Wird der Stabilitätspakt von Bund und Ländern halten? Eine institutionenökonomische und institutionelle Betrachtung


Seminararbeit, 2013

29 Seiten, Note: 16


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Teil B Literaturverzeichnis

Teil C Wird der Stabilitätspakt von Bund und Ländern halten? - Eine institutionenökonomische und institutionelle Betrachtung

I. Einführung

II. Verschuldungsanreize
1. Die fiskalische Allmende und das Nutzenkalkül von Wählern und Gewählten
2. Die Theorie strategischer Staatsverschuldung
3. Der Bundesstaat als Haftungsverbund

III. Das Versagen der alten Schuldenregel

IV. Die Institution
1. Die Grundregel
2. Sozialversicherungen, Kommunen, Sondervermögen
3. Die strukturelle Verschuldungskomponente
4. Die konjunkturelle Verschuldungskomponente
a) Berechnungsverfahren in Regierungshand
b) Keine nachträgliche Anpassung
5. Die Ausnahme für Naturkatastrophen und Notsituationen
a) Auslegungsspielraum
b) Kanzlermehrheit als kleine Hürde
c) Keine Vorgaben für den Tilgungsplan
6. Das Kontrollkonto
7. Bereinigung um finanzielle Transaktionen
8. Keine Berücksichtigung impliziter Staatsschulden
9. Aufgeschobenes Inkrafttreten
10. Der Stabilitätsrat
a) Relativität der Schwellenwerte
b) Fehlender Automatismus und Identität von Überwachern und Überwachten
c) Sanktionslosigkeit
11. Verfassungsrang
12. Konsequenzen einer Verletzung der Schuldenbremse

V. Die drei Fragen
1. Wird der Stabilitätspakt rechtlich eingehalten werden?
2. Wird der Stabilitätspakt Bestand haben?
3. Wird der Stabilitätspakt sein Ziel erreichen?

VI. Exkurs: das Dilemma der Verschuldungsregeln

VII. Fazit

Teil B Literaturverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Teil C Wird der Stabilitätspakt von Bund und Ländern halten?

- Eine institutionenökonomische und institutionelle Betrachtung

I. Einführung

Im Jahr 2009 wurde in Deutschland mit der sogenannten Schuldenbremse eine mit großen Hoffnungen verbundene1 neue Institution zur Begrenzung der öffentlichen Defizite geschaffen. Wird dieser Stabilitätspakt von Bund und Ländern halten? Diese Frage kann auf dreierlei Weise verstanden werden. Erstens: Wird der Stabilitätspakt rechtlich eingehalten werden? Zweitens: Wird der Stabilitätspakt Bestand haben? Und drittens: Wird der Stabilitätspakt sein Ziel erreichen?

Die Beantwortung der drei Fragen bedarf einer genauen Untersuchung der neuen Stabilitätsregeln. Zuvor aber sollen in gebotener Kürze die wesentlichen Verschuldungsanreize und die Ursachen für das Scheitern des alten Schuldenbegrenzungsregimes skizziert werden.

II. Verschuldungsanreize

In der Wirtschaftswissenschaft wird zunehmend bezweifelt, dass sich der zu beobachtende Anstieg der Staatsverschuldung in den OECD-Ländern allein durch konjunkturelle Gründe erklären lässt2. Es wird deshalb versucht, das Staatsverschuldungsverhalten polit-ökonomisch zu erfassen3.

Wenn man von der Annahme ausgeht, dass alle Individuen, einschließlich der Wähler und Gewählten, bestrebt sind, ihren persönlichen Nutzen zu maximieren, so können sich in einer Demokratie für die handelnden Akteure Anreize ergeben, die eine wachsende Staatsverschuldung zur Folge haben4.

