Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Entstehung der Immersion im Film- und Medienbereich
2.1 Narration und Dramaturgie
2.2 Gesellschaftliche Kontexte: Zugehörigkeit und „Wir-Gefühl“ bei der Medienrezeption
2.2.1 Religiöse Vergemeinschaftung in Korea
2.2.2 Kim Ki-duk und die Gemeinschaften
2.3 Ästhetik und Gestaltung
2.4 Moralische Orientierung des Zuschauers - Empathie und Sympathie
2.5 Immersion
3. Über Kim Ki-duk
4. Bin Jip (Leere Häuser), 2004
4.1 Handlung
4.2 Ästhetik und Gestaltung
4.3 Sozialgesellschaftliche Hintergründe
4.4 Kernidee des Filmes und moralische Orientierungen des Zuschauers
5. The Bow (Der Bogen), 2005, als sagenhafte Parabel
5.1 Handlung
5.2 Ästhetik und Gestaltung
5.3 Genre und Problematik im Film
5.4 Deutungen der Hintergründe und Symbolik im Film
5.5 Wortlose Immersion
5.6 Narration und Dramaturgie – Moralische Orientierungen des Zuschauers
6. Halbabstraktion als filmische Handschrift von Kim Ki-duk
7. Fazit: Immersion durch filmische Handschrift von Kim Ki-duk unter Berücksichtigung von stilistisch-künstlerischen und sozial-kulturellen Aspekten
Glossar
Filmmaterial
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Abbildungsverzeichnis
„Ein Filmregisseur zu sein, bedeutet letzten
Endes, das Publikum mit seinen Ideen auf
schleichende Weise zu infizieren“
Kim Ki-duk (Jeong 2013, S. 57)
1. Einleitung
Durch seine tiefgreifenden, mit Gewalt befüllten und trotzdem poetischen Filme ist Kim Ki-duk heute einer der umstrittensten Regisseure: Einige erklären ihn für psychisch gestört, die Anderen für einen Genie. Besonders in seiner Heimat, – in Süd-Korea, – wird Kim Ki-duk mit Steinen beworfen: „Wie kann man nur so schlechte Filme machen?“ fragt Mun Il-Pyeong. Eine weitere Aussage von demselben Kritiker lautet, „dass Kim Ki-duk die Norm der Well-Made-Filme hinter sich gelassen hat und die extreme Methode des Automatismus anwendet“ (Seong-Il 2013, S. 165) Ihm wird die „falsche Objektivität“ im Sinne der mit naturalistischer Handschrift dargestellten Begebenheiten und Personen, die keine vom Realismus fordernde organische Eigenschaft des Erzählens innehaben, und „Überschuss an Überschuss“ im Bezug auf seine Kameraeinstellungen von Park Seong-Su zugeschrieben (vgl. ebd. S. 302-310). Trotz aller negativen Kritiken, die auf nationale Vergemeinschaftung (s. Kapitel 2.2) Koreas zurückzuführen sind, wird Kim Ki-duk von der ästhetischer Vergemeinschaftung (ebd.) Europas als talentierter Regisseur sehr geschätzt. Mehrere seiner zahlreichen Filme liefen bei vielen bedeutenden Festivals Europas und sein Pieta gewann den Goldenen Löwen in Venedig in 2012.
Ziel dieser Arbeit ist, Verfolgung von Kim Ki-duks Immersionsmethoden unter Betrachtung von verschiedenen Allegorien der „schweigenden Performanz“ (Seong-Il 2013, S. 157) anhand seiner Filme Bin Jip (Leere Häuser) und The Bow (Der Bogen).
