Die Religion der Gesellschaft. Gemeinsamkeiten religiöser Kommunikation


Bachelorarbeit, 2014

46 Seiten, Note: 2.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.) Einleitung
1.1.) Einleitung
1.2.) Probleme der Religionssoziologie
1.3.) Probleme dieser Arbeit

2.) Differenztheorie und Empirie
2.1.) Positivismusstreit
2.2.) Kommunikation

3.) Datensatz

4.) Religiosität
4.1.) Quantitative Religiosität
4.2.) Deskriptive Statistik

5.) Émile Durkheim
5.1.) Der Religionsbegriff
5.2.) Integration und Religion
5.3.) Religion und Erkenntnis
5.4.) Integration durch Differenz

6.) Talcott Parsons
6.1.) Religion und Werte
6.2.) Religiöser Pluralismus und soziale Komplexität

7.) Niklas Luhmann
7.1.) Funktion der Religion
7.2.) Funktionssystem Religion
7.3.) Personelle Religion

8.) Auswertung
8.1.) Hypothesen
8.2.) Zusammenfassung
8.3.) Aussichten

9.) Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

1.) Einleitung

1.1.) Einleitung

"Wenn aber die Rinder und Pferde und Löwen Hände hätten und mit diesen Händen malen könnten und Bildwerke schaffen wie Menschen, so würden die Pferde die Götter abbilden und malen in der Gestalt von Pferden, die Rinder mit der Figur von Rindern. Sie würden solche Statuen meißeln, die ihrer eigenen Körpergestalt entsprechen."

Xenophanes

Gott und Religion sind Aspekte, die zur menschlichen Geschichte gehören. Schon Aristoteles beschreibt einen 'Unbewegten Beweger', der selber unbegründet, der Schöpfer von allem ist. Auch die Soziologen, mit denen sich diese Arbeit beschäftigt, haben der Religion eine beson- dere Bedeutung innerhalb ihrer Theorien zugestanden. Auffällig ist dabei, dass sie auch bei ihnen am Anfang der menschlichen Erkenntnis, wie bei Émile Durkheim oder der Entstehung von Systemen, wie bei Niklas Luhmann, steht. Fraglich ist bei ihnen, was unter dem Begriff der Religion gefasst wird. Um eine solche Frage vernünftig beantworten zu können, muss man klären, was Religion bedeutet und was man unter dem Begriff Religion verstehen kann. In der deutschen Gesellschaft haben religiöse Vereinigungen einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. So gehört es zum Selbstverständnis der christlichen Konfessionen, Einfluss auf ge- sellschaftliche Diskussionen zu nehmen. Vertreter der Kirchen sitzen in Rundfunkbeiräten, der Freiwilligen Filmselbstkontrolle, der Selbstkontrolle der Industrie, im Bundesjugendkura- torium und in den Jugendwohlfahrtsausschüssen. Kirchliche Vereinigungen können besondere Rechte und Gesetze für sich beanspruchen, eine große Volkspartei beruft sich auf ihre christ-lichen Werte in ihrem Namen u.v.m. Die christlichen Kirchen verfügen somit über einen ge-wissen Einfluss in der Gesellschaft. Mit über 53 Mio. Mitgliedern scheint dieser Einfluss auch begründet. Fraglich ist dabei, inwiefern die Kirchenmitglieder die gleichen Vorstellungen und Ziele verfolgen. Auch diese Frage kann nur dann ausführlich beantwortet werden, wenn man erklären kann, was Religion ist.

Das wissenschaftliche Interesse an diesem sozialen Phänomen Religion begann mit der Entstehung der modernen Soziologie. Als Begründer der Soziologie gilt August Comte, gleichzeitig kann er auch als Begründer der Religionssoziologie angesehen werden. Dieses Spezialgebiet der Soziologie beschäftigt sich vor allem mit den Fragen wie Religion organi- siert ist, welche Funktion Religion hat und wie und welche Einflüsse die Religion auf die Ge- sellschaft ausübt. Denn Religion sagt nicht durch die Betrachtung Gottes etwas über Gott aus, sondern im viel stärkeren Maße etwas über den Menschen, wie es im Xenophanes Zitat wie-dergegeben wird.

