Wichtige Veränderungen in der schweizerischen Medienlandschaft zwischen 1950 und der Gegenwart


Hausarbeit (Hauptseminar), 2015

30 Seiten, Note: 1.5


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Abgrenzung des Untersuchungsgegenstands
2.1 Definitionen des Medienbegriffs
2.2 Historische Verortung

3 Medienwandel ab 1950
3.1 Technologie- und regulationsgeschichtliche Perspektive
3.2 Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Perspektive
3.2.1 Kommerzialisierung
3.2.2 Konzentration
3.3 Öffentlichkeitstheoretische Perspektive
3.3.1 Funktionen von Öffentlichkeit
3.3.2 Gesellschaftliche Folgen des Medienwandels

4 Zusammenfassung und Diskussion
4.1 Die wichtigsten Veränderungen der Medienlandschaft
4.2 Kritik und Forschungsausblick

5 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, bedeutende Veränderungen in der schweizerischen Medienlandschaft zwischen 1950 und der Gegenwart im Überblick darzustellen und zu interpretieren. Dieses Unterfangen wirft zunächst einmal die Frage nach der zu wählenden wissenschaftlichen Herangehensweise auf, denn Mediengeschichte fällt sowohl in den Forschungsbereich der Geschichts- als auch der Publizistikwissenschaft. In der wissenschaftlichen Literatur finden sich kontroverse Aussagen über die entsprechenden Leistungen der zwei Disziplinen – sowohl von Historikern wie auch von Medienwissenschaftlern:

Hickethier (1999: 159) ortet in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft die Entstehung eines „neue[n] geschichtsbezogene[n] Denken[s] neben den rein gegenwartsbezogenen Zustandsanalysen“. Jarren (2001: 10) konstatiert, es gebe „bislang keine umfassenden sozialhistorischen Untersuchungen darüber, wie sich die gesellschaftlichen Kommunikations- und Medienstrukturen im historischen Verlauf entwickelt haben“. Schäfers (1998: 99) moniert hingegen „das Ausklammern der Geschichtswissenschaft bei Kommunikationswissenschaftlern“. Zudem konzentriere sich „der größte Teil der kommunikationsgeschichtlichen Darstellungen nach 1945 auf einzelne Aspekte in der Entwicklung eines Mediums“ (Schäfers 1998: 91). Crivellari/Sandl (2003: 620) fordern, “trotz gewisser Skepsis gegenüber dem hypertrophen Diskursfeld ‚Medien‘“, könne sich „eine kommunikationsbezogene Kulturwissenschaft wie die Geschichte dem Thema offenkundig nicht länger entziehen“. Faulstich (2012: 11) stellt wiederum fest, unter dem Sammelbegriff Mediengeschichte würden „fast ausnahmslos historiografische Zugriffe je nur auf ein Einzelmedium – Fernsehgeschichte, Buchgeschichte, Radiogeschichte, Plakatgeschichte, Filmgeschichte usw.“ verbucht. Mit Bezug auf die Schweiz spricht Meier (2010) von mediengeschichtlichen Forschungslücken im Allgemeinen und Clavien/Scherrer (2012) präzisieren, „die Erforschung der Pressegeschichte [sei] durch zahlreiche Einzelstudien geprägt und weis[e] deshalb erhebliche Lücken auf“.

