Komplexe Pflegesituationen. So einfach ist Pflege nicht


Thèse de Bachelor, 2013

56 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Zielsetzung und Fragestellungen der Arbeit
1.3 Methodische Vorgehensweise

2 Begriffsdefinitionen und Begriffsklärungen
2.1 Was ist Pflege?
2.2 Was ist Komplexität?
2.3 Kompliziert versus Komplex - der Unterschied: Emergenz
2.4 Kennzeichen von Komplexität und komplexen Problemen
2.4.1 Vielzahl an Variablen und Elementen und deren Vernetztheit
2.4.2 Dynamik
2.4.3 Intransparenz
2.4.4 Polytelie oder Vielzieligkeit
2.5 Was ist eine Pflegesituation?
2.5.1 Akute Pflegesituationen
2.5.2 Problematische Pflegesituationen
2.5.3 Nicht-problematische Pflegesituationen
2.5.4 Problemidentifizierende Pflegesituationen

3 Der Zusammenhang zwischen Pflege und Komplexität - ist Pflege komplex?
3.1 Das Metaparadigma der Krankenpflege
3.1.1 Person oder Mensch
3.1.2 Umwelt
3.1.3 Gesundheit
3.1.4 Pflege
3.1.5 Der Zusammenhang von Metaparadigma und Komplexität
3.2 Pflegemodell nach Jean Orlando

4 Methoden zur Reduktion von Komplexität
4.1 Der Pflegeprozess
4.2 Das Modell professioneller Fallarbeit in der Pflege
4.3 Kritisches Denken
4.4 Deutsche Nationale Expertenstandards in der Pflege

5 Schlussfolgerung und Empfehlungen

Zusammenfassung

In Pflegelehr- und -Lernbüchern des deutschsprachigen Raums wird die Thematik der Komplexität von Pflegesituationen kaum und völlig unzureichend behandelt. Fehlendes Basiswissen und Definitionen über die Bedeutung des Begriffes „Kom- plexität“ haben zur Folge, dass die Pflegewissenschaft in deutschsprachigen Län- dern unwissentlich komplexen Pflegesituationen nicht die ihr gebührende Beach- tung schenkt. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich deshalb mit dem umfassen- den Thema der Komplexität in der Pflege und versucht die Frage zu beantworten, ob Pflege an sich komplex ist oder nicht. Es wird außerdem ein Überblick über die Bedeutung der Begriffe „Komplexität“, „Kompliziertheit“ und „Situation“ gegeben und eine Klärung der Bedeutung des Begriffes „Pflege“ versucht. Ebenso Inhalt der Arbeit ist die Beschreibung der Zusammenhänge zwischen Komplexität und Pflege und die Beschreibung von Instrumenten oder Methoden die Pflegende in der Praxis anwenden können, um die Komplexität in Pflegesituationen in der Pfle- gepraxis zu reduzieren. Abschließend werden auch Empfehlungen zum Umgang mit Komplexität in der Pflegepraxis gegeben und zukünftige Anforderungen an die Pflegeausbildung benannt.

Abstract

In textbooks about nursing-studies in German speaking countries the subject of complexity in nursing care situations is hardly treated and if dealt with then in an absolutely inadequate manner. Lack of definitions what “complexity” is and as a consequence, deficiencies in basic knowledge lead to the result that nursing sci- ence in German speaking countries does not give complex nursing care situations the attention it deserves. Therefore, this paper deals with the comprehensive topic of complexity in nursing care and tries to answer the question whether or not nurs- ing care situations are complex. This paper also gives an overview on the precise meaning of the terms “complexity”, “complex”, and “situation” and tries to clarify, what “nursing” basically means. This paper also describes the link between

Complexity and nursing care and tries to define instruments or methods which are able to reduce complexity in nursing care situations. At the end of this paper there are also recommendations given how to handle complexity in the everyday prac- tice of nursing care and future needs for training and education in this profession are pointed out.

1 Einleitung

Die Erweiterung der Expertise für sogenannte komplexe Pflegesituationen, sowie der Aufbau von Fachwissen, praktischen Kenntnissen von Fähigkeiten und Fertigkeiten für die Bewältigung der immer komplexer werdenden beruflichen Anforderungen und Aufgabenstellungen in der Pflege, lassen sich als Ziele zahlreicher Studiengänge, im Bereich der Gesundheits- und Krankenpflege in Österreich, aber auch in Deutschland und in der Schweiz finden.