1.2.) Probleme der Religionssoziologie

Die Religion scheint ein wichtiger Bestandteil in der menschlichen Entwicklung zu sein und war eines der ersten Gedankengebäude, die sich der Mensch von der Welt machte. Eine wich- tige Rolle spielte Religion auch bei der Entstehung der Soziologie als moderne Wissenschaft. Die Urväter der Soziologie schrieben einige ihrer bekanntesten Werke zum Thema der Reli- gionssoziologie. Bei Max Weber kann das 1905 veröffentlichte Werk "Der Protestantismus und der Geist des Kapitalismus" erwähnt werden. Von Émile Durkheim erschien, unter vielen anderen Werken, 1912 "Les formes élémentaires de la vie religieuse" bzw. "Die elementaren Formen des religiösen Lebens", das sich mit dem Totemkult und der Religion der australi- schen Ureinwohner beschäftigt. August Comte, der Begründer der modernen Soziologie, war selber ein Religionsstifter, der "Religion de l'Humanité" bzw. Religion der Humanität. Dabei ist schon eine Begriffsbestimmung der Religion schwierig. Es gibt über 50 Versuche einer Definition des Begriffs Religion (vgl. Seibert 2004: 89). Eine der größten Debatten im Zu- sammenhang mit dem Religionsbegriff ist das Problem der Nähe zum Forschungsgegenstand und die Frage, was genau zum Forschungsgegenstand der Religion gehört. Wie kann auf wis- senschaftlichem Wege das Verhältnis von Gott und den Menschen untersucht werden? Ist Gott ein notwendiger Bestandteil des Religionsbegriffs? Was macht Religion zur sozialen Tatsache, die soziologisch untersucht werden kann? Die Probleme der Religionssoziologie sollen in diesem Abschnitt kurz vorgestellt werden, ohne weiter bewertet zu werden. Im näch- sten Abschnitt werden die Probleme, mit denen sich diese Arbeit beschäftigt, vorgestellt. Intuitiv betrachtet hat Religion mit Menschen zu tun, die an Gott glauben und sich den Geboten ihres Gottes unterordnen. Mit dieser einfachen Betrachtung werden bereits alle Kon- fessionen ausgeschlossen, die in ihrer Glaubensvorstellung keinen Gottesbegriff kennen. Als eine solche Konfession wird der Brahma Buddhismus angesehen. Um dieses Dilemma aufzu- lösen, kann man sagen, dass Religion eher eine Verbindung von Menschen mit etwas Unbe- stimmten, Außerweltlichen darstellt, oder wie es Rudolf Otto in seinem Werk "Das Heilige" ausdrückt, ist Religion die Erfahrung des Menschen mit dem 'Heiligen'. Problematisch bleibt das Verständnis des Heiligen. Gleichzeitig würde ein Weglassen des Gottesbegriffs, den Reli- gionsbegriff dem Begriff der Ideologie zu sehr annähren. Auch bei ideologischen Gedanken- gebäuden, wie dem Kommunismus oder dem Faschismus, glauben die Anhänger an etwas Außerweltliches, etwas Unbeobachtbares, das ihr Handeln bestimmt.

