Die Bedeutung körperlicher Devianz im Schulsport. Chancen und Hindernisse zwischen Theorie und Praxis


Masterarbeit, 2014

104 Seiten, Note: Staatsexamen


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Körperliche Devianz - Eine Annäherung
2.1 Selektion aufgrund von „Andersartigkeit“
2.2 Körperliche Devianz - Isolation und Stigmatisierung
2.3 Der Ettiketierungsansatz (Labeling Approach) im Kontext körperlicher Devianz

3 Devianz und Geschlechtervielfalt
3.1 Die Rolle der geschlechtlichen Bipolarität
3.2 Die Problematik der sozialen Konstruktion der Heteronormativität
3.2.1 Die Wahrnehmung des eigenen Körpers im Kontext gesellschaftlicher Normvorstellungen
3.2.2 Der Körper als Symbolsystem - eine strukturalistische Betrachtungsweise
3.2.3 Die Queer Theory in schulischem Kontext
3.3 Die soziale Konstruktion von Identität
3.4 Das Subjekt als unbestimmtes, vielschichtiges Wesen
3.5 Plural-queere Ansätze: Undoing Identity

4 Die Rolle der körperlichen Devianz im Spannungsfeld des schulischen Sportunterrichts
4.1 Stereotype Verhaltensbilder im Schulsport
4.2 Aspekte der sozialen Diffamierung und Distinktion im Schulsport.
4.3 Die Tabuisierung der Abweichung von Heteronormativität im Schulsport

5 Körperliche Behinderung gleich Devianz? Zur Bedeutung des inklusiven Sportunterrichts
5.1 Inklusion oder Integration?
5.2 Das selektive Schulsystem der Bundesrepublik Deutschland
5.3 Voraussetzungen für die adäquate Umsetzung inklusiven Unterrichts
5.4 Inklusion und Schulsport - Miteinander statt auseinander

6 Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit körperlicher Devianz im Schulsport
6.1 Die emanzipatorischen Erziehung - Chancen für den Sportunterricht
6.2 Transformation ermöglichen: Eine Pädagogik der vielfältigen Lebensweisen
6.3 Soziales Lernen im Sportunterricht
6.4 Mehrperspektivischer Sportunterricht

7 Fazit

8 Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Sozialpsychologisches Modell schulischer Sozialisation

Abbildung 2: Die paradoxe Grundstruktur des schulischen Sportunterrichts

Abbildung 3: Das Schulsystem der Bundesrepublik Deutschland

Abbildung 4: Austausch über Barrieren und Ressourcen in Schulen

Abbildung 5: Übung mit dem Schwungtuch

Abbildung 6: Grundfigur des didaktischen Dreiecks im Kontext der Heterogenität

1 Einleitung

„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ (Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1949, Artikel 3)

Artikel 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland weist eindeutig auf die Grundwerte unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens hin: Freiheit, Gerechtigkeit und Toleranz. Jedes Individuum sollte innerhalb unserer Gesellschaft die Möglichkeit haben, sich frei zu entfalten. In unserem sozialen Zusammenleben kollidiert jedoch die freie Entfaltung des Individuums mit sozialen Normvorstellungen. Abweichungen von der Norm werden als störend, fremd oder krankhaft aufgefasst und somit als gesellschaftsunfähig abgestempelt: „Nicht so zu sein wie alle anderen sind, ist in einer Gesellschaft, die zunehmend komplexere Probleme zu lösen hat, funktional störend. Der Umgang mit Nicht­Normalen kostet Aufmerksamkeit und bedeutet Kontrollaufwand, ist zeitintensiv und routinestörend“ (Becker & Koch, 1999, S. 7).

Umgekehrt bieten Normabweichungen jedoch auch Chancen und Potentiale, bereichern unser Zusammenleben und regen zu neuen Denkweisen an. Darüber hinaus wirft „das Aufwachsen in Zeiten der Deregulierung, der Differenzierung und Pluralisierung, in denen klare Entwicklungsvorgaben und feste biographische Drehbücher abhanden kommen ... die Frage auf, ob angesichts dieser konkreten Tendenzen ... bestehende Normalitätsentwürfe neu überdacht werden müssen“ (ebd., S. 12).

Gerade im Bereich der Schule führen gesellschaftliche Normvorstellungen zu einer Ausgrenzung jener Individuen, die nicht ohne weiteres in ein vorgefertigtes Muster passen. Andersartigkeit wird keinesfalls toleriert, die betreffenden Individuen werden mit sozialer Diffamierung, Intoleranz, Stigmatisierung und Isolation konfrontiert. Die Ursachen hierfür finden sich nach Krebs et al. (2012, S. 10) in einem „komplexe[n] Zusammenspiel von gesellschaftlichen Bewertungen, institutionellen Rahmenbedingungen und dem Verhalten von Gruppen und

Einzelnen“. Innerhalb des Schulsystems greifen soziale Normalitätskonstruk­tionen, die nur wenig Spielraum für Andersartigkeit zulassen: „Die deutsche Schultradition setzt . . . homogene Lerngruppen voraus und stellt diese auch ständig wieder her“ (Amos, 2011, S. 325). In diesem Spannungsfeld zwischen aufgezwungener Homogenität und realer Heterogenität können sich nicht- normierte Individuen nur schwer entfalten. Aufgrund ihrer Normabweichung werden sie häufig zu Außenseitern, „die den Erwartungen und Normen eines sozialen Gefüges nicht entsprechen“ (Krebs et al., 2012, S. 9).

Die vorliegende Arbeit nimmt die Normalitätskonstruktionen unserer Gesellschaft in den Blick, stellt sie in Frage und beschäftigt sich mit der Bedeutung von Normalitätsabweichung im Sinne von körperlicher Devianz im Kontext des Schulsports. Was versteht man unter körperlicher Devianz? Wie reagiert unser soziales Gefüge, insbesondere im Bereich der Schule, auf Individuen, die nicht den gesellschaftlichen Normen von Körperlichkeit entsprechen? Wie entstehen soziale Diffamierung, Selektion, Tabuisierungsmechanismen sowie Isolation von körperlich devianten Individuen in der Schule? An dieser Stelle stehen ge­schlechtliche Aspekte und körperliche Beeinträchtigungen als Formen der Devianz im Fokus der Aufmerksamkeit. Wird im Verlauf der Arbeit von körperlicher Devianz gesprochen, so stellt sich eine weitere zentrale Frage: Ist die Bezeichnung körperlich deviant überhaupt zutreffend oder vielmehr ein soziales Konstrukt unserer Gesellschaft?

Die Thematisierung des inklusiven Sportunterrichts bietet in der vorliegenden Arbeit einen weiteren wichtigen Bezugspunkt, der folgende Fragen aufwirft:

Ist eine körperliche Beeinträchtigung im Sinne körperlicher Devianz zu sehen? Greifen hier ebenfalls Mechanismen der Selektion und Ausgrenzung, die Schülerinnen und Schülern (im weiteren Verlauf als SuS gekennzeichnet) erheblich schaden oder bieten sich Chancen und Möglichkeiten eines produktiven Miteinanders?

