Sprachgebrauch bei deutsch-polnischen Jugendlichen


Masterarbeit, 2011

90 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

English Summary

1. Einleitung

2. Was ist Bilingualismus?
2.1 Erstsprache, Zweitsprache, dominante Sprache und bevorzugte Sprache
2.2 Gleichzeitiger und nachzeitiger Erwerb zweier Sprachen
2.3 Entwicklung der Zweitsprache

3. Gegenseitiger Spracheneinfluss, Transfer und Interferenz

4. Sprachkontaktphänomene
4.1 Code-switching
4.1.1 Insertion und Alternation
4.1.2 Das Matrix-Language-Frame Model
4.1.3 Das 4-M-Modell
4.2 Lehnformungen
4.3 Konvergenzen
4.4 Zusammenfassung

5. Komparatistik Deutsch – Polnisch
5.1 Nomina
5.2 Das Genus
5.3 Der Kasus
5.4 Deklinationstypen
5.5 Konjugation von Verben
5.6 Die Syntax
5.7 Erste Schlussfolgerungen

6. Methodik und Datenkorpus
6.1 Die Gruppen der Informanten
6.2 Die Untersuchungsmethodik
6.2.1 Elizierte Daten
6.3 Aufnahmen von Spontandaten

7. Sprachstandsdiagnose

8. Strukturelle Analyse der Sprachkontaktphänomene der Gruppe 1
8.1 Code-switching
8.1.1 Insertions
8.1.2 Embedded Language Islands
8.1.3 Alternations
8.2 Lehnformungen
8.3 Konvergenzen
8.4 Weitere Besonderheiten
8.5 Zusammenfassung der Ergebnisse

9. Strukturelle Analyse der Sprachkontaktphänomene der Gruppe 2
9.1 Insertions
9.2 Embedded Language Islands
9.3 Alternations
9.4 Lehnformungen
9.5 Weitere Besonderheiten
9.6 Zusammenfassung der Ergebnisse

10. Vergleich der Sprachkontaktphänomene zwischen beiden Gruppen

11. Fazit und Ausblick

12. Literaturverzeichnis

13. Anhang

Transkriptionskonventionen

Abkürzungen

English Summary

This work, presented as a master thesis at the Universität Flensburg, provides a structural analysis of contact phenomena in bilingual speech of individuals who are proficient in German and Polish. The main focus of this work is the study of contact phenomena produced by speakers of different age groups and of different length of stay in Germany. Their individual language skills as well as differences between both language systems are also taken into account.

Data was collected from two groups: Group 1 consists of two females, aged 29 and 30, who were born in Poland but have been living in Germany for over 20 years. They speak Polish fluently whereas German is their dominant language. Group 2 consists of two boys at the age of 13 who moved from Poland to Germany two years ago. They are referred to as learners since they still show a number of deficits in their German language use. Their dominant language is Polish. Speech data was collected from both groups in order to look into the central questions mentioned above. The structural analysis focused on the morphological, syntactical and semantic level and was based on the MLF-model and 4-M model by Myers-Scotton. She points out that these models explain intra-sentential code-switching in respect of the behavior of languages and the distribution of morphemes in bilingual speech (cf. Myers-Scotton 1997: 3-7; 2002: 16-17).

This study reveals that speakers who are highly proficient in two languages produce more contact phenomena than individuals who are less proficient. Group 1 shows more contact phenomena in their bilingual speech than group 2. The latter still makes use of their first language and shows the production of interferences as a result of the different language systems. Still, there are a number of aspects that both groups have in common: All participants favor the structure of their dominant language by avoiding divergent structures and elements of the other language. Insertions are the most frequent type of contact phenomena whereas content words, particularly nouns, are embedded more often into the ML than function words. In most cases inserted nouns and adjectives are not integrated into the ML. Data also indicates that lexemes cannot always be adapted into the other language.

Furthermore, the differences between both languages make it difficult to produce intra-sentential alternations. It could also be concluded that group 1 shows more EL-islands and calques than group 2 as well as two kinds of convergence.

1. Einleitung

„Mehrsprachigkeit ist die Regel und Einsprachigkeit die Ausnahme“ (Riehl o.J.)

Statistiken zufolge, leben auf der Welt mehr mehrsprachige Menschen als einsprachige (vgl. Riehl o.J.). In Bezug auf Deutschland errechnete der Mikrozensus 2009 eine Bevölkerungszahl von knapp 82 Millionen, wobei ungefähr 15,7 Millionen davon Personen mit Migrationshintergrund ausmachten. Die größte Anzahl stammte aus der Türkei, Polen und Russland (vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland). Da die Annahme besteht, dass Personen mit Migrationshintergrund meistens zweisprachig sind, geben die vorliegenden Zahlen gleichzeitig Auskunft über die Anzahl mehrsprachiger Menschen in Deutschland (vgl. Müller et al. 2007: 9).

Wer die Kommunikation zwischen Zweisprachigen erlebt, stellt oft fest, dass Bilinguale über Sprachgebrauchsmuster verfügen, die Monolinguale nicht zeigen. Nach Grosjean stellen Sprachmischungen ein sehr häufiges Phänomen dar, welche sich durch den alternierenden Gebrauch von Wörtern, Phrasen und/oder ganzen Sätzen aus mehreren Sprachen innerhalb bilingualer Äußerungen auszeichnen (vgl. Grosjean 1982: 145-148; 308). Neben den lexikalischen Elementen, können auch grammatische und phonologische Elemente innerhalb eines Satzes aus mehr als einer Sprache stammen, welche Kühl als Sprachkontaktphänomene bezeichnet (vgl. Kühl 2008: 86).

Während einige Migrantensprachen bisher umfassend erforscht wurden – beispielsweise liegen zahlreiche Arbeiten zum deutsch-türkischen Sprachgebrauch vor – weist die Forschung in Bezug auf die deutsch-polnische Migrantensprache eine Lücke auf. Die vorliegende Arbeit leistet einen Beitrag, diese zu erfüllen und befasst sich mit folgenden Fragen:

1. Welche Besonderheiten und Sprachkontaktphänomene treten im Sprachgebrauch bei deutsch-polnischen Sprechern auf?
2. Welche Unterschiede ergeben sich in Bezug auf diese Aspekte zwischen jüngeren und älteren Bilingualen mit einer unterschiedlichen Aufenthaltsdauer in Deutschland?

