotesken Art an, das Dilemma beginnt bereits viel früher: beim Menschen selbst. „In der Einheit von Vater und Sohn ist die Erfüllung dessen verkörpert, wonach der einzelne Mensch vergeblich strebt. Der Vater sieht im Sohn sein eigenes, unabhängiges Leben, das er aus sich selbst heraus geschaffen hat und der Sohn findet im Vater Ziel und Bestimmung dessen, wonach er unterwegs ist.“

Diese Spannung der wechselseitigen Beziehung ist es, die im Todesurteil ihr Finale erreicht. Keiner kann leben und sein, während der andere ist, da sich beide gegenseitig im Wege stehen und die Erwartungen, die ein jeder an sein Gegenüber hat, nicht erfüllen können. Normalerweise wird dieser Konflikt gelöst, indem der Sohn sich vom Vater abwendet, aus seinem Patriarchat flieht, eine eigene Familie gründet und somit selbst zum, wenn auch gegenüber dem Vater konkurrenzlosen, Patriarchen wird. Im Falle Georg Bendemanns und seinem Vater erweist sich diese „gängige“ (Ab)lösung als problematisch, da Georg überlegt, den Vater mit in seinen neuen Haushalt mit der Braut zu nehmen: „Er hatte mit seiner Braut darüber noch nicht ausdrücklich gesprochen, wie sie die Zukunft des Vaters einrichten wollten, aber sie hatten stillschweigend vorausgesetzt, daß der Vater allein in der alten Wohnung bleiben würde. Doch jetzt entschloß er sich kurz mit aller Bestimmtheit, den Vater in seinen zukünftigen Haushalt mitzunehmen. Es schien ja fast, wenn man genauer zusah, daß die Pflege, die dort dem Vater bereitet werden sollte, zu spät kommen könnte.“

Hier lässt der Einblick in Georgs Gedankenwelt zweierlei Schlüsse zu: Zum einen plant er, den Vater ab sofort zu pflegen, ihn also vom großen, starken Vorbild zum Pflegebedürftigen zu degradieren und sich somit selbst vom Gepflegten zum Versorger zu erheben, zum anderen rechnet er bereits mit dem Ableben des Vaters, wenn er sagt, dass „Die Pflege zu spät kommen könnte“.

Georgs Vater hat seinem Sohn ja bereits im Beruf die Spitzenposition übergeben und so alle Auseinandersetzungen beendet. Im Privaten gibt es auch keine Anlässe für Streit, da Vater und Sohn nur nebeneinander her leben. Der Rollentausch wird auch deutlich, als Georg seinen Vater zu Bett bringt: er findet einen alten Greis vor, der wie ein hilfloses Kind darauf wartet, dass sich jemand um ihn kümmert: „Kaum war er aber im Bett, schien alles gut. Er deckte sich selbst zu und zog dann die Bettdecke noch besonders weit über die Schulter. Er sah nicht unfreundlich zu Georg hinauf.“

Doch trotzdem ist der Rollentausch von Vater und Sohn nicht exakt definiert, vielmehr vollzieht er sich erst noch. Als Georg seinem Vater entgegenkommt und ihn besucht, geht ihm der Vater entgegen: „Sein schwerer Schlafrock öffnete sich im Gehen, die Enden umflatterten ihn - „Mein Vater ist noch immer ein Riese“, dachte sich Georg.“

Ein ganz eindeutiges Indiz für die offensichtliche „Macht“ und die Stärke, die der Vater über Georg hat ist die Tatsache, dass jener das Todesurteil des Vaters annimmt. Dieser Widerspruch in der Komik, die die Figur des Vaters in einem lächerlichen Lichte erscheinen lässt und der Tatsache, dass seine Autorität und seine Worte eine solche Wirkung auf Georg haben, ist für den Rezipienten verwunderlich und faszinierend zugleich.

