Die Entwicklung der Selbstidentität Migrantenjugendlicher. Die Bedeutung des sozialen Umfeldes


Magisterarbeit, 2008

97 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung
1.1. Zielsetzung
1.2. Aufbau der Arbeit

2. Theoretischer Hintergrund
2.1. Definition: Migration
2.2. Migrationsgeschichte – Ein Abriss

3. Wanderungstheoretischer Ansatz nach Esser
3.1. Begriffsdefinitionen
3.1.1. Akkulturation
3.1.2. Assimilation
3.1.3. Integration
3.1.4. Allgemeine und spezifische Variable
3.1.5. Zusammenfassung

4. Identitätsforschung
4.1. Erikson: Grundzüge der Identität im Lebenszyklus
4.1.1. Phasen der Identitätsbildung
4.1.1.1. Die Phase der Adoleszenz
4.2. Goffmans Ansatz der Identitätsbildung
4.2.1. Soziale Identität, persönliche Identität und Ich-Identität
4.2.2. Stigma und Identität
4.2.2.1. Bewältigungstechniken
4.3. Synthetisierung der Theorien von Esser, Erikson und Goffman
4.3.1. Identität im Kontext dieser Arbeit

5. Das soziale Umfeld Migrantenjugendlicher
5.1. Definition: MigrantIn
5.2. Definition: Das soziale Umfeld
5.2.1. Die demographische Entwicklung in Österreich
5.2.1.1. Demographische Situation in Oberösterreich
5.3. Lebenssituation jugendlicher MigrantInnen
5.3.1. Die familiäre Situation
5.3.1.1. Die Rolle der Mädchen
5.3.2. Die Wohnsituation
5.3.3. Die soziale Situation
5.3.4. Die Bildungssituation
5.3.4.1. Die Bedeutung der Sprache
5.3.5. Die Ausbildungs- und die Arbeitssituation
5.3.6. Freizeit und Freundschaften
5.4. Die Bedeutung der Religion

6. Empirischer Teil
6.1. Forschungsdesign
6.1.1. Der Fragebogen
6.2. Untersuchungsgegenstand
6.2.1. Die Zweite Generation
6.2.2. Die Dritte Generation
6.3. Hypothesenstellung
6.4. Verwendete statistische Verfahren
6.5. Stichprobenanalyse
6.6. Das soziale Umfeld
6.6.1. Sozioökonomischer Hintergrund
6.6.2. Wohnsituation
6.6.3. Schulbildung und Sprachkompetenz
6.6.4. Arbeits- bzw. Schulsituation
6.6.5. Religion
6.6.6. Freizeit und Freundschaften
6.6.7. Der Umgang mit Diskriminierungen
6.7. Überprüfung der Hypothesen
6.8. Fazit
6.9. Ausblick

7. Resümee

8. Internetquellen

9. Literaturliste

10. Anhang

1. Einleitung

Migration bedeutet für die Betroffenen einen Bruch mit der bisherigen Lebensgeschichte, durch die Trennung von der Herkunftsfamilie, der neu zu erlernenden Sprache und der Kultur. Jede Migration kann als ein krisenhafter Prozess verstanden werden, der noch Auswirkungen auf die neuen Generationen, die in dem Aufnahmeland nachwachsen, hat.

Migranten[1] machen einen Teil der Realität in den Einwanderungsländern aus, daher ist es eine Notwendigkeit, durch Migrationsspolitik anstehende Probleme zu lösen und präventive Maßnahmen zu setzen. Integration ist nicht nur ein soziologisches Konzept sondern ist, speziell in den vergangenen Jahren, zu einer politischen und äußerst kontrovers behandelten Thematik geworden. Österreich wird zwar im Zuge der Zuwanderung zunehmend multikulturell, jedoch auf rechtlicher und gesellschaftlicher Ebene wird nur ein geringer Beitrag zur Integration von in Österreich lebenden Migranten geleistet. Integration wird als eine von Migranten zu erbringende Leistung betrachtet.

Der kulturellen Verschiedenheit der einzelnen Nationen ist ein Spannungspotential inhärent. So wird als vorherrschende Reaktion die Angst der Bevölkerung gegenüber dem Fremden geschürt und die Abschottung einzelner Gruppen durch die mediale Berichterstattung gefördert. Ethnizität kann sowohl als eine Ressource und somit identitätsgebend, aber auch als Konfliktpotential betrachtet werden.

Identitätsfindung wird in einer Gesellschaft, die keine ganzheitlichen und sinnvollen Lebensmodelle für die Individuen bereitstellt, zunehmend schwieriger. Es ist eher der Fall, dass einzelne Lebenswelten ein Patchwork von Sinnfindungsmöglichkeiten bilden. Identitätsbildung wird dadurch flexibler, offener, aber es wird auch schwieriger, die Frage zu beantworten "wer bin ich", oder "wo komm ich her". Die eigene Identität wird nur in Krisenzeiten in Frage gestellt, dann jedoch werden die bestehenden Fundamente auf ihre Haltbarkeit heftig überprüft.

Migrantenjugendliche können nicht als eine homogene Gruppe hingestellt werden, die unabänderlich mit Problemen konfrontiert sind. Der soziale Kontext und die Lebensumstände ihrer gesamten Umwelt müssen immer in die Betrachtung miteinbezogen werden, denn es gibt durchaus Migranten, die ihren Platz in der Aufnahmegesellschaft gefunden haben bzw. finden. Gelungene Lebensbiographien hängen von den verschiedensten Faktoren ab, die strukturellen Rahmenbedingungen sind jedoch immer in Betracht zu ziehen.