Um diese Fragen zu beantworten, wurden zwei Gruppen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Aufenthaltsdauer in Deutschland untersucht. Die erste Gruppe besteht aus zwei Frauen im Alter von 29 und 30 Jahren, die beide seit über 20 Jahren in Deutschland leben. Die zweite Gruppe bilden zwei 13-jährige Jungen, die erst seit zwei Jahren in Deutschland wohnhaft sind. Um den zentralen Fragen dieser Arbeit nachzugehen, wurde die methodische Vorgehensweise nach Vorgaben des DFG-Projektes1 gewählt. Es wurden Sprachdaten sowohl in Form von Spontanaufnahmen als auch von elizierten Daten erhoben und unter Berücksichtigung der individuellen Sprachkompetenz auf die auftretenden Sprachkontaktphänomene analysiert.

Im ersten Teil der Arbeit erfolgt zunächst eine Begriffsdefinition von Bilingualismus und es wird auf den Zweitspracherwerb in verschiedenen Altersstufen sowie auf den gegenseitigen Spracheneinfluss eingegangen. Des Weiteren werden alle Formen von möglichen Sprachkontaktphänomenen dargestellt, wobei insbesondere auf zwei Modelle von Myers-Scotton Bezug genommen wird: Das MLF-Modell und das 4-M-Modell. Diese werden ausführlich beschrieben, da sie die Grundlage für die sprachliche Analyse stellen. Um das Auftreten bestimmter Sprachkontaktphänomene zu erläutern, erfolgt zunächst eine Gegenüberstellung der polnischen und deutschen Sprache, um dem Leser einen Einblick über die wichtigsten Merkmale beider Sprachsysteme zu geben. Anschließend daran wird die methodische Vorgehensweise erläutert und eine Sprachstandsdiagnose auf Basis der elizierten Daten sowie der Sprachdaten bei beiden Gruppen durchgeführt. Der nachfolgende Hauptteil der Arbeit befasst sich mit der strukturellen Analyse der auftretenden Sprachkontaktphänomene im bilingualen deutsch-polnischen Sprachgebrauch, wobei der Fokus auf die morphologische, syntaktische und semantische Ebene gelegt wird. Die Sprachkontaktphänomene werden unter Einbezug der bilingualen Kompetenz und der Unterschiede hinsichtlich beider Sprachsysteme ermittelt und begründet. Im anschließenden Teil werden Besonderheiten des Sprachgebrauchs beider Gruppen gegenübergestellt und verglichen und Antworten auf die beiden zentralen Forschungsfragen gegeben.

2. Was ist Bilingualismus?

Bilingualismus setzt sich aus den Begriffen bi (zwei) und lingua (Sprache) zusammen und bedeutet Zweisprachigkeit (vgl. Günther/Günther 2004: 36). Baker unterscheidet hierbei zwischen dem individuellen und dem sozialen Bilingualismus. Ersteres betrifft die Zweisprachigkeit einer einzelnen Person, wobei Letzteres sich auf die Zweisprachigkeit einer ganzen Gesellschaft bezieht, wie z.B. der Katalanen in Spanien (vgl. Baker 1993: 4-5). Personen dieser Gruppe sprechen neben ihrer Landessprache Spanisch ebenfalls die regionale Minderheitensprache Katalanisch (vgl. Kutzner 2003: 4-5). Eine objektive Begriffsbestimmung für Bilingualismus kann jedoch nicht vorgenommen werden, da Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, wie der Soziologie, Psychologie, Linguistik, Anthropologie sowie Erziehungswissenschaften diesem Begriff unterschiedliche Kriterien und Theorien zugrunde legen. Demnach differieren die Interpretationen von Bilingualismus je nach Forscher, wodurch auch die Definitionen voneinander abweichen (vgl. Hoffmann 1998: 17). Die Frage, in welchem Maße eine Person zwei Sprachen beherrschen muss, um als bilingual bezeichnet werden zu können, ist stark umstritten und reicht von minimalen bis zu maximalen Ansätzen (vgl. Baker 1993: 7-8). Von einer minimalen Annahme geht Macnamara aus, indem er eine Person bereits als bilingual bezeichnet, wenn sie eine der vier Grundfähigkeiten (Sprechen, Hören, Lesen oder Schreiben) einer zweiten Sprache aufweisen kann (vgl. Macnamara 1969: 82). Im Gegensatz dazu verfolgt Bloomfield den maximalen Ansatz (vgl. Bloomfield 1984: 56). Er definiert Bilingualismus als „native-like control of two languages“ (Bloomfield 1984: 56), demnach die Beherrschung zweier Sprachen auf muttersprachlichem Niveau. Bloomfields Definition gleicht den Kriterien, die an balanced bilingualism (balancierter Bilingualismus) gestellt werden. Laut Baker wird eine Person als balanced bilingual bezeichnet, wenn ihre Sprachkompetenzen in beiden Sprachen nahezu gleich gut ausgeprägt sind, so dass ein Individuum in beiden Sprachen fließend kommunizieren kann (vgl. Baker 1993: 8). Dem gegenüber betonen Kielhöfer und Jonekeit, dass eine nahezu gleich stark ausgeprägte Sprachfähigkeit in allen Bereichen der beiden Sprachen eine Rarität darstellt. Meistens wird eine Sprache weitaus besser beherrscht als die andere. Sie wird in diesem Fall als starke oder dominante Sprache bezeichnet und die andere als schwache Sprache (vgl. Kielhöfer/ Jonekeit 1995: 11-12).

Zusammenfassend kann man sagen, dass eine allgemeingültige Definition für Bilingualismus aufgrund der vielen unterschiedlichen Ansprüche, welche von den Forschern verschiedener Disziplinen an den Begriff gestellt werden, unmöglich erscheint und sich nur unter Berücksichtigung von den bereits erwähnten Unterscheidungen näher erläutern lässt (vgl. Baker 1993: 15). An dieser Stelle sollte Mackeys Stellungnahme in Betracht gezogen werden: Bilingualismus lässt sich nur willkürlich bestimmen und muss als etwas vollkommen Relatives betrachtet werden (vgl. Lambeck 1984: 26). Allen Definitionsansätzen gemein ist jedoch, dass es sich um die teilweise bis hohe Beherrschung der verschiedenen Aspekte zweier Sprachen, welche sich auf das Sprechen, Lesen, Verstehen und Schreiben beziehen, handelt.