1. Die fiskalische Allmende und das Nutzenkalkül von Wählern und Gewählten

Grundlegend ist die These Schumpeters, nach der es das „erste und höchste Ziel jeder politischen Partei [ist], über die anderen den Sieg davon zu tragen, um zur Macht zu gelangen oder an der Macht zu bleiben“5. Ob das Streben der politischen Akteure nach Macht und Machterhalt purem Eigennutz oder dem Willen entspringt, das Gemeinwohl zu fördern, kann dahingestellt bleiben, da auch im letzteren Fall das politische Programm ohne entsprechende politische Macht nicht umzusetzen ist6. In einer repräsentativen Demokratie wird diese Macht in Wahlen erlangt, bestätigt und entzogen. Dabei stehen die politischen Akteure zueinander im Wettbewerb um die Wählerstimmen7. Wählerstimmenmaximierung ist damit das oberste Entscheidungskriterium für Politiker und Parteien8. Die Bereitstellung öffentlicher Leistungen nützt den Wählern und wird daher grundsätzlich mit Wählerstimmen honoriert. Dieser Effekt reduziert sich allerdings, wenn die Leistungsempfänger durch Abgaben zur Finanzierung der Leistung herangezogen werden9. Hier kommt das Problem der fiskalischen Allmende zum tragen10: Der Staat kann bestimmten Gruppen Leistungen zukommen lassen und die Kosten über allgemeine Steuern auf breite Bevölkerungsschichten verteilen11. Die Begünstigten werden die Leistungen so lange nachfragen, bis die Vorteile der Leistung durch Steuern, die sie selbst zahlen müssen, aufgewogen werden12. Wegen der Konzentration der Nutzen und der Streuung der Kosten wird dieser Punkt erheblich später erreicht als bei vollständiger Eigenfinanzierung durch die Begünstigten; es kommt zu einer übermäßigen Nachfrage13. Je mehr Anspruchsgrup- pen es gibt, je größer also die Fragmentierung in der Politik ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Staatsausgaben anwachsen werden14, weil jede Gruppe mehr öffentliche Leistungen nachfragt als es ihrer Zahlungsbereitschaft entspricht15. Staatsverschuldung bietet in dieser Situation eine Möglichkeit, die Kosten auch auf zukünftige Generationen zu verteilen und damit noch weiter zu streuen16. Durch Staatsverschuldung können Budgetrestriktionen umgangen und Verteilungskonflikte in die Zukunft verlagert werden17. Von den auf Wiederwahl bedachten Politikern der Gegenwart brauchen die kommenden Generationen, die mit erhöhter Steuerlast für die eingegangenen öffentlichen Verbindlichkeiten einstehen müssen, nicht berücksichtigt zu werden, weil sie als Wähler noch keine Rolle spielen18. Für die Wähler der Gegenwart können kreditfinanzierte Leistungen gegenüber steuerfinanzierten vorteilhaft sein, wenn sie z.B. wegen begrenzter (Steuerzahler-) Lebenserwartung nicht mehr damit rechnen müssen, vollständig zur aufgeschobenen Finanzierung herangezogen werden zu können19.

2. Die Theorie strategischer Staatsverschuldung

Nach der Theorie strategischer Staatsverschuldung hat eine Regierung, die befürchten muss, bei der nächsten Wahl nicht wiedergewählt zu werden, einen Anreiz, durch Erhöhung der Staatschulden den Handlungsspielraum ihrer Nachfolgerin einzuschränken, um damit die eigenen Chancen bei der übernächsten Wahl zu verbessern20.

3. Der Bundesstaat als Haftungsverbund

Speziell für Deutschland ergeben sich weitere Verschuldungsanreize aus dem Bundesstaatsprin- zip21. Wenn ein Bundesland in eine extreme Haushaltsnotlage geraten ist, sind die anderen Länder und der Bund auf Grund des Bundestaatsprinzips dazu verpflichtet, dem notleidenden Land finanziell beizustehen22. Wegen dieser Einstandspflicht werden Bund und Länder von den Gläubigern als Haftungsverbund angesehen23. Dadurch können sich selbst hochverschuldete Länder auf Kosten der Bonität des Haftungsverbundes noch weiter verschulden24. Bei Selbstverantwortung der Länder für ihre Schulden würden diese mit zunehmender Verschuldung die Signale des Kreditmarktes in Form von steigenden Zinsen zu spüren bekommen25. Diese Signale werden im Bund-Länder-Haftungsverbund deutlich abgeschwächt26.

