Die Konzeption der brauchbaren Illegalität in der formalen Organisation bei Niklas Luhmann

Kann Illegalität in einer Organisation brauchbar sein?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2013

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die formale Organisation – Formalität, Informalität und brauchbare Illegalität?
2.1 Die formale Organisation und Formalität
2. 2 Informalität und brauchbare Illegalität

3. Brauchbare Illegalität am Beispiel der Organisationsberatung in einem Unternehmen
3.1 Ausgangspunkt: Das Unternehmen und die Methode der Empirie
3.2 Brauchbare Illegalität bei TFM
3.3 Was bewirkte die Organisationsberatung bei TFM?

4. Zusammenfassende Betrachtung

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In der Rückschau betrachtet, hat wohl jeder Mensch sich schon einmal entgegen einer aufgestellten Norm verhalten. Sei es als Kind einen Lutscher aus einer Mutprobe heraus zu klauen, kein Ticket in der Straßenbahn zu lösen oder bei Rot über die Ampel zu gehen. Gewiss sind dies Bagatelle und doch wird hieran deutlich, dass abweichendes, entgegen der Norm gerichtetes Verhalten, zu unserem Leben dazugehört. Wenn wir unseren Blick nun auf Firmen, Institute, Vereine, Behörden und eine Vielzahl weiterer Formen von Organisationen richten, wird deutlich, dass diese sich durch viele Vorschriften, Anweisungen und durch einen hohen Grad an Formalisierung auszeichnen. Die Regeln, Vorschriften und Normen sind festgeschrieben (formalisiert) und es wird von der Organisation erwartet, dass sich jedes Mitglied daran hält. Gleichwohl gibt es auch hier Abweichungen. Aber ist es überhaupt möglich, Abweichungen zu verhindern? Und viel wichtiger: Ist es überhaupt wünschenswert, alles Informelle zu unterbinden?

Bei genauer Betrachtung von Abläufen innerhalb von Organisationen zeichnet sich nämlich ein sehr ambivalentes Bild. Trotz der oftmals sehr strikten Vorgaben und Anweisungen werden bestimmte Regeln gar nicht befolgt oder so ausgelegt, dass sie gar nicht zu Anwendung kommen. Auch entwickeln sich zum Teil informelle Strukturen, die mit der von der jeweiligen Organisation aufgestellten Anweisungen nichts zu tun haben und der Organisation scheinbar zum Teil sogar direkt entgegen wirken. Im deutschen Sprachgebrauch - beziehungsweise im Behördenjargon - hat sich hier vor allem der Begriff des „kurzen Dienstweges“ entwickelt. Damit wird unter anderem die Auslassung oder Umgehung von Dienstanweisungen beschrieben. Vor allem in der DDR war auch der geflügelte Satz „unter der Ladentheke kaufen“ nicht wegzudenken, in dem bestimmte Waren oftmals für einen Gefallen oder gegen andere Waren – entgegen der Norm – zurückgehalten wurden und unter der Ladentheke gehandelt wurden. Mit diesen Alltagsgeschichten wird deutlich, dass das abweichende Verhalten nicht wegzudenken ist und sogar in den Sprachgebrauch übergegangen ist.

Die interessante Frage ist nun, was das für ein Unternehmen, eine Verwaltung und schließlich für die formale Organisation bedeutet? Und kann das abweichende, das illegale, das nicht der Norm entsprechende Handeln, vielleicht sogar auch positive Komponente haben? Für Niklas Luhmann steht fest, dass es im „Zwielicht“ und im „Grau“ der formalen Organisation, auch das Informelle gibt[1]. Mit Niklas Luhmann möchte ich mich daher der Frage annähern, ob ein Nutzen aus der Illegalität gezogen werden kann und dabei möchte ich auf seine Konzeption der „brauchbaren Illegalität“ zurückgreifen. Zunächst soll seine Systemtheorie ganz kurz angerissen werden und die formale Organisation als Ausgangspunkt erläutert werden. Der wichtigste Part stellt dann die Erläuterung der „brauchbaren Illegalität“ dar. Die zentralen Fragen sind hierbei, welche Vorteile in der Illegalität zu finden sind, wann sie „brauchbar“ wird und welche Prozesse dahinter stecken. Wann ist das abweichende Verhalten schädigend und wann nutzt es der Organisation? Wer befindet darüber und warum sehen Vorgesetzte über Missachtung und „Selbstauslegung“ von Regeln und Normen hinweg? Und wann entsteht sie überhaupt? Schließlich soll an einem praktischen Beispiel die Konzeption der „brauchbare Illegalität“ Anwendung finden, ehe die Arbeit mit einer zusammenfassenden Betrachtung ihr Ende findet.