Über die Auslegung was denn nun eine sogenannte komplexe Pflegesituation von einer nicht komplexen Pflegesituation unterscheidet und was innerhalb der Be- rufsgruppe Pflege unter den Begrifflichkeiten „komplex“ und „Pflegesituation“ und dem Begriff „Pflege“ an sich verstanden werden soll, gibt es keine einheitliche De- finition.

In der pflegewissenschaftlichen Literatur findet sich keine klare Aussage oder De- finition dafür, was genau unter dem Begriff einer „komplexen Pflegesituation“ zu verstehen ist. Einzig Elsbernd (2000) beschreibt in ihrem Buch mit dem Titel „Pfle- gesituationen“ bedeutsame Elemente und Gestaltungsmöglichkeiten von Pflegesi- tuationen und berücksichtigt sowohl gelungene, als auch misslungene Pflegesitua- tionen, aus der Sicht der Pflegenden, aber auch aus Sicht der Patienten.

1.1 Problemstellung

Pflege befindet sich gerade zu diesem Zeitpunkt im Umbruch. In einigen Jahren werden sich die Tätigkeitsfelder und Zuständigkeitsbereiche in der Pflege neu definieren und gestalten.

Es scheint dem Trend zufolge so zu sein, dass sich die Pflege neu positioniert und im Sinne des sogenannten Skill and Grade Mix Tätigkeiten aus dem mitver- antwortlichen Tätigkeitsbereich in den eigenverantwortlichen Tätigkeitsbereich verlagert werden. Dadurch bedingt werden auch die beruflichen Anforderungen an die Berufsgruppe der Pflegenden steigen und sich verändern. Damit einhergehend nimmt auch die Komplexität im Handlungsfeld Pflege zu.

Für die Pflege ist es deshalb von großer Bedeutung, sich schon jetzt damit ausei- nanderzusetzen, was Komplexität im Zusammenhang mit Pflege bedeutet, um verstehen zu können, wie Pflege in einer immer komplexer werdenden Pflegepra- xis in Zukunft erfolgreich gelingen kann. Für die Pflege ist es außerdem wichtig, die von ihr erbrachten Leistungen sichtbar zu machen und beschreiben zu kön- nen.

Wie Gordon (2008, S. 22f) treffend anführt ist Pflege eine intellektuelle Arbeit die Reflexion erfordert - nur präsentieren Pflegende sie aber oft nur als Freundlich- keit.

1.2 Zielsetzung und Fragestellungen der Arbeit

Mit der vorliegenden Arbeit soll geklärt werden, was unter dem Begriff einer sogenannten komplexen Pflegesituation überhaupt zu verstehen ist, und welche Merkmale zutreffen und wahrgenommen werden müssen, damit eine Pflegesituation als komplex bezeichnet werden kann.

Um klären zu können, ob denn nun Pflege an sich als komplex bezeichnet werden kann, ist es erforderlich sich mit dem Thema Komplexität und des komplexen, sowie dem Begriff der sogenannten Pflegesituation an sich zu beschäftigen, um eine Basis für den richtigen Umgang mit diesen Begriffen zu schaffen.

Des Weiteren stellt sich die Frage, welche Arten von Pflegesituationen auftreten können und welche Anforderungen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und damit zusammenhängend welche Kompetenzen und welches Wissen Pflegepersonen für die Bewältigung oder Lösung von komplexen Pflegesituationen benötigen, um adäquate pflegerische Handlungen durchführen zu können.

Im Vorhinein erscheint es auch sinnvoll, sich näher mit dem Begriff Pflege auseinanderzusetzen, um herauszufinden, wie der Begriff Pflege definiert wird.

Es soll aufgezeigt werden, welche Bedeutung und Auswirkungen sogenannte komplexe Pflegesituationen für die pflegerische Praxis haben, wie mit Komplexität in der Gesundheits- und Krankenpflege umgegangen werden kann und ob es möglicherweise Methoden gibt, um mit sogenannten komplexen Pflegesituationen in der Pflegepraxis besser umgehen zu können.