2. Entstehung der Immersion im Film- und Medienbereich
2.1 Narration und Dramaturgie
Filme sind in der Regel Erzählungen. Die Narration, die als Fachbegriff für Erzählung zu verstehen ist, besteht in der kausalen Verknüpfung von Situationen, Akteuren und Handlungen zu einer Geschichte; die Dramaturgie ist die Art und Weise, wie diese Geschichte dem Medium entsprechend aufgebaut ist, um sie im Kopf und im Bauch der Zuschauer entstehen zu lassen. Im Zentrum der Dramaturgie stehen Konflikte, die Figuren aktiv werden lassen und die Handlung Vorantreiben. Die dramaturgische Strukturierung der Erzählung legt fest, auf welche Art und Weise Informationen des Publikum erreichen und wie diese Informationen kognitiv und emotional verarbeitet werden. Genauer kann Erzählung zunächst als eine Form der kommunikativen Mitteilung verstanden werden, die sich von anderen Formen unterscheidet, z.B. von der Beschreibung oder der Argumentation. Sie ist das Resultat einer kommunikativen Handlung: des Erzählens. Diese Tätigkeit wird von einem Akteur ausgeübt, dem Erzähler, der seine Erzählung an einen Adressaten, das Publikum, richtet. Eine Erzählung entsteht so immer durch die Positionierung und Perspektive des Erzählers und seinen Blick auf das Erzählte bzw. auf die Geschichte vor dem Hintergrund der Publikumsadressierung. Grundsätzlich kann das Erzählen nach Definition von Schülein, Stückrath und Ehlich als eine alltägliche kommunikative Handlung begriffen werden (vgl. Mikos 2008, S. 47 ff.). „Narration ist folglich nicht substantiell, sondern prozessual zu verstehen, als kommunikativer Akt, in dem eine Geschichte entfaltet wird, deren Erschließung Aufgabe eines interpretierenden Zuschauers ist. Narration ist damit zugleich eine Aktivität, die das Wissen des Rezipienten und seine Eingeweihtheit in das Geschehen reguliert“ (Mikos 2008, S. 47).
„Menschen, die sich für Bilder nicht interessieren, werden trotzdem durch meine Filme emotional berührt und haben ein Interesse an ihnen. Wie kann man das dann erklären? Die Bilder sind eigentlich bloße Fragmente. Stehen aber diese Fragmente und die Figuren in keinem Zusammenhang, bleiben die Fragmente bloß Fragmente.“ Kim Ki-duk (Seong-Il 2013, S. 31)
2.2 Gesellschaftliche Kontexte: Zugehörigkeit und „Wir-Gefühl“ bei der Medienrezeption
„Die Analyse des Inhalts und der Repräsentation von Fernsehsendungen und Filmen hat einen besonderen Stellenwert. Sie ist wichtig, um die Prozesse des sinnhaften Aufbaus der sozialen Welt zu verstehen, weil sich darüber die Subjekte in der Gesellschaft positionieren.“ (Mikos 2008, S. 46)
Vergemeinschaftung in Bezug auf die Medienrezeption spielt nicht die letzte Rolle. Nach Webers Definition ist sie, erstens, hinreichend offen, indem sie beim Charakter der gefühlten sozialen Beziehung ansetzt und sehr unterschiedliche Ausgestaltungen derselben zulässt. Vergemeinschaftungen können lokal, aber auch über verschiedene Orte hinweg verstreut bestehen. Weber nennt als Beispiele unter anderem die lokale Hausgemeinschaft wie die erotische Beziehung oder die Familie, die lokal verstreute, religiöse Brüdergemeinschaft und die territorial gefasste Vergemeinschaftung der Nation. Diese potenzielle Translokalität von Vergemeinschaftung ist nicht nur im Hinblick auf Fragen der Medienaneignung wichtig. Darüber hinaus haben wir es mit einem skalierbaren Konzept zu tun: die Vergemeinschaftungen finden sich im ganz Kleinen wie im ganz Großen und lassen sich auf eine spezifische soziale Beziehung von Zusammengehörigkeit oder – anders formuliert – von Zugehörigkeit und Wir-Gefühl zurückzuführen (Vgl. Hitzler & Pfadenhauer 2010, S. 375)
Weber setzt diese gefühlte Zusammengehörigkeit nicht mit Tradition gleich. Er betont extra auch Vergemeinschaftungen, die nicht traditioneller Natur sind, dennoch aber für stark empfundene Zusammengehörigkeiten stehen. Entsprechend sind für Weber Vergemeinschaftung als gefühlte Zusammengehörigkeit und Vergesellschaftung als rationale Interessenverbindung auch keine gegenläufigen oder sich ausschließenden sozialen Beziehungsfigurationen. So kann beispielsweise aus der zweckrationalen Vergesellschaftung der gemeinsamen Büroarbeit die gefühlte Bürogemeinschaft werden, muss aber nicht. Unter diesen Aspekten können bereits gegenwärtige Formen von Vergemeinschaftung, deren Zusammengehörigkeit auf Wahl in einer multioptionalen Gesellschaft der Individualisierung beruht, gesehen werden.(Vgl. C. Wünsch et.al. 2014, S. 380) Diese werden auch "ästhetische Gemeinschaften" (Bauman 2009, S. 82) genannt.