Es gibt verschiedene Kontroversen das Definitionsproblem zu lösen, als Erstes die fideistische gegen die wissenschaftliche Definition. Der erste Definitionsversuch geht von einem tatsächlichen Vorhandensein heiliger Phänomene aus, der zweite Ansatz geht von der Beobachtbarkeit von Handlungen aus, die auf etwas Heiliges bezogen sind (vgl. Kehrer 1988: 15). Eine zweite Kontroverse bildet die substanzielle gegen die funktionale Definition von Religion. Die funktionelle Definition sucht die Funktion der Religion für eine Gesellschaft und für den einzelnen Gläubigen. Substanzielle Definitionen suchen die Substanz einer Reli- gion, sie fragen nicht, was Religion leistet, sondern was Religion ist (vgl. Kehrer 1988: 19). Über die Funktion der Religion existieren drei große Thesen, die Integrationsthese, die Kompensationsthese und die Säkularisierungsthese. Die Integrationsthese beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Religion und Gesellschaft. Wobei Religion als integrierende Institu- tion erklärt wird, die über die Bereitstellung von gemeinsamen Werten und Normen und deren Aufrechterhaltung, eine Gesellschaft zusammenhält (vgl. Marhold 1973: 82). Die Kompensa- tionsthese betont die entlastende Wirkung die Religion auf Konflikte haben kann, die sonst eine Gesellschaft destruieren könnten. Religion kann dabei soziale Konflikte lösen, indem sie die Probleme, die den Konflikt entstehen lassen, kompensieren kann (vgl. Marhold 1973: 82). Die letzte These, die Säkularisierungsthese, fragt nach der Verbindung von Religion und Ge- sellschaft bei voranschreitender Säkularisierung. Die moderne Gesellschaft soll beschrieben werden unter der Berücksichtigung ihrer religiösen Geschichte (vgl. Marhold 1988: 84). Es wird in dieser These auf Religion als Ursache für sozialen Wandel eingegangen. Ein weiteres Thema, aus dem sich die geschilderten Probleme ergeben, ist der Bezug von Religion und Forschung. Konfessionen erschaffen ein Glaubensgebäude, das anders als bei der Wissenschaft, seine Legitimation nicht aus der Empirie gewinnt, sondern von etwas Transzendenten. Religion kann sich jeder wissenschaftlichen, empirischen Untersuchung ent- ziehen und dies mit einem Verweis auf religiöse Erkenntnis rechtfertigen. Gleichzeitig liefert Religion, wie die Wissenschaft, eine Erklärung über den Aufbau der Welt. Für die Religions- soziologie heißt das: "Zum Gegenstand der Religionssoziologie [...] kann nur das beobachtba- re Verhalten von Menschen im weitesten Sinne zählen." (Kehrer 1988:10) Religionssoziolo- gie muss eine gewisse Distanziertheit zum Forschungsgegenstand gewinnen und bestimmte Begriffe nicht über das Selbstverständnis von bestimmten Konfessionen gewinnen. Was z. B. das 'Heilige' oder was 'Gott' darstellen soll, kann nicht durch das Studium von Konfession erklärt werden, sondern es muss gefragt werden, was diese Begriffe für den Menschen darstel- len. Erst dadurch werden diese Begriffe beobachtbar und erforschbar. Wichtig ist festzuhal- ten, dass Religionssoziologie damit als empirische Wissenschaft verstanden wird.

1.3.) Probleme dieser Arbeit

Diese Arbeit will sich empirisch mit der Religionstheorie Niklas Luhmanns beschäftigen. Aus ressourcenstrategischen Gründen kann dafür weder auf alle Aspekte der Differenztheorie Luhmanns eingegangen werden, noch auf die Probleme des vorigen Abschnitts, außerdem kann nicht auf die Kritiken an Luhmanns Theorie eingegangen werden. Drei Kritikpunkte wären zu nennen, ohne das sie weiter ausgeführt werden können. Die Theorie Niklas Luh- manns ist zu stark in Anlehnung an das Christentum geschrieben, Begriffe des Christentums werden zur Erklärung von Religion herangezogen, gleichzeitig findet dadurch eine starke Konzentration auf das Christentum statt. Dadurch spielt auch der Gottesbegriff eine zu stark Rolle in der Theorie von Luhmann (vgl. Seibert 2004: 163ff.). Außerdem wird Religion als ein Subsystem der Gesellschaft der Gesellschaft beschrieben, neben anderen Systemen. Dabei ermöglicht Religion erst das Entstehen von System. Der Totalität von Religion wird nicht Rechnung getragen, wenn es nur ein System neben anderen ist (vgl. Lienkamp 2001: 60ff.) Die Entscheidung mit der Theorie Niklas Luhmanns zu arbeiten, bringt einige Konsequenzen mit sich. Es handelt sich um eine funktionale Theorie, also geht es auch um eine funktionale Definition der Religion. Da sich Luhmann als Systemfunktionalist in der Tradition von Èmile Durkheim befindet, handelt es sich außerdem um eine Integrationsthese. Im Verlauf der Arbeit soll auf die Werke von Èmile Durkheim, vor allem auf sein Werk "Die elementaren Formen des religiösen Lebens" eingegangen werden. Über Talcott Parsons soll ein Bogen zu Luhmann geschlagen werden. Bei Parsons werden seine Werke "Das System moderner Ge- sellschaften" und "Gesellschaften" bearbeitet werden. Für Luhmann werden die Arbeiten "Die Religion der Gesellschaft" und "Funktion der Religion" von Bedeutung sein. Die Werke von Durkheim und Parsons sollen das Verständnis für die Theorie Luhmanns erhöhen und werden dementsprechend nicht erschöpfend behandelt.