2.1 Erstsprache, Zweitsprache, dominante Sprache und bevorzugte Sprache

Die Sprachen, die ein Individuum beherrscht, lassen sich laut Kühl unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Dabei besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der Erstsprache, der dominanten Sprache und der bevorzugten Sprache. Die Erstsprache ist die Sprache, die chronologisch als primäre Sprache erworben wird (vgl. Kühl 2008: 66-69). Demnach ist die Zweitsprache diejenige, welche nach der Erstsprache erlernt wird (vgl. Günther/Günther 2004: 33). Wie bereits erwähnt, besteht gewöhnlich ein Ungleichgewicht zwischen den Kompetenzen im Bereich des Lesens, Schreibens, Verstehens und Sprechens in beiden Sprachen: Eine davon wird meistens besser beherrscht als die andere und wird demzufolge als dominante Sprache bezeichnet. Die andere ist dann die schwache Sprache (vgl. Kielhöfer/Jonekeit 1995: 11-12). Der Grad der Sprachbeherrschung und damit die Bestimmung der dominanten Sprache, können mithilfe von Sprachtests und Sprachbeobachtungen gemessen werden (vgl. Kühl 2008: 68). Normalerweise bevorzugt der Bilinguale seine dominante Sprache bei freier Sprachwahl und nutzt sie häufiger. Je nach Kontext kann diese zwischen verschiedenen Lebensbereichen variieren und ist somit thema-, umgebungs- und erlebnisgebunden (vgl. Kielhöfer/ Jonekeit 1995: 12).

Darüber hinaus besitzt der Bilinguale eine bevorzugte Sprache. Diese muss nicht zwingend die Erstsprache oder die dominante Sprache sein (vgl. Kühl 2008: 68). Die persönliche Vorliebe für eine Sprache ist je nach Kontext verschieden und hängt von mehreren Faktoren ab, wie beispielsweise dem Gesprächspartner, der Situation oder dem Thema (vgl. Fishman 2007: 56-58). Ein Sprecher kann durch seine Sprachwahl vermitteln, welcher sozialen Gruppe er sich zugehörig fühlt, über welches Selbstbild er verfügt oder welche soziale Rolle er im Augenblick der Konversation einnehmen will (vgl. Kühl 2008: 68).

Weiterhin lässt sich Zweisprachigkeit in Bezug auf einen wichtigen Aspekt betrachten: Das Alter, ab dem ein Individuum eine weitere Sprache erwirbt (vgl. McLaughlin 1984: 72-73). Auf dieses Thema soll im nächsten Kapitel näher eingegangen werden.

2.2 Gleichzeitiger und nachzeitiger Erwerb zweier Sprachen

Wird ein Kind seit seiner Geburt oder bis zu seinem dritten Lebensjahr mit einer zweiten Sprache konfrontiert, so spricht man vom gleichzeitigen Erwerb zweier Sprachen. Lernt ein Kind nach seinem dritten Lebensjahr eine fremde Sprache, so handelt es sich um den nachzeitigen oder sukzessiven Erwerb einer Sprache. Hierbei muss jedoch betont werden, dass die Altersgrenze arbiträr gesetzt wurde (vgl. McLaughlin 1984: 72-73). Laut Meisel lässt sich der nachzeitige Erwerb zweier Sprachen in child second language acquisition und adult second language acquisition unterteilen. Ersteres betrifft den nachzeitigen Erwerb einer weiteren Sprache im Alter von fünf bis zehn Jahren, letzteres den nachzeitigen Erwerb ab einem Alter von zehn Jahren (vgl. Meisel 2007: 104-105). Diese Unterteilung des nachzeitigen Zweitspracherwerbs lässt sich mit Apeltauers Bezeichnung der frühen nachzeitigen und der späten nachzeitigen Aneignung gleichsetzen (vgl. Apeltauer 1997: 12-13).

Die wesentlichen Unterschiede zwischen dem gleichzeitigen sowie dem früh und spät sukzessiven Erwerb zweier Sprachen sollen im Folgenden verdeutlicht werden:

Beim gleichzeitigen Zweitspracherwerb ist die Entwicklung beider Sprachen mit dem Erstspracherwerb bei einsprachigen Kindern vergleichbar. Daher kann der gleichzeitige Zweitspracherwerb als Erwerb multipler Erstsprachen angesehen werden. Die Entwicklung der Sprachen ist sowohl bei monolingualen als auch bei bilingualen Kindern nahezu identisch und kann zu gleichen endgültig erworbenen Sprachkompetenzen in beiden Sprachen führen. Kinder, die gleichzeitig zwei Sprachen erwerben, besitzen die Fähigkeit die morphosyntaktischen Systeme beider Sprachen auseinanderzuhalten. Ebenfalls besteht die Vermutung, dass auf phonologischer Ebene eine Differenzierung beider Sprachen ohne Schwierigkeiten vollzogen werden kann (vgl. Meisel 2007: 95-100).

In Bezug auf den nachzeitigen Erwerb wird, wie bereits erwähnt, zwischen dem früh und spät sukzessiven Spracherwerb unterschieden. Meisel sowie Auer und Wei betonen, dass sich der frühe und späte Zweitspracherwerb stark vom gleichzeitigen Erwerb zweier Sprachen unterscheidet. Ältere Lerner stützen sich mehr auf ihre kognitiven Fähigkeiten sowie auf die Kenntnisse ihrer Erstsprache (vgl. Meisel 2007: 106-107; Auer/Wei 2007: 24). Fest steht, dass je später ein Individuum eine weitere Sprache erwirbt, desto mehr richtet er sich nach den bestehenden Strukturen der Erstsprache und versucht die Zweitsprache in diese aufzunehmen (vgl. Apeltauer 1997: 68). Weiterhin geht Meisel davon aus, dass nur selten eine muttersprachliche Kompetenz in der Zweitsprache erworben wird, wenn diese nachzeitig gelernt wird (vgl. Meisel 2007: 107).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der gleichzeitige Zweitspracherwerb vergleichbar mit dem Erstspracherwerb ist und in beiden Sprachen gleiche Sprachkompetenzen erworben werden können. Der wesentliche Unterschied zwischen dem gleichzeitigen und nachzeitigen Erwerb ist, dass beim Letzteren die Kenntnisse der Erstsprache sowie die kognitiven Fähigkeiten den Zweitspracherwerb beeinflussen.