Das Potential eines produktiven Miteinanders wird im letzten Abschnitt der Arbeit thematisiert. Pädagogische Handlungsmöglichkeiten, wie beispielsweise die emanzipatorische Erziehung sowie die Vermittlung einer Pädagogik der vielfältigen Lebensweisen, bieten Möglichkeiten, gefestigte Normvorstellungen aufzuheben, Andersartigkeit zu dekonstruieren und in einen positiven Ver- mittlungskontext zu setzten. Betrachtet man die Worte aus einem Interview von Dorle Klika zum Thema Zweigeschlechtlichkeit mit Mika, einem Gymnasial­schüler, so zeigt sich die Dringlichkeit für eine Pädagogik, die Andersartigkeit positiv konnotiert: „So, jetzt isses wichtig, plötzlich, is Mädchen? is Junge? Und ich passe in dieses Schema nicht rein, ich bin seltsam, ( ) ich bin anders“ (Klika, 2012, S. 369). Mikas Thematik wird im Verlauf der Arbeit immer wieder als Bezugspunkt im Kontext geschlechtlicher Devianz herangezogen. Ihm wird der gesellschaftliche Druck in Schule und sozialem Umfeld bewusst. Eine Einordnung Mikas ist erforderlich. Geschlechtliche Normvorstellungen sowie Norm­vorstellungen der Körperlichkeit greifen im Falle von Mika allerdings nicht. Isolation und Intoleranz sind die Folgen, mit denen sich Mika täglich in der

Schule und seinem sozialen Umfeld auseinandersetzten muss. Dabei ist Mika so wie jedes andere Individuum ein wertvoller Teil unserer Gesellschaft, einer Gesellschaft, die schon in der Schule die positive Bedeutung von vielfältigen Lebensweisen betonen sollte. Gerade heranwachsende Generationen sollten zu einer reflektierten Gestaltung ihres gesamten Lebens befähigt werden (Hartmann, 1998, S. 29). Tabuisierungsmechanismen, Stigmatisierung und Intoleranz sollten innerhalb institutioneller Bildungseinrichtungen aufgehoben werden. So hätte auch Mika eine bessere Chance, sich innerhalb einer Vielfalt von Lebensweisen - in der Körperlichkeit und Geschlecht keinen stereotypen Mustern folgen - seinen eignen Platz in Schule und Gesellschaft zu suchen.

2 Körperliche Devianz - Eine Annäherung

Körperliche Devianz. Um diese Begrifflichkeit zu verstehen, ist es notwendig, einerseits den Begriff des Körpers, andererseits den Begriff der Devianz, näher zu analysieren sowie ihr komplexes Wechselspiel im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu verdeutlichen.

In der Ausgabe des Dudens von 2013 wird der Begriff des Körpers als das be - schri eben, was d ie Ges talt eines Mens chen od er Tieres aus macht.

Der menschliche Körper besteht aus Fleisch und Blut, aus Muskeln, Sehnen, aus Zellen, die letztlich eine gesamte Einheit bilden. Abgesehen von einer biologisch­medizinischen Perspektive, spielt der menschliche Körper auch in philosophisch- anthropologischen sowie sozialen Betrachtungsweisen eine wichtige Rolle (Bilstein & Brumlik, 2012, S. 5). Die Brisanz des Themas Körper zeigt sich hier beispielsweise in der „Frage nach den sozialen und kulturellen Funktionen des menschlichen Leibs . . . “ (ebd., S. 7). Sprechen Bilstein und Brumlik vom menschlichen Leib, so lässt sich erahnen, dass das Individuum mehr als nur seine Körperlichkeit besitzt, es besitzt einen Leib. Der Leib eines Menschen äußert sich nicht nur in motorischen Bewegungen, vielmehr zeigt sich mit der Leiblichkeit ein Individuum mit all seinen Empfindungen innerhalb eines sozialen Gefüges (Stenger, 2012, S. 104). Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass Körper und Leib zwei unterschiedliche Kategorien darstellen, diejedoch nicht voneinander zu trennen sind. Der lebendige Körper eines Individuums, der Leib, sieht sich in unserer Gesellschaft komplexen Herausforderungen gegenübergestellt, denn er ist „nicht genuin im Sinne von echt, unverfälscht, nur angenehm und gleichsam unschuldig. In unserer lebendigen Körperlichkeit sind auch das uns Fremde, die gesellschaftlichere] Diskurse, kulturelle Formationen, Techniken, . . . destruktive Anlagen etc. eingelassen, die dieser Echtheit bisweilen sogar entgegenarbeiten“ (Kraus, 2011, S. 16).

Aus den Worten von Kraus lässt sich entnehmen, dass der Leib eines Individuums einem gesellschaftlichen Wertesystem gegenübersteht, dessen Urteil im Falle devianter Körperlichkeit keinesfalls neutral ausfällt und den Leib in seiner Authentizität aufgrund von Normativitätskonstruktionen einschränkt. Deviante Körperlichkeit bringt das Moment der Andersartigkeit, der Irritation, das Moment der Verunsicherung und Fremdheit mit sich, welches den betroffenen Individuen anhaftet. Stichweh (2010, S. 75) findet diesbezüglich folgende Worte: „Von Fremden ist immer dort die Rede, wo sozial Andere auftauchen, mit denen sich das Moment des Unerwarteten und der Überraschung verknüpft, und wo für diese Überraschung zunächst keine gesicherten Routinen der Bearbeitung und des Umgangs mit ihnen zur Verfügung stehen.“ Gerade im Bereich des Schulsports spielen die beschriebenen Restriktionen von Körper und Leib, die sich an be­stimmte gesellschaftliche Normvorstellungen knüpfen, eine wichtige Rolle. Im Schulsport sehen sich Individuen mit Fragen nach „sozialen, privaten und geschlechtsspezifischen Körperidentitäten und damit auch nach Ein- und Ausgrenzung von Körpern im Sport und durch den Sport“ konfrontiert (Wedemeyer-Kolwe, 2010, S. 104).

In pädagogisch- bzw. erziehungswissenschaftlichen Betrachtungen spielen Körper und Leib ebenfalls eine zentrale Rolle: „Sei es, dass er [der Leib] mit Misstrauen und Besorgnis als Gegenspieler des Geistes bewacht. . . werden soll, sei es, dass er als fundierende Lebens-Einheit aller menschlichen Existenz vorangestellt wird“ (Bilstein & Brumlik, 2012, S. 5). Die menschliche Existenz ist immer die Existenz eines Individuums innerhalb einer Gesellschaft. Insofern spielen gesellschaftliche Vorstellungen von Körperlichkeit eine immense Rolle, die starke Normierungs­kräfte mit sich bringen: „Gesellschaft, Geschlechterordnung und die Kultur des Körpers sind dichter dennje miteinander verflochten“ (Pfister, 2010, S. 342). Die normativen Vorstellungen von Körperlichkeit zeigen sich beispielsweise im Falle der Zuschreibung von Geschlechtlichkeit und des damit einhergehenden Begriffs der Heteronormativität: „Heteronormativität beschreibt . . . ein als natürlich erscheinendes, binäres Geschlechtersystem, in welchem lediglich und genau zwei Geschlechter akzeptiert sind, die sich in ihrer Sexualität aufeinander beziehen“ (Degele, 2008, S. 21). In unserer Gesellschaft gibt esjedoch Individuen, die nicht ohne weiteres den Normalitätskonstruktionen einer Gesellschaft entsprechen. Individuen mit einer körperlichen Beeinträchtigung sowie transsexuelle In­dividuen stellen Formen der menschlichen Existenz dar, die nicht ohne Konfliktpotential innerhalb eines normierten Gesellschaftssystems bestehen können. Sie bewegen sich fernab gesellschaftlicher Normalitätsvorstellungen und finden in vielen Fällen in unserer Gesellschaft, insbesondere in institutionellen Bildungseinrichtungen, „keinen guten Platz und keine sie haltenden Beziehungen“ (Krebs et al., 2012, S. 9).