III. Das Versagen der alten Schuldenregel

Wenn demnach das Prinzip der repräsentativen Demokratie und das deutsche Bundesstaatsprin- zip erhebliche Anreize für öffentliche Verschuldung bieten und wenn man darin im Hinblick auf die langfristige Tragfähigkeit der Schulden eine Gefahr erblickt, so liegt es nahe, eine Institution einzuführen, die verhindert, dass die Verschuldungsanreize in tatsächliche Verschuldung umgesetzt werden können27. Im Juli 2009 wurde mit der Implementierung der sogenannten Schuldenbremse versucht, eine solche Institution zu schaffen. Doch schon zuvor gab es im Grundgesetz Regelungen, die einer übermäßigen Verschuldung entgegenwirken sollten. Da aber der Schuldenstand von Bund, Ländern und Gemeinden zwischen 1950 und 2009 von 9,57 Milliarden auf 1,69 Billionen Euro angestiegen ist28, was 2009 rund 74,5 % des

Bruttoinlandsproduktes (BIP) entsprach29, schien die alte Schuldenregel versagt zu haben. Grund dafür war vor allem ihre unpräzise Formulierung30: Die alte Schuldenregel erlaubte zwar eine Neuverschuldung nur in Höhe der veranschlagten „Investitionen“ (Art. 115 I GG a.F.). Der Investitionsbegriff ließ aber erheblichen Interpretationsspielraum zu31. Hinzu kam eine Ausnahme für den Fall einer „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ (Art. 115 I GG a.F.), die sich als nicht justiziabel erwies und deshalb sehr häufig in Anspruch genommen wurde32. So ist z.B. zwischen 1997 und 2007 insgesamt fünf Mal von der Ausnahme Gebrauch gemacht worden, obwohl in diesem Zeitraum nur eine Rezession zu verzeichnen war33.

IV. Die Institution

Es ist folglich zu untersuchen, ob die neuen Regelungen einer übermäßigen Staatsverschuldung besser entgegenwirken können als die alten und ob durch sie das Ziel der Föderalismusre- form II, die langfristige Tragfähigkeit der Staatshaushalte zu gewährleisten34, erreicht wird.

1. Die Grundregel

Die Vorschriften, die allgemein als Schuldenbremse bezeichnet werden, sind auf mehrere Grundgesetzartikel35, einfache Gesetze36 und Rechtsverordnungen verteilt, teilweise auch auf Landesverfassungen und einfache Landesgesetze. Die Grundregel ist in Art. 109 III 1 GG statuiert. Dort heißt es: „Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen“. Als Regel wird demnach ein absolutes Neuverschuldungsverbot aufgestellt. Diese Regel ist jedoch nur der Ausgangspunkt für eine Vielzahl von Ausnahmen, die im Folgenden untersucht werden sollen.

2. Sozialversicherungen, Kommunen, Sondervermögen

Zunächst ist festzustellen, dass sich das Neuverschuldungsverbot nur auf die Haushalte von Bund und Ländern, nicht aber auf die Haushalte der Kommunen und Sozialversicherungen bezieht. Den Sozialversicherungen ist eine Kreditaufnahme am freien Kapitalmarkt grundsätz- lich untersagt37. Hinsichtlich der Landeshaushalte besteht aber die Gefahr, dass die Kreditauf- nahme (durch Aufgabenzuweisungen an die Gemeinden oder Finanzmittelkürzungen) in die kommunalen Haushalte verschoben wird38. Zwar müssen die Gemeinden nach dem Konnexi- tätsgebot zur Erfüllung ihrer Aufgaben von den Ländern finanziell angemessen ausgestattet werden39. Den Ländern steht dabei aber regelmäßig ein Einschätzungsspielraum zu40.