„Georg registriert diese bis ins Äußerste getrieben Lächerlichkeit und spiegelt sie in bruchstückhaften Reaktionen: „Komödiant“ (E 65) - „sogar im Hemd hat er Taschen“ (E 66) - „Georg machte Grimassen“ (E 66) - „Zehntausendmal“ (E 66) – und glaubt den Vater damit zu „verlachen“ und ihn vor „der ganzen Welt unmöglich (zu) machen“ (E 66) [...]“

Und dennoch nimmt Georg das Urteil an, ja, er hinterfragt es nicht einmal. Im Gespräch stellt der Vater Georg die rhetorische Frage: „Aber kann er sich rühren oder nicht?“ Damit meint er sich selbst, denn im darauffolgenden Moment steht der Vater auf, „wirft die Beine“ und straht (vor Einsicht). Hier wird also deutlich, dass der für Georg bereits zum schwachen Bettlägerigen deklarierte Vater doch noch Macht hat, diese wird durch das aufstehen, sozusagen das „sich über Georg stellen“, verdeutlicht. Die Machtdemonstration des Patriarchats, eine zentrale Fragestellung der Psychoanalyse wird hier ganz einfach und metaphorisch dargestellt: Georg, der immer von seinem Vater unterdrückt wurde, der sich nie so recht emanzipieren konnte, auch nicht, durch die Teilauslagerung seiner Seele in Verkörperung des Freundes in Russland, steht wieder vor dem übermächtigen Vater und seiner Autorität. Wie Jesus vor Gott, wie ein Mensch vor (s)einem Richter. Thomas Anz beschreibt das Todesurteil als „paranoide Phantasie, als literarische Entfaltung eines Verfolgungswahns, wie ihn Freud […] als Abwehr homoerotischen Begehrens interpretiert hat. Der Wunsch, von einer begehrten Person intensive Zuwendung zu erfahren, findet in der Phantasie, von dieser Person verfolgt und tödlich bedroht zu werden, Erfüllung und perfekte Entstellung zugleich.“

Weiter erklärt Anz, dass nach Freuds Traum- und Literaturtheorie jene Phantasien, die im Tagtraum, im Spiel oder eben in der Kunst (Poesie, Malerei, etc.) Ausdruck finden, Urwünsche sind, deren tatsächliche Erfüllung in der Realität aus verschiedenen Gründen unmöglich ist.

Laut K. R. Eissler beziehen sich Interpretationen von eben solchen Kunstwerken immer und immer wieder direkt oder auch indirekt auf die psychologischen Prozesse im menschlichen Geist. Bei Kafka liegt die Annahme nicht allzu fern, dass es sich eben oft um unaussprechliche, beziehungsweise unauslebbare Treibwünsche des Es handelt, einem Teil der Psyche, der die unbewussten Treibregungen des biologischen Menschen beinhaltet. Dazu zählen auch Sexualtriebe in jeglicher Form und laut Freud besonders die „libidinösen Impulse; die zwischen Vater und Sohn enthält homoerotische Komponenten“. Hierzu (auch für die Perspektivöffnung bezüglich des Ödipus-Komplexes, welche eventuell nicht immer, für Freud und seine Psychoanalyse jedoch besonders häufig, greift, berücksichtigt werden) muss jedoch die ursprüngliche Bisexualität des Kindes beachtet werden.

Der Ödipus-Komplex definiert sich laut Freud folgendermaßen: „Der Knabe hat nicht nur eine ambivalente Einstellung zum Vater und eine zärtliche Objektwahl für die Mutter, sondern er benimmt sich auch gleichzeitig wie ein Mädchen, er zeigt zärtliche, feminine Einstellungen zum Vater und die ihr entsprechende eifersüchtig-feindselige gegen die Mutter.“

In der speziellen Sicht auf Das Urteil ist die Mutter zwar keine Konkurrenz mehr für Georg Bendemann, wohl aber sind es die Braut und der in Russland lebende Freund für den Vater. Mit ihnen muss er um die Liebe des Sohnes kämpfen. Dass es sich (unterbewusst) um eine homoerotische Beziehung im Sinne des Ödipus-Komplexes handelt, lässt sich an verschiedenen Textstellen festmachen: Die Anspielung auf den homosexuellen Geschlechtsakt etwa auf Seite 56: „Wie du jetzt geglaubt hast, du hättest ihn untergekriegt, so untergekriegt, daß du dich mit deinem Hintern auf ihn setzen kannst und er rührt sich nicht, da hat sich mein Herr Sohn zum Heiraten entschlossen!“