McLaughlin und Grosjean weisen darauf hin, dass der gleichzeitige Zweitspracherwerb dennoch nicht darüber entscheidet, ob ein Individuum letztendlich bilingual wird oder nicht. Eine Person, die mit zwei Sprachen aufwächst, kann im Laufe ihres Lebens den Kontakt zu einer der beiden Sprachen verlieren. Der Grad des Bilingualismus hängt somit nicht unbedingt vom Alter ab, sondern vielmehr von psychosozialen Faktoren, wie beispielsweise dem Sprachgebrauch innerhalb verschiedener Lebensbereiche, dem Prestige der Sprache, der Motivation etc. Diese Faktoren bestimmen darüber, wann, in welchem Maße und wie lange ein Individuum bilingual ist und bleibt (vgl. McLaughlin 1984: 73; Grosjean 1982: 179).

2.3 Entwicklung der Zweitsprache

Aufgrund der kognitiven Möglichkeiten, die ältere Lerner besitzen, erfolgt der späte nachzeitige Spracherwerb eher analytisch und bewusst. Er ist kein linearer, sondern ein wellenförmiger Prozess, welcher die Entwicklung unterschiedlicher Fertigkeiten verlangt. Hierbei spielen die Prozesse Kontrolle, Automatisierung und Restrukturierung eine wesentliche Rolle (vgl. Apeltauer 1997: 89-94). In diesem Zusammenhang stellt Apeltauer die drei Entwicklungsstufen des Zweitspracherwerbs dar, wobei er sich auf die Vorgaben von Karmiloff-Smith stützt:

In der ersten Phase greift der Lerner auf die Kenntnisse seiner Erstsprache zurück und orientiert sich nach ihren Regeln. Es werden nur kurze Äußerungen gebildet, wobei das Sprachverhalten noch stark an die gegenwärtige Situation gebunden ist und die Äußerungen reflexhaft gebraucht werden. Bei längeren Äußerungen produzieren Lerner meist ganzheitliche Formeln (vgl. Apeltauer 1997: 93).

In der zweiten Phase orientieren sich Lerner an ihren inneren Regeln, der sogenannten Lernersprache. Sie richten sich nach sprachlichen Strukturen der Zielsprache und erschließen sich regelhafte Aspekte. Die Sprache wird bewusst gebraucht und intentional konstruiert sowie selbst gesteuert. Die Lernersprache ist eine Zwischenstufe auf dem Weg zur Zielsprache. In diesem Stadium werden die Kenntnisse einer Zweitsprache differenziert und rekonstruiert. Es werden neue Formen aufgegriffen und immer häufiger gebraucht bis sie automatisiert werden und im täglichen Gebrauch Verwendung finden. Das Anfangsstadium der Lernersprache ist gekennzeichnet durch noch fehlerhafte Verwendung der Äußerungen in der Zielsprache. Es werden noch viele Elemente vernachlässigt, wie zum Beispiel Funktionswörter, Vorsilben, Endungen, aber auch vereinzelt Verben oder Nomen. Auch die Wortstellung erfolgt zumeist willkürlich. Während des Lernprozesses neigen die Lerner zu Vereinfachungen von Satz- und Grammatikstrukturen, zu Übergeneralisierungen (z.B. singte statt sang) und zum Gebrauch hyperkorrekter Formen (z.B. singtete) (vgl. Apeltauer 1997: 93-94, 115-116).

In der dritten Phase richten sich Lerner zunehmend nach den Rückmeldungen von Kommunikationspartnern (Fremdkorrekturen), sprachlichen Daten sowie an ihren inneren Regeln. Sie neigen ebenfalls zu Selbstkorrekturen, wenn sie Widersprüche und Unzulänglichkeiten in ihrem Sprachsystem erkennen. Auf diese Weise werden bereits verinnerlichte Muster restrukturiert und die Lernersprache differenziert, so dass sich diese stetig dem Sprachgebrauch von Muttersprachlern nähert (vgl. Apeltauer 1997: 93-94).

Wie bereits in Kapitel 2.2 erwähnt, haben Kenntnisse der Erstsprache einen großen Einfluss auf den Erwerb einer Zweitsprache. In diesem Zusammenhang stellen sich folgende Fragen: Inwieweit beeinflusst die Erstsprache die Zweitsprache? Kann die Zweitsprache auch einen Einfluss auf die Erstsprache ausüben? Mit dieser Thematik befasst sich das folgende Kapitel.