1.1. Zielsetzung

Durch meine berufliche Versetzung (2003) in ein Ballungszentrum am Stadtrand von Linz/OÖ wurde ich allmählich der Probleme gewahr, welche es in meiner jahrelangen Tätigkeit zuvor an einer Landschule, mit höchstens ein bis zwei türkischen (od. anderen) Migranten pro Klasse, nicht zu geben schien. Meine Unterrichtstätigkeit an mehreren städtischen Hauptschulen im Raum Linz führte letztendlich zu der Erkenntnis, dass diese Zielgruppe ein besonders großes Spannungsverhältnis zur Elterngeneration und zur österreichischen Gesellschaft aufweist.

Folgende Aussagen im Zeitraum 2003-2006 konkretisierten mein Interesse, immer mehr der Frage nachzugehen, warum sich manche türkische Migranten so überhaupt nicht anfreunden können mit der österreichischen Kultur, ihrer Schulausbildung in Österreich oder den hierzulande gegebenen Normen und Werten. Wie fühlen sich diese Menschen, wenn sie solche Aussagen treffen? Wo definieren sie ihren Platz in der österreichischen Gesellschaft? Kann unter diesen Voraussetzungen jemals Integration erreicht werden? Welche Lösungsansätze müsste die österreichische Gesellschaft/Politik anbieten? Daher beschränkt sich diese Arbeit bewusst auf die Zielgruppe der türkischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund.

1. Eine junge Frau (türk. Abstammung der 2. Generation und Schulabschluss einer Handelsakademie), bereits selber Mutter eines 6-jährigen Sohnes, kam für ihre jüngere Schwester (14 J.), die in der Schule große Motivationsprobleme hatte, nachfragen und stellte fest: "Also, ich geb' meinen Sohn nicht in eure Schule (gemeint ist die angrenzende Volksschule), denn da sind zu viele Türken und das ist schlecht für die Lernmoral. Lieber fahr ich ihn 15 Minuten in eine andere Schule mit weniger Türken."
2. Ein Vater am Elternsprechtag, als es um Probleme mit seinem Sohn ging: "Mit Ihnen rede ich nicht, sie sind eine Frau!"
3. Eine Schüler (16 J., türkischer Herkunft, 2.Generation), auf meine Frage, warum er immer wieder Schwierigkeiten mit meinen Anweisungen habe: "Sie wissen nicht, wie schwer das ist, zu Hause sagt Papa, ich soll mir nichts von Frauen sagen lassen und in der Schule muss ich aber folgen."
4. Der selbe Schüler bei der Gangaufsicht (kurz vor Schulende) auf meine Frage, was er denn glaubt, dass seine Zukunft bringt: "Ich schlafe jetzt mit österreichischen Frauen, dann heirate ich eine Türkin. Vielleicht gehen wir wieder in die Türkei zurück."
5. Ein männlicher Schüler, 12 J.: "Ich hab mich so gefreut auf die Schule, aber jetzt, wo mir jeder (gemeint sind die Lehrer) sagt, wie schlecht ich bin, mag ich die Schule nicht mehr."

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Integration und Identität sowohl der "Zweiten" als auch der "Dritten" Generation türkischer Migrantenjugendlicher. Jugendliche, die in zwei Kulturen aufwachsen, sind mit anderen Thematiken konfrontiert, als österreichische Jugendliche. Eltern, die sich teilweise konträr zu den Zielen der Schule verhalten, erweitern den Graben, über welchen den Migrantenjugendlichen der Spagat gelingen soll.

Um die Lebenssituation Migrantenjugendlicher der Zweiten und der Dritten Generation darstellen zu können, muss zuerst nach den Bedingungen ihrer Identitätsentwicklung gefragt werden, die, seit Erikson, als zentrale Entwicklungsaufgabe des Jugendalters angesehen wird. Durch die erste Prägungsphase im Sozialisationsverlauf übernehmen Migrantenkinder ein Bild von sich (sie sind der Türke, der Österreicher …) und können dieses nicht mehr ablegen.

Die Forschungsfragen sollen daher so formuliert werden:

Gibt es geschlechtsimmanente Kriterien im Bezug auf die Identität Migrantenjugendlicher?

Gibt es Transformationsprozesse in der Herausbildung der Identität zwischen der Ersten und Zweiten bzw. der Dritten Generation?

Der Vollständigkeit halber muss noch erwähnt werden, dass es auch nicht wenige Österreicher aus sozial benachteiligten Milieus gibt, welche Schwierigkeiten haben, die eigene Lebensweise in Einklang mit dem Rechtssystem zu bringen und sich nach den tragenden Werten und Normen der Gesellschaft zu richten.

1.2. Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich im zweiten Kapitel mit Auszügen des theoretischen Hintergrundes der Migrationsforschung.

Im darauf folgenden Kapitel 3 wird Bezug genommen auf Aspekte der Migrationssoziologie bei Esser, der sich vorwiegend mit der Frage inwieweit Arbeitsmigranten durch ihr Verhalten zu einer Überwindung oder zu einer Verfestigung der Minoritätsposition beitragen. Die Wirtsgesellschaft kann lt. Esser ihrerseits mehr oder minder günstige Lebensbedingungen, Eingliederungshilfen oder Barrieren in den Weg stellen.

Die Theorie von Esser scheint für die Beantwortung der Forschungsfrage als besonders gut geeignet, da sowohl der Prozess der Eingliederung als auch die Motivation zur Wanderung berücksichtigt wird. Unmittelbar betroffen ist die Erste Generation, die Zweite nur mehr indirekt durch die Auswirkungen der Wanderung der Eltern. Obwohl die Dritte Generation über keine persönliche Migrationserfahrung verfügt, überliefern dennoch die Großeltern die Familiengeschichte, die Kultur eines für die Dritte Generation teilweise "fremden Systems".[2]

Aus dem Bereich der Identitätsforschung (Kapitel 4) wird Eriksons Phasenmodell der Entwicklung einer reifen Ich-Persönlichkeit vorgestellt. Der Schwerpunkt wird im Sinne der vorliegenden Arbeit auf die Phase der Adoleszenz gesetzt.