Nicht nur die sexuelle Komponente kommt in dieser Aussage des Vaters zum Vorschein, auch die Eifersucht als mitunter tragende Emotion einer Liebesbeziehung und die Degradierung der Bezeichnung „MEIN Herr Sohn“, welche nebenbei noch Besitzansprüche markiert, können in der psychoanalytischen Betrachtung als Anzeichen für einen (real oder fiktiv) vorhandenen Ödipus-Komplex gesehen werden. Allerdings muss an dieser Stelle mit den Worten von Thomas Anz eingelenkt werden, dass „derartige Interpretationsangebote, die sich an typische Muster psychoanalytischer Deutungspraxis anlehnen, […] in ihren Implikationen freilich selbst vieldeutig“ sind. Hier sollen „die vom Autor intuitiv, bzw. „unbewusst“ gewonnenen Einsichten […] die denen der Psychoanalyse entsprechen […] systematisch und in elaborierter Begrifflichkeit formuliert werden.“ Soll heißen: Ob und inwiefern dieses im Text vorhandene Wissen in Form von Emotionen und Handlungen Rückschlüsse auf den Autor zulässt, ist erst einmal nicht relevant. Der Psychoanalyse geht es hier in erster Linie darum, aufzuzeigen, DASS solches Wissen, solche Begebenheiten in dieser speziellen Kunstform Kafkas auftauchen und man ferner annehmen kann, dass also dieses Wissen (hier ist speziell die Vorhandenheit des Ödipus-Komplexes gemeint) in der Gesellschaft verankert ist. Im Traum und in der Kunst (welche ja dem Traum oft nahe steht) findet „unterdrücktes im menschlichen Wesen“ (das Es) einen Zugang zur Wirklichkeit; es wird durch die Formgebung der Kunst begreifbar gemacht.

Walter Schönau beschreibt in „Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft“ den Sachverhalt wie folgt: „Freuds Ansatz betonte die Funktionen der Form in der ästhetischen Erfahrung: Lustgewinn und Angstabwehr. Die Form, aufgefasst als Formschönheit, bietet nach Freud einen Lustgewinn, der aber als „Vorlust“ oder als „Verlockungsprämie“ fungiere, weil sie erst die größere Lust am Phantasie-Inhalt ermögliche. Das geschieht durch Milderung des Anstößigen, die eigentliche Ars poetica der Kunstarbeit, die sich der Mechanismen der Verdichtung, Verschiebung usw. bediene. Und die Form mache das Werk auch zu einer Mitteilung an das Publikum, womit der kommunikative Aspekt, der eine immer größere theoretische Bedeutung bekommen hat, schon im Ansatz vertreten ist.“

Die inzestuösen Wünsche gegenüber der Mutter, selbst, wenn ihr Rolle im „Urteil“ mehr als marginal ist, verbinden sich hier vor allem mit dem Hass auf den Vater. „Wenn er fiele und zerschmettere!“.

Auch Kafka selbst hatte eh und je ein sehr schwierige Verhältnis zu seinem Vater: „Dadurch wurde die Welt für mich in drei Teile geteilt, in einen, wo ich, der Sklave, lebte, unter den Gesetzen, die nur für mich erfunden waren und denen ich überdies, ich wußte nicht warum, niemals völlig entsprechen konnte, dann eine zweite Welt, die unendlich von meiner entfernt war, in der Du lebtest, beschäftigt mit der Regierung, mit dem Ausgeben der Befehle und mit dem Ärger wegen deren Nichtbefolgung und schließlich eine dritte Welt, wo die übrigen Leute glücklich und frei von Befehlen und Gehorchen lebten.“ Man sieht also: Franz Kafka fühlte sich immer als Außenseiter in der Welt aber noch viel mehr war er Gefangener in der ständige Repression mit seinem Vater, der ihm als übermächtige Autorität entgegenstand, welcher er sich nur beugen konnte. Wie Georg, der sich am Ende dem Urteil des Vaters beugt, obgleich er vorher gegen diese patriarchalische Obrigkeit aufkam. Er hat die Firma nun inne, ist verlobt und setzt seinem Vater auch im Zwiegespräch Argumente entgegen. Doch dieses vermeintliche Aufbegehren ist nur Täuschung und der Vater, wenngleich auch nun alt und schwach, weiß dies: „Und mein Sohn ging im Jubel durch die Welt, schloß Geschäfte ab, die ich vorbereitet hatte, überpurzelte sich vor Vergnügen und ging vor seinem Vater mit dem verschlossenen Gesicht eines Ehrenmannes davon! Glaubst du, ich hätte dich nicht geliebt, ich, von dem du ausgingst?“