Angesichts dieser konfliktbeladenen Ausgangslage sind zur Bearbeitung der Forschungsfrage zwei Kompromisse nötig. Erstens ist es weder im Interesse der wissenschaftlichen Auseinandersetzung noch im Sinn der vorliegenden thematischen Vorgabe, einzelne Medientitel oder –Gattungen zu untersuchen. Andererseits wäre es ein unrealistischer Anspruch, „alle“ Medien in der Erörterung inkludieren zu wollen. Zweitens scheint die vorliegende Fragestellung weder durch eine strikt geschichtswissenschaftliche, noch durch eine streng publizistikwissenschaftliche Herangehensweise – wenn es denn eine gäbe – bearbeitbar zu sein. In einem ersten Schritt bedarf es deshalb einer Abgrenzung des Untersuchungsgegenstands (Kapitel 2). Dafür wird zunächst in die unterschiedlichen Definitionen des Medienbegriffs aus publizistikwissenschaftlicher Sicht eingeführt (2.1). In der Folge wird die Genese verschiedener Mediengattungen vor 1950 im Überblick skizziert, um die jüngeren Entwicklungen einordnen zu können (2.2). In einem zweiten Schritt wird der Medienwandel ab 1950 aus drei Perspektiven beschrieben (Kapitel 3): Aus technologie- und regulationsgeschichtlicher Perspektive werden sowohl die Diffusion technologischer Innovationen als auch die zentralen medienrechtlichen Entwicklungen besprochen (3.1). Aus wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Perspektive wird auf die Wechselbeziehungen zwischen sozioökonomischen Faktoren und dem Medienwandel eingegangen (3.2). Darauf aufbauend, werden die gesellschaftlichen Folgen dieses Wandels aus einer öffentlichkeitstheoretischen Perspektive interpretiert (3.3). Zum Schluss werden die wichtigsten Erkenntnisse zusammengefasst und diskutiert (Kapitel 4).

2 Abgrenzung des Untersuchungsgegenstands

Die Begriffe „Medium“ oder „Medien“ zeichnen sich durch eine grosse definitorische Breite aus. Faulstich (2012) befasst sich in seinem Werk „Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts“ beispielsweise mit Medienformen die vom Theater über den Kinofilm bis zum YouTube-Video und vom Plakat über das Buch bis zur Zeitung reichen. Eine derart breite Definition von Medien ist für die Bearbeitung der vorliegenden Fragestellung nicht zweckmässig. Deshalb bedarf es vorab einer engeren Definition des Medienbegriffs (2.1). Aufgrund der thematischen Vorgabe dieser Arbeit ergibt sich eine räumliche und eine zeitliche Einschränkung. Dennoch ist ein kurzer Rückblick auf die Genese der Schweizer Massenmedien vor 1950 erforderlich, um die mediale Entwicklung ab 1950 historisch zu verorten (2.2).

2.1 Definitionen des Medienbegriffs

Die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft kennt verschiedene Kategorisierungen von Medien, die jeweils auf unterschiedliche Aspekte fokussieren. Stöber (2013: 439–441) schlägt beispielsweise eine „evolutionstheoretische Systematik“ vor, bei welcher sich aus Proto-Medien (z. B. Sprache, Gestik, Mimik), Basis-Medien (z. B. Schrift, Bild) und schliesslich Verbreitungsmedien (z. B. Presse, filmische Medien) herausgebildet haben. Letztere lassen sich wiederum in Gattungen (z. B. Flugblätter, Zeitung, bzw. Kino, Fernsehen) und schliesslich in Spezies (z. B. religiöses/politisches Flugblatt, bzw. Western-, Dokumentarfilm) unterteilen. Burkart (2003: 185) beschreibt hingegen primäre Medien, die zur Informationsvermittlung keine technischen Hilfsmittel benötigen (z. B. Tanz, Rede, Gesang); sekundäre Medien, für die der Sender technische Mittel zur Informationsvermittlung benötigt (z. B. Brief, Buch, Zeitung); tertiäre Medien, für die sowohl der Sender als auch der Empfänger technische Geräte benötigen (z. B. Telefon, Film, Fernsehen) und schliesslich quartäre Medien, die auf der Technik der Digitalisierung1 basieren und einer Internetverbindung bedürfen (z. B. Online-Nachrichtenportale, Blogs, soziale Netzwerke).