Die vorliegende Arbeit soll im abschließenden Diskussionsteil die Ergebnisse zusammenfassen und folgende Fragen beantworten:

1. Wie definiert die Pflegewissenschaft Pflege? Bezeichnet sich die Pflege selbst als einfach oder komplex?
2. Was versteht man unter dem Begriff Komplexität und welcher Unterschied besteht zwischen komplexen und komplizierten Problemen oder Situatio- nen?
3. Was charakterisiert eine sogenannte Pflegesituation und welche Arten von Situationen können in der Pflegepraxis auftreten?
4. Gibt es Instrumente oder Methoden, die zu einer Reduktion von Komplexi- tät in Pflegesituationen führen?
5. Welche Empfehlungen können aufgrund der Ergebnisse für die Praxis ge- geben werden?

1.3 Methodische Vorgehensweise

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine Literaturarbeit. Die Literaturrecherche erfolgte im Internet unter Verwendung der Datenbanken PubMed, CINAHL und COCHRANE mit folgenden Suchbegriffen (care, caring, nursing, complexity, relationship). Es ergaben sich in der ersten Recherche nur wenig verwertbare Treffer. Zusätzlich wurde eine Literaturrecherche in mehreren österreichischen Bibliotheken durchgeführt.

Im Rahmen des Literaturrechercheprozesses wurden Pflegefachlehrbücher im deutschen Sprachraum gesichtet, um feststellen zu können, inwieweit sich die pflegerische Fachliteratur mit der Thematik von Komplexität in Zusammenhang mit Pflegesituationen bisher auseinandergesetzt hat und welche Bedeutung den Themen im Bereich der Pflege beigemessen wird.

Während der Literaturrecherche konnte festgestellt werden, dass in den USA und in Großbritannien Publikationen vorliegen, welche sich mit den Themen Pflege und Komplexität bereits näher beschäftigt haben. Deshalb wurde in der vorliegenden Arbeit auch englischsprachige Literatur mit einbezogen.

Da sich auch andere Bezugswissenschaften mit den Themen der Komplexität, Komplexitätsforschung und dem Begriff der Situation an sich näher beschäftigen, werden auch Erkenntnisse der Soziologie, der Systemtheorie, der Handlungstheorie und auch der Pädagogik, der Philosophie und des Managements näher beleuchtet, da dies zu einem besseren Verständnis beiträgt.

2 Begriffsdefinitionen und Begriffsklärungen

Um sich näher damit befassen zu können, was sich hinter den Begriff einer sogenannten komplexen Pflegesituation verbirgt, ist es zum Grundverständnis erforderlich, die verwendeten Begriffe zu definieren. Dazu muss zunächst auch die Frage gestellt werden, was denn Pflege selbst ist, beziehungsweise welche Definitionen von Pflege vorliegen. Da es nicht möglich und auch nicht zielführend ist sämtliche Definitionen von Pflege anzuführen, wurden die international bekanntesten Definitionen ausgewählt und näher betrachtet.

2.1 Was ist Pflege?

Virginia Henderson (1897- 1996), eine amerikanische Pflegetheoretikerin, hat be- reits 1960 ihre international bekannte Definition von Pflege publiziert. „Die einzig- artige Aufgabe der Krankenpflege ist es, dem einzelnen, krank oder gesund, bei der Durchführung jener Tätigkeiten zu helfen, die zur Gesundheit oder Rekonva- leszenz (oder einem friedlicherem Tod) beitragen, die er ohne Hilfe selbst durch- führen würde, wenn er die dazu notwendige Kraft, den Willen oder das Wissen hätte. Dies ist auf eine Weise zu tun, die dem Patienten die schnellstmögliche Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit erlaubt“ (zitiert nach Steppe, 1990, S. 585).

