Rückstieg in die Höhle in Heideggers "Platons Lehre von der Wahrheit"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2014

16 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Hauptteil
2.1 Eine Charakterisierung des Seins
2.2 Metaphysik als Geschichte
2.3 Das Sein als Ereignis
2.3.1 Die Rolle des ersten Befreiers
2.4 Die Wahrheit des Seins
2.5 Das Nichts als Aspekt des Seins
2.6 Seinlassen
2.7 Ziel und Lohn: Das Göttliche

3 Schluss

Literatur

1 Einleitung

Heideggers Rede ‚Platons Lehre von der Wahrheit‘ (1930/31; 1942) hat das Wesen der Wahrheit zum Thema, wie es sich im Höhlengleichnis zeigt. Das Gleichnis, so Heidegger, erschöpfe sich nicht in einer Schilderung der aufeinanderfolgender Zustände des Befreiten, „berichtet nicht nur über Aufenthalte und Lagen des Menschen innerhalb und außerhalb der Höhle“ ([PL], S.121).

Vielmehr sind für Heidegger die Übergänge zwischen den Zuständen entscheidend, die er als Bild für einen Wandel, eine „Wendung in der Bestimmtheit“ (ebd., S.109) des Wesens der Wahrheit begreift. So betrachtet zeige sich das von Platon „Ungesagte“, von dem aus erst sein Gesagtes zu bestimmen sei.

Doch bleibt dabei der letzte Übergang im Gleichnis, der Rückstieg in die Höhle ([3], 516e, S.330) seltsam unterbelichtet: Über die Motivation des Dialektikers, diesen freiwilligen Akt zu vollziehen, sagt Heidegger in seiner Rede, sofern man sie isoliert betrachtet, nichts aus.

Dies attestiert auch der Aufsatz ‚Die Logik des Rückstiegs‘ von Stefan Schenke ([4], S.316, Fußnote). Schenke selbst sieht unter Bezugnahme auf Platons Gesamtwerk, insbesondere auf das Rahmenwerk Politeia, sowie den Dialog Gorgias, den maß- geblichen Grund für den Rückstieg darin, dass der Philosoph sich, gemäß seiner Bestimmung, dem Göttlichen anzugleichen trachte (ebd., S. 330). Dagegen vertritt Heidegger wenige Jahre nach seiner Rede zur Bestimmung der Philosophie eine ganz konträre These : Notwendig sei nicht etwa eine Erhöhung zum Göttlichen, sondern im Gegenteil eine Bescheidung des Philosophen in Demut, freilich nicht vor dem Göttlichen als höchstem Seienden, sondern vor dem, was selbst diesem vorangehe: dem Sein selbst.

So schreibt er in seinem “Brief über den Humanismus“ an Jean Beaufret (1946, überarbeitet 1947):

Der Mensch ist nicht der Herr des Seienden. Der Mensch ist der Hirt des Seins. In diesem ‚weniger‘ büßt der Mensch nichts ein, sondern er gewinnt, indem er in die Wahrheit des Seins gelangt“ ([Hum], S. 172 f.), und weiter: „Das Denken ist auf dem Abstieg in die Armut seines vorläufigen Wesens“ (ebd., S. 194).

Verkürzt gesagt, halte ich den Rückstieg des Philosophen in die Höhle für ein Bild jenes eben genannten Abstiegs im Humanismusbrief. Zum Beleg werde ich noch weitere zeitlich benachbarte Schriften Heideggers heranziehen, um hoffentlich in seinem Sinne zu argumentieren.

Ausführlicher lautet die These, die ich vertrete:

Das von Platon ‚Ungesagte‘ im Höhlengleichnis besteht darin, dass sich in den Übergängen je das Sein selbst ereignet. Sie stehen für historische Etappen der Geistesgeschichte1, welcher geschichtliche Prozess selbst den Bezug des Seins zum Wesen des Menschen ausmacht.

Die Etappe des Rückstiegs insbesondere verweist auf das in der Gegenwart Notwendige: Statt technischer Bemächtigung des Seienden, die unsere Zeit prägt und für Heidegger bereits in den Anfängen der Metaphysik angelegt ist, muss nun Besonnenheit obwalten: Gefordert ist in der gegenwärtigen seinsgeschichtlichen Epoche das Sein-lassen des Seienden.