Die einzelnen Phasen werden jeweils mit besonderem Augenmerk der spezifischen Situation Migrantenkinder/Jugendlicher analysiert.

Ich-Identität bei Goffman entwickelt sich durch Selbst-Reflexion und Reflexion mit der gesellschaftlichen Umwelt. Goffmans kritische Analysen der Stigmatisierung von Individuen sowie deren Bewältigungstechniken stehen auch im Mittelpunktes des Interesses von Kap. 4.

Nach Begriffsklärungen und Definitionen wird kurz die demographische Entwicklung Österreichs hinsichtlich Migration dargestellt (Kapitel 5.1. und 5.2.).

Im Kapitel 5.3. liegt der Schwerpunkt auf den gegenwärtigen Lebensbedingungen Migrantenjugendlicher in Österreich. Speziell differenziert werden die Problembereiche Migrantenjugendlicher, wo augenfällig auch unter dem Aspekt der verschiedenen Geschlechter Bildung und Sprache, die Arbeits- und die Freizeitsituation, die familiäre sowie die soziale Situation, als auch die Bedeutung der Religion betrachtet werden.

Das gesamte Kapitel 6 besteht aus dem empirischen Teil. Hier befinden sich die Ergebnisse der Fragebogenuntersuchungen sowie der Überprüfung der Hypothesen. Es folgt ein Handlungsansatz der "Interkulturellen Kompetenz", der auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund abzielt.

Abschließend geben im letzten Kapitel (Kapitel 7) eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit und zukunftsorientierte Forderungen an die österreichische Gesellschaft einen letzten Einblick in die Thematik der Integration von Migranten und in die Prozesse der Identitätsfindung.

2. Theoretischer Hintergrund

Im folgenden Abschnitt sollen nun verschiedene Ansätze aus der Migrations-, Akkulturations- und Assimilationsforschung, sowie exemplarisch einige Ansätze der Integrations-, Sozialisations- und Identitätstheorien vorgestellt werden, um den theoretischen Rahmen der Arbeit festzulegen.

2.1. Definition: Migration

Der Begriff "Migration" stammt vom Lateinischen "migrare" ab und bedeutet Wanderung. Es gibt zahlreiche Definitionen dieses Begriffes, folgender soll für diese Arbeit gelten:

"Migration ist der auf Dauer angelegte bzw. dauerhaft werdende Wechsel in eine andere Gesellschaft bzw. in eine andere Region von einzelnen oder mehreren Menschen" (Treibel 2003, S.21).

2.2. Migrationsgeschichte – Ein Abriss

Die Fremden der Ersten Generation

Die soziale Figur des Fremden nimmt bei Simmel (1908) eine spezifische Position ein, denn er ist – im Gegensatz zu einem Wandernden, der heute kommt und morgen geht – der " (…) potentiell Wandernde, der obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat" (S.685). Der Begriff MigrantIn vereint insofern Nähe und Distanz: Fremdheit ist somit ein Status, der sowohl soziale Dazugehörigkeit als auch Nicht-Dazugehörigkeit impliziert, und sich auf die Wahrnehmung, dass Fremde auch als Fremde wahrgenommen werden, bezieht (vgl. Ornig 2006, S.44).

Österreich ist seit jeher von Migrationsbewegungen beeinflusst. Ende der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts begann die Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Mittelmeerraum um einen Arbeitskräftemangel, bedingt durch Kriegsverluste und der Abwanderung junger Arbeitskräfte, zu kompensieren. Waren ursprünglich nur kurze (nach einem einjährigen Rotationsprinzip) Aufenthalte der Arbeitsmigranten vorgesehen, blieben diese doch länger und holten ihre Familien sukzessive nach Österreich nach.[3] (vgl. Münz, Kytir 2003, S.21).

In den Anfängen der Migrationssoziologie wurden die funktionale Anpassung (das Erlernen der notwendigen Codes, wie z.B. die Sprache) und die vollständige Identifikation der MigrantInnen noch als logisches Ergebnis einer (erfolgreichen) Eingliederung gesehen (vgl. Ornig 2006, S.46).[4]

Esser (2003) betont, dass ethnische Gemeinden der ersten Generation die Funktion einer Auffangstation für "Binnenintegration" haben, daher bestehen bei anhaltender Migration auch immer ethnische Gemeinden.

Park sah eher in der Dauer des Fremdseins das Problem. Er stellte seinen "marginal man" (Randständiger) in das Spannungsfeld verschiedener und widersprüchlicher Kulturen. Park betrachtet den "marginal man" auch als einen neuen Persönlichkeitstypus, dessen Darstellung für die Entwicklung von Zivilisation dient (vgl. Breckner 2001, S. 81).[5]

Diese Entwicklungsmöglichkeiten, von denen Park spricht, werden durch die Kommunikation und den Kontakt der verschiedenen (auch in Spannung zueinander stehenden) Kulturen, die auf Grund von Migration aufeinander treffen, gefördert. Jedoch bleiben Individuen, die in zwei miteinander schwer vereinbaren Kulturen leben, oft in beiden Kulturen fremd; eine Tatsache, welche Zugehörigkeitskonflikte – wie Identitätsunsicherheiten – mit sich bringt (vgl. Ornig 2006, S.47).