An dieser Stelle ist es notwendig, auf den Begriff der Devianz näher einzugehen: „Die Bedeutung des Wortes Devianz - aus dem Lateinischen deviare [Hervorhebungen v. Verf.] - verweist auf Abweichung vom Üblichen bzw. darauf, dass jemand vom Wege abgeht“ (Kraimer, 2012, S. 18). Kraimer (2012, S. 12) sieht darüber hinaus im Begriff der Devianz „Phänomene, die mehr oder weniger stark von einer gesellschaftlich angenommenen Normalität abweichen, zugleich aber selbst einen Teil dieser Normalität bilden“. Devianz als Form der Ab­weichung vom Üblichen, als Nonkonformität innerhalb eines Gesellschafts­systems, gibt dem Begriff allzu schnell eine negative Konnotation. Ist Devianz jedoch grundsätzlich in einen negativen Kontext zu stellen? Fassl (2014, S. 1) trifft hierzu folgende Aussage: „Wenn von Devianz gesprochen wird, haben die meisten Menschen Kriminalität und negative Abweichung von der Norm im Sinn. Devianz [Hervorhebung v. Verf.] bedeutet allerdings nur Abweichung - ob diese positiv oder negativ ist, ist damit noch nicht definiert.“ Ausgehend von einer wertneutralen Definition des Begriffs der Devianz, stellt sich die Frage nach den Wirkmechanismen, die deviante Körperlichkeit in einen negativen Kontext setzten. Hier spielen die bereits erwähnten gesellschaftlichen Normalitäts­konstruktionen eine tragende Rolle. Transsexuelle bzw. Individuen mit einer körperlichen Beeinträchtigung stimmen mit diesen Normen nicht überein. „Folglich ist eine Nichtübereinstimmung mit gesellschaftlich anerkannten oder fachlich kodifizierten Konventionen gemeint, wenn von Abweichung oder Devianz die Rede ist, die auf festgelegte Wert-, Referenz-, oder Normsysteme bezogen sind“ (Kraimer, 2012, S. 18). Das Wechselspiel zwischen Devianz und Körperlichkeit lässt sich also nur im Kontext gesellschaftlicher Norm- und Wertvorstellungen begreifen, die sich sowohl im privaten Bereich als auch im Bereich institutioneller Bildungseinrichtungen verfestigt haben. Im weiteren Verlauf der Arbeit werden die Normalitätskonstruktionen hinsichtlich devianter Körperlichkeit bzw. Geschlechtlichkeit thematisiert und deren Beglei­terscheinungen in den Blick genommen.

2.1 Selektion aufgrund von „Andersartigkeit“

„In unseren westlichen Kulturen ... regiert eine visuelle Meinungsbildung; ein Mensch wird zunächst einmal aufgrund seiner/ihrer/... sichtbaren Merkmale als Mädchen oder Junge, Frau oder Mann beurteilt und eingeordnet“ (Köbele, 2011, S. 10). Nicht alle Individuen unserer Gesellschaft entsprechen hinsichtlich ihrer Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit diesen Normalitätskonstruktionen.

Sie gelten als anders, fremd, dysfunktional, sehen sich mit Selektions­mechanismen konfrontiert und werden „als defizitär, unvollständig oder falsch wahrgenommen“ (Zirden, 2003, S. 13). Gerade hinsichtlich der Geschlechtlichkeit von Individuen, die in unserer Gesellschaft von der bereits erwähnten Heteronormativität bestimmt wird, erzeugt Andersartigkeit eine Irritation der sozialen Norm. Köbele (2011, S. 10) beschreibt diese Irritation mit folgenden Worten:

„In unserer Kultur kann und darf der Körper nicht von den rationalen Vorgaben abweichen, welche Anzeichen zu welchem Geschlecht gehören, andernfalls verrückt sich etwas im Denken - ein Schwindelgefühl, eine Verwirrung entsteht im günstigsten Fall; wenn nicht Körper und Seele den Vorgaben angepasst werden; wenn nicht bestraft wird, was nicht sein darf.“

Das Moment der Andersartigkeit kann nicht nur in Form einer defizitären Betrachtungsweise von Individuen greifen. Andersartigkeit bringt Gefühle der Fremdheit, des Unbekannten sowie Gefühle fehlender Umgangsstrategien mit sich, welche die Selektionsmechanismen begünstigen: „Eine zentrale Wurzel für die Erfahrung von Fremdheit, so könnte man sagen, basiert wesentlich auf der Konfrontation mit dem Unvertrauten“ (Hahn, 2000, S. 34). Transsexuelle sowie Individuen mit einer körperlichen Beeinträchtigung werden mit gesellschaftlichen Normalitätskonstruktionen und Andersartigkeit konfrontiert, einem Störfaktor, dem Selektionsmechanismen entgegengesetzt werden. Könnte man an dieser Stelle auch von fehlendem Verständnis sprechen, von einer vorherrschenden Unklarheit oder Unsicherheit? Hahn (2000, S. 34) äußert sich diesbezüglich folgendermaßen: „Die relative Undurchschaubarkeit des anderen macht Kons­truktionen, die das Undurchschaubare definieren, unfalsifizierbar. Gerade weil man im Dunkeln gar nicht sehen kann, kann man alles hineinsehen.“ Andersartigkeit wird somit zu einer Unbekannten, einer Störquelle und muss folglich aus einem normierten Gesellschaftssystem selektiert werden. Auch innerhalb des institutionellen Bildungssystems greifen Mechanismen, die einer normativen Ordnung unterliegen und Andersartigkeit im Sinne gesellschaftlicher Normvorstellungen bewerten:

„Auch im Schulleben lernt man einenjeweils spezifischen Habitus, der ... Individuen hervorbringt, die mit dem System der unbewussten (Verhaltens-) Schemata einer Gesellschaft/Kultur ausgerüstet sind, in denen sich sozusagen sublim das kollektive Erbe in eine individuelle (und damit wiederum kollektive!) Haltung verwandelt“ (Gudjons, 2012, S. 176).

Die beschriebenen Mechanismen greifen nicht nur im Falle von geschlechtlicher Devianz. Individuen mit körperlicher Beeinträchtigung sehen sich ebenso im Spannungsfeld gesellschaftlicher Normalitätskonstruktionen: „Die Kategorie Behinderung eröffnet die Möglichkeit, Menschen einzuteilen in Behinderte und Nichtbehinderte“ (Danz, 2012, S. 98). Hinsichtlich dieser selektiven Zweiteilung, spielen Kriterien der Bewertung von Individuen innerhalb einer Gesellschaft eine wesentliche Rolle: „Normal ist gut, nicht normal ist schlecht... “ (ebd., S. 101).

Dieser dichotome Bewertungsmechanismus von Individuen kann innerhalb des Bereichs der Schule am Beispiel der Selektion einzelner SuS aus einer Gruppe verdeutlicht werden. SuS die im Sinne der beschriebenen Andersartigkeit nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen werden allzu oft ausgegrenzt und finden sich in der Rolle des Außenseiters wieder: „In dem Moment, in dem sich Kinder zu einer Gruppe zusammenschließen, grenzen sie sich nach außen ab und neigen schon dadurch zur Konstruktion von Außenseitern“ (Krebs et al., 2012, S. 35). Die Gruppe agiert nach dem bereits beschriebenen dichotomen Bewertungs­mechanismus, der Selektionsmechanismen in Gang setzt, die die betroffenen Individuen häufig auf schmerzhafte Weise erfahren. Dies zeigt auch der Kommentar zweier Mädchen hinsichtlich der Bewertung einer Mitschülerin: „Du bist blöd, du bist hässlich, du stinkst, du bist behindert [Hervorhebung v. Verf.]“ (ebd., S. 36). Hier ist es die Aufgabe der Pädagogik zu intervenieren, einer Pädagogik, die die Vielfältigkeit von Lebensweisen als positives Element unserer Gesellschaft vermittelt: „Wir müssen um in Freiheit zu leben, gesellschaftlich bedingte Ungleichheit ... aufheben und umgekehrt persönliche Unterschiede wahrnehmen, bejahen, wenigstens aushalten lernen“ (Hentig, 1993, S. 220).