Wäre meine These wahr und besäße sie Relevanz, so wäre dies allerdings nicht mir selbst oder Heidegger zuzurechnen. Vielmehr hätten sich diejenigen Philosophen, die sie vertreten, vom Sein selbst in Anspruch nehmen lassen in der seinsgeschichtlichen Epoche, welche die unsrige ist.

2 Hauptteil

2.1 Eine Charakterisierung des Seins

Als ich an dieser Arbeit schrieb, stand ich immer wieder von Neuem vor der Frage nach der Bedeutung des Zentralbegriffs in Heideggers Philosophie: Dem ‚Sein‘. Es gelang mir im Laufe der Zeit, den Begriff, wenn nicht zu greifen (kein Wunder, denn sein Wesen ist, dass es sich uns entzieht, siehe 2.5), dann doch, mich anzunähern. In dieser Arbeit werde ich versuchen, mein Verständnis darzulegen, indem ich mich auf einige Passagen in Heideggers Spätwerk stütze. Beginnen möchte ich mit derjenigen, die auf engstem Raum wiedergibt, was sich noch entfalten soll:

„das Sein hat nicht seinesgleichen neben sich. Es wird nicht von anderem bewirkt, noch wirkt es selbst. Sein verläuft nicht und nie in einem kausalen Wirkungszusam- menhang. Der Weise, wie es, das Sein selber, sich schickt, geht nichts Bewirkendes als Sein voraus und folgt keine Wirkung als Sein nach. Steil aus seinem eigenen Wesen der Verborgenheit ereignet sich Sein in einer Epoche.“ ([FnT], S. 43) Diese Vorbereitung soll genügen, und ich werde sie im Folgenden als bekannt vor- aussetzen. Denn sie ist quasi der Boden, auf dem ich meine Arbeit bestellen werde.

2.2 Metaphysik als Geschichte

In der Platon-Rede, die ich fortan ‚Primärtext‘ nennen will, sagt Heidegger: „Platons Denken folgt dem Wandel des Wesens der Wahrheit, welcher Wandel zur Geschichte der Metaphysik wird, die in Nietzsches Denken ihre unbedingte Vollendung begon- nen hat. Platons Lehre von der ‚Wahrheit‘ ist daher nichts Vergangenes. Sie ist geschichtliche ‚Gegenwart‘ , dies aber nicht nur als historisch nachgerechnete ‚Nach- wirkung‘ eines Lehrstücks, auch nicht nur als Wiedererweckung, auch nicht als Nachahmung des Altertums, auch nicht als bloße Bewahrung des Überkommenen. Jener Wandel des Wesens der Wahrheit ist gegenwärtig als die längst gefestigte und daher noch unverrückte, alles durchherschende Grundwirklichkeit der in ihre neues- te Neuzeit anrollenden Weltgeschichte des Erdballs.“ ([PL], S. 142 f.) Und weiter: „Was immer sich mit dem geschichtlichen Menschen begibt, ergibt sich jeweils aus einer zuvor gefallenen und nie beim Menschen selbst stehenden Entscheidung über das Wesen der Wahrheit. Durch diese Entscheidung ist je schon ausgegrenzt, was im Lichte des festgelegten Wesens der Wahrheit als ein Wahres gesucht und festge- halten, aber auch als das Unwahre verworfen und übergangen wird.“ (ebd., S. 234 f.)

Anno 1930 versteht also Heidegger das Höhlengleichnis gleichsam als visionären Vorgriff in die „Weltgeschichte“, womit er im Hinblick auf das Fokus seines Interesses im Gesamtwerk wohl primär die abendländische Geistesgeschichte meint. Die Stationen und Übergänge im Gleichnis fänden demnach je ihre historische Entsprechung bis in die Neuzeit. Hier wie dort, als Bild im Gleichnis oder als Urbild, d.h. geschichtliches Faktum, wird die ‚Wahrheit‘ je unterschiedlich begriffen.

Wahrheit im ursprünglichen Sinne bestimmt Heidegger nach dem griechischen Wort Aleteia, als das ‚Unverborgene‘ . In der ersten Phase, gefesselt und den Blick fixiert auf die Höhlenwand, gilt für die Höhlenbewohner: „ Was sie da umgibt und an-geht, ist ihnen ‚das Wirkliche‘, d.h. das Seiende.“ ([PL], S. 119 f.) Der Bindestrich im Wort „an-geht“ markiert die Achtung vor dem Seienden nach dessen eigenem Recht. Indem sich das Seiende vom Verborgenen ins ‚Ent-borgene‘ wandelt, ereignet sich für den Höhlenbewohner die ‚Wahrheit des Seins‘. Die Schatten an der Höhlenwand sind das Wahre, weil sie den Bewohner an-gehen, d.h. in Anspruch nehmen.

Im jeweiligen Übergang zur nächsten Stufe aber wandelt sich das, was dem Befreiten unverborgen ist. So etwa beim Schritt zur zweiten, wo von der Abnahme der Fesseln berichtet wird. „Die Gefangenen sind jetzt in gewisser Weise frei, bleiben aber doch in die Höhle eingesperrt. (. . . ) Die Möglichkeit öffnet sich, die vordem hinter ihnen vorbeigetragenen Dinge selbst zu sehen. (. . . ) Die Dinge selbst bieten in gewisser Weise, nämlich im Schein des künstlichen Höhlenfeuers, ihr Aussehen an und sind nicht mehr durch die Abschattungen verborgen.“ (ebd., S. 125 f.) Allgemein gilt der anschließende Aufstieg ins Freie als der Höhe- und Zielpunkt des Gleichnisses. Hingegen zeigt sich hier für Heidegger der Beginn des neuzeitlichen Denkens als zweckrationales Instrument, das im Hin- und Ausblick auf eine Idee, mittlerweile im menschlichen ‚Subjekt‘verortet, danach trachtet, diese zu verwirkli- chen. „Das geschieht als Prägung der ‚sittlichen‘ Haltung, als Erlösung der unsterb- lichen Seele, als Entfaltung der schöpferischen Kräfte, als Ausbildung der Vernunft, als Pflege der Persönlichkeit, als Weckung des Gemeinsinns, als Züchtigung des Lei- bes oder als geeignete Verkoppelung einiger oder all dieser ‚Humanismen‘ .“ ([PL],

S. 142). Den Preis, der zu zahlen ist, formuliert Otto Pöggeler wie folgt:

„Der Zugang zum Unverborgenen wird eröffnet und offengehalten durch ein Vernehmen, das nun, als Bezug zur Idee, in einem ausgezeichneten Sinn ein ‚Sehen‘ ist. Dieses Sehen muß sich durch Bildung fähig machen zur richtigen Anmessung an die Idee. (. . . ) Wahrheit ist nicht mehr Unverborgenheit als ein Grundzug des Seienden selbst, sondern Richtigkeit des Blickens und so eine Auszeichnung des menschlichen Verhaltens zu Seiendem“ ([1], S.102).

Heidegger selbst formuliert: „Die Wahrheit ist nicht mehr als Unverborgenheit der Grundzug des Seins selbst, sondern sie ist, zufolge der Unterjochung unter die Idee zur Richtigkeit geworden, fortan die Auszeichnung des Erkennens des Seienden.“ ([PL], S. 232) Dies aber markiert den Beginn der „technischen Interpretation des Denkens (. . . ) im Dienste des Tuns und Machens“ ([Hum], S.146), in dem das Sein als Element des Denkens bereits preisgegeben ist.

Dieser Preisgabe verleiht Heidegger in ‚Wesen und Begriff der Physis‘ , wohlgemerkt schon 1939, ohne Kenntnis der humangenetischen Forschung der letzten Jahre, ein beunruhigendes Bild. Er führt einen Arzt vor, der versäumt, sich vom Patienten selbst in Anspruch nehmen, d.h. in Heideggers Terminologie: an-gehen zu lassen. Vielmehr orientiert er sich lediglich an seiner eigenen Idee von Gesundheit. Dass er sie überhaupt als die ‚eigene‘ ansieht (ansehen kann und ansehen muss), erklärt Heidegger wiederum seinsgeschichtlich. Er führt es auf auf die Verortung der Mög- lichkeitsbedingung von Erkenntnis im transzendentalen Subjekt seit Kant und Hegel zurück. So messe jener Arzt dem Wesen des Menschen als „Lebendes, das nur lebt, indem es ‚leibt ‘ keine Bedeutung mehr bei. Dass dies aber tatsächlich bedeutungslos wäre, „träfe nur dann zu, wenn das Leben a.s. zu einem ‚technisch‘ herstellbaren Ge- mächte würde; in demselben Augenblick aber gäbe es auch keine Gesundheit mehr, so wenig wie Geburt und Tod. Bisweilen sieht es so aus, als rase das neuzeitliche Menschentum auf dieses Ziel los: daß der Mensch sich selbst technisch herstelle.“