Pflege heute (2001, S. 2), eines der am meist bekannten und verwendeten Pflegelehrbücher im deutschsprachigen Raum definiert Pflege als: „eine soziale Dienstleistung von Menschen für Menschen, die sowohl die Selbstpflege, bei der es um die Gesunderhaltung der eigenen Person geht, als auch die Laienpflege, sowie die professionelle Pflege, bei der sich Pflegepersonen um die Gesunderhaltung oder das Gesundwerden anderer Menschen bemühen beziehungsweise sie in ihrem Kranksein oder Sterben müssen begleiten.“

Der International Council of Nurses (2010) definiert Pflege so: “Nursing encom- passes autonomous and collaborative care of individuals of all ages, families, groups and communities, sick or well and in all settings. Nursing includes the pro- motion of health, prevention of illness, and the care of ill, disabled and dying peo- ple. Advocacy, promotion of a safe environment, research, participation in shaping health policy and health systems management, and education are also key nurs- ing roles”.

Wie aus den verschiedenen Definitionen von Pflege klar hervorgeht kann festgestellt werden, dass keine einheitliche Definition von Pflege vorhanden ist obwohl zu Beginn der theoretischen Auseinandersetzung mit der Theorie der Pflege versucht wurde, eine solche allgemeingültige Definition zu finden. Heute ist man sich einig, dass ein so komplexes und vielfältiges Gebiet wie die Pflege mehrerer Definitionen und Theorien bedarf.

Lauber (2012, S. 11) untermauert dies, indem sie anführt, dass die Definitionen des Begriffs Pflege abhängig sind von der Sichtweise auf den zu pflegenden Menschen, dem sogenannten Menschenbild, dem Verständnis von Gesundheit und Krankheit, sowie den daraus abgeleiteten Pflegetheorien.

Für die Pflegepraxis und somit auch für die Gestaltung von sogenannten Patien- tensituationen stellen die pflegerelevanten Menschenbilder wie Lauber (2012, S.11) sie sehr gut darstellt, eine wichtige Funktion dar, weil sich dadurch Konse- quenzen für die berufliche Pflege und den Umgang mit den zu pflegenden Men- schen ergeben.

Vor allem das in sehr vielen Pflegetheorien vorzufindende ganzheitliche, holistische Menschenbild, welches den Menschen als Einheit von Körper, Geist und Seele wahrnimmt, muss in der praktischen Umsetzung physische, psychische und soziale Anteile und Bedürfnisse berücksichtigen (Lauber, 2012, S. 11).

Bereits durch die bisher angestellten Überlegungen, was denn nun Pflege ist, und welches Ziel Pflege verfolgt macht deutlich, dass dies mit wenigen Worten nicht möglich ist. Meleis (1999, S. 67) stellt fest, dass Pflege komplex ist und echte inhaltliche und methodische Autonomie benötigt.

2.2 Was ist Komplexität?

„Komplexität ist von Kompliziertheit zu unterscheiden. Der letztere Begriff wird alltagssprachlich synonym für konflikthaft, undurchsichtig oder verworren gebraucht. Ein komplizierter Sachverhalt (z.B. ein Entscheidungskonflikt) braucht aber nicht notwendigerweise komplex sein. Umgekehrt müssen komplexe Verhältnisse nicht kompliziert sein.“ (Simon, Clement und Stierlin, 1999, S.175).

Das Wort Komplexität leitet sich vom lateinischen Wort compectere ab, welches so viel wie zusammengesetzt, ineinandergreifend oder umfassend bedeutet. Komplexität bezeichnet im Allgemeinen die Eigenschaft eines Modells oder eines Systems, dessen Gesamtverhalten selbst dann nicht eindeutig beschrieben wer- den kann, wenn man sämtliche Informationen über seine einzelnen Komponenten besitzen würde.

Vester (1999, S. 16) führt an, dass Komplexität sehr viel mit Vernetzung zu tun hat und ist der Meinung, dass komplexe Vorgänge nur dann verstanden werden können, wenn das Denken in Zusammenhängen stattfindet. Dabei ist es von großer Bedeutung sich an den Strukturen organisierter Systeme und deren speziellen Dynamiken zu orientieren.

Im Managementbereich versteht man unter dem Begriff Komplexität die Tatsache, dass reale Systeme sehr viele unterschiedliche Zustände aufweisen können, und diese selbst in noch einfachen Fällen eine höhere Komplexität aufweisen, als man zu erfassen vermag.

