Die Russische Revolution von 1905. Die Generalprobe der Oktoberrevolution

Der Kampf um die Republik und die weltgeschichtliche Bedeutung der Sowjets


Etude Scientifique, 2015

141 Pages


Extrait


Inhaltsverzeichnis

ANMERKUNGEN:

LITERATURLISTE:

"Ohne die 'Generalprobe' von 1905 wäre der Sieg der Oktoberrevolution 1917 nicht möglich gewesen." 1.

Während im Jahr 2005 in bürgerlichen Medien die hundertjährige Wiederkehr der Darlegung der Relativitätstheorie durch Einstein und der mit ihr verbundenen Revolution in den Naturwissenschaften doch eine quantitativ bemerkenswerte Beachtung fand, wurde so gut wie mit keiner Silbe, mit keinem Bild an die mächtige russische Revolution von 1905 in Europas flächenmäßig größtem Land erinnert, die für den Fortschritt der kämpfenden Klassen gegen den Imperialismus eine gravierendere Bedeutung hatte. Diese Revolution war, obwohl sie keinen proletarischen Charakter trug (der Zar überlebte sie physisch und politisch), die größte proletarische Bewegung seit der Pariser Kommune, setzte ihr Werk fort und war die erste bürgerlich-demokratische Revolution in der Phase des Imperialismus, die erste, in der eine Arbeiterpartei neuen Typus und in der Sowjets auftraten, die beide, so jung sie auch waren, anzeigten, dass das Bürgertum schon nicht mehr die Triebkraft dieser Revolution war. Es wollte zwar auch die Überwindung der Selbstherrschaft und rief nach politischer Freiheit nur, um die Revolution abzuwürgen. Deshalb war für es der zaristische Exekutivapparat sakrosant. Obwohl das Bürgertum nicht mehr die Triebkraft dieser Revolution war, muss man sie dennoch als bürgerliche rubrizieren, denn die Eroberung der politischen Freiheit für die Volksmassen und der Erde für die Bauern hätte das Herrschaftsmonopol des Bürgertums noch nicht angetastet. Darin besteht die Eigenart dieser Revolution, trotz ihres bürgerlichen Charakters in sozialökonomischer Hinsicht war sie eine Volksrevolution 2., die tiefer gehen musste als die Revolutionen von 1789 und 1848. Bekanntlich sahen die Menschewiki noch im Bürgertum, obwohl es bereits zwischen Reaktion und Revolution schwankte, die revolutionäre Triebkraft und verfolgten eine Politik, die das Proletariat auf die „äußerste Opposition“ verwies. Das hatte Konsequenzen besonders für die menschewistische Bündnispolitik, die im „Kombinieren“ bestand, wie Lenin es formulierte: „was man will und wie man will“, am Ende war die Arbeiterpartei abhängig von der liberalen Bourgeoisie. Das war natürlich vollendeter Opportunismus, denn dieser ersetzt eine sozialdemokratische Politik durch eine liberale, in der der Klassenkampf abhanden kommt. Der Arbeiterklasse wird dann keine aparte Politikfähigkeit mehr zugesprochen, die Lenin gerade einforderte: sie muss die demokratische Bauernschaft vom Einfluß des Liberalismus befreien und die demokratische Revolution als ihr Führer – Lenin betont dieses Wort ausdrücklich – bis an ihre Grenze führen: die Zerschlagung des gutsherrschaftlichen Grundbesitzes und des Leibeigenschaftsstaates. Siegt der Bauer im Kampf um den Boden, so besteht die ökonomische Grundlage für den Sieg der bürgerlichen Revolution, für eine rapide Entwicklung der Produktivkräfte und der Vorbereitung des „Letzten Gefechts“ der Weltgeschichte. Von der Ereignisschwere her gab es im Revolutionsjahr 1905 drei herausragende Monate: der Januar mit dem mächtigen und tragisch verlaufenden Januarstreik, der Oktober ebenfalls mit einem Massenstreik und der Dezember mit dem streikverbundenen bewaffneten Aufstand in Moskau als dem höchsten Aufschwung der ganzen Revolution. Denn alle drei Ereignisse ergaben sich als wahre Volksaktionen. Diese Revolution widerlegte die Legende, dass das alte träge, halbbarbarische bäuerliche Russland der unbedingten Treue zum Zaren für eine Revolution untauglich sei. Die Legende ließ unbemerkt, dass in keinem anderen Land der Welt die Unterdrückung der Bauernschaft erniedrigender gewesen war als in Russland und dass in Friedenszeiten die revolutionäre schöpferische Tätigkeit der unteren Volksschichten nur in den Hintergrund getreten war, dass aber dieses „Schlafen des Volkes“ über Nacht in einen wahren Volksenthusiasmus umschlagen kann. Diese Revolution widerlegte die landläufige Auffassung, dass das Proletariat ohne starke Organisation und voller Kasse einen Generalstreik nicht durchführen könnte, sie ihn bei starker Organisation und voller Kasse wiederum nicht bräuchte. Was die Journalisten und Literaten in Russland nicht sahen, das sah Friedrich Engels schon drei Jahre nach der Kommune, dass sich in Russland im Stillen Revolutionäres unter der Oberfläche zusammenbraute. 3. In einem Brief vom 27. September 1877 an Sorge war Marx ganz begeistert von der orientalischen Krise und sprach davon, dass in Russland alle Elemente zur Umwälzung fertig seien. „Wenn uns Mutter Natur nicht besonders ungünstig ist, erleben wir den Jubel noch“. Marx war damals 59 Jahre alt. Zirka zehn Jahre später, Marx starb 1883, schrieb Engels am 23. April 1887 an Sorge, dass Bismarck alles fertig machen will, damit nach dem Ausbruch der Revolution in Russland auch in Deutschland gleich losgeschlagen werden kann. Sprach Lenin von dieser Revolution als von einem Wendepunkt in der Geschichte Russlands, so eröffnete sie für Rosa Luxemburg auf Grund des politischen Massenstreiks auch eine "neue Epoche" in der Entwicklung der Arbeiterbewegung, denn die Streiks in Russland hatten in der Regel bisher rein ökonomische Ziele. Der Generalstreik war für sie „eine ganze Revolution im kleinen“ 4., denn zu den sekundären ökonomischen Forderungen hätten sich in ihm primäre politische dazugesellt. „Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter“. 5. Die ökonomische Bewegung wird eine politische (Quantität schlägt um in Qualität), die auf ihrem Höhepunkt wiederum „einen ganzen Wust ökonomischer Streiks“ hervorschleudere (Ursache und Wirkung wechseln „alle Augenblicke“). „Nur in der Gewitterluft der revolutionären Periode vermag sich … jeder partielle kleine Konflikt zwischen Arbeit und Kapital zu einer allgemeinen Explosion auswachsen“. 6. Der Guerillakrieg der Gewerkschaften würde sich in einer revolutionären Situation potenzieren. Zugleich hätte die Revolution, so Rosa Luxemburg weiter, im Geburtsland des Anarchismus Bakunins apolitische Lehre zu Grabe getragen. „Der Anarchismus ist in der russischen Revolution nicht die Theorie des kämpfenden Proletariats, sondern das ideologische Aushängeschild des konterrevolutionären Lumpenproletariats geworden, das wie ein Rudel Haifische hinter dem Schlachtschiff der Revolution wimmelt. Und damit ist die geschichtliche Laufbahn des Anarchismus wohl beendet“. 7. Rosa Luxemburg sieht eine eigentümliche Dialektik der Geschichte am Werk. „So hat die geschichtliche Dialektik, der Fels, auf dem die ganze Lehre des Marxschen Sozialismus beruht, es mit sich gebracht, daß heute der Anarchismus, mit dem die Idee des Massenstreiks unzertrennlich verknüpft war, zu der Praxis des Massenstreiks selbst in einen Gegensatz geraten ist, während umgekehrt der Massenstreik, der als der Gegensatz zur politischen Betätigung des Proletariats bekämpft wurde, heute als die mächtigste Waffe des politischen Kampfes um politische Rechte erscheint“. 8. Schön und gut, nur darf man natürlich die geschichtliche Dialektik nicht einem Fels gleichsetzen. Sie ist eine tief innerliche und ruhelose, die nach Hegel um so grellere Resultate zeitige, je besser sie sei 9. und die für Lenin in phantastischen Zickzackbewegungen verlaufen kann. Recht hat natürlich Rosa Luxemburg mit ihrer Feststellung, dass man einen Massenstreik nicht künstlich machen kann, ins Blaue hinein, „sondern daß er eine historische Erscheinung ist, die sich in gewissem Moment aus den sozialen Verhältnissen mit geschichtlicher Notwendigkeit ergibt“. 10.