Als Beispiel einer familiären Lebensgemeinschaft führt Bausinger in seiner Arbeit vom 1983 eine Mutter an, die mit dem Sohn die "Sportschau" sieht, nicht weil sie sich für deren Inhalte interessiert, sondern weil sie in der gemeinsamen Tätigkeit des Fernsehens die emotionale Beziehung zu ihrem Sohn aufrecht erhält bzw. stabilisiert. Diese mittlerweile klassische Studie bietet eine Darstellung, wie familiäre Vergemeinschaftung auch in der Medienaneignung hergestellt wird. (Vgl. C. Wünsch et.al. 2014, S. 385)
Bei der nationalen Vergemeinschaftung handelt es sich um eine Normbildung im gesamtgesellschaftlichen Rahmen, die sich auf die Medienbewertung auswirkt. Hierbei ist unerheblich, ob diese Normbildung aus gesellschaftlichen Diskurs entstanden ist oder etwa, wie in totalitären Staatsformen, vorgegeben wird. Entscheidend ist, so banal dies sein mag, die Nation als primärer Bezugsraum. (Vgl. C. Wünsch et.al. 2014, S. 387)
In Bezug auf Religion ist es an dieser Stelle sinnvoll, die religiöse Vergemeinschaftung Koreas etwas näher in Betracht zu ziehen.
2.2.1 Religiöse Vergemeinschaftung in Korea
Rötting mochte sich nach seinem ersten Eindruck von Seoul, der in all der Hektik und dem Stress liegenden, mit einem sehr westlichen, an wirtschaftlichen Interessen ausgerichteten 12-Millionen-Metropole, fragen, „ob es im modernen Korea, überhaupt noch so etwas wie einen Zen-Geist gibt.“ (Vgl. Rötting 2001, S. 39) Ursprünglich war der Schamanismus in Korea die einzige Religion. Später waren offiziell meist Buddhismus oder Konfuzianismus die Religion des Hofes. Seit das Christentum im Gewand der neuzeitlichen Zivilisation vor ungefähr 200 Jahren in Korea eintraf, scheint der Buddhismus seine führende Rolle als schöpferische kulturelle Kraft an das Christentum abgegeben zu haben. Der Schamanismus war jedoch neben den Hochreligionen immer ein beständiger Teil der Volksseele. Bis heute ist sein Einfluss in Korea deutlich. (Vgl. ebd. S. 46, 103, 121) „In jedem Koreaner findet man konfuzianistisch geprägtes ethisches Verhalten, und tief im Bauch sitzt viel Schamanisches, egal, ob Buddhist oder Christ.“ (Ebd. S. 47)
2.2.2 Kim Ki-duk und die Gemeinschaften
Nach der Aussage des Independent-Regisseurs Dmitri Lopuhov, existieren Kim Ki-duks Werke außerhalb jegliches Mainstreams, seien es Hollywood- oder Arthaus-Filme. Er passte sich nie Strömungen an, drehte nie opportunistische Filme, um eine oder die andere Zielgruppe zufrieden zu stellen. Er geht seinen eigenen Weg in der Kunst. Und wenn seine Figuren die Angelhaken schlucken, tun sie das nicht um das Festivaljury in Erstaunen zu versetzen und nicht um raffiniertes alternatives Publikum ins Kinosaal zu locken. Sie tun das, weil genau diesen Tat der dramaturgisch-philosophische Aspekt der Story fordert. (Vgl. Dmitri Lopuhov, Onlinequelle) Der Regisseur lehnt Klischees, Moralvorstellungen und die von Menschen formulierten Maximen, die die Welt in Gut und Böse unterteilen, resolut ab, weil die Menschen in der Welt sehr unterschiedlich sind. In seinen Beobachtungen der Menschheit stellt Kim fest, dass die Unterschiede weniger mit dem Wissen oder Unwissen dieser Menschen als vielmehr mit der geistigen Diskrepanz zwischen ihnen zu tun haben. Der Film ist ein Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen Charakteren, die sich um die Zerstörung der Weltordnung bemühen, oder die nach mehr Gerechtigkeit streben, sowie diejenigen, die einfach alles genießen, ohne sich irgendwelche Gedanken über den Lauf der Welt zu machen. (Vgl. Seong-Il 2013, S. 34)