Ausgehend von der Integrationsthese Durkheims, die Religion würde über Rituale die Gesellschaft zusammenhalten und der Theorie Parsons, die Religion würde der Gesellschaft über gemeinsam geteilte Werte auf Dauer absichern, soll die Theorie Luhmanns, die Religion würde das Sinnproblem sich konstituierender Systeme lösen, überprüft werden. Dazu soll die Theorie Luhmanns auf den personellen Glauben bezogen werden und die daraus ableitbaren Thesen mit dem Datensatz des ALLBUS 2012 überprüft werden. Überprüft werden soll, ob die Aussagen Luhmanns empirisch messbare Auswirkungen auf die Einstellung der Gläubi- gen haben.

2.) Differenztheorie und Empirie

2.1.) Positivismusstreit

Die Systemtheorie der Gesellschaft, die Luhmann anstrebt und von ihm selber als Differenz- theorie bezeichnet wird, ist eine soziologische Metatheorie. Es ist deshalb eine Differenztheo- rie, weil sie bei der Differenz von System und Umwelt ansetzt. Es ist somit fraglich, ob sie empirisch überprüfbare Aussagen liefern kann. Luhmann beschreibt seine Theorie selber als einen 'Höhenflug':

"Diese Theorienanlage erzwingt eine Darstellung in ungewöhnlicher Abstraktionslage. Der Flug muß über den Wolken stattfinden, und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen. Man muß sich auf die eigenen Instrumente verlassen. Gelegentlich sind Durchblicke nach unten möglich - ein Blick auf Gelände mit Wegen, Siedlungen, Flüssen oder Küstenstreifen, die an Vertrautes erinnern; oder auch ein Blick auf ein größeres Stück Landschaft mit den erloschenen Vulkanen des Marxismus. Aber niemand sollte der Illusion zum Opfer fallen, daß diese wenigen Anhaltspunkte genügen, um den Flug zu steuern." (Luhmann 1987: 12f.)

Es wird eingeräumt, dass 'Gelegentlich Durchblicke nach unten möglich sind'. In der Be- schreibung seiner Theorie sieht Luhmann sie nicht als losgelöst von der Empirie, im Gegenteil, der Blick auf die Theorie ermöglicht erst den genauen Flug.

Durch den Positivismusstreit zwischen Vertretern der Frankfurter Schule und Vertre- tern des Falsifikationismus, allen voran Adorno gegen Popper, gibt es zwei große Strömungen in den Sozialwissenschaften, die sich in verschiedenen Wissenschaftsauffassungen widerspie- geln. Das dialektische Wissenschaftsverständnis der Frankfurter Schule versteht die Sozial- wissenschaft eher als besondere Wissenschaft. Der Sinn und Zweck der Kritischen Theorie ist die Befreiung des Individuums aus der unterdrückenden Ordnung der Gesellschaft. Dafür ist eine Kritische Theorie nötig, die die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Wandels beschreibt (vgl. Adorno 1969:7ff.). Dagegen soll Poppers empirische Sozialforschung durch ihre Unter- suchungsmethoden eine reine Beschreibung des gegenwärtigen Gesellschaftszustandes sein, der durch ihre Methoden weiter zementiert wird, weil es ein Notwendigkeitsgefühl für die herrschende soziale Ordnung erzeugt. Der Vorwurf Adornos ist, dass die empirische Sozial- wissenschaft keinen Platz für eine Bewertung und moralische Einordnung der Sozialverhältnisse hat (vgl. Adorno 1969: 81f.).