Beeinflusst durch die russische Revolution wollten zum Beispiel die deutschen Arbeiter, „ungeachtet des hartnäckigen Widerstandes ihrer Gewerkschaftsführer“ 11., das gleiche Wahlrecht für alle jetzt durch den politischen Massenstreik erreichen. Rosa Luxemburg legte ihre Analyse der russischen Revolution von 1905, insbesondere die Bedeutung des politischen Massenstreiks, in der gegen die parlamentarische SPD gerichteten Schrift: „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“ nieder und wies besonders darauf hin, dass dieser grosse Streik am dritten Januar rein spontan begonnen hatte, stieß damit aber bei Lenin, dem Mann der felsenfesten Kaderpartei, nur auf taube Ohren, der in der Theorie der Organisation als Prozess nur Prinzipienlosigkeit witterte. In der Auseinandersetzung mit den Menschewiki im Jahre 1905 spricht er in einem Brief an die Züricher Gruppe der Bolschewiki vom „ekelhaften Gezänk mit den Desorganisatoren“, die Wahl dieses Adjektivs ist bezeichnend für Lenins Organisationsbesessenheit, für seine Abneigung gegen Spontaneität und anarchistische Tendenzen. Ein positives Ergebnis des gescheiterten Moskauer Aufstandes im Dezember 1905 sieht er darin, dass er das Ende der spontanen Ausbrüche bewirkt hätte, Berechnung trete an Stelle der Stimmung. Auf dem Gebiet der Theorie kanzelt er Artikel der Menschewiki als „hingeworfene Gedankensplitter und flüchtige Notizen von Literaten“ 12. ab. In der Tat fürchten sowohl die Kapitalisten als auch die Revisionisten berechnendes Verhalten des Proletariats mehr als spontanes. Noch im Jahre 1904 lehnte der Bremer Parteitag der SPD die Prüfung eines Antrages von Karl Liebknecht und Clara Zetkin ab, diese in der Phase des Imperialismus entstandene Kampfform des politischen Massenstreiks zu prüfen, während die internationale Sozialdemokratie sie bereits diskutierte und Stalin sie als „eine gewaltige Schule der proletarischen Revolution und ein unersetzliches Mittel zur Mobilisierung und Organisierung der breitesten Massen am Vorabend des Sturms auf die Festen des Kapitalismus“ bezeichnete. Bei der Frage des politischen Massenstreiks zeigte es sich, dass August Bebel, der in der vorimperialistischen Phase des Kapitalismus so vieles richtig gesehen und für die revolutionäre Entwicklung der Arbeiterbewegung so viel Wertvolles geleistet hatte, die revolutionäre Bedeutung des politischen Massenstreiks nicht mehr in seiner vollen brisanten Sprengkraft erfasste. Am 7. Dezember 1905 fiel in der Debatte des Deutschen Reichstages von Bebel der fatale Satz: „Ich sage Ihnen, Herr von Kardorff, wenn wir nicht bremsten, würden Sie Böses erleben“. 13. Bebel starb am 13. August 1913, ein Jahr vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges, wir sehen, da er aus der russischen Revolution von 1905, vor allem aus der in ihr virulenten politischen Massenstreikbewegung keine Konsequenzen für Deutschland zog, dass er nicht ganz unschuldig an dem haarsträubenden politischen Umfallen seiner Partei in der Frage der Kriegskredite war. Die Weichen zum Verrat von 1914 wurden in Deutschland 1905 gestellt, in Russland verweigerten die Bolschewiki 1914 ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten. Und die „Auf-nach-Polen“-Kampagne“ des rechten Flügels der SPD kann gleichsam als ein Vorspiel zu der ebenfalls vom rechten Flügel der SPD betriebenen Mordhetze gegen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Jahr 1919 gedeutet werden. Nicht nur Rosa Luxemburg hatte ein politisch fundamentales Werk über die Revolution von 1905 verfasst, sondern auch Lenin. Er schrieb im Juni und Juli 1905 in Genf die Broschüre: „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“, in der er in kritischer Auseinandersetzung mit den opportunistischen Neuiskristen (Menschewiki) nicht nur die fundamentalen Aufgaben der Sozialdemokraten in dieser fortschrittlichen demokratischen Revolution umriss, sondern auch die fundamentalen Richtlinien des Marxismus in der Frage der demokratischen Revolution in seiner unnachahmlichen Präzision darlegte und erweiterte. Ohne Zweifel rückte Lenin die unverzichtbare Bedeutung einer Kaderpartei in den Fokus seiner weltrevolutionären Überlegungen, nur durch diese sei garantiert, dass sich die allgemeine proletarische Weltrevolution fundamental gegen alle besonderen, sprich: abweichlerischen Interessen und Strömungen behauptet. Der Opportunismus zum Beispiel opfert das Fundamentale Augenblicksinteressen, verkauft die revolutionäre Erstgeburt für ein Linsengericht. 14. Die bolschewistische Partei rekurriert auf die fundamentalen weltrevolutionären Interessen des Klassenkampfes in seiner Gesamtheit. Es war nur folgerichtig, dass das Petersburger Kammergericht am 22. Dezember 1907 die Einstampfung dieser Schrift verfügte.

„Es ist ein riesenhaftes buntes Bild einer allgemeinen Auseinandersetzung der Arbeit mit dem Kapital, das die ganze Mannigfaltigkeit der sozialen Gliederung und des politischen Bewußtseins jeder Schicht und jedes Winkels abspiegelt und die ganze lange Stufenleiter vom regelrechten gewerkschaftlichen Kampf einer erprobten großindustriellen Elitetruppe des Proletariats bis zum formlosen Protestausbruch eines Haufens Landproletarier und zur ersten dunklen Regung einer aufgeregten Soldatengarnison durchläuft, von der wohlerzogenen eleganten Revolte in Manschetten und Stehkragen im Kontor eines Bankhauses bis zum scheu-dreisten Murren einer klobigen Versammlung unzufriedener Polizisten in einer verräucherten, dunklen und schmutzigen Polizeiwachstube“. 15. Die russische Revolution von 1905 war eine wirkliche Volksrevolution, und obwohl sie nicht so "glänzende" Erfolge wie die bürgerlich bleibende türkische und portugiesische Revolution aufwies, ging sie doch wesentlich tiefer als diese beiden. Und diese spezifische Tiefe und auch Breite der russischen Revolution hat Lenin in Worte gemünzt, die zu unterschlagen eine Unterlassungssünde ersten Ranges wäre, der Leser möge die Länge des Zitats verzeihen, an seinem Ende wird er verstehen, warum diese Ausführlichkeit notwendig war: „In der Geschichte der Revolutionen treten jahrzehnte - und jahrhundertelang heranreifende Widersprüche zutage. Das Leben wird ungewöhnlich reich. Auf die politische Bühne tritt als aktiver Kämpfer die Masse, die immer im Schatten steht und daher von den oberflächlichen Beobachtern oft ignoriert oder gar verachtet wird. Diese Masse lernt aus der Praxis, indem sie vor aller Augen Probeschritte macht, den Weg abtastet, Aufgaben stellt und sich selbst sowie die Theorien aller ihrer Ideologen prüft. Die Masse macht heroische Anstrengungen, um sich zur Höhe der ihr von der Geschichte auferlegten gigantischen Aufgaben von Weltbedeutung zu erheben, und wie groß auch einzelne Niederlagen sein mögen, wie sehr die Ströme von Blut und die Tausende von Opfer uns auch erschüttern mögen – nichts wird jemals seiner Bedeutung nach verglichen werden können mit dieser unmittelbaren Erziehung der Massen und der Klassen im Verlauf des unmittelbaren revolutionären Kampfes“. 16. Die Revolution zeigte die Klassen in Aktion und enthüllte ihre wahre Natur. Sie zerstörte erbarmungslos alle Illusionen, die sich diese Klassen gemacht hatten. Je mehr Schichten des Kleinbürgertums und der mittleren städtischen Bourgeoisie in den Strudel des proletarisch bäuerlichen Aufstandes hineingezogen wurden, desto mehr zerrann das Zerrbild einer nationalen Revolution. In keiner bürgerlichen Revolution im Westen war die Arbeiterklasse so stark in Erscheinung getreten wie die russische im Jahr 1905. Die quantitativ relativ kleine Arbeiterbewegung, die eine verzögerte kapitalistische Evolution anzeigte, plus die kleinbürgerliche Bauernbewegung, die Millionen und Abermillionen umfasste, Millionen und Abermillionen der Stadtarmut und Landarmut, die durchaus in der Lage waren, als revolutionäre Demokraten zu handeln, entwickelten sich zum Volksaufstand. Es ist deshalb etwas zu pauschal, wenn Lukács formuliert, das russische 1905 entspräche dem westlichen 1848. 17. Es war im Grunde eine Art Doppelrevolution, in der die von 1917 im Keim angelegt war: sie hatte noch keine genuin kommunistischen Forderungen hervorgebracht, sondern hatte sich auf die revolutionäre demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft als Hauptziel zu beschränken, indem aber der Streik der Arbeiter, der immer eine politische Schule ist, ihr Hauptmittel war, war sie eine bürgerliche und proletarische zugleich. Hierin liegt eine der Schwierigkeiten bei der wissenschaftlichen Aufnahme dieser Revolution, der Gesellschaftswissenschaftler hat beide auseinanderzuhalten, obwohl sie sich in der historischen Realität mehr als nur zu berühren scheinen. Aber sie musste sich eben auf eine demokratische Umwälzung im Rahmen der Warenproduktion einstellen, wie es auch im Minimalprogramm der Bolschewiki steht, nicht auf eine sozialistische, die ihrem Maximalprogramm vorbehalten blieb und die die Aufhebung der Warenproduktion anstrebt. Die Vermengung beider Programme führt vom wissenschaftlichen Sozialismus ab und verdunkelt die Aufgaben der sozialen Revolution. Die demokratische Umwälzung ist primär eine Agrarumwälzung als Kampf der Millionen Kleinbauern um den Boden und dies um so mehr in Russland, als in diesem Land der leibeigenschaftliche Akzent schwerer auf den Bauern lastete als der kapitalistische, eine Sozialisierung kann durch die revolutionäre Bauernschaft nicht erreicht werden. In einer sozialistischen Revolution kommt die entscheidende Rolle der Stadt zu, in einer demokratisch-russischen wie 1905 dem Dorf und zwar in dem Sinne, dass das Dorf den Sieg der Revolution am Ende absichert, ohne sie vorher angeführt zu haben. Nach der restlosen Vernichtung der Leibeigenschaft durch die demokratische Revolution treten die kapitalistischen Klassenwidersprüche um so schärfer hervor. Lenin kritisiert die Herangehensweise des Neuiskristen Martinow an diese Revolution, die er auf Grund der Übereinstimmung mit einigen Worten mit dem Jaurèsismus verglich. Das Begriffsassoziative, mit dem lediglich ein Teppich der Erscheinungen gewebt werden kann, öffnet nicht das Tor zum Eindringen in die innere Wissenschaftlichkeit und es gibt immer nur sehr wenige wissenschaftliche Arbeiten, die die Forderung von Engels erfüllen, hinter den vordergründigen Triebkräften der Geschichte deren hintergründige herauszukristallisieren, kurz: die „Triebkräfte dieser Triebkräfte“ 18. der wissenschaftlichen Welt darzulegen. Die meisten Arbeiten sind, wie Hegel es in seiner „Logik“ formulierte, Gemälde, die Kinder aus Stückchen zusammengesucht haben. Die Aneinanderreihung von Fakten und die Aneinanderreihung von Worten sind nicht erkenntniserhellend, sondern lediglich wissensaccumulativ im schlechten scholastischen Sinn.