2. Die formale Organisation – Formalität, Informalität und brauchbare Illegalität?

Um sich der „brauchbaren Illegalität“ zu nähern, ist es zunächst essenziell, die luhmannsche Denkweise und seine Konzeption zu verstehen. Da es an dieser Stelle nicht möglich ist, die gesamte Bandbreite seiner Konzeption aus „Funktionen und Folgen formaler Organisation“ zu erläutern, werden im Folgenden nur Begriffe angesprochen, die im direkten Bezug zur brauchbaren Illegalität Verwendung finden und den Zugang zur Thematik erschließen sollen. Zunächst jedoch etwas zur Systemtheorie:

Grundlage seiner systemtheoretischen Sichtweise auf Organisationen ist die Vorstellung, dass die Gesellschaft, alle ihre Teilbereiche und zusammenfassend gesprochen, alle Bereiche „des Sozialen“, in Systeme unterteilt und aufgeschlüsselt werden können. Luhmann bezeichnet diese Systeme als „soziale Systeme“ und diese können „eine Familie, eine Behörde, eine Reisegesellschaft, eine primitive Stammesgesellschaft oder eine Gewerkschaft“ sein. In „Funktionen und Folgen formaler Organisation“ stellt er diese sozialen Systeme als ein „System von Handlungen“ heraus[2]. Ein soziales System besteht also aus Handlungen und damit aus „Aktivitäten“ wie zum Beispiel Erwartungen, Beobachtungen, und Bewertungen[3]. Dabei ist es für das Verständnis wichtig anzumerken, dass für Luhmann der Mensch im Grunde nicht existent ist - vielmehr sind es die Handlungen, auf die der Blick von Luhmann fällt und die das System ausmachen. Der späte Luhmann verlässt hier immer mehr den Begriff der „Handlung“ und ersetzt ihn durch „Kommunikation“. Der Mensch interessiert nicht, sondern nur die Kommunikation, die von ihm ausgeht. Er lebt und denkt nicht – Menschen sind Kommunikation. Die „Beziehung“ zwischen Umwelt und System steht im Zentrum. Wenn die Gewerkschaft als System verstanden werden kann, so sind andere Gewerkschaften, Unternehmen, Verbände, ja sogar die Bundesregierung und alles, was die Gewerkschaft „umgibt“, die Umwelt. Die Universität als soziales System grenzt sich als Forschungs- und Bildungseinrichtung zu seiner Umwelt ab. Nun verfügt so gut wie jedes System aber auch über Subsysteme, die sich wiederum innerhalb des eigentlichen Systems ausdifferenzieren. So verfügt die Universität über Institute und Fakultäten, die für sich genommen Subsysteme sind und für die anderen Subsysteme auch Umwelt sind. Das Gleiche ließe sich auch auf eine Firma (Abteilungen), eine Verwaltung und auf viele weitere Beispiele übertragen. Mit Luhmann gesprochen ist alles System, „worauf man die Unterscheidung von innen und außen anwenden“ kann[4]. Die Grenzziehung - also die Abgrenzung des Systems zur Umwelt – wird im späteren Verlauf noch ein wichtiges Thema sein. Insbesondere die Vor- und Nachteile, die sich aus der Grenzziehung ergeben.

Eine der zentralen Kritikpunkte an seiner Theorie ist die angesprochene Nichtberücksichtigung des Menschen. Die vorgeworfene Abkehr vom Humanismus bei Luhmann ist unter anderem auch Gegenstand der „Luhmann-Habermas-Kontroverse“[5]. Zu abstrakt und wirklichkeitsfern sei seine Theorie. Mit Michael Gerthe kann aber auch dagegen argumentiert werden. Zwar bezeichnet Luhmann seine Ausführungen selber als „antihumanistisch“, jedoch findet der Mensch dennoch seinen Platz darin. Er ist aus luhmannscher Perspektive dann existent, wenn man zum Beispiel von „Identitäten“ oder „Adressaten von Kommunikation“ spricht[6]. Dennoch lässt sich vor allem für Außenstehende eine gewisse Weltfremdheit feststellen und auch in der Soziologie war seine Theorie nicht unumstritten, wie kurz vorher schon angemerkt wurde. Vielleicht auch gerade deshalb hat seine Theorie – nach eigener Aussage von Luhmann – einen „Universalitätsanspruch“. Luhmann selber bezeichnet sie als eine „eindrucksvolle Supertheorie“, denn nach seiner Auffassung untersuchen andere Wissenschaften, wie zum Beispiel die Biologie, die Kybernetik oder die Kommunikationswissenschaften, auch Systeme[7]. Der „Universalitätsanspruch“ den Luhmann als Systemtheoretiker seiner Theorie zuspricht, rührt daher, dass nicht nur „das Soziale“ als Untersuchungsgegenstand herhalten kann, sondern auch „die gesamte Welt“. Schließlich ist alles, was außerhalb der sozialen Systeme steht, auch „Umwelt“ und eben deshalb auch Teil seiner Theorie. Mit Margot Bergmann gesprochen: „Die gesamte Welt ist also zwangsläufig als Umwelt sozialer Systeme ebenfalls enthalten“ und alles in der Welt ist sozial konstruiert[8]. Doch das sei nur am Rande erwähnt – viel wichtiger ist es, die Gedanken um System, Handlungen, Umwelt und Grenzziehung festzuhalten und im Hinterkopf zu behalten.

2.1 Die formale Organisation und Formalität

Die „formale Organisation“ ist der Ausgangspunkt, wenn man sich mit der „brauchbaren Illegalität“ beschäftigen möchte. Wie schon angesprochen, bestehen soziale Systeme auch aus Handlungen. In diesem Zusammenhang fällt auch der Begriff der Handlungssysteme, die als „jeder abgrenzbare Handlungszusammenhang“ bezeichnet werden können[9]. Der essenzielle Unterschied zwischen der Organisation als soziales System und zwischen anderen sozialen Systemen besteht nach Dämmerich darin, das Luhmann die Begriffe „Verhalten“ und „Erwartung“ mit Handlung in Verbindung bringt[10]. So lässt sich auch die von Luhmann getroffene Definition, dass die formale Organisation sich dadurch auszeichnet, dass sie „bestimmte Verhaltenserwartungen der Organisation formalisiert [und] ihre Anerkennung zur Mitgliedschaftsbedingung [macht]“ besser verstehen[11]. Eine Erwartung ist nach Luhmann dann formalisiert, „wenn sie in einem sozialen System durch [die] Mitgliedschaftsregel gedeckt ist“[12]. Es ist also die Mitgliedschaftsrolle, die unter anderem die formale Organisation charakterisiert. Denn mit Luhmann gesprochen, ist die Nichtanerkennung oder Nichterfüllung der formalisierten Erwartungen (die von der formalen Organisation formalisiert wurden), gleichzusetzen mit der Aufkündigung der Mitgliedschaft in einer formalen Organisation. Es wird mit der Anerkennung oder eben der Nichtanerkennung der formalisierten Regeln darüber entschieden, ob man Mitglied wird, bleibt oder seine Mitgliedschaft verliert. Ein weiterer Aspekt ist, dass die Möglichkeit des Ein- oder Austritts aus dem sozialen System der formalen Organisation, „von Mitgliedern durch Entscheidung“ vonstatten geht[13]. Der Aspekt der Entscheidung ist etwas, auf das wir später noch näher eingehen werden. Ein einfaches Beispiel zur Veranschaulichung der Aufkündigung der Mitgliedschaft wäre hier die Entlassung eines Geschäftsführers, der in einer formalen Organisation sich der Erwartungen ausgesetzt sah, einen fixen Betrag zu erwirtschaften und diese Erwartung (Leistung) nicht erbringen konnte. Bei Nichterfüllung der formalisierten Erwartungen kann die Mitgliedschaftsrolle aufgekündigt werden, da die Erwartungen nicht erfüllt wurden und sich im Beispiel der Geschäftsführer nicht im Sinne der Organisation verhalten hat. Luhmann findet dafür diese treffenden Worte: „[Die formale Organisation] besteht aus den Mitgliedsrollen, die das Verhalten definieren, das von einem Mitglied als solches erwartet wird“[14].

Formalität ist demnach „eine Qualität bestimmter Verhaltenserwartungen“[15]. Die Erwartungen müssen von den Mitgliedern der Organisation erfüllt werden, „um ihrer Mitgliedschaftsrolle gerecht zu werden[16]. Weiterhin kann die Formalität in einer Organisation dafür sorgen, dass „die Identität des Systems gegenüber wechselnden Personen und Orientierungsinhalten“[17] gesichert wird. Zur Erklärung dient vielleicht das Beispiel eines neuen Mitarbeiters, der vom Wesen her anderer Natur ist als sein Vorgänger, der sich aber trotzdem an die formalisierten Regeln und Abläufe einer Organisation halten muss, um seiner Mitgliedschaftsrolle in der Organisation gerecht zu werden. Die formale Organisation ist daher – vereinfacht ausgedrückt – unabhängig von ihren menschlichen Mitgliedern. Natürlich bestimmt jedoch das Ausmaß der Informalität und der Illegalität, inwiefern und inwieweit die formale Organisation durch Formalität gekennzeichnet ist und Bestand hat. Verhalten sich viele Mitglieder – aus welchen Gründen auch immer – entgegen der von der Organisation aufgestellten Normen, kann die Organisation nicht unabhängig von ihren Mitgliedern sein. Eines ist jedenfalls Fakt: Die formale Organisation kommt nicht ohne informelle Strukturen aus. Formalität ist nicht vorstellbar ohne Informalität.

2. 2 Informalität und brauchbare Illegalität

Unter Informalität ist nach Stefan Kühl - mit Verweis auf Luhmann – nicht etwa zu verstehen, dass Vorschriften und Regeln explizit missachtet werden, sondern es handelt sich bei der Informalität vielmehr um „die Erwartungen an die Organisationsmitglieder, die nicht zur Mitgliedschaftsbedingung erhoben werden können“[18]. Das bedeutet, dass die Organisation gewisse Erwartungen stellt (z.B. besonders effektiv zu arbeiten, Geld einzusparen oder immer im Kundeninteresse zu agieren), diese Erwartungen sind jedoch nicht immer formalisiert und damit umgangssprachlich ausgedrückt, nicht immer in Stein gemeißelt und zumeist auch unkonkret. Kühl beschreibt dies damit, dass sich die Mitglieder nicht auf Vorschriften oder „auf offizielle Wenn-dann-Regeln“ beziehen können. Die „Steigerungsform“ der Informalität ist indes die Illegalität, die im Gegensatz zur Informalität, ein Einschreiten der Organisation beziehungsweise eines Vorgesetzten oder einer Kontrollinstanzen zur Bedingung macht. Die Illegalität beziehungsweise das illegale Handeln führt zu Sanktionen seitens der Organisation und kann im schlimmsten Fall in der Aufkündigung der Mitgliedschaft münden – sie ist unbrauchbar. Die Mitgliedschaft wird dann aufgekündigt, wenn sich das Mitglied entgegen der formalisierten Erwartungshaltung der Organisation verhält und gleichzeitig ihr auch Schaden zu fügt. Ein Beispiel an dieser Stelle wäre, neben der Entlassung eines Geschäftsführers, der die Erwartung nicht erfüllen konnte, ein Mitglied einer Geheimorganisation, welches Informationen – die ja eigentlich geheim und nur innerhalb der Organisation ausgetauscht werden sollten – an Dritte weitergibt. Damit verhält sich das Mitglied entgegen der von der Organisation aufgestellten Regeln. Außerdem wird sogar die Existenz oder die Stabilität der Organisation gefährdet, da die Organisation ja nicht mehr geheim ist und schärfere Sanktionen seitens der Organisation werden notwendig.

Im Gegensatz zu Stefan Kühl verwendet Luhmann den Begriff der „Informalität“ in seinem Werk „Funktionen und Folgen formaler Organisation“ nur im Sachverzeichnis und vermeidet somit – im Gegensatz zur „Formalität“ - das Wort fast komplett. Er umschreibt „Informalität“ unter anderem damit, dass „die direkte Forcierung der formalen Erwartungen […] zu erheblichen Störungen im System führen“[19]. Damit wird auch gleichzeitig deutlich, dass es neben der Formalität, der formalisierten Erwartungen und den Vorschriften, auch noch etwas anderes gibt. Insbesondere dann, wenn man sich, ob als Angestellter oder als Vorgesetzter, nur auf die formalen Erwartungen bezieht und alles anderes unterbindet (Dienst streng nach Vorschrift). Hier findet sich eine Andeutung, dass die formale Organisation nicht ohne abweichendes Verhalten auskommen kann - und auf dieses Phänomen möchte ich nun näher eingehen.

Das, was Stefan Kühl als Informalität beschreibt, ist bei Luhmann unter „brauchbarer Illegalität“ zu finden. Informalität als Wort impliziert zwar eine direkte Nähe zur formalen Organisation und den formalisieren Erwartungen, die ihr innewohnen. Jedoch möchte ich mit Luhmann im Folgenden von „brauchbarer Illegalität“ sprechen. Während die Definition von unbrauchbarer Illegalität recht plausibel erscheint, ist die Konzeption der brauchbaren Illegalität wesentlich komplexer und bedarf größerer Aufmerksamkeit. Zwar bietet Luhmann gleich im ersten Absatz seines Kapitels „Brauchbare Illegalität“ mit „[i]llegal wollen wir ein Verhalten nennen, das formale Erwartungen verletzt“ und das dieses Handeln auch gleichzeitig brauchbar ist[20], eine Definition an, doch wird sich zeigen, das mehr hinter der „brauchbaren Illegalität“ steckt.

Die Kernthese ist, dass jedes System ein „gewisses Maß von Normabweichung praktizieren muss“[21] und weiterhin geht Luhmann von der „Unvermeidbarkeit nichtlegitimierbaren Handelns“ aus[22]. Dabei führt er mit Mead und Durkheim zwei Soziologen an, die sich mit abweichendem Verhalten in der Gesellschaft beschäftigt haben. Interessant ist hier der Zusammenhang, dass es in der Kriminologie viele Theorien zum Auftreten von Devianz gibt, sich die meisten Forscher aber einig sind, dass ein gewisses Maß an abweichenden Verhalten zum menschlichen Zusammenleben und deshalb auch zur Gesellschaft dazugehört. Die von Luhmann angesprochene Schärfung des „Normbewusstseins“ bei Mead, ließe sich ohne Zweifel auch auf die formale Organisation übertragen. Die Sanktionierung von abweichendem Verhalten durch Mitglieder einer Organisation kann dazu führen, dass sich die übrigen Mitglieder der Normen wieder bewusst werden. Ein Mitarbeiter, der wegen Nichtbeachtung der Raucherpausenregelung abgemahnt wurde, sensibilisiert andere Raucher der Firma, ihre Raucherpausen ordnungsgemäß anzuzeigen. Allerdings besteht natürlich auch die Gefahr, dass neue Strategien zur Umgehung der Vorschrift entwickelt werden. Eine weitere Parallele ist, dass es zwar abweichendes Verhalten unweigerlich geben muss, jedoch die Normordnung einer Gesellschaft so gefestigt sein sollte, dass sie dieses abweichende Verhalten kompensieren kann. Die Stabilität ist dann gefährdet, wenn es kaum oder nur uneindeutige Normen gibt. Ähnlich verhält es sich bei einer Organisation, die dann instabil und beliebig wird, wenn die Devianz überhandnimmt, weil die Normen nicht ausreichen und die Abgrenzung zur Umwelt nicht eindeutig ist. Wie kommt es nun nach Luhmann zu abweichendem Verhalten, zur Normabweichung und zu „brauchbarer Illegalität?

Wie Luhmann selber schreibt, ist der „Schlüssel“ zum Verständnis, „die Konzeption des sozialen Systems als grenzsetzendes und bestanderhaltendes Aktionssystem“[23]. Zur Grenzziehung kommt es, weil jedes System eine Umwelt hat, zu der sich das System abgrenzen muss, damit es nicht beliebig wird und sozusagen von der Umwelt absorbiert wird. Der bestandserhaltende Moment liegt also in der Grenzziehung. Denn Abgrenzung funktioniert nur, wenn das soziale System eine widerspruchsfreie formale Normordnung schafft, die das System von der Umwelt abgrenzt. Nun kommt es allerdings zu „Anpassungsproblemen“, da die Umwelt – aus Sicht des sozialen Systems – mit einer widersprüchlichen Normorientierung aufwartet. Die Umwelt (also viele andere soziale Systeme) wirken auf das soziale System ein und stellen Erwartungen und Forderungen an dieses, die jedoch vom sozialen System gar nicht alle erfüllt werden können. Insbesondere nicht, ohne die eigenen Normen völlig aufzugeben. Es kommt daraufhin zu „Anpassungsleistungen“, die dadurch gekennzeichnet sind, dass Handlungen notwendig werden, die „nicht im Einklang mit den eigenen Normen stehen, aber die Anpassung des Systems an die Umwelterwartungen“[24] erleichtern. Es ist also die „Befolgung von Umwelterwartungen“, die durch das eigene System gar nicht gedeckt sind, jedoch dafür sorgen, dass das eigene System weiterhin bestehen kann. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang sogar von „müssen“ und untermauert damit die Notwendigkeit dieser Anpassungsleistungen. Die „brauchbare Illegalität“ wird also durch das Zusammenspiel von sozialen Systemen und der Umwelt, „über das Handeln von Systemgrenzen hinweg“, erzeugt[25].

[...]


[1]S. 304 Luhmann, Niklas.: 1964 (1995)

[2]S. 23 Luhmann, Niklas.: 1964 (1995)

[3]S. 7 Dämmerich, Heinz.: 2005

[4]S. 24 Luhmann, Niklas.: 1964 (1995)

[5]Luhmann geht u.a. von der Soziologie als „Beobachtung der Gesellschaft aus“ / Selbstbeobachtung und nur „soziale Systeme kommunizieren“. Habermas versteht Soziologie als Kritik an der Gesellschaft und Menschen kommunizieren. „Habermas versteht sich als Kritiker, Luhmann als Beobachter der Gesellschaft“. Vgl. S. 21 Berghaus, Margot.: 2011

[6]Gerth, Michael.: 2005

[7]S. 24 Berghaus, Margot.: 2011

[8]S. 25 Berghaus, Margot.: 2011

[9]S. 24 Luhmann, Niklas.: 1964 (1995)

[10]S. 7 Dämmerich, Heinz.: 2005

[11]S 300 Schwinn, Thomas (Hrsg).: 2004

[12]S. 38 Luhmann, Niklas.: 1964 (1995)

[13]S. 44 Luhmann, Niklas.: 1964 (1995)

[14]S. 38 Luhmann, Niklas.: 1964 (1995)

[15]S. 38 Luhmann, Niklas.: 1964 (1995)

[16]S. 272 Kühl, Stefan.: 2007

[17]S. 29 Luhmann, Niklas.: 1964 (1995)

[18]S. 273 Kühl, Stefan.: 2007

[19]S. 276/277 Luhmann, Niklas.: 1964 (1995)

[20]S. 304 Luhmann, Niklas.: 1964 (1995)

[21]S. 304 Luhmann, Niklas.: 1964 (1995)

[22]S. 305 Luhmann, Niklas.: 1964 (1995)

[23]S. 305 Luhmann, Niklas.: 1964 (1995)

[24]S. 305 Luhmann, Niklas.: 1964 (1995)

[25]S. 305 Luhmann, Niklas.: 1964 (1995)

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Die Konzeption der brauchbaren Illegalität in der formalen Organisation bei Niklas Luhmann
Untertitel
Kann Illegalität in einer Organisation brauchbar sein?
Hochschule
Universität Potsdam  (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät)
Veranstaltung
Verwaltung als System
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
21
Katalognummer
V299893
ISBN (eBook)
9783656975199
ISBN (Buch)
9783656975205
Dateigröße
465 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
brauchbare illigalität, niklas luhmann, organisationssoziologie, soziologie, Funktionen und Folgen formaler Organisation
Arbeit zitieren
Florian Erbach (Autor:in), 2013, Die Konzeption der brauchbaren Illegalität in der formalen Organisation bei Niklas Luhmann, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/299893

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