Popper sieht in diesen Vorwürfen eher den Vorteil der empirischen Sozialwissen- schaft. Nach Poppers Wissenschaftstheorie ist eine Theorie umso wissenschaftlicher desto besser sie widerlegt bzw. falsifiziert werden kann. Prognosen, die aus Theorien abgeleitet werden, können durch die Empirie bewertet werden und entweder verifiziert oder falsifiziert werden. Verifiziert bedeutet bei Popper, dass die Theorie noch nicht falsifiziert wurde. Durch die Überprüfung an der Empirie ist wissenschaftlicher Fortschritt möglich, da aufgezeigt wird, welche Theorie beibehalten und welche Theorie verworfen wird (vgl. Popper 1969: 103ff.). Luhmanns Wissenschaftsverständnis gehört eher auf die Seite der empirischen Sozial-forschung. In der Luhmann-Habermas-Kontroverse, die von beiden in ihrem Werk "Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie" dokumentiert wurde, wirft Habermas Luhmann ein eher konservatives Gesellschaftsverständnis vor, vor allem wirft er Luhmann vor, dass es sei-ner Theorie an einer moralischen Einordnung fehlt. Obwohl Habermas ein Vertreter der Frankfurter Schule ist, kann Luhmann als Gegenpol nicht so einfach dem Lager Poppers zu- gerechnet werden. Allerdings ist das Wissenschaftsverständnis Luhmanns nicht das dialekti- sche Verständnis der Frankfurter Schule. Gegen den Vorwurf der nicht Einbeziehung von Moral reagiert Luhmann mit der Forderung nach mehr Theorie und gibt zu, dass die System- theorie keine Grenzen gegen ideologischen Missbrauch besitzt (vgl. Luhmann 2011: 324). Das Wissenschaftsverständnis von Luhmann kann eher der empirischen Sozialforschung zu- gerechnet werden und wäre somit für empirische Überprüfung offen.

2.2.) Kommunikation

Einen wichtigen Bestandteil der Theorie Luhmanns bildet die Kommunikation. In Anlehnung an den Biologen Maturana ist auch bei Luhmann Kommunikation ein autopoietisches System, d. h., es kann sich selbst erzeugen, indem es an sich selber anschlussfähig ist. Auf Kommuni- kation kann Kommunikation folgen, wie es zum Beispiel in einem Gespräch durch Aussagen und Eingehen auf die Aussagen stattfindet. Im Gegensatz zu Maturana ist Kommunikation aber nicht auf biologische Systeme beschränkt, sondern umfasst alle Systeme, soziale und psychische. Jeder soziale Kontakt, der als Differenz von System und Umwelt begriffen wer- den kann, bildet ein System. In diesem Sinne sind Gedanken und Einstellungen nicht für die Differenztheorie erfassbar.

Kommunikation ist ein eigenständiger Prozess, denn durch ihn werden Systeme gebil- det. Kommunikation ist damit nicht nur auf einen Sender und einen Empfänger einer Bot- schaft beschränkt, sondern ist selber wieder ein soziales System, und zwar die einfachste Form eines sozialen Systems. Kommunikation ist eine Relation zwischen mindestens zwei Systemen, in deren Verlauf ein Selektionsprozess stattfindet. Die Selektion läuft in drei Schritten ab, die eigentliche Information, die Mitteilung und das Verstehen. Eine Grundan- nahme der Theorie Luhmanns ist, dass die Wirklichkeit unendlich komplexer ist und es einen Ausschluss verschiedener Möglichkeiten bedarf, um sie zu erfassen (vgl. Luhmann 1987: 66). Systeme nehmen einen Einfluss auf ihre eigene Kommunikation, indem sie selektieren, be- stimmte Informationen werden ausgeschlossen (vgl. Luhmann 1987: 127). Somit sind Syste- me über ihre Kommunikation bestimmbar. Der Code, mit dem Kommunikation selektiert wird, definiert das System. Welche Codes dies für das System Religion sind, wird im Ab- schnitt 7.2) erläutert. Wichtig ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass in Luhmanns Theorie ein- zig Kommunikation erfasst wird. Einzelne Individuen oder größere Institutionen definieren sich über ihre jeweilige Kommunikation. Gedanken und Einstellungen sind nicht erfassbar. Zum einen beeinflussen damit soziale Systeme die Kommunikation ihrer Mitglieder über ihren Selektionsprozess (vgl. Luhmann 1987: 74). Religion sollte die Kommunikation ihrer Mitglieder steuern. Zum anderen ist die Kommunikation erfassbar, da sie nur als geäußerte Kommunikation existiert und darüber hinaus ist diese Kommunikation anschlussfähig, d. h., über die geleistete Kommunikation kann kommuniziert werden. Bei einer quantitativen Datenerfassung wie dem ALLBUS findet Kommunikation statt. Die Kommunikation der Pro- banden sollte bereits durch bestimmte Funktionssysteme der Gesellschaft gesteuert sein und über die Untersuchung kann selber wieder geredet werden. Somit kann man aus Luhmanns Theorie Hypothesen zur empirischen Überprüfung ableiten.

3.) Datensatz

Der Datensatz des ALLBUS 2012 wurde mit dem Schwerpunkt "Religion und Werte" erho- ben. Ingesamt wurden 3480 Personen befragt, davon 2855 aus den alten und 625 aus den neu- en Bundesländern. Das heißt, 18 % der Befragten kommen aus den neuen Bundesländern. Nach Daten des Statistischen Bundesamtes von 2013 sind es 12,8 %. Dies stellt ein Oversam- pling der Bevölkerung aus den neuen Bundesländern dar. Die Daten müssen deshalb mit dem personenbezogenen Ost-Westgewicht (v743) gewichtet werden, damit eine repräsentative Auswertung ohne Aufschlüsselung nach neuen und alten Bundesländern möglich ist. Interes- sant ist außerdem die Anzahl der Probanden mit einer Religionsmitgliedschaft. Auf weitere Variablen, die für die Untersuchung wichtig sind, wird im nächsten Kapitel eingegangen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1

Ingesamt sind 73,1 % der Befragten im ALLBUS 2012 Mitglied in einer Religionsgemein- schaft. Das Statistische Bundesamt kommt für das Jahr 2011 bei einer Gesamtbevölkerung von 79.652.370 auf 57.452.110 Religionsmitglieder, davon 53.239.990 mit einer christlichen Konfession1. Damit sind hier 72,1 % der Gesamtbevölkerung Religionsmitglieder. Die Reli- gionsmitglieder sind somit unwesentlich überrepräsentiert in der ALLBUS-Erhebung. Dies stellt kein Problem dar, da auf den Religionsmitgliedern das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit liegt. Stark vertreten in der Erhebung sind die beiden christlichen Konfessionen und die Pro- banden ohne Konfessionszugehörigkeit, die anderen Konfessionen werden deshalb im weite- ren Verlauf der Arbeit nicht genau betrachtet.

4.) Religiosität

4.1.) Quantitative Religiosität

Diese Arbeit soll sich quantitativ mit der Einstellung von Gläubigen beschäftigen, fraglich ist somit, wie dies erfasst werden kann. Die Frage, welcher Konfession ein Proband angehört, (v188) ist dafür vielleicht nicht ausreichend. Die Mitgliedschaft in einer Kirche kann viele Gründe haben, von denen nur einer wirklich die Religiosität ist. Allerdings sind diese Gründe für die Differenztheorie nur wirklich erfassbar, wenn sie nicht intrinsisch sind. Wie im Kapitel 7.) gezeigt wird, ist bei Luhmann Religion für den Einzelnen vor allem der Glaube an ein Le- ben nach dem Tod, verbunden mit dem Glauben an Gott. Dies muss in Verbindung zur Kon- fessionszugehörigkeit verstanden werden, denn bei Luhmann ist Religion in der Organisation der Kirche eingebunden (vgl. Luhmann 1982: 287). Dies wäre im ALLBUS unter den Variab- len Leben nach dem Tod (v209) oder Lebenssinn, weil es nach dem Tod etwas gibt (v129) zu erfassen. Des Weiteren könnte man die Religiosität über die Religiositätsskala (v134) messen, oder wie es von Peter Voll, im Abschnitt 5.4) ausgeführt wird, über die Kirchgangshäufigkeit (v269). Dies ist sinnvoll, da mit dem Kirchgang eine direkte auszuführende Handlung ver- bunden ist. Mit dieser Handlung sind Opportunitätskosten verbunden. Wenn jemand bereit ist, diese Kosten einzugehen, dann kann man davon ausgehen, dass der Proband einen gefestigten Glauben hat. Dieser Maßstab kann vor allem für die Theorie von Parsons, bedingt auch für Durkheim, angewendet werden. Für die Theorie von Luhmann ist er weniger gut zu verwenden. Bei Luhmann beschreibt Kommunikation jede Form von Handlung, die ist damit für genaue Unterscheidungen zu abstrakt.