Es ging um einen erbitterten Kampf um die Republik, also um den Sturz der Selbstherrschaft, primär um die Erkämpfung der demokratischen Republik als der letzten Form der bürgerlichen Herrschaft und der besten Form für den Kampf des Proletariats gegen diese. Der Ingenieurs-Verband lehnte die Republik ab, das Proletariat alleine konnte diesen Kampf nicht aussichtsreich führen, die Republik musste durch ein Bündnis zwischen ihm und den kleinbürgerlichen bäuerlichen Volksmassen erkämpft werden. Prolet und Bauer zusammen sollten die Sieger der Revolution sein, so dass als ihre Folge auch die Landwirtschaft aufblühen sollte. Aber das Aufblühen der Landwirtschaft als eine der Kleinproduktion würde der Revolution und der sozialistischen Partei sofort ihre Grenzen aufzeigen. Durchdenken wir eine der wichtigsten Passagen Karl Kautskys zur demokratischen Revolution in Russland: „Ohne Aufhebung des stehenden Heeres, der Flottenrüstungen, ohne Konfiskation des gesamten Vermögens der kaiserlichen Familie, der Klöster, ohne Staatsbankrott, ohne Konfiskation der großen Monopole, soweit sie noch privat betrieben werden – Eisenbahnen, Petroleumquellen, Bergwerke, Eisenhütten und dergleichen -, werden die ungeheuren Summen nicht aufgebracht werden können, deren die russische Landwirtschaft bedarf, soll sie aus ihrer furchtbaren Verkommenheit herausgerissen werden“. 19. Lenin wollte diese demokratische Republik als revolutionäre Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft unbedingt haben, unbedingt festigen, denn nur durch diese Republik konnte es zu einer wahren Willensäußerung des ganzen Volkes kommen, denn diese Republik und nur diese Republik eröffnete dem Proletariat das Schlachtfeld, ungehindert für den Sozialismus, für eine Gesellschaft ohne Arme und Reiche zu kämpfen und für die armen Bauernmassen eröffnete sie die Perspektive einer Überwindung der elenden russischen Landwirtschaft. Aber nicht mehr, die Bauern traten keineswegs für einen Agrarsozialismus ein. Der Unterschied zwischen Bauern und Arbeiter überwog deren Übereinstimmung. Der Bauer bleibt in seinen bürgerlichen Wurzeln stecken, der Arbeiter will die bürgerlichen Verhältnisse mit der Wurzel ausrotten. Nirgends gedeihen die gewaltigen und gewaltbeladenen Widersprüche des Krieges zwischen Lohnarbeit und Kapital besser als unter der demokratischen Republik, unter der dieser Kernkrieg in seiner Reinheit ausgetragen werden kann. 1905 konnte die Partei der revolutionären Bolschewiki so offen auftreten wie noch nie. Lenin musste es mehrmals, auch Plechanow, regelrecht einhämmern, dass sich die Republik ohne Diktatur nicht wird behaupten können und dass der Weg zum Sozialismus nur über den politischen Demokratismus als Hauptbrücke zu ihm führt. Durch die demokratische Revolution wird der Bauer eine staatsbürgerliche Persönlichkeit und der Spießbürger Bürger. Tatsächlich hebt der Berufsrevolutionär Lenin diese Gedanken mehrmals hervor. Man müsse den Spießbürger „zwingen, die Wahl zu treffen zwischen der spießbürgerlichen Politik der Kadetten, der vor der „Konstitution“ (und was für einer !) im Staube kriecht, und der revolutionären Politik des sozialistischen Proletariats“. 20. Die Russen müssen erst einmal Staatsbürger einer bürgerlichen Republik werden, das ist eine Aufgabe, die die Bourgeoisie hätte lösen müssen und es erwies sich, dass diese Aufgabe von den sozialistischen Revolutionären übernommen wurde. Die Proletarier bekämpfen „die Feinde ihrer Feinde“. In sozialer Hinsicht beinhaltet der Demokratismus die Herausbildung einer freien Bauernklasse, die dann im Kampf um den Sozialismus auf dem Boden der demokratischen Republik eine schwankende Rolle spielen wird, „wie die Bourgeoisie sie jetzt im Kampf für die Demokratie spielt“. 21. Im Demokratismus wird der Kampf für den Sozialismus ein Volkskampf. Die historische Bedingung der sozialistischen Diktatur ist die demokratische. Die Neuiskristen hatten es geradezu vergessen, von der Republik zu sprechen ! Der Kampf für die demokratische Umwälzung birgt in sich den für die sozialistische. Sturz der Selbstherrschaft, Einsetzung einer provisorischen revolutionären Regierung (unter Teilnahme der Leninschen SDAPR), Einberufung einer konstituierenden Volksversammlung durch diese – das waren die einzelnen Schritte, die politischen Abläufe der Revolution von 1905 wenigstens auf dem Papier. Und diese Schritte hatte der Menschewismus nicht verstanden, er hatte nicht verstanden, dass man nur mit der revolutionären Demokratie zusammen (ein Abkommen als Ausnahme von der Regel), bei gleichzeitiger Paralysierung der wankelmütigen, Petitionen schreibenden liberalen Bourgeoisie die demokratische Revolution zu Ende führen kann. Für Lenin durchdachten die Menschewiki die Revolution nicht konsequent genug, er sah ihren Grundfehler in ihrem unsicheren und zaghaften Denken. Lenin und der III. Parteitag in London hielten nach Kontroversen mit den Menschewiki (die Rechten Plechanow und Martynow) eine Teilnahme von unter strenger Kontrolle der Arbeiterpartei stehenden bolschewistischen Bevollmächtigen an der provisorischen revolutionären Regierung (der revolutionären bürgerlichen Demokratie) für möglich und geboten, schwerpunktmäßig aus zwei Gründen: effektiv die Konterrevolution zu bekämpfen und die Eigenständigkeit der Arbeiterklasse und ihrer Partei zu wahren. Damit hätten sich die Bolschewiki an einer „Politik von oben“ beteiligt, was nach bolschewistischem Selbstverständnis nur in einer revolutionären Situation, dann aber eben prinzipiell zulässig sei. Die Möglichkeit einer Pluralität von provisorischen Regierungen war gegeben, was nicht dem bolschewistischen Ideal einer „jakobinistischen“ politischen und wirtschaftlichen Zentralisation im Sinne einer Organisation des Bürgerkrieges entsprochen hätte. (In Deutschland zum Beispiel unterlagen die Bauern 1525 und die Aufständischen im Mai 1849 wegen der Zersplitterung der revolutionären Kräfte). Das Ideal dieser Revolution wäre es für Lenin gewesen, als Prolog einer europäischen in die Geschichte eingegangen zu sein. Das war nicht der Fall, nicht einmal der Sturz des Zaren wurde erreicht. Die zeitbedingte Begehrlichkeit des Volkes manifestierte sich auch zunächst in vier Forderungen: Beendigung des imperialistischen Krieges, Einberufung einer verfassungsgebenden Nationalversammlung auf der Grundlage allgemeiner, direkter, gleicher und geheimer Wahlen, Achtstundentag und Amnestie für die politischen Gefangenen. Für die Bolschewiki war es wichtig, dass das Terrain erobert wurde, auf dem die großzügige Entwicklung einer selbständigen Klassenorganisation für die sozialistische Umwälzung möglich werden konnte. Und das war eben die bürgerliche Republik als die letzte Form der Klassenherrschaft vor deren Überwindung. Besonders aufschlußreich ist in dieser Hinsicht das Flugblatt zum 1. Mai 1905, das die Redaktion des "Wperjod" herausgegeben hatte und das von Lenin geschrieben war. Es endet mit dem Aufruf: "Es lebe die Freiheit der Arbeiter und Bauern, es lebe die demokratische Republik ! Nieder mit der zaristischen Selbstherrschaft ! " 22. Lenins Revolutionsschwärmerei ging soweit, dass er hoffte, Europa durch Russland mehrere Jahre als aufbrechenden Kontinent zu sehen, der westeuropäische Arbeiter sich auch erheben werde und den russischen Arbeitern zeigen werde, „wie man's macht“... und schlägt der Funke auf Russland zurück, so werden uns „mehrere Revolutionsjahrzehnte“ 23. ins Haus stehen. Das russische Proletariat, das für Lenin damals an der Spitze des revolutionären Weltproletariats stand, forderte den Achtstundentag - und WAFFEN ! Sie strahlte nicht nur nach Westeuropa aus, sondern auch nach Asien, insbesondere China, das 1911 eine bürgerliche Republik wurde. "Auf das Proletariat ganz Rußlands blickt jetzt mit fieberhafter Spannung das Proletariat der ganzen Welt" 24., denn die Flamme der Revolution hatte das ganze Land erfasst. Lenin träumte davon, daß der russische Brand Europa in Flammen setzen wird. 25. Diese Revolution stand vor zwei einzuschlagenden Wegen: dem "preußischen", für den sich auch Max Weber aussprach, und dem "amerikanischen", der erste hätte durch Ablösung, wie Weber schrieb, zu einem „gerechten Preis“, die Monarchie mit Herausbildung starker Kulaken bestehen lassen, der zweite würde durch Konfiskation zu einer bürgerlichen Republik von Farmern bei Aufhebung des gutsherrlichen Grundbesitzes führen, zur wirklichen Überwindung der Leibeigenschaft. Das russische Proletariat musste unbedingt für diesen zweiten kämpfen und dazu unbedingt das Bündnis mit den Bauern suchen. 26. Denn die Bauern, obwohl zersplittert, waren ebenfalls in Bewegung und formierten sich in der Partei der Trudowiki, die in der zweiten Duma cirka 140 Abgeordnete aufwies. Sie waren in dieser bürgerlichen Revolution radikaler, hatten eine stärkere revolutionäre Gesinnung als die Bauern in allen früheren Bauernbewegungen im Westen Europas. Es galt, sie dem ideologischen Einfluss der Kadetten zu entziehen. "Der ganz ungebildete, unentwickelte, politisch unerfahrene und parteimäßig nicht organisierte Mushik erwies, daß er unendlich viel weiter links stand als die Kadetten". 27. Auch seien die bewusst revolutionären Parteien, ihre Literatur und ihre Organisation in Russland 1905 unvergleichlich weiter entwickelt als 1789, 1848 und 1871 28., was Kautsky ihm in seinem Artikel „Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution“ bestätigte. Und gerade mit diesen Kadetten sollte nach der Meinung der Menschewiki das Proletariat die Revolution durchführen. Die Revolution zeigte die Klassen in Aktion, zeigte, welche sozialen Kräfte sind wie wirksam und schuf neue, höhere Formen des Klassenkampfes, und zwar innerhalb weniger Tage. Neue frische Kräfte wuchsen in den Fabrikstädten und auf dem Lande hervor, die vor dem Ausbruch der Streiks niemand vermutet hätte. Im Stillen hatten sich neue Kräfte herangebildet, die auch ein politisch geschultes Auge vor dem Ausbruch nicht erkennen konnte. Vor der Revolution handelte es sich "lediglich um den Vergleich von Doktrinen und Ideologien, um die Politik von Grüppchen; heute handelt es sich um den Vergleich des historischen Wirkens der Klassen und Massen, die dieser oder einer ähnlichen Ideologie folgen". 29. Und hinter dieser Massenbasis konnte das russische Volk nicht mehr zurückfallen. Es war ein revolutionärer Feuersturm, der Lenin und die Bolschewiki hellhörig machte. Aus all diesen Tatsachen von 1905 folgerte der Berufsrevolutionär, dass die Revolution in Russland gegenüber denen in Westeuropa Besonderheiten aufwies. "Bei uns ist der Sieg der bürgerlichen Revolution als Sieg der Bourgeoisie unmöglich. Eine scheinbar paradoxe Behauptung, aber trotzdem richtig". 30. Und das führte dann auch zur Verwirrung der Sozialrevolutionäre, die verneinten, dass es sich überhaupt um eine bürgerliche Revolution handelte. Das war nicht die einzige Verwirrung. Sie verneinten ebenso, dass sowohl die Bauern mit ihrem Kleineigentum als auch das eigentumslose Proletariat jeweils einen eigenen Klassencharakter hatten. Sie handelten nicht im Bündnis mit den Trudowiki, sondern verschmolzen mit ihnen.