„.Menschen zu beobachten, [...] Menschen zu lieben, ist mein Job. [...] Solltet ihr schon einmal geliebt haben, so geschah dies höchstens innerhalb eines sicheren Raums, in dem eine Liebe gesellschaftlich und moralisch genügend Akzeptanz erlangen kann. Ist das alles? Ihr denkt doch nicht, dass das die Liebe vollkommen umfasst. Oder? Wer wirklich schon einmal jemanden geliebt hat, weiß, warum eine Frau einen Angelhaken in ihre Gebärmutter einführt und ihn dann wieder herausziehen muss! [...] Letzten Endes ist der Zustand, in dem sich die Selbstverstümmelung und der Masochismus vermischen, die Liebe. Das unergründliche Gefühl, das Liebe heißt, hetzt einen Menschen gelegentlich zur Selbstverstümmelung, die ihn bis kurz vor den Tod treibt. Vielleicht ist die Liebe für mich eine Reise, die uns ins Tierhafte zurückführt. Genau das ist die Liebe. Sie beginnt an dem Ort, an dem mein intellektuelles Niveau, meine Moralvorstellungen, meine gesellschaftliche Stellung und die Hierarchie vollkommen verschwinden.“ Kim Ki-duk (aus dem Interview mit Kim Kyeong, Seong-Il 2013, S. 26)
2.3 Ästhetik und Gestaltung
„Die Feststellung, dass Filme und Fernsehsendungen aus bewegten Bildern bestehen, ist nicht ganz richtig, denn tatsächlich setzen sie sich aus unbeweglichen Einzelbildern zusammen, die von den Zuschauern als bewegte Bilder wahrgenommen werden. Jedes einzelne Film- oder Fernsehbild bildet nicht nur etwas ab und stellt etwas dar, sondern ist in einer ganz spezifischen Art und Weise gestaltet. Das trifft nicht nur auf erfundene, fiktionale Geschichten zu, sondern auch auf abgebildete Realität.“ (Mikos 2008, S. 55)
Durch verschiedene Techniken und spezifischen Darstellungsmethoden,wie Bildgestaltung, Farbensprache, Kameraführung, musikalische Leitmotive wird bei dem Rezipienten die ästhetische Wahrnehmung des Geschehens auf der Leinwand, Fernseher oder Bildschirm geformt. Obwohl seine Filme in erster Linie als hoch ästhetisch in Erinnerung bleiben, hat Kim Ki-duk seine eigene Sicht auf die Ästhetik seiner Filme:
„Wenn eine gegebene Situation dem vorhandenen Lebensraum der Figur entspricht, dann kümmere ich mich nicht um den Kamerawinkel. Ist allerdings ein emotionaler Aufnahmewinkel gefragt, z.B. wenn eine Figur spricht und der Kamerawinkel die Nuancen des Textes zur Geltung bringen sollte, oder falls eine Actionszene vorkommt, für die ich mehr Raum benötige, dann reagiere ich auch dementsprechend. Jedoch vermeide ich dabei übertrieben ästhetische Mittel einzusetzen, […] Kamerawinkel, die auf übertriebene Weise aus allen Bildern Kunstwerke schaffen wollen, vermeide ich. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich solche Stilmittel ganz pauschal gering schätze. Ich setze die Mittel ein, welche mir am adäquatesten erscheinen. […] Meine Prioritäten setze ich auf die Nuancen und Aktionen der Darsteller. Alles andere interessiert mich herzlich wenig. Das Wichtigste ist das Prinzip der Kamera, also die der Kamera eigene Funktion!“ Kim Ki-duk (Seong-Il 2013, S. 259f.)
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