4.2.) Deskriptive Statistik

Untersucht werden soll im Folgenden der Zusammenhang von Konfessionsangehörigkeit und den im vorigen Abschnitt vorgestellten Variablen. Dafür wurde die Variable (v188) in eine neue Variable umcodiert, die Konfession nicht mehr aufgeschlüsselt, sondern nur zwischen Konfessionszugehörigkeit, codiert als Wert = 1 und konfessionslos, Wert = 0, unterschiedet. Zumindest kann ein Vergleich zwischen den Variablen mit ähnlichen Inhalt herbeigeführt werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2

Man sieht, dass die Variable (v209) den zu untersuchenden Zusammenhang besser abbilden kann. Bei beiden Variablen ist der Zusammenhang Signifikant (Chi-Quadrat = 249,270 bzw. = 361,724). Zwar haben weniger Probanden eine gültige Antwort auf die Frage der Variable (v209) gegeben, doch der höhere Wert des Cramer-V zeigt an, dass es einen höheren Zusammenhang zwischen den Variablen (v188) und (v209) gibt. Der Zusammenhang ist mit Cramer-V = 0,336 nicht sehr stark, aber auch nicht unwesentlich. Es gibt eine Verbindung von einem Glauben an ein Leben nach dem Tod und der Mitgliedschaft in einer Kirche. In der Kreuztabelle kann allerdings nicht aufgezeigt werden, ob in jeder Konfession der Glaube an ein Leben nach dem Tod gleich stark vertreten ist.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3

Es fällt auf, dass es große Unterschiede in der Verteilung der Variable (v209) innerhalb der einzelnen Konfessionen gibt. Dies muss bei der weiteren Auswertung beachtet werden.

5.) Émile Durkheim

5.1.) Der Religionsbegriff

Es lässt sich eine relativ klare Linie von der Religionssoziologie Èmile Durkheims, über Tal- cott Parsons zu Niklas Luhmann ziehen. Diese Aussage soll als Ausgangspunkt dienen, um mit der Theorie von Durkheim anzufangen. Durkheims Theorie begründet die Integrations- theorien über die Funktion der Religion. In seinem Hauptwerk zur Religion "Die elementaren Formen des religiösen Lebens" ist sein Ziel den Begriff der Religion über die integrative Funktion derselben zu definieren. Dazu soll die 'primitivste', zur damaligen Zeit bekannte, Religion untersucht werden (vgl. Durkheim 1981: 17). Die Verallgemeinerung soll universa- listisch für alle bekannten Religionen gelten. Als 'primitivste' Religion werden die Glaubens- vorstellungen der australischen Ureinwohner gewählt. Für Durkheim ist Religion:

"[...] ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören." (Durkheim 1981: 75) Religion wird als etwas Soziales bestimmt, denn es findet in einer Gemeinschaft statt. Es wird durch den Glauben an einen Gott oder etwas Übernatürliches definiert. Aber damit ein System Religion werden kann, muss es organisatorisch in einer Kirche zusammengefasst sein. Das Übernatürliche wird als Spezifikum der Religion ausgeschlossen, obwohl es sehr wohl eine wichtige Rolle in vielen Religionen spielt (vgl. Durkheim 1981: 47). Für Durkheim kann der Mystizismus nicht in 'primitiven' Religionen zu finden sein, da es gewisse Form des Denkens und bestimmter Ideen bedarf.

"Im übrigen ist der Begriff vom Übernatürlichen erst jüngsten Ursprungs, er setzt nämlich den entgegengesetzten Begriff voraus, dessen Negation er ist, und dieser hat nichts Primitives an sich." (Durkheim 1981: 75)

[...]


1 Statistisches Bundesamt https://www.dstatis.de

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Die Religion der Gesellschaft. Gemeinsamkeiten religiöser Kommunikation
Hochschule
Universität Erfurt
Veranstaltung
"Empirisches Forschungspraktikum 'Sekundärdaten-analyse mit ALLBUS-Daten'"
Note
2.0
Autor
Jahr
2014
Seiten
46
Katalognummer
V296111
ISBN (eBook)
9783656949039
ISBN (Buch)
9783656949046
Dateigröße
1151 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
religion, gesellschaft, gemeinsamkeiten, kommunikation
Arbeit zitieren
Stefan Rose (Autor:in), 2014, Die Religion der Gesellschaft. Gemeinsamkeiten religiöser Kommunikation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/296111

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