Nach alter Rechtslage konnten auch Sondervermögen des Bundes von der Schuldenregel ausgenommen werden (Art. 115 II GG a.F.). Diese Ausnahme wurde durch die neue Schuldenregel abgeschafft, allerdings nur für neu einzurichtende Sondervermögen. Bereits bestehende Sondervermögen bleiben gemäß Art. 143d I 2 GG von dieser Regelung unberührt. Sie können daher weiter Kredite aufnehmen, die sich im Bundeshaushalt nicht wiederspiegeln. Auch hier besteht folglich die Gefahr einer Umgehung des Neuverschuldungsverbotes41.

3. Die strukturelle Verschuldungskomponente

Anders als die alte Schuldenregel, sehen die neuen Vorschriften die Möglichkeit einer Neuverschuldung zur Finanzierung von Investitionen nicht mehr vor. Stattdessen wird für den Bund in Art. 109 III 4 GG und Art. 115 II 2 GG fingiert, dass dem Neuverschuldungsverbot entsprochen ist, „wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 % vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten“. Dieser Passus wird als strukturelle Verschuldungskomponente bezeichnet42, was zum Ausdruck bringen soll, dass sich der Bund unabhängig von der konjunkturellen Situation innerhalb der 0,35 %-Grenze weiterhin verschulden darf43. Der Verzicht auf den Investitionsbegriff soll „dem Bundesgesetzgeber mehr inhaltliche Flexibilität bei der Ausgestaltung einer an der dauerhaften Stärkung von Wachstum und nachhaltiger Entwicklung orientierten Politik“ geben44. Diese Nachhaltigkeitsorientierung der Verschuldung kommt im Gesetzestext aber nicht zum Ausdruck. Weil der Gesetzgeber nach der neuen Regelung eine Kreditaufnahme in keiner Weise begründen oder rechtfertigen muss, wird teilweise eine leichtfertigere Kreditaufnahme befürchtet45. Dies klingt plausibel. Wegen der gleichzeitigen Einführung einer Neuverschuldungsobergrenze ist aber im Ergebnis von einer Reduktion des jährlichen strukturellen Defizit auszugehen. Bei einem BIP von 2,6439 Billionen Euro im Jahr 201246 hätte sich der Bund zwar immerhin noch um 9,25 Milliarden Euro verschulden dürfen. Gleichwohl liegt die zulässige Verschuldung in Höhe von 0,35 % des BIP deutlich unter der in den letzten Jahren zu beobachtenden Investitionsquote des Bundes von durchschnittlich 0,75 % des BIP47, sodass selbst bei jährlicher Ausschöpfung der Strukturkom- ponente die strukturelle Neuverschuldung geringer ausfallen wird als in der Vergangenheit48. Das Grundgesetz verpflichtet den Bund allerdings nicht zum Abbau der im Rahmen der strukturellen Komponente angehäuften Schulden; eine Schuldenakkumulation ist damit weiterhin möglich49 und in Anbetracht der oben geschilderten Verschuldungsanreize nicht unwahrscheinlich. Zudem wird kritisiert, dass die strukturelle Verschuldungskomponente wegen ihrer Abhängigkeit vom BIP pro-zyklisch wirke und damit eine von der Schuldenbremse ermöglichte antizyklische Finanzpolitik konterkariere50.

Den Ländern billigt das Grundgesetz keine strukturelle Verschuldung zu.

4. Die konjunkturelle Verschuldungskomponente

Art. 109 III 2 GG ermächtigt Bund und Länder „Regelungen zur im Auf- und Abschwung symmetrischen Berücksichtigung der Auswirkungen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung“ vorzusehen.

In Art. 115 II 3, 5 GG wird der Bund sogar verpflichtet, ein Gesetz zu erlassen, welches für den Bundeshaushalt die nähere Ausgestaltung der sogenannten konjunkturellen Verschuldungskomponente regeln soll. Dieser Pflicht ist der Gesetzgeber mit Erlass des Gesetzes zur Ausführung von Artikel 115 des Grundgesetzes (G 115) nachgekommen.