2.2 Körperliche Devianz - Isolation und Stigmatisierung

Das Phänomen der Isolation eines Individuums hat viele Gesichter. Ein In­dividuum kann von einer Gruppe isoliert werden, sprachliche Äußerungen führen zu Isolation, soziale Denkmuster und gesellschaftliche Normalitätskonstrukt­ionen können die Isolation von Individuen bewirken. Nicht zuletzt sind es die betroffenen Individuen selbst, die sich als andersartig, nonkonform oder dysfunktional betrachten und sich in die Einsamkeit flüchten. Da sich die Isolation einzelner Individuen immer innerhalb eines gesellschaftlichen Kontexts vollzieht, lässt sich Isolation als soziales Phänomen betrachten (Lauth & Viebahn, 1987, S. 10). Häufig werden die Ursachen sozialer Isolation als „Störungen aus dem Bereich der interpersonalen Kontakte beschrieben“ (Günther, 1978, S. 15). Weiterhin wird hinsichtlich des Individuums - also aus einer subjektiven Perspektive heraus - von sozialer Isolierung gesprochen, die Lauth & Viebahn (1987, S. 11) als das „negative individuelle Erleben unzureichender Sozial­kontakte“ beschreiben.

Grundsätzlich lassen sich zwei Betrachtungsweisen der sozialen Isolierung unterscheiden, die jedoch in einem engen Wechselverhältnis stehen: Einerseits eine subjektive Perspektive des betroffenen Individuums, als direkte Isolierungs­faktoren beschrieben, die sich in Empfindungen und Gefühlen des betroffenen Individuums zeigt, andererseits indirekte Isolierungsfaktoren wie beispielsweise Personen oder soziale Netzte, die von Außen auf das Individuum einwirken (ebd.). Lauth & Viebahn (1987, S. 11) beschreiben darüber hinaus eine „Ist-Soll­Diskrepanz“ als grundlegendes Element sozialer Isolierung. Hinsichtlich dieser Diskrepanz kommen die bereits beschriebenen gesellschaftlichen Normalitäts­konstruktionen zum Tragen. Individuen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, werden im Sinne der beschriebenen Ist-Soll-Diskrepanz als gesellschaftsunfähig abgestempelt und mit Isolationsmechanismen konfrontiert. Auf der anderen Seite greift die subjektive Perspektive der betroffenen Individuen, die eine Vielzahl an negativen Gefühlen mit sich bringt: „Das Gefühl der Verlassenheit; das Gefühl, verstoßen zu sein, anderen fremd zu sein; Einsamkeit, Furcht vor sozialen Kontakten, Erlebnisse der Entfremdung, Angst, Bedrohung, Niedergeschlagenheit“ (ebd., S. 13). Hinsichtlich der von Lauth & Viebahn beschriebenen Ist-Soll-Diskrepanz, empfinden die betroffenen Individuen „Gefühle des Mangels sowie der Selbstabwertung“ (Laut & Viebahn, 1987, S. 13.). Allmählich stellt sich ein konstant negatives Selbstbild der betroffenen In­dividuen ein. Äußere negative Einflüsse sowie innere Konflikte führen zu einer sozialen Deprivation:

„Dem sozial Isolierten fehlen positive Sozialerfahrungen ... und er begibt sich in einen Teufelskreis zunehmend negativer Erfahrungen und Erklärungsmuster, die wiederum die vorhandene Stimmung verstärken. Im Gegenwirken entstehen Gefühle der Verbitterung, der Resignation und depressive Stimmungen“ (Lauth & Viebahn, 1987, S. 35).

Nicht selten äußern sich auch Gefühle der Aggression, die jedoch als indirekter Hilferuf zu begreifen sind. In diesem Zusammenhang soll nochmals die Problematik Mikas thematisiert werden. Eine klare Geschlechtszuordnung kann im Falle Mikas nicht greifen:

„In der Folge wird Mika von den Mitschülern ausgegrenzt, er wird Opfer massiver Gewalttätigkeit, wird mit dem in der Fachliteratur bekannten Schwulenvorwurf konfrontiert, z.T. wehrt er sich, wird selbst brutal, wie er im Interview erzählt. Mika zieht sich auch von den Mädchen zurück, weil er bemerkt, dass ihn die Jungen dann mehr in Ruhe lassen“ (Klika, 2012, S. 369).

In Mikas Fall greifen die bereits beschriebenen direkten Isolierungsfaktoren. Mika empfindet sich selbst als „anders“, als „anormal“ und wird mit den o.g. negativen Gefühlen konfrontiert. Gleichzeitig greifen auch indirekte Isolierungsfaktoren, die sich durch Mikas Klassenmitglieder in Form von negativen Bewertungsmustern hinsichtlich seiner Person bemerkbar machen.

Nicht nur in Mikas Fall haben Isolationsmechanismen erhebliche Auswirkungen auf Verhalten und Psyche von sozial isolierten Personen. Auch im Falle von Individuen mit einer körperlichen Beeinträchtigung greifen die beschriebenen Vorgänge der Isolation, die auf der Basis sozialer Vorurteile beruhen: „Ein so­ziales Vorurteil ist eine Einstellung, die von Antipathie beherrscht wird und zu verletzenden Handlungen führen kann. Es enthält eine fehlerhafte und relativ starre Verallgemeinerung“ (Bracken, 1976, S. 12). Bracken (1976, zitiert nach Allport, 1971, S. 304) schildert diesbezüglich ein Interview mit einem 12 jährigen Jungen, der Erklärungsversuche für das negative Verhalten seines körper­behinderten Mitschülers sucht: „Er sieht komisch aus, er ist schlecht im Turnen, und er wird bei allen Veranstaltungen überschlagen, niemand gibt ihm eine Chance; ich glaube, er handelt gemein, um sich zur Geltung zu verhelfen.“ Betrachtet man die Verhaltensweise des körperbehinderten Mitschülers, so ergeben sich Parallelen zu Mikas Fall. Die Isolation, sei es durch soziale Vorurteile, sprachliche Kränkungen oder durch die Exklusion aus einer Gemeinschaft, führt zu einem Bündel negativer Empfindung, nicht zuletzt zu einer immensen Frustration der betroffenen Individuen. „Ferner ist der Zusammenhang zwischen Frustration und Aggression bekannt - und frustrierend wirken Vorurteile in hohem Maße“ (Bracken, 1976, S. 22). Frustration, Isolation und Abwertung der betroffenen Individuen stehen in enger Verbindung mit dem Begriff des Stigmas, einer „Situation des Individuums, das von vollständiger sozialer Akzeptierung ausgeschlossen ist“ (Goffman 1967, S. 7). Stigmata ergeben sich durch gesellschaftliche Normalitätskonstruktionen, durch eine dichotome Einteilung in „normal“ und „anders“, die Goffman (1967, S. 9) folgendermaßen beschreibt:

„Die Gesellschaft schafft die Mittel zur Kategorisierung von Personen und den kompletten Satz von Attributen, die man für die Mitgliederjeder dieser Kategorien als gewöhnlich und natürlich empfindet. Die sozialen Einrichtungen etablieren die Personenkategorien, die man dort vermutlich antreffen wird.“

Mikas Zweigeschlechtlichkeit wurde von seinen Klassenmitgliedern mit dem Begriff des „Schwulenvorwurfs“ in einen zutiefst negativen Kontext gesetzt. Ihm haftet der Schein des Anormalen an: „Ein solches Attribut ist ein Stigma, besonders dann, wenn seine diskreditierende Wirkung sehr extensiv ist; manch­mal wird es auch Fehler genannt, eine Unzulänglichkeit, ein Handikap“ (ebd., S. 11). Mikas Isolation beruht demnach auf seiner geschlechtlichen „Non­konformität“, die zu einer Stigmatisierung seiner gesamten Person führt. So hat ein Stigma, ein isoliertes Merkmal der „Andersartigkeit“, Auswirkungen auf die gesamte Person, die in eine negative Betrachtungsweise gestellt wird:

„Ein Individuum, das leicht in den gewöhnlichen sozialen Verkehr hätte aufgenommen werden können, besitzt ein Merkmal, das sich der Aufmerksamkeit aufdrängen und bewirken kann, da[ss] wir uns bei der Begegnung mit diesem Individuum von ihm abwenden ... “ (Goffman, 1967, S. 13).