Das „Liebesgeständnis“ des Vaters am Ende lässt verschiedene Deutungsmöglichkeiten offen, aber um es aus Sicht der Psychoanalyse zu beurteilen, geht es hier auch wieder um den Ödipus-Komplex: Der Vater „liebt“ den Sohn und damit geht in diesem speziellen Fall auch eine Art von Besitzergreifen einher.

5. Kafka-Parabeln als Rorschach-Tests

Um nun aber einmal weg vom, sicherlich interessanten, aber dennoch eventuell ab und zu überbewerteten und vielleicht auch „veralteten“ Ödipus-Komplex zu kommen, möchte ich meine eigenen psychoanalytischen Untersuchungen am Urteil auf eine besondere These von Heinz Politzer aufbauen.

Laut Politzer gilt es, Kafka-Parabeln als sogenannte „Rorschach-Tests“ zu betrachten, deren „Deutung sagt mehr über den Charakter ihrer Deuter als über das Wesen ihres Schöpfers“. Diese überspitzte Formulierung Politzers fußt auf der Rezeptionstheorie von Norman Holland. „...Norman N. Holland hat in mehreren Büchern und zahlreichen Aufsätzen eine psychoanalytische Rezeptionstheorie entwickelt, die ich-psychologisch orientiert ist und sich in erster Linie mit der Frage beschäftigt, wie der individuelle Leser den literarischen Text verarbeitet.“ Sein Kernkonzept beruht auf der Annahme, dass in frühester Kindheit gebildete Muster von Abwehr- und Anpassungsstrategien ein menschliches Individuum in seiner subjektiven Einstellung zur Realität entscheidend prägt. Dazu, so Holland, muss ein literarisches Kunstwerk allerdings so offen gestaltet sein, das sich eine Anpassung an diverse Individuen als sinnvoll erweisen kann. Sinnvoll insofern, dass nach Argumentation und vor allem nach der Analyse die Thesen des individuellen Verständnisses vom lyrischen Kunstwerk immer noch plausibel erscheinen. „Ein Leser reagiert auf ein Werk, indem er es seinen eigenen psychischen Prozessen, das heißt, seiner Suche nach erfolgreichen Antworten (Im Rahmen eine Identitätsthemas) auf die vielen Anforderungen innerer und äußerer Art an sein Ich anpasst.

Eigentlich erschafft jeder Leser im Rahmen seines Identitätsthemas das Werk neu.“

Walter Schönau erklärt Hollands These folgendermaßen: „Im Akt des Lesens entspricht der Trieb dem Inhalt, der seinerseits der ursprünglichen Phantasie entspricht, während die Abwehr der Form entspricht, die ihrerseits der Phantasiebewältigung entspricht (Holland 1975, 120). Der Leser steht dem Text anfangs meist in einer ambivalenten Haltung gegenüber, er spürt ihre Anziehungskraft, aber auch eine mögliche Gefahr für das innere Gleichgewicht. Nur was der Abwehrstruktur des Lesers gemäß ist, wird zugelassen. Die Psyche des Lesers verwendet, adaptiert und transformiert das zugelassene Material zum Lustgewinn...“

Was der Leser also „sieht“, will er auch sehen und was er nicht sieht, das kennt er nicht, oder seine innere Abwehrhaltung lässt dies nicht zu. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf die Psyche eines Menschen schließen. Die interessanten Fragen sind also die, nach der vermeintlichen Absicht, die der Leser erkennt und die nach ihrer (ebenfalls vermeintlichen) Motivation und dem eigentlichen Effekt, welche das literarische Kunstwerk ausübt / ausüben kann.