Die konjunkturelle Verschuldungskomponente soll es Bund und Ländern ermöglichen, in Abschwungphasen automatische Stabilisatoren wirken zu lassen51. Die dadurch bedingte Kreditaufnahme ist in Aufschwungphasen durch Überschüsse auszugleichen (diese Forderung fehlte in der alten Schuldenregel)52. Langfristig sollen somit ausgeglichene Haushalte gewährleistet werden53.

a) Berechnungsverfahren in Regierungshand

Die Definition einer „von der Normallage abweichenden konjunkturelle Entwicklung“ überlässt das Grundgesetz dem einfachen Gesetzgeber. Dieser hat in § 5 II 1 G 115 festgelegt, dass eine solche Entwicklung vorliegt, wenn eine „Produktionslücke[, also] eine Unter- oder Überauslastung der gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten erwartet wird“. Dies, so § 5 II 2 G 115, „ist der Fall, wenn das auf Grundlage eines Konjunkturbereinigungsverfahrens zu schätzende Produktionspotenzial vom erwarteten Bruttoinlandsprodukt für das Haushaltsjahr, für das der Haushalt aufgestellt wird, abweicht“.

Ist eine von der Normallage abweichende konjunkturelle Entwicklung festgestellt, so ergibt sich nach § 5 III G 115 die Konjunkturkomponente als Produkt der Produktionslücke und der Budgetsensitivität. Die Budgetsensitivität gibt an, wie sich die Einnahmen und Ausgaben des Bundes bei einer Veränderung der gesamtwirtschaftlichen Aktivität verändern. Die Festlegung der Einzelheiten zur Bestimmung der Konjunkturkomponente wird in § 5 IV G 115 an das Bundesfinanzministerium delegiert. Dies ist recht problematisch: Zwar soll das Verfahren zur Bestimmung der Konjunkturkomponente gemäß § 5 IV 1 G 115 „in Übereinstimmung mit dem im Rahmen des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes angewandten Konjunkturberei- nigungsverfahren“ stehen. § 5 IV 2 G 115 fordert aber auch dazu auf, das Verfahren „regelmä- ßig unter Berücksichtigung des Standes der Wissenschaft zu überprüfen und fortzuentwickeln“. Damit liegt es letztlich in der Hand des Finanzministeriums, das Verfahren zur Bestimmung der Konjunkturkomponente festzulegen. Insbesondere zur Bestimmung der Produktionslücke gibt es eine Vielzahl möglicher Verfahren, deren Ergebnisse teilweise erheblich voneinander abweichen54. So ergab eine Untersuchung der Produktionslücken in Großbritannien, Frankreich, Italien, Finnland und Griechenland je nach angewandtem Verfahren andere Resultate; die Ergebnisse variierten nicht nur deutlich in der Höhe, sondern auch in der Richtung (mit einigen Verfahren wurden positive, mit anderen Verfahren negative Produktionslücken errechnet)55. Für Deutschland ergab eine ähnliche Untersuchung mit vier verschiedenen Berechnungsverfahren für das Jahr 2009 auf Grundlage der von der Europäischen Kommission verwendeten Daten Verschuldungskomponenten, die im Ergebnis um 31 Milliarden Euro variierten56. Das bedeutet, dass die Regierung durch Festlegung des Berechnungsverfahrens die Höhe des zulässigen Verschuldungsspielraums bis zu einem gewissen Grad selbst bestimmen kann57. Wenn die Berechnungsergebnisse zudem unterschiedliche Vorzeichen aufweisen, ist es der Regierung sogar möglich, zu bestimmen, ob überhaupt konjunkturell bedingte Schulden aufgenommen werden dürfen oder ob konsolidiert werden soll58. Durch die gesetzliche Verpflichtung, das Berechnungsverfahren „regelmäßig unter Berücksichtigung des Standes der Wissenschaft zu überprüfen und fortzuentwickeln“ wird die Gefahr opportunistischen Verhaltens der Regierung tendenziell noch verstärkt. Da es sich beim Produktionspotenzial um eine theoretische Größe handelt, ist die Validität einzelner Verfahren auch rückblickend schwierig einzuschätzen59. Die Bundesregierung kann damit jederzeit zu dem ihr gerade opportun erscheinenden Verfahren wechseln. Von dieser Möglichkeit hat sie in den vergangenen Jahren tatsächlich auch mehrfach Gebrauch gemacht60.