Die Abwendung, Diskreditierung und Ausgrenzung von Mika haben erheblichen Einfluss auf seine Psyche und sein Verhalten anderen Klassenmitgliedern gegenüber. Die Stigmatisierungsmechanismen gehen sogar soweit, dass Personen - in Mikas Fall seine Klassenmitglieder - der fälschlichen Annahme unterliegen, „da[ss] eine Person mit einem Stigma nicht ganz menschlich ist“ (Goffman, 1967, S. 13). Hinsichtlich dieser Problematik üben Mikas Klassenmitglieder „eine Vielzahl von Diskriminationen aus, durch die sie [Mikas] Lebenschancen wirksam, wenn auch oft gedankenlos reduzieren“ (Goffman, 1967, S. 13). Dieser Mechanismus zeigt sich bei Mika in seiner Schulzeit von der fünften bis zur achten Klasse: „Von der fünf bis acht habe er nicht wirklich menschlichen Kontakt gehabt ... Nach der Neueinteilung der Schulklasse habe er dann wieder still vor sich hingelebt, habe dann auch die Jahre überstanden“ (Klika, 2012, S. 369).

Abschließend sollen die bereits erwähnten gesellschaftlichen Normalitätskons­truktionen im Kontext körperlicher sowie geschlechtlicher Devianz aufgegriffen werden. Gerade hier scheint in all unseren Gesellschaftsbereichen ein erhebliches Feingefühl in Bezug auf eine Abweichung von der Norm vorhanden zu sein. Goffman (1967, S, 11) erwähnt diesbezüglich, „da[ss] nicht alle unerwünschten Eigenschaften strittig sind, sondern nur diejenigen, die mit unserem Stereotyp von dem, was ein gegebener Typus von Individuum sein sollte, unvereinbar sind“.

Mika ergibt sich zeitweilig seinem Stigma, flüchtet sich in die Einsamkeit und erfährt keine Hilfe hinsichtlich seiner Problematik. Er empfindet seine Situation zunehmend als ausweglos. Nur zu leicht können die Klassenmitglieder „die defensive Reaktion eines derartigen Stigmatisierten auf seine Situation als einen direkten Ausdruck seines Defekts auffassen und dann beide, Defekt und Reaktion, als gerechte Vergeltung für etwas sehen, das er [Mika], seine Eltern oder sein Stamm getan haben“ (ebd., S. 15).

2.3 Der Ettiketierungsansatz (Labeling Approach) im Kontext körperlicher Devianz

Der Ettiketierungsansatz, im Englischen auch als Labeling Approach bezeichnet, ist ein Ansatz aus der Soziologie, der sich mit der Analyse von Zuschreibungs- bzw. Ettiketierungsmechanismen auf individueller sowie gesamtgesellschaftlicher Ebene beschäftigt (Lamnek, 1997, S. 46). Ursprünglich ist der Ettiketierungs- ansatz, der nach den Ursachen für Abweichendes Verhalten eines Individuums sucht, im Bereich der Kriminologie verortet. Hier geht man davon aus, dass es „die auf bestimmte Verhaltensweisen erfolgenden Reaktionen der sozialen

Umwelt [sind], die abweichendes Verhalten produzieren“ (Lamnek, 1997, S. 24). Grundsätzlich stellt sich jedoch die Frage, welche Mechanismen sich hinter der Zuschreibung des Begriffs der Abweichung verbergen? Erfolgt die negative Betrachtungsweise hinsichtlich Individuen mit nicht normierter Geschlechtlichkeit sowie körperlicher Beeinträchtigung durch soziale Normativitätskonstruktionen, die sich in Form einer abwertenden Zuschreibung bemerkbar machen? Ist es letztendlich die Zuschreibung, die ein negatives Bild der betroffenen Individuen bewirkt? Auf der Grundlage dieser Fragen, kann der Ettiketierungsansatz auch im Kontext der körperlichen Devianz Anwendung finden.

In Bezug auf die Zuschreibung des Begriffs der Abweichung trifft Lamnek (1997, S. 24) folgende Aussage: „Die Zuschreibung des Etiketts abweichend erfolgt gruppen-, situations-, und personenspezifisch, also selektiv.“ Im Zusammenhang mit der selektiven Zuschreibung abweichender Körperlichkeit bzw. Ge­schlechtlichkeit stellt sich die Frage: Unterliegt der selektive Vorgang der Etikettierung sozialen Normativitätskonstruktionen? Lamnek (1997, S. 23) äußert sich diesbezüglich folgendermaßen:

„Für den Fortgang der Überlegungen ist nur wichtig zu erkennen, ... dass im Verständnis des Labeling Approachs abweichendes Verhalten nicht als solches existiert, sondern erst durch eine Definition konstruiert wird. Es ist also die informelle oder formelle soziale Kontrolle, die die Abweichung feststellt. Die soziale Kontrolle schafft damit die Abweichung, die es ohne sie nicht gäbe.“

Betrachtet man die Aussage von Lamnek im Kontext abweichender Ge­schlechtlichkeit bzw. Körperlichkeit, so lässt sich auch hier eine Art von sozialer Kontrolle feststellen, die den betroffenen Individuen das Etikett der Abweichung zuschreibt. Man denke hier beispielsweise an das Konstrukt der Hetero­normativität. Allein durch diese soziale Kontrolle, die sich in Form von Normativitätskonstruktionen bemerkbar macht, wird Lamneks Aussage zufolge, ein Bild der Abweichung in den Köpfen der Individuen generiert. Die betroffenen Individuen werden durch diese normativ gesetzten Kategorisierungsmuster in eine Außenseiterposition gedrängt, ihre Lebensqualität wird erheblich beeinträchtigt: „In der selektiven Normanwendung ... werden Zuschreibungsprozesse initiiert, die gesellschaftlich allgemein wirken und den Verhaltensspielraum der gelabelten Individuen entscheidend reduzieren“ (Lamnek, 2013, S. 224).

Im Falle Mikas Zweigeschlechtlichkeit kann durch die Zuschreibung der Abweichung eindeutig von einer Schmälerung an Lebensqualität die Rede sein: „Ist das Individuum einmal als deviant stigmatisiert oder etikettiert, dann wird es durch die Reaktion der anderen, konformen Mitglieder der Gemeinschaft gezwungen, sich mit diesem Etikett auseinanderzusetzen“ (ebd., S. 227). So wird auch Mika durch seine geschlechtliche Abweichung, die ihm durch negative Zuschreibungen von außen und die Konstruktion sozialer Normen immer wieder vor Augen geführt wird, in eine anhaltende Selbstkonfrontation gezwungen: „Mikas leib-körperliche Existenz hält sich nicht an die gesellschaftlich vor­gegebene Zweigeschlechtlichkeit. Junge mit Brustwachstum gibt es in unserer sozial geteilten Welt nicht“ (Klika, 2012, S. 368). Weiterhin schreibt Klika (2012, S. 368), „dass Mikas Andersheit auf dem Gymnasium nicht wirklich geduldet wurde, [dass] er die Brust abbinden muss ... was im Sportunterricht zu erheblichen Schwierigkeiten führt“.