Beck (2006: 12) kategorisiert Medien anhand ihrer funktionalen Bedeutung: Übertragungs-, Verarbeitungs- und Speichermedien sind technische Mittel, die Signale, Daten usw. transportieren oder speichern (z. B. Telekommunikationsnetze, Kommunikationssatelliten, Schallplatten, DVDs). Dieser Kategorie übergeordnet sind Kommunikationsmedien, die Kommunikation zwischen Menschen(-gruppen) herstellen und dabei Bedeutungen vermitteln, welche durch die Empfänger interpretiert werden. Künzler (2013: 56f) illustriert anhand dieser Kategorisierung einerseits, dass die technologischen Eigenschaften von Medien die Verwendung spezifischer Zeichensysteme diktieren und andererseits, die gesellschaftlichen Bedingungen von Medien darüber bestimmen, wie diese in der Gesellschaft institutionalisiert, respektive eingebettet werden. Um in der vorliegenden Arbeit die „wichtigen Veränderungen der schweizerischen Medienlandschaft“ zu erörtern und zu interpretieren, ist diese Feststellung von zentraler Bedeutung, denn je nach „Gesellschaft und historischem Zeitpunkt werden andere Formen gewählt, um ein Medium in die Gesellschaft einzubetten und mit Politik, Wirtschaft und Kultur zu verbinden“ (Künzler 2003: 94–99; zit. nach Künzler 2013: 57).

Ein weiterer zentraler Faktor für die sozioökonomische Relevanz von medienvermittelter Kommunikation ist die gesellschaftliche Ebene, auf der sie stattfindet. Die vielzitierte Definition von Gerhards/Neidhardt (1993: 63–67) geht von drei Öffentlichkeitsebenen aus: Auf der niedrigsten Ebene, der Begegnungs-Öffentlichkeit (encounters) finden einfache Interaktionen von Personen statt, die sich an öffentlichen Orten zufällig treffen und spontan konversieren (z. B. Gespräch an der Bushaltestelle). Obwohl über die Wiederholung der Begegnungen und das Wiederaufnehmen von Gesprächsthemen die Kommunikation kontinuierlich weiter geführt wird, gilt diese Ebene der Öffentlichkeit als relativ fragil und Themen, Teilnehmer und Meinungen variieren über die Zeit. Auf der zweiten Ebene, der Versammlungsöffentlichkeit, findet das Zusammentreffen geplant statt und sowohl das Thema wie auch der Ablauf werden von den Organisatoren festgelegt (z. B. Diskussionsrunden, Kundgebungen).2 Die höchste Ebene, die Medienöffentlichkeit, wird über massenmediale Kommunikation hergestellt. Besonders in modernen Gesellschaften kommt der Medienöffentlichkeit eine zentrale Bedeutung zu, weil sie eine breitflächige, kontinuierliche Beeinflussung der öffentlichen Meinung ermöglicht. Innerhalb dieser Gruppe von Massenmedien weisen Zeitungen und Zeitschriften (nachfolgend auch Presse), Radio und Fernsehen (nachfolgend auch Rundfunk) sowie Online-Nachrichtenportale besondere publizistische Eigenschaften auf, die beispielsweise soziale Netzwerke, Blogs, Film und Buch nur bedingt erfüllen. Die sogenannten publizistischen Massenmedien zeichnen sich durch einen hohen Organisations- und Professionalisierungsgrad aus, sind auf die aktualitätsbezogene und kontinuierliche Abbildung von Wirklichkeit fokussiert und verfügen über permanent vorhandene Vertriebsnetze (vgl. Künzler 2013: 61–63).

In Hinblick auf eine sinnvolle Beschränkung des Untersuchungsgegenstands kann Folgendes festgehalten werden: Eine Auseinandersetzung mit „Medien“ aus wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Perspektive muss diejenigen Medienformen berücksichtigen, die für den zu untersuchenden Zeitraum für die gesellschaftliche Entwicklung am bedeutendsten sind. Für den hier zu bearbeitenden Zeitraum sind das die publizistischen Massenmedien Presse, Radio, Fernsehen und Online-Nachrichtenportale.