In Keimformen finden wir in dieser Revolution, die 1907 abebbte, Klassenkampfformationen, die für die Epoche des Imperialismus eine archetypische Bedeutung haben, u. a. dialektische Prozesszusammenhänge zwischen Imperialismus - Krieg - Militärrevolte – Demonstrationen – Straßenkämpfe – Partisanentaktik und der Herausbildung von Abteilungen einer revolutionären Armee (Panzerkreuzer Potjemkin). Darüber hinaus können wir in dieser großen bürgerlich-bäuerlichen demokratischen Revolution Prozesszusammenhänge zwischen proletarischer und (revolutionärer) bürgerlicher Demokratie, zwischen Bauernbewegung, die durch Milliarden Fäden auch mit der städtischen Armut verknüpft sind, parteilosen, also neutralen Organisationen und kleinbürgerlichen Vereinbarern (Kadetten) verfolgen. Mannigfaltige Schattierungen der politischen Parteien bildeten sich heraus, die sich auf der Tribüne der zweiten, der Witteschen Duma in ihrer wahren Gestalt deutlicher abzeichneten als unten im Volksleben. 31. Die revolutionäre Gärung führte eine politische Klärung herbei, trennte in der Duma die Kadetten, die aus den Wahlen als klarer Sieger hervorgegangen waren, von den Trudowiki, die Land für die Bauern forderten und das Gesetz zur Abschaffung der Todesstrafe einbrachten. Für Lenin galt es, drei Strömungen: Arbeitererhebung - Bauernaufstand - Militärrevolte zu einem großen Strom zu vereinen. Große Bedeutung legte er auf die Beachtung des Prozesscharakters der Revolution, mit ihrem Fortschritt ändert sich auch die Zusammensetzung der Klassen und die Elemente des Volkes, die positiv zu ihr beitragen. Die Revolution gebar in einem überwiegend kleinbürgerlichen Land den in den entwickelteren kapitalistischen Ländern noch nicht angewandten politischen Massenstreik, der sich mit dem bewaffneten Aufstand verband und bildete Sowjets (und eine Sowjetbewegung) als Organe des Aufstandes, als Keimzellen einer provisorischen Regierung und als Keimformen des Absterbens jedes Staates 32. heraus, um aus der Komplexität der Ereignisse nur einige herauszugreifen. Der Ausgang der Revolution hing vor allem von der politischen Haltung der Kleinproduzenten ab. Für das Studium des Verhältnisses von Streik und Aufstand und über die Spaltung der revolutionären Partei (in Russland in Bolschewiki und Menschewiki) gibt uns diese Revolution ein überaus reichhaltiges Material. Die Achtstundentag- und die Gewerkschaftsbewegung, sowohl die offene als auch die geheime (und ihre Mischform), nahmen einen großen Aufschwung: „Aus dem Wirbel und Sturm, aus Feuer und Glut der Massenstreiks, der Straßenkämpfe steigen empor wie Venus aus dem Meerschaum: frische, junge, kräftige und lebensfrohe … Gewerkschaften“. 33. Auch nach der Auflösung der zweiten Witteschen Duma am 21. Juli 1906, dem Ende der kurzen Verfassungsperiode, und der Flucht der linken Abgeordneten nach Wyborg in Finnland, von wo aus sie zum Steuerboykott bis zur Wiedereinberufung einer neuen Duma aufriefen, sah Lenin in der Vereinigung des politischen Massenstreiks mit dem bewaffneten Aufstand das Gebot der ganzen politischen Lage. Rosa Luxemburg sah es anders, der Übergang in einen allgemeinen Volksaufstand sei noch nicht herangereift. Schon in dieser Revolution können wir eine fehlerhafte Politik des rechten Flügels der SDAPR verfolgen, beispielsweise eine der Mäßigung, der konstitutionellen Illusionen und des parlamentarischen Taumels, eine Politik, die sich in der Kontroverse zwischen Lenin und Plechanow, dem ideologischen Repräsentanten der Rechten, widerspiegelte. Sobald es um politische Praxis geht, fällt Plechanow unangenehm auf, er hatte die Menschewiki auf eine politische Position rechts von der revolutionären bürgerlichen Demokratie geführt. Lenin stellte ihm denn auch das deprimierende Zeugnis aus, in Russland hundertmal mehr Schaden angerichtet zu haben als Bernstein in Deutschland. Und auf Grund ihrer Keimformen kann ein Studium der Grossen Sozialistischen Oktoberrevolution trotz ihrer einzigartigen weltgeschichtlichen Kardinalität nicht in ausreichende wissenschaftliche Tiefen dringen, wenn man nicht ihre Vorläuferevolution mit ihren sowjetischen Ansätzen berücksichtigt, wie spontan, verschwommen und embryonal diese auch immer in der Zusammensetzung und im Funktionieren gewesen sein mögen. Sie waren schon 1905 Organe der Staatsmacht, Keime einer Diktatur, die gegen Organe einer anderen Staatsmacht stand. Die Sowjets waren außerhalb der Norm entstanden und waren als Diktatur der Volksmassen an keine Norm gebunden. Dieses Korrespondenzverhältnis zwischen 1905 und 1917 ist indeß verwickelter, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, der nur sieht, dass die Keime der Revolution von 1905, aus der die Bourgeoisie gestärkt herauskam, das Proletariat zwar unterlag, aber bewußtseinsmäßig den größten Sprung nach vorn machte, im Jahr 1917 einfach zur Blüte gegen diese Bourgeoisie gekommen waren, die unter ihr erstickte. Schrieb Lenin im Jahr 1905 noch: „Nur ganz unwissende Leute können den bürgerlichen Charakter der vor sich gehenden demokratischen Umwälzung ignorieren; nur ganz naive Optimisten können vergessen, wie wenig die Masse der Arbeiter bisher von den Zielen des Sozialismus und den Mitteln seiner Verwirklichung weiß“ 34., so klang das zwölf Jahre später in den berühmten „Aprilthesen“ bereits ganz anders: jetzt war das rückständigste, halbasiatische, halbbarbarische Land Europas mit der höchsten Analphabetenquote, die besonders unter den Bauern hoch war, auf einmal reif für die sozialistische Umwälzung. Aber sind zwölf Jahre ausreichend für die Entfaltung von Produktivkräften in eine Höhe, die einen Sprung in eine höhere geschichtliche Epoche, die des Sozialismus-Kommunismus gelingen lässt ? Viele Weg- und Kampfgefährten Lenins empfanden die Aprilthesen als eine Fieberphantasie ohne jeden Realitätsbezug. Wir finden schon 1905/06 nach der Niederlage des Dezemberaufstandes in Moskau einen überschäumenden Revolutionsoptimismus in den Schriften Lenins und auch Stalins („die Tage der Selbstherrschaft sind gezählt“), Lenin ist eifrig bemüht, Tatsachenmaterial zusammenzutragen, aus dem sich ein neuer Aufstand für eine demokratische Republik in Russland bereits im Frühjahr 1906 ableiten ließe, allerdings nicht, um in eine sozialistische Revolution in Russland überzugehen, das geschah erst 1917, sondern um vielleicht die Epoche der sozialistischen Revolutionen im Westen einzuleiten. 35. Im Denken der Revolutionäre um Lenin war der erste Anlauf zu überzeugend, so dass der zweite nur gelingen konnte. Im Februar, März und April 1906 stellte das Haupt der Bolschewiki Widersprüche zwischen der Selbstherrschaft und den Arbeitern und Bauern fest, die „zu schroff“ seien, um sich ungelöst weiterzutreiben. Im Mai 1906 stellte er den Beginn eines revolutionären Aufschwungs fest, er sei da, wenn auch noch relativ schwach. Dabei ist es geblieben, seine Hoffnung auf einen langwierigen Partisanenkrieg mit einer Reihe immer mehr an Umfang und Kraft zunehmender Soldatenaufstände der Bauernsöhne in Uniform, die aus den gärenden Dörfern in die Kasernen kamen, blieb unerfüllt, auch wenn er im Vergleich zu früheren Aufständen die Möglichkeit längerer Pausen zwischen den großen Schlachten einräumte. „Und kann man sich in der Zeit der Schwarzhunderterpogrome, der Gewaltakte der Regierung und der Polizeiwillkür vorstellen, das diese Unzufriedenheit der Soldaten anders zum Ausbruch kommt als in militärischen Aufständen ?“ 36. Der Kleinkrieg des Dorfes zündelte nur und breitete sich nicht, auch nicht potenziert durch die reguläre Bauernarmee über ganz Russland aus. Plechanow, dem Lenin Angst vor der Bauernrevolution und dem Plechanow „revolutionäre Romantik“ vorwarf, beurteilte die russische Aussicht wesentlich nüchterner. Es bleibt eine historische Tatsache, dass das erste Parlament in Russland durch die Initiative der Massen, durch den Oktoberstreik von der historischen Bühne verschwand, während der Witteschen Duma das gleiche Schicksal durch einen Federstrich der Selbstherrschaft ereilte. Doch auch diese zweite Auflösung deutete Lenin als einen revolutionären (obschon in der Form konstitutionellen) Akt 37. und musste sie gemäß seinem Revolutionskonzept auch so deuten. Es zeigte sich, dass eine vom Zaren einberufene Duma keinen lumpigen Heller wert ist. "Illusion um Illusion wird zerstört ...". 38. Das Ergebnis der russischen Revolution war 1906 eine Militär- und Polizeidiktatur der zaristischen Administration, in 82 von 87 Gouvernements tagten Standgerichte, selbst ein Parteitag der Kadetten war verboten. Die Revolution hatte also eine mächtige Konterrevolution hervorgetrieben, die nach der ersten Periode relativer Freiheit im Oktober die zweite der Witteduma beendete. Eine solche Diktatur konnte nicht ausbleiben, denn die Clique am Zarenhof bestand aus Militärs. Die Reaktion hatte also knallhart gehandelt, wie Reaktionäre überhaupt praktische Leute sind, die Erschießungsurteile der Standgerichte war eine Seite der Medaille des Kampfes gegen die Revolution, die andere war die Heranzüchtung einer wirtschaftlich stabilen Bauernbourgeoisie. Ziemlich genau zwei Jahre nach dem Ausbruch der Revolution, im Januar 1907, spricht Lenin von ihr zum ersten Mal als von ihrer Zeit (In der Zeit der bürgerlichen Revolution … 39., als ob sie nun doch schon historisch sei. Dann im Juni 1907 hat sie für ihn den tiefsten Niedergang erreicht. Nach der roten Flut begann eine Periode der Ebbe bis 1917. Aber 1912 kam es an den Goldfeldern der Lena zu Szenen, die an das Januarmassaker von 1905 erinnerten. Und 1914 sollte es noch einmal zu einem großen Petersburger Generalstreik kommen.