Ist Mika letztendlich so anders als seine Klassenmitglieder oder wird seine Andersartigkeit erst durch soziale Normsetzungen konstituiert? Nach der Aussage des Labeling Theoretikers Lamnek ist es die soziale Kontrolle und die damit einhergehenden Normalitätskonstruktionen, die eine Abweichung erst als solche in Erscheinung treten lässt, eine Abweichung, die ohne soziale Normsetzung keine wäre. Lamneks Aussage bietet somit auch eine theoretische Antwortmöglichkeit auf eine der zentralen Ausgangsfragen der vorliegenden Arbeit: Ist die Bezeichnung körperlich deviant überhaupt zutreffend oder vielmehr ein soziales Konstrukt unserer Gesellschaft? In Anlehnung an die Labeling Theorie ließe sich die Beschreibung körperlich deviant eindeutig als Zuschreibung bzw. Etikettierung im Kontext sozialer Normativitätskonstruktionen begreifen. Körperliche Devianz kann somit als das Ergebnis gesellschaftlicher Definitions­und Zuschreibungsprozesse verstanden werden. Die gelabelten Individuen, wie beispielsweise Mika, sind die Leidtragenden dieses Vorgangs: „Wenn es in einer Gesellschaft nur schwarz oder weiß geben kann, kommt grau nicht vor - die Konstruktion von genau zwei definierten Geschlechtern mit quasi natürlichen und klaren Zuschreibungen lässt Personen wie Mika durch das Raster fallen“ (Klika, 2012, S. 369).

3 Devianz und Geschlechtervielfalt

„Im gängigen Verständnis gehört ein weiblicher Körper, eine weibliche Identität und ein sexuelles Begehren, das sich auf den Mann richtet, zusammen. Die Natur hat es, so die Alltagsüberzeugung, so eingerichtet. Das, was da so als natürlich, eindeutig und unveränderlich erscheint, da[ss] es eben nur zwei Geschlechter, eben nur Frauen und Männer gibt, istjedoch bereits eine soziale Konstruktion, eine Setzung“ (Albrecht-Heide & Holzkamp, 1998, S. 21).

In unserer Gesellschaft finden sich Individuen, die der sozialen Setzung der Zweigeschlechtlichkeit, die die Gesellschaft in männlich und weiblich einteilt, nicht entsprechen. Homosexualität, Transsexualität sowie Multisexualität stellen Lebensformen dar, die sich außerhalb der gesellschaftlichen Normalitäts­vorstellungen bewegen. Als Teil unserer Gesellschaft werden diese Individuen mit den bestehenden sozialen Normsetzungen konfrontiert. Hinsichtlich der Ge­schlechtlichkeit kommt es zu einer automatischen Zweiteilung in gesellschaftlich konforme und gesellschaftlich nonkonforme Individuen. Eine Verletzung der sozialen Norm der Zweigeschlechtlichkeit generiert ein Bild der Andersartigkeit, der Fremdheit, ein Bild menschlicher Devianz. „Als Einstellung gegenüber diesen Menschen resultiert daraus im ungünstigen Fall Ablehnung und Diskriminierung, im günstigen Fall Toleranz“ (ebd., S. 23).

Selbst im Begriff der Toleranz spiegelt sich die Devianz der betroffenen Individuen, denn „sie [die Toleranz] ist ein großmütiges Geschenk, eine Gnade, die jederzeit, da die Hierarchie weiterbesteht, aufgekündigt werden kann“ (Albrecht-Heide & Holzkamp, 1998, S. 23). Schon in der Schule vollzieht sich die Vermittlung eines devianten Bildes hinsichtlich abweichender Lebensformen, was sich am Beispiel von Homosexualität verdeutlichen lässt:

„Wir finden Homosexualität auch als Thema in Rahmenplänen für den Schulunterricht ... und in Beiträgen fortschrittlicher pädagogischer Materialien ... Fast immer wird Homosexualität dabei jedoch als abweichende Sexualitätsform der Heterosexualität gegenübergestellt und damit die Struktur von Normalität und Abweichung reproduziert“ (Hartmann, 1998, S. 30).

Im weiteren Verlauf der Arbeit werden die geschlechtlichen Normativitätskons­truktionen kritisch hinterfragt und im Kontext der Queer Theory, der sozialen Konstruiertheit von Identität sowie der Darstellung des Subjekts als vielfältiges Wesen, relativiert. Hartmann (1998, S. 38) äußert sich diesbezüglich folgender­maßen: „Die Enge und Zweifelhaftigkeit vorherrschender Identitätskategorien machen einen kritischen Umgang mit Kategorisierungen notwendig. Es geht darum, Identitäts-Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen.“

3.1 Die Rolle der geschlechtlichen Bipolarität

„In der westlichen Gesellschaft existiert gegenwärtig eine vermeintlich logische Einteilung der Geschlechter in zwei - und nur zwei - Kategorien: Mann und Frau bzw. männlich und weiblich“ (Calvi, 2012, S. 4). Die zwei Geschlechter sind aufeinander bezogen und finden gesellschaftliche Akzeptanz. Die geschlechtliche Bipolarität erfüllt das sozial tradierte Normalitätsverständnis unserer Gesellschaft: „Für die bürgerliche Gesellschaft war klar, was typisch männlich und typisch weiblich war - eine klare Rollenzuschreibung war für diese Gesellschaft strukturbildend“ (Gudjons, 2012, S. 383). Auch heute sind diese Muster fest in unserer Gesellschaft verankert. Geschlechtlichkeit wird im Allgemeinen als festes, naturgegebenes Konstrukt betrachtet, dessen grundlegender Charakter durch die Heteronormativität gekennzeichnet ist.

Gudjons, 2012, S. 383) stellt jedoch fest: „Geschlechtlichkeit wird nicht in die Wiege gelegt, sondern konstruiert und stilisiert, wie es heute in der Forschung heißt“. Die Konstruktion der geschlechtlichen Bipolarität wird in unserer Gesellschaft schon im Kindes- und Jugendalter durch Sozialisationsmechanismen im privaten Raum, aber auch im Kontext institutioneller Bildungseinrichtungen generiert: „Mädchen und Jungen verleihen ihrer Geschlechtszugehörigkeit dadurch Kontinuität, dass sie sich in den Interaktionen jeweils wieder als Mädchen bzw. Jungen inszenieren und ihren Interaktionspartnerinnen und -partnern jeweils Gleich- oder Gegengeschlechtlichkeit zuschreiben“ (Gudjons, 2012, S. 384). Dadurch bildet sich ein starres, unveränderliches Geschlechter­konstrukt, welches bestimmte Handlungs- und Denkmuster in den Köpfen der Individuen mit sich zieht. So schreibt sich „die komplexe Wirkung von biologischen und sozialen Prozessen tief in den Körper [der Individuen] ein, sodass man keineswegs von heute auf morgen sein Geschlecht wechseln könnte“ (ebd.). Die eng gesetzten Geschlechter-grenzen und Rollenstereotype sind heute jedoch in vielerlei Hinsicht hinfällig: „Mädchen zeigen sich selbstbewusst, Jungen einfühlsam und rücksichtsvoll, andererseits sind auch Mädchen zunehmend gewalttätig“ (ebd., S. 385). Die sozial gesetzte Bipolarität der Geschlechtlichkeit wird nicht nur durch Verhaltensmerkmale der Individuen relativiert:

„Lebensformen werden [trotz des heteronormativen Charakters unserer Gesellschaft] stärker als früher wählbar und revidierbar, Selbstkonzepte und Rollenbündel müssen mehrmals im Leben verändert werden. Auch im Bereich von Sexualität wird verhandelt und gekämpft. Ältere Formen von Männlichkeit ... werden in Frage gestellt. Alte Charakterisierungen von Männlichkeit und Weiblichkeit verlieren tendenziell ihren Inhalt durch Überlappungen und Grenzüberschreitungen“ (ebd.).