3. Gegenseitiger Spracheneinfluss, Transfer und Interferenz

In Kapitel 2.1 wurde bereits darauf hingewiesen, dass meistens eine der beiden Sprachen besser beherrscht wird und diese demzufolge als dominante oder stärkere Sprache bezeichnet wird. Müller et al. weisen darauf hin, dass sich ein Zusammenhang zwischen der Sprachdominanz und dem Spracheneinfluss feststellen lässt. Wenn Bilinguale ihre schwächere Sprache sprechen, lassen sie Elemente und Strukturen der dominanten Sprache einfließen, um fehlende Wortlücken zu schließen und somit die Kommunikation mit ihren Gesprächspartnern aufrechtzuerhalten. Dies bezieht sich auf die syntaktischen, morphologischen, semantischen und phonologischen Aspekte. Jedoch wurde ebenfalls nachgewiesen, dass nicht nur die Sprachdominanz für den Spracheneinfluss verantwortlich ist. Auch bei Kindern, die gleichzeitig zwei Sprachen erwerben und/oder balanciert bilingual sind, lässt sich der gegenseitige Einfluss beider Sprachen feststellen, welcher auf die grammatischen Eigenschaften der Sprachen zurückzuführen ist. Darüber hinaus wird als ein wesentlicher Spracheneinfluss das gemischtsprachliche Sprechen betrachtet. Dieser lässt sich sowohl in der schwächeren als auch in der stärkeren Sprache nachweisen, das heißt, dass dieser Spracheinfluss nicht notwendigerweise von der dominanten Sprache ausgehen muss. Daraus lässt sich schließen, dass sich die Sprachen im bilingualen Sprachgebrauch gegenseitig beeinflussen (vgl. Müller et. al 2006: 86-92). Grosjean stellt jedoch die Hypothese auf, dass Bilinguale, die eine stark dominante Sprache haben, mehr zu Sprachmischungen neigen wenn sie ihre schwächere Sprache sprechen als wenn sie ihre dominante Sprache gebrauchen. Sie sind nicht in der Lage die Sprachen in der Weise zu kontrollieren wie balanciert Bilinguale (vgl. Grosjean 2008: 63). Das Einbringen der Elemente und Strukturen von der einen in die andere Sprache wird allgemein als Transfer bezeichnet. Ähneln sich zwei Sprachen in bestimmten Bereichen, so kann der Lerner Strukturen der Zweitsprache besser verstehen und diese von der Erstsprache in die Zweitsprache übertragen. In diesem Fall ist der Transfer für den Zweitspracherwerb hilfreich und wird als positiver Transfer bezeichnet. Werden inkorrekte Formen übertragen, handelt es sich um negativen Transfer oder Interferenz. In diesem Fall unterstützt die Erstsprache nicht den Zweitsprachenerwerb sondern behindert diesen (vgl. Matras 2009: 74).

Es kann somit festgehalten werden, dass der Einfluss zweier Sprachen bidirektional verlaufen kann und Bilinguale dazu neigen, Elemente und Strukturen der einen Sprache auf die andere zu übertragen. Kühl bezeichnet „alle Fälle, in denen lexikalische, strukturelle oder phonologische Elemente aus mehr als einer Sprache in derselben sprachlichen Einheit (Satz) vorkommen“ (Kühl 2008: 86) als Sprachkontaktphänomene.

In diesem Zusammenhang soll im nächsten Kapitel detailliert auf die möglichen Sprachkontaktphänomene eingegangen werden, welche sich bei Bilingualen feststellen lassen.

4. Sprachkontaktphänomene

Sprachkontaktphänomene lassen sich in drei verschiedene Gruppen einteilen: Code-switching, Lehnformungen und Konvergenzen. Obwohl sich alle drei Arten voneinander unterscheiden, können sie in bilingualen Sprachäußerungen auch in Kombination auftreten (vgl. Kühl 2008: 87).

4.1 Code-switching

Ein häufiges und charakteristisches Phänomen, das sich bei Bilingualen feststellen lässt, ist das sogenannte code-switching (vgl. Grosjean 1982: 145-146). Grosjean definiert es als „the alternate use of two or more languages in the same utterance or conversation” (Grosjean 1982: 145). Demzufolge bedeutet dies, den alternierenden Gebrauch zweier oder mehrerer Sprachen innerhalb der gleichen Äußerung oder Konversation. Grosjean betont, dass code-switching ein typisches Phänomen in Unterhaltungen zwischen Bilingualen darstellt und dieses meist unbewusst geschieht. Code-switching ist von unbestimmter Länge und kann ein Wort, eine Phrase, einen Satz oder mehrere Sätze umfassen (vgl. Grosjean 1982: 146-148, 308). Dabei kann der Sprachwechsel innerhalb eines Satzes erfolgen oder zwischen zwei Sätzen. Ersteres wird als intrasentenzielles code-switching bezeichnet und Letzteres als intersentenzielles code-switching (vgl. Myers-Scotton 1997: 3-4).

Hinsichtlich des intrasentenziellen code-switchings bestehen unterschiedliche Forschungsansätze seitens Muysken und Myers-Scotton, die im Folgenden aufgeführt werden sollen.

4.1.1 Insertion und Alternation

Nach Muysken gibt es zwei Arten von intrasentenziellen code-switching: insertion und alternation. Bei insertions handelt es sich um einzelne Konstituenten einer Sprache B, die in den grammatischen Rahmen einer anderen Sprache A eingesetzt werden und somit in einer A-B-A-Struktur auftreten. Davon sind überwiegend Inhaltswörter betroffen (v.a. Nomen, Verben und Adjektive), die oftmals einer morphologischen Anpassung in die Aufnehmersprache unterzogen werden. Neben dem Einfügen einzelner Konstituenten können auch ganze Phrasen aus verschiedenen Sprachen gewechselt werden, welche voneinander unabhängig sind und keiner syntaktischen Anpassung unterliegen. Sie treten in einer A-B-Reihenfolge auf und werden als alternations bezeichnet. Alternations treten besonders häufig in Sprachen auf, die eine ähnliche Satzstruktur aufweisen (vgl. Muysken 2000: 3, 7, 63-64, 96-98, 114).

In Bezug auf das intrasentenzielle code-switching hat Myers-Scotton ein Modell entwickelt, anhand dessen sich der bilinguale Sprachgebrauch sowie die bilinguale Sprachproduktion hinsichtlich des Sprachwechsels analysieren lässt: das Matrix Language Frame-Modell (MLF-Modell) (vgl. Myers-Scotton 1997: 3-6; Westergaard 2008: 90). Auf diesem Modell aufbauend entwickelte sie zusätzlich das 4-M-Modell (vgl. Myers-Scotton 2002: 16). Beide Modelle stellen die Grundlage für den Analyseteil der vorliegenden Arbeit und werden im Folgenden vorgestellt.