Zur Berechnung der Konjunkturkomponente muss neben der Produktionslücke auch die Budgetsensitivität geschätzt werden. Hierdurch kann sich der verfahrensabhängige Verschuldungsspielraum weiter vergrößern61.

b) Keine nachträgliche Anpassung

Der langfristige Konjunkturverlauf einer Volkswirtschaft ändert sich im Laufe der Jahre, ist aber erst rückblickend zu bestimmen62. Alle Methoden zur Berechnung der aktuellen Produktionslü- cke korrigieren deshalb ihre Einschätzung bezüglich der Produktionslücken der vergangenen Jahre63. Mit der Produktionslücke ändert sich für die vergangenen Jahre natürlich auch die zulässige Verschuldung bzw. erforderliche Konsolidierung. Während man mit der heutigen Schuldenbremse (anhand des Berechnungsverfahrens der Europäischen Union) von Deutschland im Jahr 2000 eine Konsolidierung in Höhe von 1,88 Milliarden Euro fordern konnte, wäre z.B. aus Sicht des Jahres 2010 unter Bereinigung des langfristigen Konjunkturverlaufs für das Jahr 2000 eine Konsolidierung in Höhe von 9,36 Milliarden Euro angebracht gewesen64.

[...]


1 Eckardt in Kastrop/Meister-Scheufelen/Sudhof, S. 370.

2 Feld in Kahl, S. 49 f.; Weizsäcker, S. 5.

3 Feld, ebd., S. 49-51; Weizsäcker, S. 5.

4 Ryczewski, S. 106.

5 Schumpeter, S. 443.

6 Funke, S. 217.

7 Buchanan/Wagner, S. 96.

8 Downs, S. 30.

9 Ryczewski, S. 107.

10 Feld in Kahl, S. 45.

11 Eckardt in Kastrop/Meister-Scheufelen/Sudhof, S. 371; Feld in Kahl, S. 45.

12 Feld in Kahl, S. 45.

13 Ebd., S. 45.

14 Ebd., S. 52.

15 Ebd., S. 52.

16 Ebd., S. 52.

17 Ryczewski, S. 110 f.

18 Ebd.

19 Blankart, S. 378 f.; Stadler, S. 250 f.; Boss/Lorz, Jahrbuch für Wirtschaftswissenschaften 1995, 152, 164.

20 Alesina/Tabellini, Review of Economic Studies 1990, 403, 412; Feld, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 2010, 226, 233; Blankart, S. 381.

21 Konrad, KritV 2008, 157, 160; Eckardt in Kastrop/Meister-Scheufelen/Sudhof, S. 372.

22 BVerfGE 86, 148, 263.

23 Konrad, KritV 2008, 157, 160.

24 Ryczewski, S. 132.

25 Blankart, S. 389.

26 Konrad, KritV 2008, 157, 158 f.

27 Eckardt in Kastrop/Meister-Scheufelen/Sudhof, S. 375.

28 Statistisches Bundesamt, Schulden des öffentlichen Gesamthaushalts beim nicht-öffentlichen Bereich, abrufbar unter: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/OeffentlicheFinanzenSteuern/OeffentlicheFinanzen/ Schulden/Tabellen/SchuldenNichtOeffentlich_Insgesamt.html, abgerufen am 14.4.2013.