Illusionen nährten die Menschewiki auch nach der Auflösung der zweiten Duma in der Machtfrage, als es um die Nachfolgeregierung der Selbstherrschaft ging. Nach Auffassung der Menschewiki war das irgendein Kollektiv oder irgendeine Organisation im Bewußtsein des ganzen Volkes. Es fehlte in dieser Formulierung jede Spur des Klassenkampfes, dass eben nicht irgendein Kollektiv, irgendeine Organisation den Ausgang der Machtergreifung entscheidet, sondern die Kraft von Klassen. Durch sie sei eine Lage entstanden, die nur noch den bewaffneten Aufstand als Lösung ließe. Der Aufruf zum Generalstreik ist mittlerweile auch einer zum bewaffneten Aufstand. Lenin erkannte nach der Oktoberrevolution, dass dem Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion eine Kulturrevolution vorausgehen müsse. Im Januar 1923 findet sich dieser Gedanke in den Notizen aus Anlass der Aufzeichnungen von N. Suchanows. „Wenn zur Schaffung des Sozialismus ein bestimmtes Kulturniveau notwendig ist … warum sollten wir also nicht damit anfangen, auf revolutionärem Wege die Vorausssetzungen für dieses bestimmte Niveau zu erringen und dann schon, auf der Grundlage der Arbeiter- und Bauernmacht und der Sowjetordnung, vorwärtsschreiten ...“ 40. Arbeitermacht und Sowjetordnung aber sind primär politische Kategorien, keine ökonomischen. Man muss deutlich sehen, dass Lenin wusste, dass eine gewisse Abweichung der russischen Revolution vom klassischen marxistischen Revolutionsmodell vorlag, die aber immer noch „auf der allgemeinen Linie der Entwicklung der Welt“ 41. lag und dass er für die Eigentümlichkeit der Sowjetrevolution zwei Argumente ins Feld führte: die Oktoberrevolution hing mit dem ersten imperialistischen Krieg zusammen und sie fand auf einem Terrain statt, das man als euro- asiatisch bezeichnen kann. Die asiatische Komponente Russlands galt vor 18 Jahren noch als Fluch, als Ausdruck der Tatsache, dass die rein kapitalistischen Widersprüche in Russland noch „in sehr, sehr hohem Grade von den Widersprüchen zwischen 'Kultur' und Asiatentum, Europäertum und Tatarentum, Kapitalismus und Leibeigenschaft verdeckt werden … „ 42., so dass sich die ökonomischen und politischen Forderungen der Arbeiterklasse in der Revolution von 1905 in der Regel im Rahmen des Kapitalismus bewegten. In Lenins Schrift über die rote Revolution aus dem Jahr 1923 erscheint der Fluch nun als Segen. Aus Lenins Weltanschauung heraus konnte keine essentielle Abweichung des roten Oktober von der klassisch-marxistischen Gesetzmäßigkeit der proletarischen Revolution vorliegen, dann hätte wirklich alles auf dem Kopf gestanden. Die Vermutung drängt sich auf, dass erst im Nachhinein durch eine forcierte Kollektivierung der Landwirtschaft und durch eine „nachholende Industrialisierung“ die ökonomischen Fundamente der Oktoberrevolution gelegt werden mussten und dass bis dahin die Kampferfahrungen dreier Revolutionen: die von 1905, die der Februar- und die der Oktoberrevolution als Surrogat dienten, um letztere dadurch zu legitimieren, dass das russische Proletariat die tiefsten Revolutionserfahrungen in der Phase des Imperialismus gesammelt hätte und damit das revolutionärste der Welt sei. Schon Rosa Luxemburg hatte 1906 in ihrer Analyse der Revolution von 1905 von der russischen Arbeiterklasse geschwärmt: „Dem russischen Proletariat hat deshalb ein Jahr der Revolution jene 'Schulung' gegeben, welche dem deutschen Proletariat 30 Jahre parlamentarischen und gewerkschaftlichen Kampfes nicht künstlich geben können“. 43. Ja, sie ging noch weiter zu einer 'Dialektik der Rückständigkeit': Das zurückgebliebenste Land weise den fortgeschrittensten den Weg. 44. Der Generalsekretär dieses Proletariats müsste von daher dann auch auch der größte Revolutionär der Epoche sein. Die Machterhaltung Stalins wäre dann wesentlich davon abhängig gewesen, dass die ökonomische Einholung der politisch bereits vorausgeeilten Oktoberrevolution mit ihm gelänge, ja mehr noch, dass der technologische Fortschritt des Westens, der für ihn hundert Jahre betrug, in zehn Jahren aufzuholen sei. Oder die UdSSR werde zermalmt werden. Das alles aber stellt den historischen Materialismus vor Probleme, die man wohl kaum als nebensächliche abtun kann, im Gegenteil, sie bilden den Kern der Kontroverse zwischen Stalin und Trotzki um den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, den Stalin auch als singulär beschränkten für möglich hielt, während für Trotzki auf Grund der schiefen Lage zwischen Basis und Überbau in der Sowjetunion das Heil der Weltrevolution im Idealfall in der Weltarena, wenn nicht, wenigstens in den fortgeschrittenen Ländern Westeuropas zu finden war. Das war eine alte menschewistische Position, die von den “russischen Girondisten” schon während der demokratischen Revolution 1905 vertreten wurde. Durch die Oktoberrevolution, nach Lenin die tiefste Revolution in der Weltgeschichte, in einem Agrarland, 1917 arbeiteten nur sieben Prozent aller Arbeiter in der Industrie, hatten sich politische Dispositionen ergeben, die in den Gedankengängen der kühnsten Sozialisten nicht vorgekommen waren. Es dauerte wiederum zwölf Jahre, von 1917 bis 1929, bis eine weitere Revolution zu verzeichnen war, die Kollektivierung der Landwirtschaft als Kuriosum einer „Revolution von oben“ --- nach einer proletarischen Revolution !! Lenin sah die Möglichkeit einer weltgeschichtlichen Grundsicherung des Sozialismus weder global noch (west-)europäisch, sondern in der politischen und ökonomischen Ergänzung Russlands und Deutschlands. Die aus dem imperialistischen Weltkrieg geborene Oktoberrevolution hatte die Eigenart hervorgebracht, dass Russland alles an politischen Strukturen aufweisen konnte, was dem Sozialismus entsprach, Deutschland hingegen in ökonomischer Hinsicht die besten Bedingungen für diesen besaß. Sozialismus wäre, wenn Rußland Deutschland politisch und Deutschland Rußland ökonomisch ergänze. “Die Geschichte (von der niemand, vielleicht außer den menschewistischen Flachköpfen ersten Ranges, erwartet hatte, daß sie uns glatt, ruhig, leicht und einfach den “vollen” Sozialismus bringen werde) nahm einen so eigenartigen Verlauf, daß sie im Jahr 1918 zwei getrennte Hälften des Sozialismus gebar, eine neben der anderen, wie zwei künftige Küken unter einer Schale des internationalen Imperialismus. Deutschland und Rußland verkörpern 1918 am anschaulichsten die materielle Verwirklichung einerseits der ökonomischen, produktionstechnischen, sozialwirtschaftlichen Bedingungen und anderseits der politischen Bedingungen für den Sozialismus”. 45. Kurz: Sozialismus wäre ein Sowjetstaat vom Typus der Pariser Commune plus einer Wirtschaft mit großkapitalistischer Technik und planmäßiger Organisation, noch kürzer: Pariser Commune und deutsche Post, Sowjetmacht und Elektrifizierung. Es ist gewiß nicht falsch, in Lenins internationalem Revolutionskonzept Deutschland, das wie Russland am meisten unter den Folgen des Weltkrieges litt, eine Sonderrolle zuzugestehen, wie er ja die deutsche Sozialdemokratie bis 1914, bis zur Bewilligung der Kriegskredite, als Vorbild revolutionärer Geschlossenheit und Effektivität herausstellte. Die Zustimmung zu den Kriegskrediten hielt Lenin zunächst für eine Falschmeldung alliierter Geheimdienste. Aber die Geschichte verlief zu Lenins Überlegungen kontrovers. Schien der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt noch einmal auf leninistischer Linie zu liegen, so wissen wir heute, dass das weltgeschichtliche Recht der Existenz der Sowjetunion in der Zerschlagung des deutschen Faschismus lag. Das ist gewiß nicht wenig, kann aber marxistische Revolutionäre nicht befriedigen, für die sich das 20. Jahrhundert, wenigstens im europäischen Kontext, als eines der nicht erfüllten Hoffnungen erwies. Bereits 1905 hatte sich die Hoffnung der bolschewistischen Revolutionäre, dass die bürgerliche Bauernrevolution in Russland dem Proletariat in Westeuropa das Signal gäbe für eine historisch (längst) fällige proletarische Revolution nicht erfüllt. Die objektiven Voraussetzungen für diese galten im Denken Lenins als „vollauf herangereift“. Noch enttäuschender musste es für sie sein, dass selbst eine proletarische russische Revolution im Jahr 1917 ohne Signalwirkung blieb. Die russischen Bolschewiki, und nicht nur sie, hatten also zweimal vergeblich auf ein fortschrittlicheres Proletariat spekuliert. Stalin erkannte nüchtern, dass die Oktoberrevolution für längere Zeit, lax formuliert, in ihrem eigenen Saft wird schmoren müssen. Es spricht für Stalin, dass er trotz dieses enormen Widerspruchs – eine bürgerliche Revolution kann aus ihrer Ideologie heraus ein nationales, singuläres geschichtliches Ereignis bleiben – der Fahne des Oktobers treu blieb und ihr folgerichtig die Direktive gab: alles oder nichts ! An der Spitze des Weltproletariats zu stürmen oder unterzugehen. Dieses „nationalbolschewistische“ Unterfangen brach die phantastischen Weltrevolutionspläne aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts ab, keineswegs abrupt, es gab lange und langatmige Debatten in bolschewistischen Versammlungen und in Zeitschriften, ehe Stalin sich durchsetzte. Sozialistische Anfangserfolge waren durchaus zu verzeichnen (zum Beispiel Stachanow und die nach ihm benannte Bewegung), ehe der kolossalste Krieg der Weltgeschichte alles in Frage stellte. Die Eiszeit des „Kalten Krieges“ ließ keine kommunistischen Keime aufkommen und gegen Ende des Jahrhunderts wurden wir Zeuge, wie die Oktoberrevolution durch Politiker, die in ihrem Namen und als ihre Nachfolger handelten, abgebaut wurde. Zwei Ereignisse sind es im 20. Jahrhundert im europäischen Kontext gewesen, die niemand im Prospekt hatte: die Februarrevolution 1917 und der Fall der Berliner Mauer.

Der ökonomische Kernwiderspruch der demokratischen Revolution von 1905 bestand darin, dass die Verteilung des Landbesitzes an die Kleinbauern, die man in den USA Farmer nannte, im Zuge einer aus dem Hauptantagonismus zwischen Bauern und Grundbesitzern sich bildenden kleinbürgerlichen Bauernbewegung die Grundbedingungen für eine wirkliche Entwicklung des Kapitalismus mit einer hohen Entwicklungsgeschwindigkeit der Produktivkräfte schaffen sollte. Zur Konfiskation standen 72,5 Millionen Desjatinen Gutsbesitzerland. Wir können in dieser Revolution zudem auch verfolgen, wie sich der wirtschaftliche Streik über den politischen General- und Massenstreik zum bewaffneten Aufstand steigerte. Sie reichte also nicht nur an diesen heran, sondern brach im Dezember 1905 in Moskau zum bewaffneten Aufstand durch. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert und aufschlussreich, dass die Bolschewiki bereits im April dieses Jahres auf ihrem III. Parteitag in London Resolutionen über den bewaffneten Aufstand beschlossen. Propaganda und Agitation sollten den Arbeitern Russlands nicht nur die politische, sondern auch die praktisch-organisatorische Seite des Aufstandes klarmachen, und auch erläutern, dass dieser Aufstand eng mit dem Massenstreik verflochten sein wird. Der Parteitag beschloss außerdem, besondere Gruppen von Parteifunktionären zu bilden, deren ausschließliche Aufgabe die Beschäftigung mit den Fragen eines bewaffneten Aufstandes einschließlich der Besorgung und Verteilung von Waffen war. Damit einher wurden Guerillamethoden auf lokaler Ebene empfohlen, um Erfahrungen für den bewaffneten Aufstand zu sammeln (einzelne Angriffe auf Polizei- und Militärkasernen, Überfälle auf Gefängnisse und auf Dienststellen der Regierung, Durchführung von Tages- und Nachtangriffen, Einrichtung von Patrouillen). (Stalin wird 1907 in Tiflis einen Banküberfall organisieren, der auch als Kleinkriegsmethode gewertet werden kann). Immer wieder hält Lenin die Guerilla zu leichten Scharmützeln an, die die Kräfte erprobt und die sich steigern werden. Selbstkritisch wurde auf dem Parteitag eingestanden, dass man im ganzen letzten Jahr die Bedeutung und Unvermeidlichkeit des bewaffneten Aufstandes als einzigen Weg unterschätzt hatte. Dem Führer der russischen Bolschewiki, W.I. Lenin, der ab November 1905 von Galizien aus (Galizien gehörte damals zu Österreich-Ungarn) aktiv an der Revolution teilnahm, gelang deshalb die tiefste Analyse dieser Revolution, weil er die verschiedenen in Russland vorhandenen revolutionären Strömungen in ihrer Gesamtheit berücksichtigte und er war es auch, der für das Weltproletariat die gründlichsten Schlussfolgerungen zog. (Das ist um so erstaunlicher, als er sich bis zum 8. November 1905 im „verfluchten“ Ausland aufhalten musste und der Revolution aus der Ferne als „Außenstehender“ „beiwohnte“. Erst am 8. November betrat Lenin russischen Boden). Zwar bildet die Polarität zwischen Proletariat und Bourgeoisie die Kernkonstellation der modernen Gesellschaft, aber um diese oder besser zwischen dieser sind viele Klassenschattierungen der nach Millionen zählenden großen Masse kleineigentümlerisch denkender Bauern und Kleinbürger in Stadt und Land, gegenüber diesen gigantischen Massen war das Proletariat in der Minderheit und damit auch das sozialistische Bewusstsein. Die Bedeutung der Intelligenz, von der sich immer ein Teil der Revolution anschließt, war verschwindend gering in dieser Revolution, in der revolutionäre und pseudorevolutionäre Bünde, Organisationen, Gruppen und Zirkel „sprang up like mushrooms“. Lenin hatte in der Revolutionsperiode jeden Monat fast dreihundert Briefe von sozialdemokratischen und parteilosen Soldaten erhalten und er sprach sich für eine Politik des gegenseitigen Austausches von Hilfeleistungen zwischen der sozialdemokratischen Partei und den Kindern der Revolution aus. Seine Bolschewiki standen bereit zur Revolution im Gegensatz zu den Menschewiki und diese zwei entgegengesetzten Linien werden von ihm auch als eine der Ursachen für die Niederlage der Revolution gedeutet. Er erkannte selbstkritisch, dass die russische "Organisation der Berufsrevolutionäre", die SDAPR, erst am Anfang ihrer Entwicklung stand (sie war erst zehn Jahre alt) und noch viel zu schwach war, die revolutionäre Energie zu bündeln und die Führung des Volksaufstandes zu übernehmen. Dass man unablässig an ihn denken, an ihm arbeiten, ihn vorbereiten muss, hatte Lenin schon in seiner im Winter 1901/02 geschriebenen parteipolitischen Schlüsselschrift "Was tun ?" zum Ausdruck gebracht. Der Aufstand war in der Entwicklungsphase des Proletariats ohne Abkommen mit der revolutionären Demokratie nicht möglich. 46. Selbstkritisch stellte er auch fest, dass die revolutionären Sozialdemokraten hinter der revolutionären Aktivität des Proletariats zurückgeblieben waren. 47. Jede Revolution löst die Aufgaben, zu deren Lösung sie imstande ist, eingedenk der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, dass sich in ihrem Entfaltungsprozess nicht immer nur Fortschritt auf Fortschritt anhäuft, sondern dass sie in ihrem Verlauf unterbrochen werden und auch zurückfallen kann. Die Revolution entlastet die Berufsrevolutionäre, da die Massen in ihr revolutionäre Tätigkeiten selbst verrichten, so dass den Berufsrevolutionären die Möglichkeit entsteht, sich auf die Kernfage der Revolution, auf den bewaffneten Aufstand, auf die Verbindung von Terror und Massenbewegung, auf die Zerstörung des Überbaus zu konzentrieren, denn die Revolution ist nichts anderes "als das Zerstören des alten Überbaus und das selbständige Auftreten verschiedener Klassen, die auf ihre Art einen neuen Überbau zu errichten trachten". 48. Aufschlußreich für das Denken Lenins ist ein von ihm angeführtes Gleichnis: "Eine revolutionäre Epoche ist für die Sozialdemokratie dasselbe, was die Kriegszeit für die Armee ist. Die Kader unserer Armee müssen erweitert, sie müssen von der Friedens- auf die Kriegsstärke gebracht werden, die Reservisten müssen eingezogen, die Urlauber zur Fahne zurückberufen werden, neue Hilfskorps, Truppenteile und rückwärtige Dienste müssen aufgestellt werden. Man darf nicht vergessen, dass es im Kriege unvermeidlich und notwendig ist, die Kontingente mit weniger gut ausgebildeten Rekruten aufzufüllen, die Offizieren auf Schritt und Tritt durch gemeine Soldaten zu ersetzen, die Beförderung von Soldaten zu Offizieren beschleunigt und vereinfacht vorzunehmen". 49. Ausbildung der Rekruten unmittelbar in den Kampfhandlungen selbst - Mao, dieser unermüdliche General, lehrte, das Kriegführen im Krieg zu lernen. Lenin war auch überzeugt, dass man in der Politik "oft vom Feind lernen muß". 50. Der Bürgerkrieg ist komplexer, schwieriger zu führen als ein gewöhnlicher Krieg. Die Unbestimmtheit des Krieges ist im ersteren größer, es gibt in ihm mehr Schwankungen und Überläufer und er hebt den Unterschied zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten auf, im Bürgerkrieg gibt es keine Bürger-Zivilisten. Pauschalisierungen, gar Phrasen sind auf alle Fälle verhängnisvoll und Lenin bemühte sich immer um eine präzise Klassendifferenzierung bei aufmerksamer Untersuchung aller politischen Bedingungen der jeweiligen Situation. Seine Einsicht, dass der Weg der russischen Revolution schwer und mühselig sei, dass jedem Aufschwung und Teilerfolg eine Niederlage folge, war unvermeidbar.

Am Vorabend der russischen Revolution und des russischen Bürgerkrieges von 1905 stand ein gewöhnlicher Krieg der imperialistischen Rivalität zwischen Japan (seit 1902 unterstützt von England, dem alten Gegner aus dem Krimkrieg) und Russland (unterstützt von Frankreich und Belgien) um überaus rohstoffreiche Territorien von Korea bis Ostsibirien. Der Zarismus expandierte immer mehr nach Osten und stürzte sich damit nach Lenin in ein wahnwitziges, „dummes und verbrecherisches Kolonialabenteuer“ 51. gegen das „Reich der aufgehenden Sonne“, das sich seit 1870 durch technisch-industrielle Modernisierungsschübe bei einem auf militärische Disziplin orientierten Arbeitsethos ebenfalls immer mehr ausbreitete. Die Liberalen in Russland sprachen von einer „asiatischen Gefahr“. Beide imperialistischen Mächte spekulierten auf einen Zerfall des chinesischen Großreiches und setzten auf Krieg, der in Russland eine mächtige Revolution auslöste, die es ohne ihn nicht gegeben hätte. Am 8. Februar 1904 entzündete sich an der japanischen Besetzung von Port Arthur, das seit sechs Jahren russisch war, der russisch-japanische Krieg, der mit einer schweren Niederlage der zaristischen Armee endete. 52. Der Fall von Port Arthur zeigte für Lenin an, dass eine ungemeine Beschleunigung der kapitalistischen Entwicklung bevorstand. Die Fäulnis des Zarismus war schonungslos aufgedeckt worden, die Generäle und Feldherren der zaristischen Armee erwiesen sich für Lenin als reine „Nullen“, die Verteidigung nach außen erwies sich als ein „übertünchtes Grab“. Man weiß nicht, ob Lenin mit dieser Bezeichnung auf d' Argenson anspielte, der 1739 das marode Frankreich des Absolutismus ebenfalls so charakterisierte. Das Imperium, das noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts der selbstbewusste Gendarm der europäischen Reaktion war (1849 schickte der Zar Nikolaus I. Truppen nach Ungarn zur Unterdrückung der Revolution), steckte in einer chronischen Krise, der auf dem politischen Mittelweg nicht mehr beizukommen war. "Die Kapitulation Port Arthurs ist der Prolog zur Kapitulation des Zarismus." 53. Nicht nur war der Sieg Japans, dieses Neulings auf dem imperialistischen Terrains, der erste Sieg einer nichtabendländischen Insel, einer asiatischen Rasse über eine europäische Grossmacht, diese musste auch noch den südlichen Teil der Halbinsel Sachalin abtreten. Die Weltöffentlichkeit wurde darauf aufmerksam, dass es erwachende „Völker des Ostens“, Japan, Indien, China gab, in China versuchte die Dynastie 1905 eine nach europäischen Muster organisierte Zentralbürokratie einzurichten, dass ein neuer Herd kommender Revolutionsstürme entstanden und dass der Manchesterkapitalismus anfällig geworden war. Aus der belgischen bürgerlichen Zeitung "L'Independence Belge" vom 4. Januar 1905 machte Lenin Auszüge, aus denen hervorging, dass die Bourgeoisie besorgt war über die Niederlage des Zarismus, war er doch das Bollwerk der europäischen Reaktion. (Nikolaus I. bot Friedrich Wilhelm IV. Kosaken zur Unterdrückung der Märzrevolution an). Warum ausgerechnet aus einer belgischen Zeitung ? Weil zum Beispiel das von belgischen Kapitalisten in die russische Industrie (besonders in den Eisenbahnbau) gesteckte Kapital von 24,6 Milliarden Rubel im Jahr 1890 auf 296,5 Milliarden Rubel im Jahr 1900 gestiegen war, also cirka um das zwölffache.

EXKURS: Die Kapitalisten der USA hielten sich auch auf Grund ihrer Isolationspolitik in der immer schwächer werdenden Tradition des Generals Washingtons mit Investitionen noch zurück, in Russland lediglich acht Milliarden im Jahr 1900 (im Vergleich das kleine Belgien 296,5 Milliarden Rubel, das große Russland war ihm gegenüber ein Schuldnerstaat), ihre Stunde sollte erst im Ersten Weltkrieg schlagen, als sie zum Hauptkreditgeber der Alliierten avancierten und diese in ihre finanzielle Abhängigkeit brachten. 54. Schon der Krieg mit Spanien 1898 hatte die USA in das Fahrwasser des Imperialismus gezogen und so die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert zum Beginn der Ära des Imperialismus gemacht. Man kann den Imperialismus durchaus als eine historische Entwertung des Eurozentrismus deuten, was mehr als nur eine seiner Facetten ist. Der Niedergang geht durch die höchste Reife hindurch. Die geschichtslose USA und das durch die fast drei Jahrhunderte währende Romanowherrschaft historisch vereiste Russland wurden im 20. Jahrhundert zu expansiv ausgerichteten Hegemonialmächten im globalen Sinn. Im Pazifik hatte sich 1904 / 05 das kleine Japan gegen das große Russland erhoben, frech und brutal. Der völkerrechtswidrige Überfall auf den Hafen Port Arthur kündigte die imperialistische Brutalität an, die in Russland eine patriotische Welle für den innerlich schon verfaulten Zarismus auslöste. Diese Brutalität kulminierte im zweiten sino-japanischen Krieg im Dezember 1937 im Massaker von Nanking, ein Kapitalverbrechen, das man denen der Hitlerschen Wehrmacht in Russland und anderswo getrost an die Seite stellen kann. Es waren die Aprilthesen Lenins, die bereits 1917 den Focus der Weltgeschichte auch auf die Völker des Ostens verschoben und man kann sowohl im ersten als auch im zweiten Weltkrieg Dekadenzkriege des Eurozentrismus sehen. Es spricht für Lenins politische Weitsicht, dass er noch vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges im März 1913 darauf aufmerksam machte, dass in Asien ein neuer Herd der heftigsten Weltstürme entstanden sei. 55. Die welthistorische Entwertung Westeuropas, man denke nur an den Niedergang des Commonwealth, war in der Mitte des Jahrhunderts abgeschlossen und dieser Teilkontinent litt fortan unter dem bleiernden Schatten eines stagnierenden kalten Krieges, in den sich der zweite Weltkrieg festgefahren hatte. Wie sehr hätte ein Napoleon an diesem kalten Krieg gelitten, der schon auf St. Helena schrieb: „Cette vielle Europe m' ennuie“. (Dieses alte Europa langweilt mich). In Westdeutschland kam es zu einem verhängnisvollen Überschneiden von politischer Emanzipation und politischer Reaktion: der studentischen 68er Bewegung wurde durch die in der Septemberwahl 1969 siegreiche, miltant-antikommunistisch ausgerichteten SPD der Todesstoß versetzt. Der Verzweiflungskampf der RAF gegen die Vernichtung des Kommunismus in Westdeutschland war und blieb ohnmächtig. Die Hinrichtung der Revolutionäre in Stammheim zeigte an, dass die sozialdemokratisch ausgerichtete Arbeiterbewegung zugleich auch den letzten Rest ihres eigenen revolutionären Potentials zu Grabe getragen hatte. Seitdem fault Deutschland vor sich hin. 56. Stumpfte in Westeuropa der Klassenkampf zwischen Arbeit und Kapital immer mehr auf sozialdemokratische Weise ab, so war mit dem Siegeszug der Maoisten in China, mit dem Koreakrieg, den beiden Vietnamkriegen, mit den nationalen antikolonialistischen Befreiungskriegen in Afrika und den anti-imperialistischen Emanzipationsbewegungen in Lateinamerika, die zu einem sozialistischen Kuba vor der Haustür der USA führten, die welthistorische Initiative vollends auf die südliche Halbkugel der Erde übergegangen. War in den Dakadenzkriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Guerillakriegführung recht marginal gewesen, so kann man in der zweiten Hälfte von einem wahren Boom dieser hinterhältigen Kampfweise sprechen, die in der Regel der Schwächere gegen den Stärkeren ergreift und die in Che Guevara ihre Ikone und in Mao ihren Theoretiker fand. Im weltgeschichtlich grau gewordenen Westeuropa erlebte die Stadtguerilla ein Fiasko nach dem anderen. Durch den Zusammenbruch der UdSSR hat sich nicht nur die Front des neuen, andersartigen kalten Krieges von der Elbe in die Ostukraine verschoben, ihr Kollaps hat vor der Weltöffentlichkeit der fortschrittlichen Menschheit am Ende des 20. Jahrhunderts die USA zum Terrorstaat allerersten Ranges entblößt, der heute aus einer perfiden Taktik heraus die Schlinge um den Hals des sozialistischen Kuba legt. Gegen diesen Terrorstaat kann es nur einen Kriegszustand allerersten Ranges geben, eine friedliche Koexistenz kann in keiner Weise greifen und zeigt an, dass man von allen guten dialektischen Geistern verlassen ist. Die nordkoreanischen Genossen machen es völlig richtig, jeden erwachsenen US-Bürger zunächst als einen Spion zu behandeln.

[...]

Fin de l'extrait de 141 pages

Résumé des informations

Titre
Die Russische Revolution von 1905. Die Generalprobe der Oktoberrevolution
Sous-titre
Der Kampf um die Republik und die weltgeschichtliche Bedeutung der Sowjets
Auteur
Année
2015
Pages
141
N° de catalogue
V298866
ISBN (ebook)
9783656953296
ISBN (Livre)
9783656953302
Taille d'un fichier
686 KB
Langue
allemand
Mots clés
russische, revolution, generalprobe, oktoberrevolution, kampf, republik, bedeutung, sowjets
Citation du texte
Heinz Ahlreip (Auteur), 2015, Die Russische Revolution von 1905. Die Generalprobe der Oktoberrevolution, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/298866

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