4.1.2 Das Matrix-Language-Frame Model

Die Grundannahme, welche Myers-Scotton vertritt, ist, dass sowohl in monolingualen als auch in bilingualen Sprachäußerungen, Phrasen und Sätze nach einer bestimmten Struktur zusammengesetzt werden, um eine Wohlgeformtheit bzw. einen korrekten Satzbau zu schaffen (vgl. Myers-Scotton 2005: 18). Dies wird im Uniform Structure Principle (USP) ausgedrückt:

„ A given constituent type in any language has a uniform abstract structure and the requirements of well-formedness for this constituent type must be observed whenever the constituent appears. In bilingual speech, the structures of the Matrix Language are always preferred, but some Embedded Language structures are allowed if certain conditions are met.” (Myers-Scotton 2002: 8-9)

Myers-Scotton geht in ihrem MLF-Modell von einer Asymmetrie der beteiligten Sprachen aus und differenziert zwischen zwei Arten von Morphemen. Bezogen auf den ersten Aspekt, geht sie davon aus, dass eine der beteiligten Sprachen eine dominantere Rolle spielt und den grammatischen Rahmen für die eingebetteten Konstituenten der anderen Sprache stellt. Die dominantere Sprache wird als Matrix Language (ML) bezeichnet (vgl. Myers-Scotton 1997: 6). Daneben lässt sich die ML dadurch erkennen, dass sie die meisten Morpheme in einer gemischtsprachlichen Äußerung liefert sowie diejenige Sprache ist, welche in bestimmten Situationen erwartet wird (vgl. Myers-Scotton 2002: 15, 58). Allgemein wird in dem MLF-Modell zwischen drei Konstituententypen unterschieden, welche im Rahmen eines intrasentenziellen code-switchings vorkommen können. Als Erstes sind die ML+EL Konstituenten zu nennen. Hierbei handelt es sich um einzelne Konstituenten einer gemischtsprachlichen Äußerung, die sowohl aus der ML als auch aus der Embedded Language (EL) stammen, wobei die EL die Sprache ist, welche in die ML eingebettet wird. Diese Form des code-switchings wird von Myers-Scotton auch als classic code-switching bezeichnet (vgl. Myers-Scotton 2002: 16, 58; Winford 2003: 138; Westergaard 2008: 96). Einzelne Konstituenten der EL können entweder ganz oder gar nicht in den morphosyntaktischen Rahmen der ML integriert werden. Wenn der zweite Fall zutrifft, werden die nicht integrierten Elemente als bare forms bezeichnet (vgl. Myers-Scotton 2002: 67). Werden ganze Phrasen aus der EL in die ML übernommen, so handelt es sich um EL-islands. In diesem Zusammenhang wird in dem MLF-Modell zwischen zwei Arten von islands unterschieden, und zwar den EL-islands und den ML-islands. Allgemein handelt es sich bei den islands um ganze Phrasen, die aus zwei oder mehr Morphemen aus nur einer

Sprache bestehen (entweder der ML oder der EL), welche mit allen drei Ebenen der abstrakten grammatischen Strukturen ihrer Sprache übereinstimmen müssen. Diese umfassen die lexikalisch-konzeptuelle Ebene, die Prädikat-Argument-Struktur sowie die morphologische Realisierung auf der Oberflächenstruktur. Stimmen die EL-islands mit allen drei Ebenen überein, so erfüllen sie den Aspekt der Wohlgeformtheit (vgl. Myers-Scotton 2002: 57-58; Westergaard 2008: 88).

Ferner wird im MLF-Modell zwischen zwei Arten von Morphemen unterschieden: den content morphemes und den system morphemes. Bei den content morphemes handelt es sich hauptsächlich um Nomen, Verben und Präpositionen. Sie werden in thematic role receivers oder thematic role assigners unterteilt, das heißt, sie können entweder eine semantische Rolle zugeteilt bekommen oder diese an andere Elemente des Satzes verteilen. Nomen sind typische thematic role receivers und fungieren innerhalb eines Satzes als Subjekt (Agens) oder als direktes Objekt (Patiens). Zu den thematic role assigners zählen vor allem Verben und einige Präpositionen weil sie semantische Rollen an andere Elemente verteilen (vgl. Myers-Scotton 2002: 16). Im bilingualen Sprachgebrauch werden Nomen häufiger aus der EL übernommen als Verben (vgl. Myers-Scotton 2008: 28). System morphemes vergeben oder erhalten keine semantischen Rollen sondern geben vor allem die Quantität wieder. Zu dieser Kategorie gehören Flexionsmorpheme und einige gebundene Funktionswörter, wie Determinanten, Quantifizierer, Gradadverbien oder besitzanzeigende Adjektive (vgl. Myers-Scotton 2002: 16-17; 2008: 26). In einer gemischtsprachlichen Äußerung werden nur content morphemes von der EL geliefert und/oder ganze EL-islands. Ausnahmen bilden die early system morphemes und bridge late system morphemes (vgl. Myers-Scotton 2008: 27), auf die jedoch erst im nächsten Kapitel eingegangen wird. Die verschiedenen Hierarchien der beiden Sprachen in einer gemischtsprachlichen Äußerung werden anhand zweier Hypothesen begründet: dem Morpheme-Order Principle und dem System Morpheme Principle (vgl. Myers-Scotton 1997: 83). Mit dem Morpheme Order Principle wird Folgendes postuliert:

„In ML + EL constituents consisting of singly-occurring EL lexemes and any number of ML morphemes, surface morpheme order (reflecting surface syntactic relations) will be that of the ML.” (Myers-Scotton 1997: 83)

Dieser Aussage zufolge, bestimmt die ML in einer gemischtsprachlichen Äußerung den morphosyntaktischen Rahmen und somit die Reihenfolge der Morpheme (vgl. Westergaard 2008: 94).

Darüber hinaus sagt das System Morpheme Principle Folgendes aus:

„In ML + EL constituents, all system morphemes which have grammatical relations external to their head constituent (i.e. which participate in the sentence´s thematic role grid) will come from the ML.” (Myers-Scotton 1997: 83)

Hiernach müssen nicht alle system morphemes aus der ML kommen, sondern nur diejenigen, die grammatische Beziehungen zu Elementen außerhalb der Kopfphrase stellen. Diese werden als outside late system morphemes bezeichnet und kommen ausschließlich aus der ML (vgl. Westergaard 2008: 118).

Es wurden nun zwei Theorien bezüglich des code-switchings seitens Muysken und Myers-Scotton dargestellt. An dieser Stelle lassen sich Parallelen zwischen den beiden Annahmen stellen. Myers-Scotton bezeichnet das classic code-switching als eine gemischtsprachliche Äußerung, die aus EL und ML Konstituenten besteht, wobei nur die ML den morphosyntaktischen Rahmen stellt. Diese Art des Kodewechsels lässt sich mit Muyskens insertions vergleichen. Darüber hinaus ähneln sich die EL-islands, welche aus ganzen Phrasen bestehen, mit den von Muysken aufgeführten alternations. Der Unterschied zwischen beiden Letzteren besteht jedoch darin, dass die EL-islands in einer A-B-A-Struktur eingebettet sein können und nicht in einer A-B-Reihenfolge auftreten (vgl. Kühl 2008: 88; Westergaard 2008: 96).