Spätere theoretische Analysen (z.B. Eisenstadt) beziehen sich auf :

a) die kulturelle, b) die personale und c) die institutionelle Dimension der Akkulturation[6] von MigrantInnen. Der kulturellen Dimension entspricht das Erlernen von Rollen, Normen und Gebräuchen. Die personale Dimension bezieht sich auf den Grad der inneren Zufriedenheit bzw. der emotionalen Anpassung. Als institutionelle Dimension führt Eisenstadt das Eindringen der Einwanderer in institutionelle Bereiche der Aufnahmegesellschaft an (vgl. Treuheit/Otten 1986, S.32).

Zu bedenken gilt, dass mit der Migration das Verlassen des vertrauten Kontextes und das Abschiednehmen von Gewohnheiten in allen Lebensbereichen einhergeht. Es ist richtig, dass die Zweite Generation die Normen des Aufnahmelandes kennen lernt, ob dadurch jedoch bereits Akkulturation im Sinne Eisenstadts vorliegt, kann bezweifelt werden. Ein Wissen von Normen bedeutet keinesfalls deren bewusstes Erlernen. Durch die innerliche Zerrissenheit Migrantenjugendlicher kann deren Entscheidungsphase für den bewussten Beitritt zu einer oder beiden Kulturen oder einer Synthese von beiden länger dauern. "Insgesamt dauert der Prozess der Anpassung lange und zwar umso länger, je weiter der kulturelle und soziale Abstand zwischen Herkunftsland und Gastland ist" (Lueger-Schuster 1996, S.19).

Spätere soziologische Theorien begreifen Integration als Prozess, indem die Kulturen der verschiedenen aufeinander treffenden ethnischen Gruppen ohne sozioökonomischen Nachteil beibehalten werden können. MigrantInnen verfügen prinzipiell über die Möglichkeit der Wahl zwischen bzw. der Zugehörigkeit zu zwei Kulturen (vgl. Ornig 2006, S.47).

3. Wanderungstheoretischer Ansatz nach Esser

Wanderungen und Eingliederungen können aus unterschiedlichster Motivation heraus durchgeführt werden. Daraus ergibt sich für Esser auch die Notwendigkeit der Entwicklung einer "Wanderungstheorie", die in der Lage ist "typische" Beziehungskonstellationen mit "typischen"[7] Folgen herauszufiltern, um zumindest ansatzweise eine allgemeingültige Konzeption zu entwickeln (vgl. Esser 1980, S.13). Den Fokus des Interesses legt Esser dabei auf die Frage, inwieweit Migranten durch ihr eigenes Verhalten und durch verschiedene Anpassungsleistungen an die Umwelt anteilig eine Festigung bzw. eine Überwindung der Minderheitenposition evozieren.

Der Prozess der Eingliederung umfasst gewisse assimilative Handlungen, die ihre Ursache in der Attribuierung subjektiv wahrgenommener Erfolgschancen haben. Eingliederung von Wanderern stellt sich demnach ein, "wenn ein Wanderer schließlich assimilative Handlungen als subjektiv erfolgver-sprechender zur Erreichung hochbewerteter Ziele wahrnimmt, keine folgenschweren, negativ bewertenden Konsequenzen (…) annimmt und bei entsprechender Handlungswahl das angestrebte Ziel regelmäßig und dauerhaft erreicht" (Esser 1980, S.14).

Exkurs: Handlungstheoretische Erklärungsweise für Migration Handlungstheoretische Ansätze versuchen allgemein individuelles Verhalten zu erklären, indem empirische Untersuchungen handlungstheoretischer Hypothesen auf der Individualebene erfolgen.

Verstanden wird darunter ein "theoretischer Ansatz in den Sozialwissenschaften, der die Intentionalität (Zielgerichtetheit) menschlichen Handelns zur Grundlage (…) nimmt (Verstehbarkeit menschlichen Handelns)" (Fuchs-Heinritz et.al 1995, S.266).

Wanderungsmotive können auf diese Weise erhoben werden. Mit Esser lassen sich die handlungstheoretischen Forschungsperspektiven durch zwei zentrale Annahmen kennzeichnen. Für die Erklärung von Wanderungen bedeutsam sind einerseits der Zustand der Umgebung und die Position des Akteurs in der Umgebung und andererseits die Vorstellungen, Bewertungen und Wahrnehmungen der Umgebung durch den Akteur - einschließlich gedanklicher Vorwegannahmen zukünftiger Beziehungen der Person zur Umgebung (vgl. Wagner 1989, S.22).

Die Erklärung räumlicher Mobilität erfolgt durch subjektive Merkmale:

a) Motivation (Anreizwert einer Zielsituation)
b) Wissens- und Kontrollaspekt von Handlungen (Erwartungshaltung in die Kontinuität von Handlungen bzw. in die zielgerichtete Durchführbarkeit einer Handlung)
c) Kostenaspekt (Kosten-Nutzen-Abwägung)

Dieser Ansatz scheint gut geeignet für die Erklärung der Wanderungssituation der Ersten Generation zu sein. Als Anreiz galten in erster Linie die Arbeit sowie die Antizipierung der Befriedigung von Vorstellungen und Bedürfnissen.

Die Eingliederung von Wanderern bzw. die Stellung von Wanderern zum Aufnahmesystem ist laut Esser durch die Vielfältigkeit der Beziehungen von Personen zu ihrer sozialen Umwelt gekennzeichnet, wie z.B. Segregation, Wertübernahme oder Interaktion usw. (vgl. 1980, S.19). Daraus resultiert eine Notwendigkeit der sprachlichen Klarstellung und Definition, um Ungenauigkeiten der Begrifflichkeiten zu vermeiden.