([Physis], S.327)

Fraglos ist die Kritik am technischen Denken hier mit Händen zu greifen. Jedoch wäre es ein Missverständnis, dies als Aufruf zur ‚Überwindung‘ der Technik zu verstehen. Im Vortrag ‚Die Frage nach der Technik‘ , den er mehrmals im Jahre 1950 hielt, plädiert er vielmehr für einen anderen Blickwinkel, für einen anderen Umgang mit dem seiner Meinung nach nicht in menschlicher Verfügung stehenden Wesen der Technik.

Genannter Vortrag kann uns helfen zu verstehen, was Heidegger im Hinblick auf die Neuzeit meint, wenn er schreibt: „Das Denken ist des Seins, insofern das Denken, vom Sein ereignet, dem Sein gehört. Das Denken ist zugleich Denken des Seins, insofern das Denken, dem Sein gehörend, auf das Sein hört“ ([Hum], S. 148). Dies Hören im technischen Zeitalter meint aber: „Die Technik ist eine Weise des Entbergens. Achten wir darauf, dann öffnet sich für uns ein ganz anderer Bereich für das Wesen der Technik. Es ist der Bereich der Entbergung, d.h. der Wahrheit. (. . . ) Sehen wir den Blitz des Seins im Wesen der Technik? Den Blitz, der aus der Stille kommt als sie selbst?“ ([FnT], S. 12, 47)

Auf das Sein hören, den „Blitz des Seins sehen“, wie er sich in der jeweiligen Epoche zeigt. Damit ist, denke ich, der symbolischen Aspekt des Ab- oder Rückstiegs in die Höhle als Bescheidung des menschlichen Denkens vor dem Sein plausibel genug. Zudem aber soll der Ereignischarakter des Abstiegs in den Blick genommen werden. Wenn gilt, dass sich das Gleichnis im Abstieg „erst vollendet“ ([PL], S. 221) und der Mensch als „Hirt des Seins“ nicht verliert, sondern gewinnt, „indem er in die Wahrheit des Seins gelangt“ ([Hum], S. 172), sowie der Hinweis auf die Dynamik der Übergänge im Unterschied zu den stationären „Aufenthalte[n] und Lagen“ ([PL], , S.121) im Gleichnis ernstgenommen wird, ist es notwendig, das Verhältnis von Sein und Ereignis zu beleuchten.

Es ist nicht etwa so, dass das die ‚Wahrheit des Seins‘ als ‚Ergebnis ‘ eines Rechen-, Denk- oder Handlungsprozesses hervorgehen könnte, auch kann das Sein aufgrund der ‚ontologischen Differenz‘, d.h. der Wesensverschiedenheit von Sein und Seien- dem, nicht Kausalbegründung des Prozesses sein. Vielmehr müsste das Sein selbst identisch mit dem Prozess sein, denn fasst man Prozess als Exemplifikation von Er- eignis, lassen sich Belege für den dynamischen Charakter des Seins leicht ausfindig machen.

[...]


1 in Heideggers Worten: „die Geschichte des Seins“ ([Hum], S. 166), vom Sein her gedacht, oder auch: „seinsgeschichtlich gedacht“ (ebd., S. 161)

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Rückstieg in die Höhle in Heideggers "Platons Lehre von der Wahrheit"
Hochschule
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt  (Philosophisch-Pädagogische Fakultät)
Veranstaltung
"Heidegger und die Griechen", Prof. Dr. Walter Schweidler
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
16
Katalognummer
V294919
ISBN (eBook)
9783656926351
ISBN (Buch)
9783656926368
Dateigröße
658 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Heidegger, Platon, Höhlengleichnis
Arbeit zitieren
Christoph Metzger (Autor:in), 2014, Rückstieg in die Höhle in Heideggers "Platons Lehre von der Wahrheit", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/294919

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