Wie zuvor erwähnt, entwickelte Myers-Scotton auf der Grundlage des MLF-Modells das 4-M-Modell, welches das Verhältnis zwischen den content morphemes und den system morphemes weiter ausbaut (vgl. Myers-Scotton 2002: 16-17). Im Folgenden wird das 4-M-Modell vorgestellt.

4.1.3 Das 4-M-Modell

Das Hauptanliegen des 4-M-Modells von Myers-Scotton besteht darin, verschiedene Morphemkategorien und den Zeitpunkt ihrer Aktivierung im Sprachproduktionsprozess, zu unterscheiden. Es gibt insgesamt vier Arten von Morphemen: content morphemes und drei Arten von system morphemes, wobei sich die Letzteren in early system morphemes, bridge late system morphemes und outside late system morphemes gliedern (vgl. Myers-Scotton 2002: 16-17, 73-74).

Die wesentlichen Unterschiede beziehen sich auf folgende Aspekte, die im weiteren Verlauf der Arbeit näher erläutert werden sollen:

+/- conceptually activated

+/- thematic role receiver or assigner

+/- looks outside its immediate maximal projection of head for information about its

form (vgl. Myers-Scotton 2002: 73-74).

Zunächst werden Morpheme nach dem Zeitpunkt ihrer Aktivierung unterschieden. Diesen Aspekt drückt Myers-Scotton mit der Differential Access Hypothesis aus:

„The different types of morpheme under the 4-M model are differently accessed in the abstract levels of the production process. Specifically, content morphemes and early system morphemes are accessed at the level of the mental lexicon, but late system morphemes do not become salient until the level of the Formulator.” (Myers-Scotton 2002: 17)

Laut dieser Aussage werden content morphemes und early system morphemes auf der konzeptuellen Ebene, also im mentalen Lexikon, aktiviert während dies auf die late system morphemes nicht zutrifft. Die Aktivierung Letzterer findet erst auf der Ebene des Formulators statt (vgl. Myers-Scotton 2002: 17-18).

Die early system morphemes zeichen sich dadurch aus, dass sie das ihnen zugrunde liegende content morpheme modifizieren oder näher bestimmen. Sie geben v.a. die Quantität an und umfassen demzufolge Quantifizierer (alle, einige, keine) und pronominale Größen wie Determinanten (z.B. Artikel) oder Gradadverbien. Auch Pluralaffixe und Derivationsaffixe sind Arten von early system morphemes (vgl. Myers-Scotton 2008: 21-22, 28; Westergaard 2008: 115). Im Gegensatz dazu bauen die bridge und outside late system morphemes die grammatikalische Struktur in langen Phrasen und Sätzen aus (vgl. Myers-Scotton 2008: 28). Die Aktivierung findet erst nach der Aktivierung der content und early system morphemes statt, das bedeutet, auf der Ebene des Formulators im Sprachproduktionsprozess. Auf dieser Stufe werden längere Satzstränge so zusammengesetzt, dass sie grammatikalisch wohlgeformt sind, indem die Lemmas im mentalen Lexikon die semantischen Informationen zu grammatischen Strukturen ausarbeiten (vgl. Myers-Scotton 2008: 28; Fredsted in Vorb.). Die bridge late system morphemes verweisen auf grammatikalische Eigenschaften innerhalb einer Phrase bzw. ihrer maximal projection of head. Als maximal projection werden Phrasen bezeichnet, welche von ihrem Kopf (head) regiert werden. Zum Beispiel ist der Kopf einer Nominalphrase ein Nomen und einer Verbalphrase das Verb (vgl. Myers-Scotton 2002: 74-75). Sie schaffen Verbindungen zwischen den Konstituenten, indem sie Elemente oder Strukturen in die Phrase integrieren. In gemischtsprachlichen Äußerungen werden Phrasen gewöhnlich durch bridge late system morphemes verbunden und kommen aufgrund der USP häufig aus der ML (vgl. Myers-Scotton 2002: 75; 2008: 29). Die outside late system morphemes sind bezüglich ihrer Form von Informationen außerhalb ihrer maximal projection, in der sie vorkommen, abhängig. Sie stellen Beziehungen zu anderen Elementen des Satzes her und bauen die grammatischen Strukturen in einem Satz aus. Sie sind daher von Bedeutung, wenn größere Satzstrukturen gebildet werden. Outside late system morphemes tragen zur Kongruenz eines Satzes bei, da sie u.a. auf die Argument-Struktur verweisen (vgl. Myers-Scotton 2008: 22-24, 29; Fredsted in Vorb.). Beispiele sind hierfür das Schaffen der Kongruenz zwischen Subjekt und Verb bzw. zwischen Objekt und Verb sowie Kasusaffixe in bestimmten Sprachen. Die outside late system morphemes kommen ausschließlich aus der ML (vgl. Myers-Scotton 2002: 76, 113).

4.2 Lehnformungen

Lehnformungen stellen ein weiteres Sprachkontaktphänomen dar. Bei Lehnformungen handelt es sich um die Übernahme eines fremden Wortes in die eigene Sprache, wobei zwischen drei Arten unterschieden werden muss: dem Lehnwort, der Lehnbildung und der Lehnbedeutung (vgl. Westergaard 2008: 100).

Lehnwort

Beim Lehnwort handelt es sich um ein Wort, welches als Ganzes in die eigene Sprache übernommen wird. Dabei kann es an die eigene Sprache phonologisch angepasst werden, was als eigentliches oder assimiliertes Lehnwort bezeichnet wird. Unterliegt es keiner Anpassung, so handelt es sich um ein Fremdwort (vgl. Westergaard 2008: 100-101).

Lehnbildung und Lehnbedeutung

Des Weiteren wird zwischen zwei Formen der Lehnprägung unterschieden: Der Lehnbildung und der Lehnbedeutung (vgl. Westergaard 2008: 101). Letzteres bezieht sich auf die Übernahme der Bedeutung eines fremden Wortes auf ein bereits bestehendes Wort der einheimischen Sprache. Ein Beispiel hierfür wäre realisieren für das bereits bestehende deutsche Wort verstehen oder erkennen, welches aus dem Englischen to realize entlehnt wurde (vgl. Carstensen/Busse 2001: 56).