Und dennoch erregen Individuen mit „anderer“ Geschlechtlichkeit, Individuen die sich nicht in das Bild der geschlechtlichen Bipolarität einfügen, ein Gefühl des Unbehagens und der Unstimmigkeit. Des Öfteren werden diese Individuen aus medizinischer Sicht sogar als krank bezeichnet, was sich am Beispiel intersexueller Menschen verdeutlichen lässt: „Intersexuelle Menschen ... sind heute gesellschaftlich weithin unbekannt, sie haben keine Identität oder werden in der Medizin vielfach als Missbildungen begriffen“ (Calvi, 2012, S. 7).

Die vorherrschende Norm der bipolaren Geschlechtlichkeit grenzt jedoch nicht nur Individuen mit biologisch nicht eindeutigem Geschlecht in ihrem Handlungs­spielraum ein, „sondern auch durchaus Frauen und Männer [sowie Jungendliche], die der gesellschaftlichen Auffassung von Geschlecht und den vorherrschenden Geschlechterrollen und Geschlechtsstereotypen nicht gerecht werden (können), wie sich beispielsweise an Transgender - Personen zeigt“ (Calvi, 2012, S. 49).

Das Konstrukt der bipolaren Geschlechtlichkeit sollte in unserer heutigen Gesellschaft kritisch hinterfragt und angesichts der Vielfalt an menschlichen Lebensformen als eine veränderbare Größe wahrgenommen werden. Dies­bezüglich äußert sich Fausto-Sterling (2000, S. 19) folgendermaßen: „Das Geschlecht eines Körpers ist einfach zu komplex. Es gibt kein Entweder-Oder.

Vielmehr gibt es Schattierungen von Unterschieden.“

3.2 Die Problematik der sozialen Konstruktion der Heteronormativität

Der Begriff der Heteronormativität ist im Verlauf der Arbeit bereits an mehreren Stellen gefallen. Aufgrund der zentralen Bedeutung dieser sozialen Konstruktion für die vorliegende Arbeit, soll der Gegenstand der Heteronormativität und die damit verbundenen Probleme im folgenden Verlauf behandelt werden. Innerhalb des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie in institutionellen Bildungs­einrichtungen spielt die Heteronormativität als feste Größenordnung und starres Kategorisierungsmuster eine entscheidende Rolle. Was verbirgt sich hinter dem Begriff? Welche Probleme entstehen in Zusammenhang mit der Hetero­normativität? Wagenknecht (2007, S. 17) äußert sich zum Begriff der Hetero­normativität folgendermaßen: „Der Begriff benennt Heterosexualität als Norm der Geschlechterverhältnisse, die Subjektivität, Lebenspraxis, symbolische Ordnung und das Gefüge der gesellschaftlichen Organisation strukturiert.“ Eine weitere Beschreibung des Begriffs der Heteronormativität bieten Hartmann & Klesse (2007, S. 9): „Der Begriff der Heteronormativität beschreibt Heterosexualität als ein zentrales Machtverhältnis, das alle wesentlichen gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche, ja die Subjekte selbst durchzieht.“

Die beiden Begriffserklärungen zeigen, dass die Heteronormativität auf vielfältige Art und Weise als feste gesellschaftliche Größenordnung das Leben aller Individuen erheblich beeinflusst. Die soziale Setzung eines Geschlechtermodells, welches allein männlich oder weiblich als akzeptable Kategorie erachtet und „ferner eine Heteronormativität impliziert und aufrecht erhält, scheint tief im menschlichen Denken und in der westlichen Kultur verwurzelt zu sein“ (Calvi, 2012, S. 5). In diesem Zusammenhang kann der Begriff der Heteronormativität auch „als systematische Reflexion von Widerstandspraxen gegen die hegemoniale Ordnung von Geschlecht und Sexualität“ (Wagenknecht, 2007, S. 18) verstanden werden. Die Heteronormativität erzeugt ein geschlechtliches Ordnungsschema, dessen Auswirkungen sich auf körperlicher, geistiger und zwischenmenschlicher

Ebene bemerkbar machen. Heterosexualität wird als sozial konstruierte Norm von Außen in den Körper der Individuen eingeschrieben, willentlich oder unwillentlich. Darüber hinaus wird die Heterosexualität als normierende Denk­figur weitgehend als selbstverständlich hingenommen und fügt sich ungeprüft in die Denkweise der Individuen ein. Heteronormativität stellt in Zusammenhang mit der angeführten normierten Denkweise die Erkenntnis in den Vordergrund, dass „die Annahme von zwei klar voneinander abgrenzbaren, sich ausschließenden Geschlechtern und zum anderen ... [die] Setzung von heterosexuellem Begehren als natürlich und normal“, den gesellschaftlichen Geschlechterdiskurs „in mehrfacher Weise heterosexualisiert .. “ (Hartmann & Klesse, 2007, S. 9).

Die Lebenswelten der Individuen werden von „normative[n] Annahmen über gesunde Körperlichkeit und angemessenes Sozialverhalten sowie normalisierende Identitätszuschreibungen [bestimmt], die allesamt den vorherrschenden Glauben an die Natürlichkeit, Eindeutigkeit und Unveränderbarkeit von Geschlecht und sexueller Orientierung fundieren“ (ebd.).

Individuen, die sich diesem normativen Schema verweigern, die den An­forderungen der Heterosexualität nicht entsprechen bzw. ihnen nicht gerecht werden können, erfahren Selektions-, Sanktionierungs- sowie Restriktions­mechanismen, die eine Einschränkung an Lebensqualität bedeuten: „Ein Abweichen von diesen kulturell vorgegebenen Grenzen [Natürlichkeit, geschlechtliche Eindeutigkeit sowie Unveränderbarkeit der geschlechtlichen Bipolarität] wird ... sanktioniert oder gar pathologisiert“ (Calvi, 2012, S. 5). Im Zusammenhang mit der Heteronormativität muss auf Judith Butlers Begriff der „Heterosexuellen Matrix“ verwiesen werden, die „das Raster kultureller Intelligibilität, durch das die Körper, Geschlechter und Begehrensstrukturen naturalisiert werden“ (Butler, 1990, S. 151), als Kernbegriff der Kritik an der Heteronormativität in ihren Betrachtungen hervorhebt. Durch die dauerhafte, sozial konstruierte Übereinstimmung zwischen biologischem Geschlecht, sozialem Geschlecht sowie sexuellem Begehren manifestiert sich ein gesellschaft­liches Normalitätsverständnis, dessen Kern Butlers heterosexuelle Matrix bildet. Vor allem im Bereich der Körperlichkeit führen Normabweichungen zu erheblichen Problemen, eine Verletzung der heterosexuellen Matrix, die ausschließlich „kohärente, als sinnvoll erkennbare Körper“ mit einem „festen biologischen Geschlecht“ (Butler, 1990, S. 151) als legitim erachtet, ruft zwangsläufig Individuen hervor, die in unserer Gesellschaft als abweichend empfunden werden. Butler (1993, S. 3) spricht in diesem Zusammenhang von „eine[m] Bereich verworfener Wesen, die noch nicht Subjekte sind, sondern das konstitutive Außen zum Bereich des Subjekts abgeben“. Wagenknecht (2007, zitiert nach Hale, 1998, S. 319) bezeichnet die betroffenen Individuen als „Grenzbewohner“, welche „in den beinahe unsäglichen Räumen zu leben versuchen, die von den sich überschneidenden Rändern verschiedener Kategorien [beispielsweise Geschlechtszugehörigkeit] gebildet werden“.