29 Statistisches Bundesamt, Schuldenstandsquoten der EU-Mitgliedsstaaten, abrufbar unter: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/VGR/EUStabilitaetspakt/Tabellen/DefizitSc huldenEU.html, abgerufen am 14.4.2013

30 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, S. 3; Engels/Hugo, DÖV 2007, 445, 448 f.

31 Engels/Hugo, DÖV 2007, 445, 448 f.; Hetschko/Quint/Thye, S. 3; Magin, Wirtschaftsdienst 2010, 262, 263 f.

32 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, S. 3.

33 Hetschko/Quint/Thye, S. 3.

34 BT-Drucks. 16/12410, S. 1.

35 Art. 109, 115, 143d GG.

36 Artikel 115-Gesetz, Stabilitätsratsgesetz, Konsolidierungshilfengesetz.

37 Pünder in Berliner Kommentar, Art. 115 GG Rn. 86.

38 Herrmannn in Pünder u.a., S. 157 f; Thye, S. 27; Seiler, S. 15; Pünder in Berliner Kommentar, Art. 115 GG Rn. 86; Ruck, BLJ 2010, 14, 16 f.

39 Herrmannn in Pünder u.a., S. 158.

40 Ebd., S. 159.

41 Pinkl in Pünder u.a., S. 119; Korioth, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 2010, 270, 278.

42 Hetschko/Quint/Thye, S. 4.

43 Ryczewski, S. 140.

44 BT-Drucks. 16/12410, S. 6.

45 Thye, S. 36.

46 Statistisches Bundesamt, Inlandsproduktberechnung 2012, abrufbar unter https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/VGR/Inlandsprodukt/Tabellen/Gesamtwirtsc haft.html, abgerufen am 15.4.2013.

47 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, S. 80; Thye, S. 36, Ryczewski, S. 141; Christ, NVwZ 2009, 1333, 1333.

48 Christ, NVwZ 2009, 1333, 1333, Ryczewski, S. 141; Pünder in Berliner Kommentar, Art. 115, Rn. 76.

49 Ryczewski, S. 141.

50 Truger/Will in Pünder u.a., S. 91.

51 BT-Drucks. 16/12410, S. 12.

52 Ebd.

53 Ryczewski, S. 140.

54 Hetschko/Quint/Thye, S. 4; Truger/Will in Pünder u.a., S. 82.

55 Billmeier, S. 9, 29-31: So ergab sich z.B. für Großbritannien für das Jahr 2002 je nach Berechnungsverfahren eine Produktionslücke in % des BIP von 1,06 % (Blanchard-Quah decomposition), 0,44 % (frequently domain filter), 0,00 % (real-time Hodrick Prescott filter) oder -0,78 % (production function approach).

56 Hetschko/Quint/Thye, S. 6.

57 Ebd., S. 6.

58 Ebd., S. 9.

59 Ebd., S. 5.

60 Truger/Will in Pünder u.a., S. 88-90.

61 Hetschko/Quint/Thye, S. 9.

62 Hetschko/Quint/Thye, Achtung Bremsversagen!, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.11.2012, S. 12.

63 Ebd.

64 Hetschko/Quint/Thye, S. 8.

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Wird der Stabilitätspakt von Bund und Ländern halten? Eine institutionenökonomische und institutionelle Betrachtung
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für öffentliche Finanzen, Wettbewerb und Institutionen)
Veranstaltung
Ökonomische Theorie des Rechts und des Staates
Note
16
Autor
Jahr
2013
Seiten
29
Katalognummer
V299679
ISBN (eBook)
9783656963240
ISBN (Buch)
9783656963257
Dateigröße
738 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schuldenbremse, ökonomische Theorie des Rechts, Institutionenökonomik, Verschuldungsanreize, Staatsverschuldung, fiskalische Allmende, Haftungsverbund, Grundgesetz, Verfassung, Stabilitätsrat, Haushalt, Finanzverfassung, Föderalismus
Arbeit zitieren
Paul Sokoll (Autor:in), 2013, Wird der Stabilitätspakt von Bund und Ländern halten? Eine institutionenökonomische und institutionelle Betrachtung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/299679

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