Die Lehnbildung zeichnet sich dadurch aus, dass sie weitestgehend phonologisch als auch grammatikalisch an die aufnehmende Sprache angepasst wird. Das entlehnte Wort kann sich an sein Vorbild formal anlehnen und wird demzufolge als Lehnformung bezeichnet. Dabei wird zwischen der Morph-für-Morph-Übertragung und der freien Übertragung unterschieden. Ersteres wird als Lehnübersetzung bezeichnet, Letzteres als Lehnübertragung (vgl. Westergaard 2008: 100-101).

4.3 Konvergenzen

Treffen zwei oder mehrere Sprachen aufeinander, so kann es zu Annäherungen bzw. zu Veränderungen dieser Sprachen kommen. Jenes Sprachkontaktphänomen wird als Konvergenz bezeichnet, welches auf folgenden zwei Ebenen entstehen kann: Zum Einen kann ein lange bestehender Kontakt zweier oder mehrerer Sprachen dazu führen, dass sie sich einander nähern und demzufolge Veränderungen in den beteiligten Sprachsystemen entstehen. Zum Anderen können Konvergenzen auf der Ebene des einzelnen Sprechers auftreten, also als Prozess oder Resultat einer individuellen Mehrsprachigkeit. Diese Ebenen stehen in einem engen Zusammenhang, denn die auf der Ebene des Sprechers erzeugten Konvergenzen können sich im Sprachgebrauch verfestigen. Auf diese Weise kann eine Konvergenzbewegung zwischen den beteiligten Sprachsystemen evoziert werden. Dies kann auch andersherum der Fall sein. Bereits etablierte Veränderungen einer Sprache können sich auf der Ebene des Sprechers auswirken, indem die Neuerungen den Sprachgebrauch eines Individuums aufgenommen werden. Demzufolge besteht eine gegenseitige Wechselwirkung beider Ebenen, die nicht voneinander trennbar sind. Bezogen auf den Konvergenzbegriff, welcher als Prozess zwischen den Sprachsystemen verstanden werden kann, wird darauf hingewiesen, dass Konvergenzen sowohl bidirektional als auch unidirektional wirken können. Das bedeutet, dass sich entweder nur eine der beteiligten Sprachen der anderen nähert oder sich beide gegenseitig annähern. In beiden Fällen kann es zu einer Verringerung der Unterschiede beider Sprachen führen. Auch können Konvergenzen dadurch entstehen, dass Elemente und/oder Strukturen von einer Sprache in die andere übernommen werden (vgl. Kühl 2008: 98-100). Im Hinblick auf Konvergenzen auf der Ebene des Sprechers umfasst Fredsteds Konvergenzbegriff sowohl den Prozess, der zur Annäherung einer Sprache an eine andere führt als auch das Produkt. Das Produkt zeichnet sich dadurch aus, dass ein Sprachsystem phonologische, lexikalische und/oder semantische Merkmale sowie syntaktische Strukturen aus mehr als einer Sprache aufweist. Konvergenzen führen zu einer Erweiterung der gemeinsamen Schnittmenge einer Sprache, was auf code-switching nicht zutrifft. Beide Sprachkontaktphänomene können jedoch in Kombination auftreten (vgl. Kühl 2008: 101-102).

4.4 Zusammenfassung

Code-switching ist ein typisches und häufiges Phänomen, welches sich bei Bilingualen feststellen lässt. Hierbei wird zwischen insertions, alternations (nach Muysken) und EL-islands (nach Myers-Scotton) unterschieden. Insertions beziehen sich auf einzelne Elemente einer Sprache B welche in eine andere Sprache A integriert werden und somit in einer A-B-A-Struktur auftreten. Als Alternation wird der Sprachwechsel zwischen zwei Phrasen bezeichnet, welche in einer A-B-Reihenfolge auftreten. Eine Zwischenform der insertions und alternations stellen die EL-islands dar, welche als ganze Phrasen aus der EL in die ML eingebettet werden. Darüber hinaus sind Lehnformungen als ein weiteres Sprachkontaktphänomen anzusehen. Hierbei handelt es sich um ein entlehntes Wort, welches sowohl phonologisch als auch grammatikalisch an die aufnehmende Sprache angepasst wird. Das Wort kann dabei frei übertragen werden oder einer Morph-für-Morph Übersetzung unterliegen. Als letztes wichtiges Sprachkontaktphänomen sind die Konvergenzen zu nennen, welche durch einen langewährenden Kontakt zwischen zwei Sprachen entstehen und phonologische, lexikalische und/oder semantische Merkmale sowie syntaktische Strukturen aus mehr als einer Sprache aufweisen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den zu analysierenden Sprachen Deutsch und Polnisch bestehen, inwieweit sie sich im Sprachgebrauch gegenseitig beeinflussen und welche Sprachkontaktphänomene im vorliegenden Datenkorpus entstehen. Zunächst gibt die folgende Gegenüberstellung einen Überblick über die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Sprachen.

[...]


1 Das DFG-Projekt zum Thema „Divergierender Sprachgebrauch bei Jugendlichen“ wurde 2004-2006 von Frau Prof. Elin Fredsted in Zusammenarbeit mit Karoline Kühl und Astrid Westergaard an der Universität Flensburg durchgeführt. Es befasste sich mit auftretenden Sprachkontaktphänomenen im deutsch-dänischen Sprachgebrauch bilingualer Jugendlicher. Dieses Projekt ist in Fredsted (2007) nachzulesen.

Ende der Leseprobe aus 90 Seiten

Details

Titel
Sprachgebrauch bei deutsch-polnischen Jugendlichen
Hochschule
Europa-Universität Flensburg (ehem. Universität Flensburg)
Note
1,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
90
Katalognummer
V299162
ISBN (eBook)
9783656954897
ISBN (Buch)
9783656954903
Dateigröße
862 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
sprachgebrauch, jugendlichen
Arbeit zitieren
Agata Maciejewski (Autor:in), 2011, Sprachgebrauch bei deutsch-polnischen Jugendlichen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/299162

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