Die Theorie von Holland baut auf der Theorie der Psychoanalyse von Rezeptions- und Gegenübertragung auf: Der „psychoanalytische Blick“ wird vom Autor also weg und hin auf den Leser und seine kognitiven und affirmativen Reaktionen gegenüber dem Text gelenkt. Dies ist allerdings nur bei literarischen Texten und nicht etwa bei Sachtexten oder Bedienungsanleitungen sinnvoll, da literarische Texte als Kunstwerke Zeugnisse von höherem Intellekt sind und selbst aus zu verarbeitendem, da interpretierbarem Material bestehen. Kafka-Parabeln eignen sich für Rezeptions- und Gegenübertragungsanalysen ganz besonders, weil sie in ihrer offenen Struktur viele Deutungsmöglichkeiten über Autor und Rezipienten zulassen. Laut Anz sind „Texte […] hier […] austauschbare Projektionsflächen, deren Bedeutung erst durch individuelle Konfliktstrukturen einzelner Leser hergestellt wird...“

Genau dieses Zitat von Anz bezieht sich auch auf die Rorschach-Test Theorie in Kafka-Parabeln von Heinz Politzer. „Rorschach griff bei seinem 1921 veröffentlichten Test deshalb auf ein Verfahren zurück, das sowohl als Gesellschaftsspiel, Mittel zur künstlerischen Anregung als auch als diagnostisches Instrument bereits gut bekannt war. Das Provozieren von Reaktionen durch Vorgabe unstrukturierten Materials […]“ Im Falle von Kafka-Parabeln ist das Material vermeintlich strukturierter, als bei den von Rorschach ursprünglich verwendeten Tintenklecksbildern, allerdings bleibt das Prinzip dasselbe.

„Die Vielzahl der Auswertungsmöglichkeiten (in der Rorschach-Terminologie „Signierungen“ genannt) und deren relativ „lose“ Anbindung an einzelne Persönlichkeitsdispositionen, damit aber auch die „Offenheit“ für die Aufdeckung neuer Zusammenhänge, haben zweifellos zur enormen Popularität dieses Verfahrens beigetragen. Rorschach selbst hat seinen Test nicht als Projektive, sondern als Wahrnehmungstest, bzw. -experiment bezeichnet.“

Eben jene, Rorschachs, Definition vom Rorschach-Test (und der hiermit nun auch indirekt gemeinten Kafka-Parabel „Das Urteil“) teile ich. Zwar kann man Politzer vermutlich bis zu einem gewissen Grad zustimmen, wenn er behauptet, dass die Interpretationen von Kafka-Texten mehr sagt über den, der sie interpretiert, als über den, der sie schreibt, allerdings gibt es für diese These keine ausgefeilten psychoanalytischen Theorien und Forschungsansätze. Die große Chance dieser Auffasung von Kafkas Texten, ist zugleich ihre größte Problematik: Die Offenheit. Laut Politzer sind Kafka-Parabeln so vielschichtig und vor allem so vieldeutig, dass man annehmen darf, es gibt eben so viele Interpretationen und psychoanalytische Schlüsse über deren Interpreten, als es Rezipienten als solche gibt: nahezu Unendliche.

5.1. Thesenkritik

Das wichtige an den Rorschach-Tests im eigentlichen Sinne ist allerdings die Eichung: es muss eine bestimmte (wenige) Anzahl von Tests vorhanden sein, die einige wenige (oder auch viele) Deutungsmuster ermöglichen, welche sich je nach Proband und Krankheitsbild wiederholen. Auch gibt es bei den Klecksographien bestimmte Muster der Deutung, etwa die „Lokalisierung“, also die Beobachtung, welche Teile des Tintenklecksbildes eine Person fixiert und interpretiert oder auch verzögerte Reaktionszeiten bei Antworten, Stottern, etc. Hier gibt es also ein klares Muster und Deutungsstrukturen, während wir beim Lesen eines Kafka-Textes und zwar, wenn wir ihn so lesen, als wäre es tatsächlich ein Rorschach-Test, auf keine vorgefertigten Muster zurückgreifen können und uns alleine in einer Interpretationsproblematik aufgrund von unzähligen Möglichkeiten des Textes, wiederfinden. Susan Sontag erklärt in ihrem Essay „Against Interpretation“, warum es eventuell auch nicht immer „sinnvoll“ ist, in jeder Kunst eine Deutungsweise finden zu wollen. „Those who read Kafka as a social allegory see case studies of the frustrations and insanity of modern bureaucracy and its ultimate issuance in the totalitarian state. Those who read Kafka as a psychoanalytic allegory see desperate revelations of Kafka's fear of his father, his castration anxieties, his sense of his own impotence, his thralldom to his dreams. Those who read Kafka as a religious allegory explain that K. in The Castle is trying to gain access to heaven, that Josepl K. in The Trial is being judged by the inexorable and mysterious justice of God.“ „But the merit of these works certainly lies elsewhere han in their "meanings. "

Überinterpretation, (falsches) zu viel Vorwissen, subjektive Wahrnehmung oder eine emotionale Herangehensweise sind unter anderem für Sontag Gründe für Fehl- oder Anders-Interpretationen. Legt man diese These nun auf die Ansicht, Kafka-Parabeln seien Rorschach-Tests der Literatur, so kann man zu dem Ergebnis kommen, aus der vermeintlich psychoanalytischen Rorschach-Kafka-Test-Parabel eben KEIN Ergebnis zu bekommen. Falsche Schlüsse oder einfach eine Vielzahl an Schlüssen, die für die Psychoanalyse aufgrund fehlender Muster unzugänglich sind, sind die Folge.

Hätte man ein manifestiertes Interpretationsgebilde von den zahlreichen Deutungen des Urteils, so hätte man schlussendlich doch nicht alle erfasst und könnte wohl faktisch nur zu der Einsicht kommen, dass ein jeder Rezipient über eine individuelle Lesart verfügt und sein eigenes „emotionales Drama“ im Urteil wiederfinden kann, aber nicht muss.

„Die ungeheure Welt, die ich im Kopf habe.“, notiert Franz Kafka Juni 1913 in sein Tagebuch. Vielleicht sollte dieser Hinweis, ob bewusst oder unbewusst, von Kafka als Mitteilung an seine Leser vorgesehen, als Indiz für die vielfältigen Möglichkeiten des Urteil gesehen werden , ganz gleich ob als Rorschach-Test oder einfach nur aus der Sicht der Psychoanalyse betrachtet.

Literaturverzeichnis

Primärliteratur:

Franz Kafka: Drucke zu Lebzeiten. Hrsg. Von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. Fischer Verlag. Reutlingen 1994, S. 43 - 61

Franz Kafka: Brief an den Vater. R. Piper und Co Verlag, München 1960

Sigmund Freud: Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ, Abhandlungen und Notizen 1887-1902. Frankfurt a. M. 1962

Sekundärliteratur:

Peter-André Alt: Franz Kafka: Der ewige Sohn. Eine Biografie. C. H. Beck, München 2005

Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Hrsg. Von Wolfgang Mertens und Bruno Waldvogel, W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2000

Thomas Anz: Psychoanalytische Literaturwissenschaft. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band P-Z. Berlin/New York 2003

Kapitel IV: Psychoanalyse. In: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hrsg. Von Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner, Bernd Stiegler. Stuttgart 1996

Urs Ruf: Franz Kafka: Das Dilemma der Söhne. Hrsg. Von Wolfgang Binder und Hugo Moser, Erich Schmidt Verlag. Berlin 1974

Walter Schönau: Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. Metzler Verlag. Stuttgart 1996

Heinz Politzer: Franz Kafka der Künstler. Fischer Verlag. Berlin 1965

Susan Sontag: Against Interpretation and Other Essays. Farrar, Straus and Giroux. New York 1961

Heinz Walter Krohne und Michael Hock: Psychologische Diagnostik, Grundlagen und Anwedungsfelder. Hrsg. von Herbert Heuer, Frank Rösler, Werner H. Tack. Suttgart 2007

Excerpt out of 17 pages

Details

Title
Psychoanalytische Literaturwissenschaft am Beispiel von Kafkas Erzählung "Das Urteil"
College
Karlsruhe Institute of Technology (KIT)
Grade
2,0
Author
Year
2012
Pages
17
Catalog Number
V294846
ISBN (eBook)
9783656926900
ISBN (Book)
9783656926917
File size
445 KB
Language
German
Keywords
Psychoanalyse, Psychoanalytische Literaturwissenschaft, Kafka, Kafka Urteil, Psychoanalyse von Kafka
Quote paper
Vanessa Hindinger (Author), 2012, Psychoanalytische Literaturwissenschaft am Beispiel von Kafkas Erzählung "Das Urteil", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/294846

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