3.1. Begriffsdefinitionen

Um eine strukturierte Basis für die Forschungsfrage zu gewährleisten, sollen im Folgenden die Begriffe definiert bzw. klargestellt werden:

Bei der Analyse der Verhältnisse von Migranten und Aufnahmegesellschaft differenziert Esser drei Formen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.:1 Esser 1980, S.25

3.1.1. Akkulturation

Esser beschreibt Akkulturation als einen Lernprozess von Personen an einem neuen sozialen oder kulturellen System durch die Übernahme von Verhaltensweisen und Orientierungen, durch das Erlernen kultureller Fertigkeiten und durch den Austausch kultureller Elemente, die mit den kulturellen Standards des Aufnahmelandes vereinbar sind (vgl. 1980, S.21). Den Prozess der Angleichung bezeichnet er als Akkulturation. Akkulturation liegt auch dann vor, wenn es sich lediglich um die Übernahme von Teilelementen oder Teilkulturen handelt (wie z.B. Subkulturen, schichtenspezifische Ausprägungen) (vgl. Treuheit/Otten 1986, S.34).

3.1.2. Assimilation

"Assimilation ist die allgemeine Bezeichnung für ein Ähnlichwerden aufgrund eines Angleichungs- oder Anpassungsprozesses" (Fuchs-Heinritz et.al 1995, S.63). Üblicherweise wird mit der Assimilation von Einwanderern die Annahme der Sprache (bei gleichzeitiger Aufgabe ihrer eigenen) und der Gebräuche ihres Aufnahmelandes verbunden.[8]

Esser (2003) weist jedoch ausdrücklich darauf hin, dass seines Erachtens Assimilation "nicht die spurenlose Auflösung aller Unterschiede zwischen den Menschen bedeute, sondern lediglich die Verringerung systematischer Unterschiede zwischen den Gruppen und die Angleichung in der Verteilung der betreffenden Merkmale".[9]

Speziell bei der zweiten Generation könnte hier von einem soziokulturellen Wandel gesprochen werden, graduell gestuft nach der Integration oder Assimilation in das Aufnahmesystem.

3.1.3. Integration

Integration, im allgemeinen, wird verstanden als etwas (wieder) zu einem Ganzen herstellen, bzw. dass Kleineres in ein größeres Ganzes eingegliedert wird.[10] Esser beschreibt Integration als einen Zustand des Gleichgewichtes von Personen und den sie betreffenden relationalen Systemen (vgl. 1980, S.20). Für ihn ist die Grundlage jeder Integration die Interdependenz der Teile, also ihre wechselseitige Abhängigkeit.[11] Jedoch betrachtet er Integration unabhängig von der erfolgten Annäherung. Wenn Integration als gleichberechtigter Zugang zu allen gesellschaftlichen Subsystemen verstanden wird, kann/muss sie die Voraussetzung für Assimilation sein.

3.1.4. Allgemeine und spezifische Variable

Die Problematik des Eingliederungsprozesses ist für Esser durch die Notwendigkeit der Re-Organisation der psychischen Orientierung sowie der sozialen Einbindung gegeben, um dadurch eine stabile Identifikation mit den neuen Lebensbedingungen zu erlangen. Esser erwähnt als einen weiteren Faktor die Folgen der Eingliederung für die Strukturierung der Aufnahmegesellschaft (vgl. ebenda, S.19).

Esser differenziert somit vier Dimensionen der Assimilation, die auch als Grundlage dieser Arbeit betrachtet werden: eine kognitive, eine identifikative, eine soziale und eine strukturelle Dimension:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.: 2 vgl. 1980, S.22f. und S. 221, sowie Esser 2003[12]

- Kognitive Assimilation (vor allem über das Erlernen und Verwenden der Sprache des Aufnahmelandes, etc.): Es zeigt sich, dass diese in der zweiten Generation bereits erfolgreich ist, bzw. sich noch in einer prozessualen Entwicklung befindet.
- Identifikative Assimilation (Identifizierung mit der Aufnahmegesellschaft): Laut Esser erfolgt nach der identifikativen Angleichung in der "kathektischen"(…) Hochschätzung von Elementen des Aufnahmesystems die Wert-Dimension. Aufgrund der Attribuierungen und damit verbundenen Selbstidentifikation mit der Herkunftskultur steht aber in der Zweiten Generation (und teilweise auch in der Dritten) die Identifizierung mit der Aufnahmegesellschaft noch am Anfang.
- Soziale Assimilation (interethnische Kontakte): Die Interaktions-Dimension beschreibt die sozialen "Aspekte" der Angleichung, welche das Ausmaß der Aufnahme interethnischer Kontakte im Verhältnis zu innerethnischen Interaktionen umfasst. Auch hier kann festgestellt werden, dass dieser Prozess in der Zweiten und – mit steigender Tendenz – in der Dritten Generation erfolgreich stattfindet.
- Strukturelle Assimilation (Einkommen, Berufsprestige): Die Dimension der Angleichung, auch Status-Dimension genannt, impliziert den Grad des Eindringens in das Status- und Institutionensystem der Aufnahmegesellschaft. Sowohl die Erste als auch die Zweite Generation sind auf den unteren Ebenen anzutreffen. Es gibt nur geringe Aufstiegschancen.