Die starren, sozial konstruierten Kategorisierungsmuster hinsichtlich der Heteronormativität versehen „Männer und Frauen mit spezifischen Attributen, ... denen sie entsprechen und sich ihnen gemäß verhalten sollen“ (Calvi, 2012, S. 48). Somit er-geben sich erhebliche Einschränkungen für all diejenigen, die sich den gesellschaftlichen Normierungsmustern willentlich oder unwillentlich verwehren. Calvi (2012, S. 48) äußert sich diesbezüglich folgendermaßen: „Dieses System mag für manche Menschen funktionieren, aber es funktioniert nicht für alle. Durch den Versuch, sich anzupassen, werden viel zu viele Menschen von diesem System körperlich und geistig verletzt.“ Mit den Worten von Bublitz (2002, S. 257) lassen sich die gesellschaftlichen Normierungskräfte im Kontext der Heteronormativität und die damit einhergehenden Verletzungen aller Individuen, die sich nicht in dieses starre System einfügen können, folgendermaßen beschreiben: „Dieser Vorgang ist auf die Vereindeutigung des Uneindeutigen angewiesen. Er erfolgt von zwei Seiten: zum einen durch regulierende Normalisierungsprozesse, die das Individuum ... an einer Norm ausrichten, zum anderen durch Prozesse der Selbst-Normalisierung . “

An dieser Stelle soll nochmals auf die Problematik von Mika verwiesen werden. Innerhalb institutioneller Bildungseinrichtungen werden deviante Individuen, wie im gesellschaftlichen Zusammenleben auch, mit der heteronormativen Matrix und deren Normierungszwängen konfrontiert. Im Interview von Klika (2012, S. 367) äußert sich Mika zu den Kategorisierungsmechanismen, die eine eindeutige Geschlechtszuordnung fordern, folgendermaßen:

„Ich hab kein Chromosomnpaar, sondern 'n Triple, eben XXY. Und das sieht man mir in manchen Monaten auch wirklich an. Dann hab' ich halt Brustwachstum und das is auf Schulen halt etwas problematischer. Aber es kommt wirklich vor, dass ich zwischenzeitlich äh' ne Brust abbinden muss. Des is nich viel, abers is eben auffällich, weil ich so klein bin, relativ schlank. Fällt dann auf und ähm die ersten Jahre auf'm Gymnasium wurd 'dat nich wirklich geduldet. Deswegen hab' ich auch lange Zeit nich wirklich soziale Kontakte gehabt.“

Die beschriebenen Normierungskräfte, Kategorisierungsmuster, Selektions-, Sanktionierungs- sowie Restriktionsmechanismen verfehlen jedoch ihre Wirkung, ohne etablierte gesellschaftliche Machtstrukturen. Insofern sollen abschließend die Macht- und Diskurstheorien Michel Foucaults im Kontext der Hetero­normativität Beachtung finden. Die Thematisierung Foucaults Analyse von gesellschaftlichen Machtstrukturen rechtfertigt sich innerhalb der vorliegenden Arbeit, „insofern sie den Begriff der Heteronormativität überhaupt [erst] ermöglicht“ (Wagenknecht, 2007, S. 25). Für Foucault ist Sexualität und Geschlechtlichkeit „nicht mehr etwas vorsoziales, in den gesellschaftlichen Verhältnissen nur Unterdrücktes, das befreit werden müsste, sondern wird als Wissen vom Sex [Hervorhebung v. Verf.] diskursiv hervorgebracht und gestaltet“ ebd.). Durch diesen Vorgang etablieren sich „Repression, Bereitstellung von Rastern des Verstehens und Handlungsanleitungen zu Normverhältnissen, in denen sich Macht verwirklicht“ (ebd.). Es stellt sich nun die Frage, inwiefern Foucaults Analyse von Machtverhältnissen mit dem gesellschaftlichen Phänomen der Heteronormativität verbunden ist? Die Antwort findet sich im diskursiven Charakter aller etablierten Normierungs- und Machtverhältnisse. Foucaults Werk „ermöglicht, Heterosexualität als diskursive Erfindung zu denken und die Mechanismen ihrer Naturalisierung, Institutionalisierung, Verkörperung und Regulierung zu untersuchen“ (Wagenknecht, 2007, S. 26).

Somit ist festzustellen, „dass es sich bei der Heteronormativität in erster Linie um ein machtanalytisches Konzept handelt, das in politisierten Bewegungs- und Wissenschaftsdiskursen entstanden ist“ (Klesse, 2007, S. 37). Heteronormativität müsste demnach als diskursives Konstrukt steuerbar und veränderbar sein, sollte jedoch zumindest als gesamtgesellschaftlicher Diskurs in das Bewusstsein aller Individuen gebracht werden. Foucault (1977, S. 122) äußert sich hierzu auf folgende Weise: „Der Diskurs befördert und produziert Macht; er verstärkt sie, aber er unterminiert sie auch, setzt sie aufs Spiel, macht sie zerbrechlich und aufhaltsam.“ Der Diskurs besitzt somit die Macht normierende gesellschaftliche Strukturen zu etablieren, ihm ist es allerdings ebenso möglich, starre Strukturen zu destabilisieren und Raum für neue gesellschaftliche Muster zu schaffen.

3.2.1 Die Wahrnehmung des eigenen Körpers im Kontext gesellschaftlicher Normvorstellungen

„Soziale Strukturen müssen, um stabil zu sein, eine faktische Wirksamkeit entfalten, die die Individuen glauben macht, dass sie sich so und nur so verhalten können“ (Villa, 2004, S. 145). Die Wahrnehmung des eigenen Körpers innerhalb eines normierten gesellschaftlichen Systems wird durch die von Villa beschriebene faktische Wirksamkeit erheblich beeinflusst. Gibt es kein Aus­brechen, kein Entkommen von den restriktiven Normierungsmechanismen? Ein Entkommen, hin zu einer freien, gesellschaftlich akzeptierten Form an vielfältigen Körpererscheinungen scheint schwierig, denn „soziale Strukturen müssen tief und auf präreflexivem Niveau in die Subjektivität eingelassen sein“ (ebd.).

Im folgenden Verlauf wird die Wahrnehmung all derjenigen Individuen thematisiert, die innerhalb unserer Gesellschaft mit dem Stempel der körperlichen bzw. geschlechtlichen Devianz gekennzeichnet sind. In unserer Gesellschaft, gerade auch im Bereich institutioneller Bildungseinrichtungen, ist folgender Mechanismus zu beobachten: „Soziale Vorgaben verregeln biologische Disposi­tionen, die Einstellungen zum eigenen Gefühlsleben sind immer schon Resultat sozialer Praxis“ (Milhoffer, 2000, S. 23). Wie können Kinder bzw. SuS - darüber hinaus SuS, die im Kontext der geschlechtlichen Devianz bzw. körperlichen Beeinträchtigung - ihren Körper auf eine angemessene Art und Weise wahrnehmen, wenn doch die soziale Umwelt mit ihren restriktiven Normierungs­mechanismen allgegenwärtig ist? Eine Umwelt, die Andersartigkeit im günstigsten Fall toleriert, andernfalls sanktioniert. Körper und Geist dieser SuS haben die verschiedensten Ansprüche und Befürchtungen:

[...]

Ende der Leseprobe aus 104 Seiten

Details

Titel
Die Bedeutung körperlicher Devianz im Schulsport. Chancen und Hindernisse zwischen Theorie und Praxis
Hochschule
Technische Universität Darmstadt  (Institut für Sportwissenschaft)
Note
Staatsexamen
Autor
Jahr
2014
Seiten
104
Katalognummer
V299170
ISBN (eBook)
9783656953999
ISBN (Buch)
9783656954002
Dateigröße
1812 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
bedeutung, devianz, schulsport, chancen, hindernisse, theorie, praxis
Arbeit zitieren
Niels van der Woude (Autor:in), 2014, Die Bedeutung körperlicher Devianz im Schulsport. Chancen und Hindernisse zwischen Theorie und Praxis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/299170

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