2.2 Historische Verortung

Die Presse, im oben beschriebenen Sinn, hat ihren Ursprung in der Zeit der Jahrhundertwende vom sechzehnten ins siebzehnte Jahrhundert, als sich die ersten Periodika herausbildeten. Etwa hundert Jahre später, während der Helvetik (1798-1803), kam es zu einer Gründungswelle von Lokal- und Regionalzeitungen, die mit einer teilweisen Aufhebung der bis zu diesem Zeitpunkt üblichen Zensur einherging. Insbesondere von den politischen Titeln überlebten viele aufgrund der Wiedereinführung von Zensurmassnahmen während der Mediations- und Restaurationszeit (1803-1830) nicht. Die Freiheit der Presse war neben der Volkssouveränität und Versammlungsfreiheit eine zentrale Forderung der liberalen Zeitungen während der Regenerationszeit (1830-1844).3 Mit der Gründung des Bundesstaats 1848 wurde die Pressefreiheit schliesslich in der Bundesverfassung verankert (vgl. Clavien/Scherrer 2012; Scherrer 2012b). Zudem wurde ein Modell indirekter Presseförderung eingeführt, indem der Versand von Presseerzeugnissen über eine Reduktion der Posttaxen vom Bund subventioniert wurde (vgl. Hugentobler 2003: 2).

Neben den liberalen und radikalen Blättern etablierten sich nun vermehrt konservative und sozialdemokratische Zeitungen, wodurch eine Partei- und Gesinnungspresse entstand. Neben diesen politischen und konfessionellen Einflüssen war die Entwicklung der Schweizer Presse zudem von sprachregionalen Eigenheiten geprägt.4 Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurden verschiedene technologische Innovationen eingeführt, wie beispielsweise der Rotationsdruck und die Setzmaschine. Die Etablierung internationaler Nachrichtenagenturen sowie eines effizienten Post- und Verteilservices beschleunigten zudem Produktion und Vertrieb. Die Anpassung an diese neuen Begebenheiten war mit Investitionen in neue Technologien verbunden, weshalb sich Zeitungen vermehrt durch Werbung zu finanzieren begannen (vgl. Clavien/Scherrer 2012; Scherrer 2012b). Dennoch währte die Politikverhaftung der Presse bis weit ins zwanzigste Jahrhundert. Überparteiliche Wochenzeitungen und publikumsorientierte Generalanzeiger ohne Parteisubventionen blieben in der Unterzahl. Die Berichterstattung der Partei- und Gesinnungspresse war von der jeweiligen Ideologie gefärbt und beschränkte sich weitgehend auf Informations- und Meinungsjournalismus. Themen- und Meinungsvielfalt entstanden durch die Fülle an Publikationen (Aussenpluralismus). Meinungsvielfalt innerhalb desselben Mediums (Binnenpluralismus) entstand als erstes im Radio (vgl. Blum 2003: 269).

Das Radio etablierte sich in den 1920er Jahren zum Informations- und Unterhaltungsmedium, nachdem es als Radio-Telegrafie und Radio-Telefonie vorwiegend vom Militär und der Zivilluftfahrt als Medium der interpersonalen Kommunikation eingesetzt worden war. Die neue Technologie verbreitete sich rasant. Innert weniger Jahre war trotz bescheidener Klangqualität ein vielfältiges Angebot entstanden, das von zahlreichen kleinen Sendern verbreitet wurde. Diese verfügten jedoch oft nicht über genügend Gebühreneinnahmen, um kontinuierlich ein konkurrenzfähiges Programm zu senden. Bereits 1931 wurde mit der Gründung der Schweizerischen Rundspruchgesellschaft (SRG)5 das Radio staatlich monopolisiert und das Programmangebot auf drei sprachregionale Landessender beschränkt. Nach dem Vorbild der British Broadcasting Corporation (BBC) wurde die SRG als gebührenfinanziertes Non-Profit-Unternehmen konzipiert, um von kommerziellen, politischen und staatlichen Interessen möglichst unabhängig zu sein (vgl. Schade 2000, 2013). Die Regulation des neuen Medium Radio hatte jedoch auch andere Hintergründe. Die Presseverbände hatten beispielsweise bereits in den Zwanzigerjahren Druck auf den Bundesrat ausgeübt, um Werbung am Radio zu verbieten (vgl. Schneider 2006: 86f).