Den Schlüssel für die Sozialintegration sieht Esser (2003) in der Sprache[13] und in der daran anschließenden strukturellen Assimilation in das Bildungssystem und den Arbeitsmarkt im Aufnahmeland. "Ohne strukturelle Assimilation kann es weder eine soziale noch eine emotionale Hinwendung zur Aufnahmegesellschaft geben".[14]

Durch die Kombination der verschiedenen Variablen lassen sich die unterschiedlichen Typen der Anpassung erklären (vgl. Esser 1980, S.224f., Fischer 2003, S.86f. und Fischer, Kneher 2003 S.83ff.):

Die ethnische Subkultur (Segmentation): Durch keine spezifischen Erwartungen und kein Vertrauen in die Wirksamkeit eigener Handlungsimpulse wird nach Möglichkeit der Rückzug in ein ethnisches Getto gesucht, um soziale und emotionale Stabilisierung zu erhalten. Statt sich um Kontakt zu Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft zu bemühen, wird eher in Beziehungen in eine ethnische Subkultur investiert. Nach Esser hängt es von der „institutionellen Vollständigkeit und Exklusivität der ethnischen Subkultur ab“, ob und wie lange dieser Zustand der Assimilation anhält. Werden die meisten oder gar alle Grundbedürfnisse des Wanderers in der ethnischen Subkultur erfüllt, zeigen sich nur minimale assimilative Tendenzen, was einer dauerhaften Etablierung der eigenen ethnischen Gruppe gleichkommt.

Die Marginalität beschreibt das Fehlen jeder Sozialintegration und erklärt die Existenz einer "unterwürfigen Randpersönlichkeit" (eine deferente Marginalität). Es ist kein Rückzug in ein Getto möglich und die Person bleibt dadurch den Einflüssen der Fremde ausgesetzt. Allerdings dürfte dies kein selbst-stabiler Zustand und auch nicht von Dauer sein (vgl. ebenda).

Partielle Anpassung geschieht bei starker Motivation, interner Attribution aber dem Vorhandensein von Barrieren oder Alternativen wie z.B. einer beabsichtigten Rückkehr ins Heimatland.

Kann keine Assimilierungsform gefunden werden (z.B. durch zu starke Familienbande in die Heimat), könnte abweichendes Verhalten, Regression, die Folge sein.

Mechanische Anpassung kann der Einwanderer durch das Erlernen typischer Alltagsrituale vollziehen. Diese können durchaus unreflektiert vollzogen werden, wenn der Wanderer aus kulturell ähnlichen Ländern kommt. Im Falle eines großen Kulturunterschiedes wird eine völlige Umorientierung des Alltagshandelns erfordert.

Führt die Übernahme von Handlungsweisen, die im Wirtsland typisch sind, zum Erfolg, bezeichnet Esser dies als traditional-emphatische Anpassung.

Werden neue Verhaltensweisen entwickelt, für die auch das Gastland keine Vorbilder hat, werden diese im positiven Sinn als "innovativ-emphatische Anpassung" bezeichnet (bei negativen Auswirkung kann mit psychischen und sozialen Folgen der Regression bzw. Anomie gerechnet werden).

Die Mehrfachintegration, als Kontakt mit beiden Kulturen gleichzeitig, ist laut Esser nur unter günstigen Voraussetzungen (wie z.B. hohe Bildung der Eltern, materielle Sicherheit) zu erwarten. Diese Mehrfachintegration findet eher bei Personen aus den Bereichen Kunst, Sport oder Politik statt.

"Weil die Mehrfachintegration deshalb für den Normalfall der (Arbeits-) Migration nicht zu erwarten ist und weil die Marginalisierung der Migranten kein politisches Ziel sein kann, gäbe es als Optionen für die Sozialintegration der Migranten nur die Alternativen der Segmentation und der Assimilation".[15]

Im Vergleich zur Ersten Generation hat die Zweite Generation bei Esser Assimilationsvorteile. Durch das Fehlen von konkurrierenden Bedingungen und die (eher, Anm. d. V.) einheitliche Sozialisation wird eine spürbar reibungs- und aufwandlosere Assimilation ermöglicht (vgl.1980, S.231). Akkulturation kann dann zu Integration und Assimilation führen, wenn MigrantInnen auch bewusst Eingliederung anstreben.

Die Zweite und auch die Dritte Generation haben zwar betreffend der kognitiven Assimilation und auch bezüglich der interethnischen Kontakte[16] einen Vorteil, können diesen jedoch nur spärlich nutzen, da ihnen die ethnische Herkunft einen gewissen Status zuzuschreiben scheint (siehe dazu Kapitel 4).

Weiters muss noch angemerkt werden, dass es in den meisten Bereichen (wie z.B. Wohnumfeld, Karrierechancen) nach wie vor eine Schlechterstellung bzw. ein Defizit gibt. Alle Generationen sind von Einschränkungen bzw. Barrieren bei der strukturellen Assimilation (z.B. hohe Arbeitslosigkeit) betroffen.

Zu beachten gilt, dass einerseits die Zweite Generation höchst heterogen ist und andererseits durch die Bildung und Stabilisierung von ethnischen Kolonien rückläufige Tendenzen in den Assimilations- und Integrationsprozessen zu beobachten sind (vgl. Dietzel-Papakyriakou 1993, S.42).

3.1.5. Zusammenfassung

Zusammenfassend kann nun mit Esser festgestellt werden, dass der Aspekt des Gleichgewichts nicht mehr die Eingliederung in alle Ebenen der Gesellschaft bedingt. Ethnische Identitäten können, zumindest theoretisch, beibehalten werden, bilden dabei jedoch eine Hierarchie,[17] "bei der die ethnischen (bzw. kulturellen und religiösen) Merkmale systematisch mit bestimmten strukturellen Variablen (wie Bildung, Einkommen, Berufstätigkeit, auch Prestige) kovariieren".[18]

Nach Essers Theorie kann demnach gefolgert werden, dass jene MigrantInnen in höherem Ausmaß in der Aufnahmegesellschaft eingegliedert sind, welche

- klare, hochbewertete Zielvorstellungen haben und diese verfolgen,
- ihre Handlungen als durchführbar und erfolgversprechend sehen,
- diese Handlungen in überzeugter Weise umsetzen,
- ihre Handlungswahl von ihrer Umwelt als belohnend erleben,
- über weniger Alternativen zu assimilativen Handlungen verfügen,
- keine negativen Konsequenzen ihrer Handlungen erwarten (müssen)
- und geringem gesellschaftlichen Widerstand ausgesetzt sind (vgl. z.B. Ornig 2006, S.50 und Esser 1980, S.14).