Die Ursache von Komplexität besteht im Wesentlichen in den Interaktionen von Elementen und deren Vernetzung untereinander. (Malik, 2002, S. 186).

Reither, (1997, S. 9ff) der sich in seiner Publikation mit dem Thema des Komplexi- tätsmanagements beschäftigt, definiert den Begriff der Komplexität als einen un- angenehmen Tatbestand und führt weiter aus, dass demnach Komplexität An- sichtssache ist. Er definiert Komplexität als einen Zustand, der sich nach eigenen Kriterien prägend, immer in ständiger Veränderung auf das Ganze bezieht.

Der Systemtheoretiker Luhmann schreibt, dass komplexe Systeme unfähig sind, die eigene Komplexität zu erfassen weil dies bedeuten würde, dass das System komplexer als zuvor wäre. Als Grund hierfür gibt er an, dass das System dann zusätzlich auch eine Beschreibung der eigenen Komplexität enthalten müsste. Jede Selbstbeobachtung oder Selbstbeschreibung von Komplexität muss daher auf einer sogenannten Selbstsimplifikation beruhen (Luhmann, 1987, S. 75). Unter Komplexität versteht er kurz und prägnant: „Ein Sachverhalt ist dann komplex, wenn er aus so vielen Elementen besteht, dass diese nur selektiv zueinander in Beziehung treten können.“ (Luhmann, 1986a, S. 267)

Eingehend mit dem Thema Komplexität hat sich auch Dörner bereits 1989 in seiner vielbeachteten Publikation beschäftigt. Er definiert Komplexität als eine subjektive Größe. Ob eine Situation als komplex oder nicht komplex wahrgenommen wird hängt von der Erfahrung und dem Wissen der betroffenen Personen ab. (Dörner, 2012, S. 61; Reither, 1997, S. 9ff).

Benner (2000, S. 54ff) erkennt bereits in ihrer Publikation aus dem Jahre 1989 die Bedeutung von Erfahrung und Wissen bei Pflegenden in Zusammenhang mit Komplexität und bestätigt damit die Aussage sowohl von Reither (1997, S. 9), als auch von Dörner (2012, S. 6f1).

Benner verwendet nicht explizit den Begriff der Komplexität, sondern führt aus, dass in der Pflegepraxis Situationen auftreten, die um ein vielfaches vielschichti- ger sind als sie durch Pflegetheorien allein erfasst werden können. (Benner, 2000, S.54)

Casti (1979, S. 40) zeigt auf, dass der Begriff Komplexität in der Systemtheorie der am meisten strapazierte und zugleich am schlechtesten definierte Begriff ist:

„Off all the adjectives in common use in the systems analysis literature, there can be little doubt that the most overworked and least precise is the descriptor complex. In a vague intuitive sense, a complex system refers to one whose static structure or dynamic behavior is unpredictable, counterintuitive, complicate, or the like. In short, a complex system is quite complex - one of the principal tautologies of system analysis!” (Casti, 1979, S. 40f)

Luhmann (1993, S. 140f) ist der Ansicht, dass der Begriff der sogenannten Kom- plexität autologisch sei und meint damit, dass der Begriff selbst als komplex zu bezeichnen ist. Weil dies zutrifft, ist nach Luhmanns Auffassung der Begriff selbst- referentiell und meint damit, dass der Begriff Komplexität nicht einfach erklärt wer- den kann.

Lindberg, Nash und Lindberg (2008, S. 44) sind der Ansicht, dass „Florence Nightingale may have been the first nurse to use some Complexity Science princi- ples in her art and science.“ und ergänzen weiter: „Nightingale is widely credited as being the first nurse to study and reach an understanding of the interactive ef- fects of environment, hygiene, nutrition, and nursing actions on health and survey.“

Eine weitere Untermauerung, dass es sich bei Pflege um ein komplexes Phänomen handelt : „Nursing is itself a complex profession and our history recog- nizes the complexity involved in nursing care“. (Lindberg, Nash und Lindberg, 2008, S.44).

In der Literatur und im allgemeinen Sprachgebrauch werden die Begriffe komplex und kompliziert synonym verwendet. Eine Situation oder Gegebenheiten die nicht sofort verstanden, oder erklärt werden können, werden dann schnell als komplex bezeichnet. Um den Unterschied und die Bedeutung beider Begriffe verstehen zu können, wird näher beleuchtet, worin denn nun der Unterschied besteht und wie Merkmale von Komplexität beschrieben werden.

2.3 Kompliziert versus Komplex - der Unterschied: Emergenz

Im alltäglichen Sprachgebrach werden die beiden Begriffe oft irrtümlicherweise verwendet (Koch, 2007, S. 22). Ein kompliziertes System setzt sich aus vielen Systemelementen zusammen, die miteinander verknüpft sind und in Beziehung zueinander stehen. Für komplizierte Systeme ist charakteristisch, dass die Beziehungen zwischen den vielen einzelnen Elementen stabil sind.

Somit ist das Verhalten berechenbar. Komplizierte Probleme können nach Descartes Art gelöst werden, indem man es in Teilprobleme zerlegt und diese einzeln löst (Richter, 2009, S. 22). „Mit Hilfe der übersichtlichen Teile wird ein Verständnis des Gesamtsystems möglich.“ (Richter & Rost, 2002, S. 3)

Im Gegensatz dazu kommt beim sogenannten komplexen System zu den vielen stark verknüpften Systemelementen die starke Verknüpfung mit der Umwelt hinzu. Die Systemelemente unterliegen laufenden Veränderungen. Das System weist eine Eigendynamik auf. Es ist nicht vollständig beherrschbar und es gibt keine be- rechenbare beste Lösung. Das komplexe System kann jedoch durch gezielte Ein- griffe in der gewünschten Richtung beeinflusst werden (Richter & Rost, 2002, S. 3).

Eine Lösung nach dem Prinzip Descartes ist hier nicht möglich (Richter, 2009, S. 22). Eine Unterteilung in einzelne Teile wäre sinnlos, da die Eigenschaften der getrennten Teile nicht erfasst werden, oder gar nicht existieren. „Man spricht hier von Emergenz, oder etwas alltagstauglicher: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ (Richter & Rost, 2002, S. 3)

Komplexe Systeme bilden fernab ihres Gleichgewichtes spontan neue Formen und Eigenschaften, die in weiterer Folge nicht mehr einfach zu den bisherigen Elementen hinzugefügt werden können. Es erzeugen sich neue Ordnungszu- sammenhänge der Systemelemente in neuer Gestalt und Ausprägung (Mainzer, 2008, S. 42).

Nach Mainzer findet ein Entscheidungsverhalten unter den Bedingungen von Komplexität statt. Ihre nicht lineare Kausalität schränkt die Rationalität ein (Mainzer, 2008, S. 113). Ergänzend dazu führt Koch (2007, S. 22) aus, dass man die Kontrolle über Entscheidungen in einem komplexen System dann verliert, wenn die Zusammenhänge nicht mehr Ursachen-wirkungsbezogen sind, sondern sogenannte nichtlineare Effekte auftreten.

Die Selbstorganisation komplexer Systeme führt zur Emergenz neuer Phänomene, die auf neuen Stufen der Evolution auftreten. Das ist erforderlich, um die zunehmende Komplexität dieser Entwicklungen bewältigen zu können. Wie Mainzer festhält, birgt die Selbstorganisation aber auch die Gefahr, dass es zu einer unbeherrschbaren und nicht mehr beeinflussbaren Eigendynamik kommen kann, die ins Chaos führen kann (Mainzer, 2008, S.113).

Am Beispiel der Geschichte lässt sich dies Mainzer zufolge sehr gut darstellen. „Geschichte lässt sich in Phasenübergängen verstehen, die an Instabilitätspunkten in neue Ordnungen umschlagen, die wiederum instabil werden können, um neuen Ordnungen Platz zu machen“. (Mainzer, 2008, S. 113).

2.4 Kennzeichen von Komplexität und komplexen Problemen

In der Literatur finden sich von unterschiedlichen Autoren immer wieder Merkmale und Kriterien die sich miteinander decken (Dörner, 2012, S. 58; Funke, 2003, S. 126). So schreibt zum Beispiel Dörner (2012, S. 58) über die Merkmale der Kom- plexität und führt in deren Zusammenhang aus, dass es in allen sogenannten komplexen Situationen immer um die Bewältigung von Problemen in dynami- schen, miteinander vernetzten und intransparenten Zuständen geht. „Komplexität ist keine objektive Größe, sondern eine subjektive.“ (Dörner, 2012, S. 61).

Als mögliche Erklärung, warum es sich bei komplexen Situationen immer um eine subjektiv und nicht objektiv wahrgenommene Situation handeln kann, führt Dörner auf das Vorhandensein der von ihm definierten sogenannten Superzeichen an.

Superzeichen reduzieren Dörner zufolge Komplexität und resultieren aus der Er- fahrung des Handelnden in der jeweiligen Situation. Durch die Erfahrung des Handelnden werden viele Merkmale zu einem gebündelt. Es muss immer ein Ak- teur, oder eine Akteurin, mit persönlichem Superzeichenvorrat, welcher sehr un- terschiedlich sein kann, vorhanden sein. Je nach Zeichenvorrat ist die jeweilige Situation dann eben mehr oder weniger komplex (Dörner, 2012, S. 62).

Dörner führt als ein sehr gutes Beispiel die Situation von zwei Autofahrern an. Ei- ne Verkehrssituation, die für den ungeübten Autofahrer komplex wahrgenommen wird (viele unterschiedliche und gleichzeitig auftretende Variablen und Merkmale die gleichzeitiger Beachtung bedürfen) , wird vom routinierten Autofahrer nicht in einer Vielzahl von Elementen mehr wahrgenommen, sondern aufgrund seiner Er- fahrung als Gestalt, oder wie Dörner beschreibt, wie das Gesicht eines Bekannten (Dörner, 2012, S. 62).

Nach der Auslegung von Dörner handelt es sich beim Begriff Pflege um einen so genannten Komplexbegriff handeln. Dörner versteht darunter einen Begriff, der viele verschiedene Komponenten und deren Beziehungen zueinander erfasst (Dörner, 2012, S. 88).

2.4.1 Vielzahl an Variablen und Elementen und deren Vernetztheit

Als ein charakteristisches Merkmal von Komplexität führen Dörner (2012, S. 58) und Reither (1997, S.9) aus, dass komplexe Systeme aus sehr vielen Variablen bestehen, die untereinander vernetzt sind und sich dadurch gegenseitig auf unterschiedliche Weise beeinflussen.

Funke (2003, S. 126) erwähnt, dass der Grad der Komplexität einer Problemsituation traditionell durch die Anzahl der vorhandenen und beteiligten Variablen bestimmt wird und führt weiter aus, dass eine verlässlichere Aussage zur Komplexität einer Situation, oder eines Systems, erst durch die Berücksichtigung weiterer Kennzeichen möglich ist.

Vester (1999, S. 40f) sieht einen der größten Fehler im Umgang mit komplexen Gegebenheiten im mangelnden Verständnis an kybernetischen Vorgängen und begründet dies mit folgender Aussage:

„Bis in die Aufgabenbereiche der Verwaltung hinein betrachten wir sowohl unsere Umwelt, also Wasser, Boden, Wärme, Licht, Pflanzen, Tierwelt, Bodenlebewesen und Mikroorganismen als auch uns selbst mit unseren Städten und Fabriken,

Produkten und Abfällen als ein Nebeneinander einzelner Bestandteile, scharf ge- trennt in Behörden und Branchen, und erkennen nicht, dass jeder Lebensraum ein in seiner Gesamtheit ein komplexes System, ein Organismus ist.“ (Vester, 1999, S. 41).

[...]

Fin de l'extrait de 56 pages

Résumé des informations

Titre
Komplexe Pflegesituationen. So einfach ist Pflege nicht
Université
University of applied sciences
Note
1,0
Auteur
Année
2013
Pages
56
N° de catalogue
V298957
ISBN (ebook)
9783656953395
ISBN (Livre)
9783656953401
Taille d'un fichier
798 KB
Langue
allemand
Mots clés
Pflege, Komplexität, kompliziert, Pflegesituation, Pflegesituationen, komplex
Citation du texte
Edi Rasovsky (Auteur), 2013, Komplexe Pflegesituationen. So einfach ist Pflege nicht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/298957

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