Aus topografischen Gründen konnten die Radioprogramme in einigen Regionen trotz leistungsstarker Sender nicht in befriedigender Qualität empfangen werden. Aufgrund der zeitgleich stattfindenden Einführung des Telefonrundspruchs, wurde der Radioempfang zusätzlich über das Telefonnetz ermöglicht (vgl. Scherrer 2000: 61). Die Landessender etablierten sich in den Krisen- und Kriegsjahren bis 1945 über die Landesgrenzen hinaus als Informationskanäle, weil sie sich von der Propaganda des Staatsfunks der umliegenden Länder abhoben (vgl. Schade 2013; Scherrer 2000: 87). Und dies obwohl der Bundesrat im Rahmen der "geistigen Landesverteidigung" für die Dauer des Zweiten Weltkriegs (1939-1945) die Konzession der SRG ausser Kraft gesetzt und die Programmgestaltung unter staatliche Kontrolle gestellt hatte (vgl. Reymond 2000).

Das Fernsehen befand sich in der Schweiz zu dieser Zeit noch in einer experimentellen Testphase, wobei die SRG und die Post- Telefon- und Telegrafenbetriebe (PTT) die Entwicklung des Mediums im In- und Ausland intensiv beobachteten. Die eigentliche Etablierung des Fernsehens begann jedoch erst in der Zeit nach 1950 (vgl. Ganz-Blättler/Mäusli 2012). Dementsprechend wird das Fernsehen im folgenden Kapitel thematisiert.

3 Medienwandel ab 1950

Nachdem eine Einschränkung des Medienbegriffs sowie eine historische Verortung vorgenommen wurden, wird in diesem Kapitel der Medienwandel ab 1950 näher betrachtet. Dazu werden drei Perspektiven dargelegt: Aus technologie- und regulationsgeschichtlicher Perspektive werden sowohl die Diffusion technologischer Innovationen als auch die zentralen medienrechtlichen Entwicklungen besprochen (3.1). Aus wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Perspektive wird auf die Wechselbeziehungen zwischen sozioökonomischen Faktoren und dem Medienwandel eingegangen (3.2). Dabei wird insbesondere auf Prozesse der Kommerzialisierung (3.2.1) und Konzentration (3.2.2) der Medienlandschaft eingegangen. Darauf aufbauend, werden die gesellschaftlichen Folgen dieses Wandels aus einer öffentlichkeitstheoretischen Perspektive interpretiert (3.3). Dazu bedarf es vorab eines Exkurses zur Klärung der normativen Ansprüche an die Funktionen von „Öffentlichkeit“ (3.3.1). Auf dieser Basis lassen sich sodann die Folgen von Kommerzialisierungs-, Konvergenz-, und Konzentrationsprozessen einordnen (3.3.2).

3.1 Technologie- und regulationsgeschichtliche Perspektive

1950 verabschiedete der Europarat die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die unter anderem explizit die Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit als Grundrechte verankerte. Die Schweiz ratifizierte die Konvention jedoch erst 1974, wodurch die Pressefreiheit weitgehend in der Form von 1848 festgeschrieben blieb (vgl. Kley 2011).6 Die Pressefreiheit wurde in der Folge massgeblich durch die Rechtspraxis auf neue Medien angewandt (vgl. Capitani 2008). Dies gilt einerseits für das Radio, das 1950 bereits eine Million Empfängerkonzessionen aufwies und sich zudem – dank der raschen Verbreitung von tragbaren Transistorradios – zunehmend vom Einschalt- zum Begleitmedium entwickelte (vgl. Schade 2013). Andererseits trifft dies auch auf das Fernsehen zu, das nach fünf Jahren Versuchsbetrieb 1958 auf regulären Sendebetrieb in deutscher und französischer Sprache umstellte. Die Einführung der Ultra-Kurzwellen-Technologie (UKW) im Zuge der Fünfzigerjahre trug ebenfalls zur raschen Verbreitung des Rundfunks bei (vgl. Buschauer 2012; Schweizer Radio DRS 2009: 26). Dennoch standen weite Teile der Schweizer Bevölkerung dem neuen Medium Fernsehen skeptisch gegenüber. Dies äusserte sich unter anderem 1957, als ein erster Versuch zur Schaffung eines Verfassungsartikels als gesetzliche Basis für Radio und Fernsehen am obligatorischen Referendum scheiterte (vgl. Ehnimb-Bertini 2000: 184f). 1961 wurden zudem regelmässig Sendungen auf Italienisch und ab 1963 auf Rätoromanisch ausgestrahlt. Organisatorisch wurde das Fernsehen von Beginn weg eng an die SRG geknüpft, wobei wie beim Radio sämtliche technischen Belange den PTT anvertraut wurden (vgl. Ganz-Blättler/Mäusli 2012). Im Rahmen der Sendekonzession der SRG von 1964 wurden erstmals Information, Bildung und Unterhaltung als Kernaufgaben des Rundfunks explizit festgeschrieben. 1968 hatte die Zahl der Fernsehkonzessionen bereits die Millionengrenze überschritten. Im selben Jahr folgte zudem die Einführung des Farbfernsehens (vgl. Ganz-Blättler/Mäusli 2012).

Dank technologischer Innovationen konnte das Radio in den Sechzigerjahren mit den Autofahrern eine wachsende Hörergruppe erschliessen. Doch die konservative Programmkombination aus Informations- und Unterhaltungssendungen sowie Musik- und Kultursendungen fand bei der jüngeren Generation wenig Anklang, weshalb sich in der Schweiz empfangbare, ausländische Radiostationen mit progressiverem Programm wachsender Beliebtheit erfreuten (vgl. Schade 2013). Diese Tendenz spitzte sich im Verlauf der Siebzigerjahre zu, als Piratensender entstanden, die illegal in den grösseren Schweizer Städten sendeten sowie aus dem umliegenden Ausland in die Schweiz einstrahlten. Ein Versuch des Bundesrats, 1976 über eine Verfassungsänderung die Grundlage zur Neuordnung des Rundfunkbereichs zu schaffen, scheiterte an der obligatorischen Volksabstimmung. 1979 wurde auf internationalen Beschluss hin das bis zu dem Zeitpunkt der militärischen Nutzung vorbehaltene UKW-Frequenzspektrum für die zivile Radionutzung freigegeben. Bis dahin war die Monopolstellung des öffentlichen Rundfunks primär mit der Frequenzknappheit legitimiert worden. Diese Begründung wurde nun unterhöhlt, was den Weg für eine Liberalisierung ebnete. Angesichts des wachsenden öffentlichen Drucks, bewilligte der Bundesrat 1983 private, werbefinanzierte Lokalradios versuchsweise für einen beschränkten Zeitraum. Ein Jahr später wurde ein neuer Verfassungsartikel gutgeheissen, der die Liberalisierung des Rundfunks ermöglichte. 1992 trat schliesslich das Radio und Fernsehgesetz (RTVG) in Kraft und zwei Jahre später wurden erstmals Programme von kommerziellen Regionalfernsehsendern ausgestrahlt (vgl. Künzler 2012: 41–44). Das Gesetz enthielt einerseits den im Verfassungsartikel von 1984 festgeschriebenen, sogenannten Leistungsauftrag, der dem Rundfunk vorschrieb zu informieren, die kulturelle Entfaltung zu fördern, zu unterhalten sowie meinungs- und allgemeinbildend zu sein. Andererseits schuf es die Grundlage für das sogenannte Drei-Ebenen-Modell, das auf der lokal-regionalen und der internationalen Ebene privat finanzierten Rundfunk zuliess, während auf der sprachregionalen Ebene an der gebührenfinanzierten SRG festgehalten wurde (vgl. Künzler 2012: 52ff). Für die Zeitungsverlage bedeutete diese Marktöffnung einen massiven Eingriff in ihre Interessen. Eine formale Absicherung gelang ihnen mit der Aufnahme eines Absatzes, der die Rücksichtnahme auf die Stellung und Aufgaben der Presse vorschreibt (vgl. Trappel/Perrin 2006: 115).7

Eine bahnbrechende, technologische Wende begann sich ab den Neunzigerjahren im Zuge der Digitalisierung abzuzeichnen, welche sich sowohl auf die Produktionsabläufe, die Sende- und Empfangstechnik als auch auf das Nutzerverhalten auswirkte. Während in den Achtzigerjahren Schallplatten, Tonbänder und Filmrollen die Produktion von Rundfunkinhalten dominierten, begannen sich nun die Prozesse auf jeder Produktionsstufe an die neuen Möglichkeiten anzupassen. Die Satellitentechnologie ergänzte das seit den Sechzigerjahren kontinuierlich ausgebaute Kabelnetz. Zudem etablierten sich neue Verwendungen für die Endgeräte, beispielsweise der Fernseher als Textplattform, Filmabspielgerät oder Spielkonsole (vgl. Ganz-Blättler/Mäusli 2012; Scherrer 2012a). Diese Konvergenzprozesse – also die Auflösung der Grenzen zwischen verschiedenen Medien – wurden mit zunehmender Verbreitung des Personal Computers und dem dadurch 1995 einsetzenden Internet-Boom nochmals um ein Vielfaches verstärkt (vgl. Haber 2010, 2011). Die Internetnutzung in der Schweiz nahm Ende der Neunzigerjahre sprunghaft zu, wobei der Trend trotz einer gewissen Verlangsamung bis 2014 anhielt (vgl. BFS 2014). Der „Siegeszug“ des World Wide Web (WWW) veränderte im Allgemeinen den Umgang mit Informationen und im Speziellen, die journalistischen Produktions-, Darstellungs- und Verbreitungsmöglichkeiten sowohl der Presse, als auch des Radios und des Fernsehens (vgl. Faulstich 2012: 399–402). Bereits Ende 2004 hatten sich in der Schweiz eine Vielzahl an Online-Nachrichtenportalen herausgebildet (vgl. Trappel/Perrin 2006: 115).

Zwei zentrale Faktoren für die rapide Verbreitung des WWW waren die Steigerung der Leistungsfähigkeit bei tendenziell sinkenden Preisen. Die gesteigerte Leistungsfähigkeit bezieht sich dabei auf Fortschritte sowohl der Rechenleistung von Computern als auch im Ausbau der Kommunikationsnetze. Das Preisniveau bezieht sich sowohl auf die Preise der Endgeräte wie auch auf die anfallenden Nutzungskosten (vgl. Stöber 2013: 286ff). Auf dieser Basis entstand ab 2004 mit dem sogenannten „Web 2.0“8 eine weitere Evolutionsstufe hinsichtlich des Angebots und der Nutzung des WWW. Dabei gewann, neben der reinen Verbreitung von Informationen durch Webseitenbetreiber, die Nutzerbeteiligung an Bedeutung (vgl. Faulstich 2012: 403f). Der technologische Fortschritt und der Ausbau der Übertragungsinfrastruktur erlaubten die Beförderung und Verarbeitung immer grösserer Datenmengen, womit das WWW eine beispiellose Konvergenz von Text, Bild, Audio und Video ermöglichte. Dies verstärkte sich abermals mit der Diffusion mobiler Geräte wie Laptops und Smartphones (vgl. Faulstich 2012: 394–397). Die neuen technologischen Möglichkeiten bedeuteten für alle publizistischen Medien einen enormen Anpassungsdruck. Die hiesigen privaten Fernsehsender sahen sich zudem durch die zunehmende Konkurrenz durch ausländische Fernsehveranstalter bedroht. In der Folge wurde 2006 mit dem revidierten RTVG eine weitere Liberalisierung des Rundfunks beschlossen, welche die Auflagen im Rahmen des Leistungsauftrags für Privatveranstalter stark lockerte (vgl. Künzler 2012: 73–78).

Zusammenfassend kann Folgendes festgehalten werden: Die Veränderung der Schweizer Medienlandschaft war seit 1950 stark von technologischen Innovationen getrieben. Die Presse war aus technologie- und regulationsgeschichtlicher Perspektive bis in die Neunzigerjahre nicht direkt tangiert. Staatliche Kontrolle und Liberalisierungsprozesse wie beim Rundfunk gab es keine. Die staatliche Förderung beschränkt sich bis heute auf die Gewährung von postalischen Vorzugspreisen für abonnierte Zeitungen und Zeitschriften (vgl. Hugentobler 2003: 13). Doch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen, die Etablierung von Radio und Fernsehen und insbesondere die Entwicklungen im Zuge der Digitalisierung, brachten drastische Veränderungen mit sich. Diese werden im folgenden Kapitel näher betrachtet.

[...]


1 Haber 2010: 122) weist darauf hin, dass der Begriff „digital“ zwar meist mit dem binären Zahlensystem in Verbindung gebracht werde, das lediglich aus den Werten null und eins besteht, jedoch eigentlich nur auf Ziffern beruhend, respektive durch Ziffern ausgedrückt bedeute. Dennoch habe der Begriff eine hohe metaphorische Bedeutung erhalten, indem er als Chiffre für computerisiert, vernetzt oder schlicht modern verwendet werde.

2 Jarren/Donges (2011: 104) weiten die Definition der zweiten Ebene aus und beschreiben Themen- oder Versammlungsöffentlichkeiten als „thematisch zentrierte Interaktions- oder Handlungssysteme“.

3 Vgl. hierzu beispielsweise Maissen 2005: 29–44) im Fall der Neuen Zürcher Zeitung.

4 Vgl. hierzu Clavien (2012) für die französische, Mena (2012) für die italienische und Collenberg (2012) für die rätoromanische Schweiz.

5 Heute SRG SSR; Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (deutsch) Société suisse de radiodiffusion et télévision (französisch), Socièta svizzera di radio-televisione (italienisch), Societad svizra da radio e televisiun (rätoromanisch).

6 Vgl. zudem Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten 1974).

7 Vgl. zudem BV SR 101, Art. 93 Abs. 4.

8 Der Begriff Web 2.0 wurde mittlerweile weitgehend durch den Begriff Social Media abgelöst.

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Details

Titel
Wichtige Veränderungen in der schweizerischen Medienlandschaft zwischen 1950 und der Gegenwart
Hochschule
Universität Zürich  (Seminar für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte)
Note
1.5
Autor
Jahr
2015
Seiten
30
Katalognummer
V299058
ISBN (eBook)
9783656954606
ISBN (Buch)
9783656954613
Dateigröße
488 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
wichtige, veränderungen, medienlandschaft, gegenwart
Arbeit zitieren
Francesco Bizzozero (Autor:in), 2015, Wichtige Veränderungen in der schweizerischen Medienlandschaft zwischen 1950 und der Gegenwart, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/299058

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