Laut Esser liegt es nahe, die Aspekte der Integration mit dem Konzept der personalen Identität als den transsituational stabilen Teil des Selbst zu verbinden, der sich aus der erfolgreichen Bewältigung von Problemsituationen ergibt. Der Begriff der Integration bezieht sich in diesem Sinne auch auf die Stabilität bzw. Geregeltheit von Interaktionsbeziehungen (vgl. 1980, S.23f).

Die assimilative Stufe der Anpassung wird erst durch die Zweite und die Dritte Generation der Einwanderer in Folge von immer mehr zunehmenden Primärkontakten erreicht. Eine Grundvoraussetzung für die Assimilation ist die gemeinsame Sprache. "Die (noch) nicht assimilierte Erste Generation weiche in Bezug auf ihre Kultur, ihre Erinnerungen und Gefühle von den Einheimischen ab" (Treibel 2003, S. 89).

Für Esser (2003) ist eine eklatante Benachteiligung hinsichtlich der strukturellen Assimilation für Migranten ersichtlich, "wobei es bei den Türken zusätzlich noch deutliche Anzeichen auch einer sozialen und emotionalen Segregation und der Ausbildung einer Art von ethnoreligiöser Sub-Nation gibt".[19]

Wenn Integration als Gleichgewichtszustand bzw. als Zutritt zu Statuslinien verstanden wird, könnte das für die (nicht nur) österreichische Politik, deren Integrationsverständis in erster Linie an Anpassung an österreichische Werte, Normen und Traditionen ausgerichtet ist, bedeuten, Statuslinien zu öffnen und sie Migranten zugängig zu machen. Notwendigerweise müsste dann Einbürgerung zu Beginn und nicht am Ende des Niederlassungsprozesses stehen.

4. Identitätsforschung

Voran sollen Definitionen und Gedanken gestellt werden, um die Vielschichtigkeit des Begriffes "Identität" zu demonstrieren:

Das Wort Identität hat seinen Ursprung im Lateinischen "idem" und beschreibt das Gleichbleibende, Dasselbe (vgl. Fuchs-Heinritz et al. 1995, S. 286).

"Ich gebe meiner Seele bald dieses, bald jenes Gesicht, je nach welcher Seite ich sie wende. Wenn ich unterschiedlich von mir spreche, dann deswegen, weil ich mich als unterschiedlich betrachte" (Michel de Montaigne).[20]

Abels (2006) spricht jenen Umstand an, dass Menschen oft nur dann als identisch wahrgenommen werden, wenn sie in allen Situationen mit "sich gleich" – also authentisch- und nach festen Grundsätzen agieren (vgl. S.244).

"Unsere Identitäten sind vielfältig. Die Verengung der Identität auf die Religion trägt deshalb viel Konfliktpotenzial in sich" (Rushdie 2007, S.23).

"Identität ist eine Sache des Bewusstseins, das heißt des Reflexivwerdens eines unbewussten Selbstbildes. Das gilt im individuellen wie im kollektiven Leben" (Assmann 1992, S.130).

Die Herausbildung der Identität bei Erikson selbst wird verstanden als ein lebenslanger Prozess, der einerseits aus dem Individuum, als auch aus dessen sozialem und kulturellem Kontext zu erklären ist (vgl. 1998, S.188f.).

Exkurs: Sozialisation

Sozialisation wird allgemein verstanden als ein Prozess des Eingliederns in eine Gesellschaft, eine soziale Gruppe, bei gleichzeitiger Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen.[21] Unterschiedliche Sozialisation ruft verschiedene Verhaltensweisen hervor, wie z.B. schichtspezifische, kulturspezifische oder geschlechtsspezifische Ausprägungen.

Um in Gesellschaften leben zu können, müssen Individuen Fähigkeiten, Fertigkeiten, Wertmaßstäbe und Verhaltensstandards, die in der konkreten Gesellschaft von Bedeutung sind, erwerben.[22] Durch Prozesse der Sozialisation generiert sich auch die Fähigkeit, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen, eine notwendige Voraussetzung, um die eigene Identität als eine handlungsfähige Persönlichkeit wahrzunehmen. Sozialisation ist ein Prozess, der das gesamte Leben andauert, dessen größte Bedeutung jedoch in der Kindheit und Jugendphase liegt. Wichtigste Sozialisationsinstanzen sind: peer-groups, BeziehungspartnerInnen und Selbstsozialisation.

In den Sozialwissenschaften wird in der Regel zwischen primärer und sekundärer Sozialisation unterschieden. Die primäre ist ein grundlegender (Lern-) Prozess, in dem das Kind zur Teilhabe an der Gesellschaft heranwächst (wie z.B. durch Herkunftsfamilie oder durch die spierlerische Eroberung der Umwelt). Familien, als wichtigste Sozialisationsinstanz, vermitteln nicht nur die Normen und Sitten ihrer Kultur, sondern auch deren spezielle Stile, Werte und Mythen, welche die eigene Familienbiographie widerspiegeln.

Die sekundäre Sozialisation vollzieht sich zum größten Teil außerhalb der Familie (wie z.B. in der Schule, in Jugendgruppen oder im Beruf) und kann daher als Lernleistung eines primär sozialisierten Individuums, welches den Verhaltensanforderungen neuer sozialer Umgebungen oder Referenzgruppen entspricht, begriffen werden.[23]

"Es überrascht daher nicht, dass jede Verzögerung eines familiären Anpassungsprozesses offensichtlich wird, wenn eine neue Generation in dem Aufnahmeland nachwächst. Was auch immer von der ersten Generation vermieden wurde, wird in der nächsten wieder aktuell, meistens in Form eines Generationenkonflikts. Solche Konflikte drücken sich am krassesten in Familien aus, die in Ghettos leben" (Sluzki 2000).[24]

4.1. Erikson: Grundzüge der Identität im Lebenszyklus

Erschwert durch die sozial-rechliche Statusunsicherheit potenzieren sich bei vielen Migrantenjugendlichen die problemhaft besetzten Fragen[25] wie "Was ist das Leben?" - "Wer/Was bin ich?" – "Woher komme ich?"- "Wo ist mein Platz in dieser Welt?" Die zufrieden stellende Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen sind eine notwendige Voraussetzung für ein selbstbewusstes Auftreten in der Gesellschaft.

"Migrantenjugendliche bewegen sich zwischen zwei Polen, zwischen der Welt ihrer Eltern und der Welt der Aufnahmegesellschaft. Das Ringen um eine Identität in dieser Phase, dient vor allem dazu, Voraussetzungen für eine Verknüpfung zwischen beiden Polen zu schaffen" (Viehböck, Bratić 1994, S.106).

Erik H. Erikson (1902-1994) wurde in seiner Ausbildung durch die Analyse von Anna Freud geprägt, entwickelte jedoch später, nach seiner Auswanderung in die USA, eine eigenständige Theorie, in der er davon ausgeht, dass die Persönlichkeit und damit verbunden die Identität des Menschen in einer lebenslangen Entwicklung, kulturell sowie sozial durch Familie und Gesellschaft geprägt, heranreift. Erikson kombiniert eine Identitätstheorie mit einer Sozialisationstheorie (vgl. Abels 2007, S.367).

[...]


[1] Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird die männliche Form bzw. "das Binnen I" verwendet, gemeint sind jedoch immer – im Sinne der Totalität – beide Geschlechter.

[2] gemeint ist das Ursprungssystem der ausgewanderten Eltern/Großeltern

[3] Der jährliche Austausch entsprach nicht der Wirtschaftlichkeit und den Anforderungen der Betriebe.

[4] Anm: Angestrebt werden sollte die totale Assimilation; resultierend aus der Distanzierung zur Herkunftskultur und der völligen Übernahme der Verhaltensmodi des Aufnahmelandes.

[5] http://books.google.com/books?id=q0Vb0cmja5IC&pg=PA81&lpg=PA81&dq=marginal+man+park& source=web&ots=j27jljmBDa&sig=a2yGkWX4uT6j0UHvtx5N5p4Y0kk#PPA81,M1

[6] Definition siehe Kap. 3.1.1.

[7] Anmerkung: "Typisch" im Sinne Essers bedeutet eine empirisch häufig realisierte Beziehungskonstellation.

[8] vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Assimilation_Soziologie

[9] http://library.fes.de/pdf-files/akademie/online/50366.pdf

[10] vgl. www.zebra.or.at/ zebratl /99/ lexikon.htm, http://www.erwachsenenschule.de/glossar.html

[11] http://library.fes.de/pdf-files/akademie/online/50366.pdf

[12] http://library.fes.de/pdf-files/akademie/online/50366.pdf )

[13] Esser betont die Notwendigkeit des frühestmöglichen Kontaktes mit der Sprache des Aufnahmelandes. Siehe dazu Kapitel 5.3.4.1

[14] http://library.fes.de/pdf-files/akademie/online/50366.pdf

[15] http://library.fes.de/pdf-files/akademie/online/50366.pdf

[16] Diese können durchaus als Hauptkomponente der sozialen Identifikation betrachtet werden

[17] Esser verwendet dafür auch den Ausdruck "ethnische Schichtung"

[18] http://library.fes.de/pdf-files/akademie/online/50366.pdf

[19] http://library.fes.de/pdf-files/akademie/online/50366.pdf

[20] www.ipp-muenchen.de/texte/keupp_dortmund.pdf

[21] eine Art gesellschaftlich-kulturelle Programmierung

[22] Abels (2007) gibt zu bedenken, dass Werte und Normen sich im Rahmen einer bestimmten Gesellschaft entwickeln und daher sich immer auch die Frage nach der Legitimität bzw. der Berechtigung bestimmter Ziele einer gelungenen Sozialisation stellt (vgl. S.59).

[23] http://isra.tuwien.ac.at/Lehre/LVAs-WS-06-07/Einf_Sozio_Demogr/5%20Ver%C3%A 4nderungen%20im%20Lebenslauf%20-%20Sozialisation%20.pdf

[24] http://www.portalpsicologia.org/documento.jsp?idDocumento=2129

[25] Diese Fragen sind an und für sich typisch für die Jugendphase im Allgemeinen.

Ende der Leseprobe aus 97 Seiten

Details

Titel
Die Entwicklung der Selbstidentität Migrantenjugendlicher. Die Bedeutung des sozialen Umfeldes
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Soziologie)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2008
Seiten
97
Katalognummer
V299469
ISBN (eBook)
9783656958932
ISBN (Buch)
9783656958949
Dateigröße
764 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
entwicklung, selbstidentität, migrantenjugendlicher, bedeutung, umfeldes
Arbeit zitieren
Renate Leeb-Brandstetter (Autor:in), 2008, Die Entwicklung der Selbstidentität Migrantenjugendlicher. Die Bedeutung des sozialen Umfeldes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/299469

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Entwicklung der Selbstidentität Migrantenjugendlicher. Die Bedeutung des sozialen Umfeldes



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden