Lügen, falsch Implizieren und vorgetäuschte Sprechakte


Masterarbeit, 2013

119 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

Einleitung

1 Grundlagen
1.1 Analysen der Lüge
1.2 Lüge vs. Täuschung

2 Der „Prototyp“ der Lüge
2.1 Dimensionen der Lüge
2.1.1 Die Glaubensbedingung
2.1.2 Die Täuschungsabsicht
2.1.3 Die Behauptungsbedingung
2.2 Prototypensemantische Analysen der Lüge
2.2.1 Prototypensemantik: Das englische Verb „to lie“
2.2.2 Kritik an Coleman und Kays‘ Ansatz
2.3 Falkenberg: Der „zentrale Fall“ der Lüge
2.3.1 Falkenbergs Behauptungsbedingung
2.3.2 Falkenbergs Definition des „zentralen Falls“ der Lüge
2.3.3 Falkenbergs „Grade der Lügenhaftigkeit“
2.4 Zwischenfazit

3 Falsch Implizieren: Lügen, obwohl man die Wahrheit behauptet
3.1 Die konversationelle Implikatur und andere Implikaturentypen
3.2 Falkenbergs Definitionsversuch „indirekter“ Lügen
3.3 Meibauers „erweiterte Definition der Lüge“
3.3.1 Meibauers modifizierte Definition der Behauptung
3.3.2 Exkurs über die Wahrheitsfunktionalität von Implikaturen
3.3.3 Meibauers erweiterte Lügendefinition
3.3.4 Lügentauglichkeit generalisierter und partikulärer Implikaturen
3.3.5 Lügen mit Tautologie und Ironie
3.3.6 Lügen mit Tautologie
3.3.7 Lügen mit Ironie
3.4 Exkurs über Präsuppositionen
3.5 Zwischenfazit

4 Vorgetäuschte Sprechakte
4.1 Grundzüge der Illokutionslogik
4.1.1 Taxonomie, Gelingen und Erfüllen illokutionärer Akte
4.1.2 Illokutionslogische Relationen
4.1.3 Vandervekens Generalisierung der Grice’schen Maximen
4.1.4 Nicht-wörtliche Bedeutung
4.1.5 Indirekte Sprechakte
4.1.6 Konversationelle Implikaturen
4.1.7 Ironie
4.1.8 Exkurs: Die Simulation der Aufrichtigkeit vs. die Simulation der Unaufrichtigkeit
4.2 Lügen und Täuschungen mit illokutiven Komponenten
4.2.1 Illokutionslogische Erklärung des „Lügenbegriffs im engeren Sinne“
4.2.2 Versuchsweise Definition eines „weitesten Lügenbegriffs“
4.2.3 Vorgetäuschte Sprechakte hinsichtlich illokutiver Komponenten
4.2.4 Nicht-assertiv gebundene falsche konversationelle Implikaturen
4.2.5 Präsuppositionen und ihre illokutionslogischen Entsprechungen
4.3 Zwischenfazit und Ausblick

5 Empirische Untersuchung zum intuitiven Lügenbegriff
5.1 Linguistische Hypothesen zur Lüge
5.2 Methodik
5.3 Ergebnisse
5.3.1 Erläuterungen zur Auswertung
5.3.2 Auswertung der einzelnen Items
5.3.3 Auswertung der Gruppen
5.4 Diskussion
5.4.1 Analyse der Kontrollgruppen
5.4.2 Analyse der Gruppen partikuläre und generalisierte Implikaturen
5.4.3 Analyse der Gruppe Vorgetäuschte Sprechakte

Fazit:

Bibliographie:

I. Literaturverzeichnis:

II. Bildquellenverzeichnis:

Anhang

I. Alle Items der empirischen Untersuchung

II. Fragebogen A1

III. Fragebogen B1

IV. Fragebogen C1

Ja, es ist lächerlich, dass man nach all den Jahrhunderten Übung, nach all den unglaublichen Fortschritten und Erfindungen immer noch keinen Weg gefunden hat, zu wissen, wann jemand lügt; natürlich ist das für uns alle gleichermaßen von Vor- und Nachteil, vielleicht das einzige Bollwerk der Freiheit, das uns noch bleibt.

(Javier Marias: Die sterblich Verliebten)

Einleitung

Das Interesse an Lüge und Täuschung ist von jeher groß. Lügen und belogen zu werden sind fundamentale Erfahrungen im Leben eines jeden Menschen und allgegenwärtig: Auf den ersten Blick erscheinen sie uns verwerflich, und doch würden wir ohne Lügen manchmal dumm dastehen. Der angebliche Sprachkurs in Barcelona könnte sich beim Bewerbungsgespräch zum Problem auswachsen und der Smalltalk mit dem verhassten Nachbarn eine ernsthafte Gefahr für den Hausfrieden darstellen. Bis zu zweihundertmal am Tag lügen wir, behaupten manche Psychologen, andere sprechen von zweimal in einem zehnminütigen Gespräch, fest steht: Wir alle tun es jeden Tag und wahrscheinlich häufiger als wir denken. Von Werken des Malers René Magritte (vgl. Abb. 1) bis hin zu Graffitis vom Straßenkünstler Banksy (vgl. Abb. 2), von Homers Odysseus über Collodis Pinocchio bis hin Sagenfiguren wie dem Baron Münchhausen, von Hollywoodfilmen wie The Truman Show oder Wag the Dog bis hin zu Chabrols Die Farbe der Lüge: Dass Lügen und Täuschungen unseren Alltag durchdringen, schlägt sich in zahlreichen Büchern, Filmen, in der bildenden Kunst und Fotografie nieder. „Bilder, die lügen“ (vgl. Abb.3) beherrschen unsere mediale Welt, sei es um politische Schachzüge oder gar Kriege ideologisch zu untermauern, uns zu beruhigen, anzustacheln oder um unsere Konsumlust zu steigern.

Die Linguistik dagegen schenkte der Lüge, obwohl sie doch zuallererst ein verbaler Akt ist, zunächst nur wenig Beachtung. Erst seit der „pragmatischen Wende“ kann man auch ihr ein gewisses Interesse an der Lüge bescheinigen. In der Forschung herrscht Konsens darüber, dass Lügen nur mit Behauptungen[1] möglich sind (Falkenberg 1982, Chisholm/Feehan 1977, Giese 1992, Dietz 2002, Meibauer 2005[2] ), notwendige Bedingung einer Lügendefinition ist demnach die Behauptungsbedingung. Diese Bedingung gilt, so Meibauer (2005), auch für falsche Implikaturen, auf die Meibauer seinen Lügenbegriff ausweitet. In dieser Arbeit sollen zunächst verschiedene linguistische Lügenbegriffe, insbesondere Falkenbergs Definition des „zentralen Falls der Lüge“ (Falkenbergs 1982) und Meibauers „erweiterte Definition der Lüge“ (Meibauer 2005, 2011) kritisch untersucht werden. Ich stelle in Frage, ob falsche konversationelle Implikaturen mit dem allgemeinen Verständnis dessen, was eine Lüge ist, übereinstimmen, und komme damit zu meiner ersten Hypothese:

Ausgangshypothese 1 (AH1):

Meibauers „erweiterte“ Lügendefinition entspricht nicht dem intuitiven Lügenbegriff von Sprechern.

Zudem zweifle ich an, dass Lügen und falsche Implikaturen notwendig an Behauptungen gebunden sind:

Ausgangshypothese 2 (AH2):

Lügen und falsche Implikaturen sind nicht notwendig an assertive Sprechakte gebunden.

Auf der Grundlage der Illokutionslogik (vgl. Searle/Vanderveken 1985) und Vandervekens Generalisierung der Grice’schen Konversationsmaximen (vgl. Vanderveken 1997) werde ich Lügen, Täuschungen und falsche Implikationen mit Behauptungen, anderen Sprechakten und illokutiven (Teil-) Komponenten analysieren. Dabei werde ich „Lügen im engeren Sinne“ illokutionslogisch bestimmen und eine „erweiterte“ illokutionslogische Definition verbaler Täuschung aufstellen, die auch falsches Implizieren und vorgetäuschte Sprechakte umfasst. Die verschiedenen Lügenbegriffe werde ich in einer experimentellen empirischen Untersuchung dahingehend prüfen, inwieweit sie tatsächlich dem intuitiven Lügenbegriff von Sprechern entsprechen.

Zum Aufbau der vorliegenden Arbeit: Im ersten Kapitel stelle ich verschiedene Analysen der Lüge vor und grenze die Begriffe Lüge und Täuschung voneinander ab. Im zweiten Kapitel wird der „Prototyp der Lüge“ betrachtet. In Kapitel 2.1 gehe ich auf notwendige und hinreichende Eigenschaften der Lüge ein, und formuliere darauf aufbauend eine vorläufige Definition der Lüge nach klassischer Kategorienauffassung. In Kapitel 2.2 werde ich einen prototypensemantischen Ansatz, insbesondere eine prototypensemantische Studie zur Lüge von Coleman/Kay (1982), vorstellen, die Lügen als graduelles Phänomen bestimmen. In Kapitel 2.3 stelle ich Falkenbergs handlungstheoretische Begriffsbestimmung der Lüge (vgl. Falkenberg 1982) vor, die letztlich jedoch auch auf eine Klassifikation unterschiedlicher „Grade der Lüge“ abzielt. Falkenbergs Definition des „zentralen Falls der Lüge“ wird uns als Diskussionsgrundlage und linguistische Begriffsbestimmung der Lüge „im engeren Sinne“ dienen. Aufbauend auf Falkenbergs versuchsweise formulierter Definition „indirekter Lügen“ und Meibauers „erweiterter“ Lügendefinition (vgl. Meibauer 2005, 2011) analysieren wir im dritten Kapitel „Lügen“ mit falschen konversationellen Implikaturen, Ironie und Tautologie. In einem Exkurs soll zudem die „Lügentauglichkeit“ von Präsuppositionen betrachtet werden. Im vierten Kapitel werde ich eine illokutionslogische Analyse von Lügen, falschen Implikaturen und vorgetäuschten Sprechakten vornehmen und dabei zeigen, dass sich Falkenbergs „engerer“ Lügenbegriff auch mit den Mitteln der Illokutionslogik erklären lässt. Ausgehend von meiner Ausgangshypothese 2 werde ich mit den Mitteln der Illokutionslogik versuchsweise einen Lügenbegriff „im weitesten Sinne“ formulieren, der auch andere vorgetäuschte Sprechakte als Assertive und Täuschungen hinsichtlich einzelner Komponenten der illokutiven Kraft einschließt. Meibauers Hypothese, dass Implikaturen notwendig an assertive Sprechakte gebunden sind, wird zudem für Vandervekens generalisierte Konversationsmaximen überprüft. Zur empirischen Untersuchung der verschiedenen linguistischen Lügenbegriffe formuliere ich im 5. Kapitel drei linguistische Hypothesen (LH1-3), die erstens Falkenbergs „Lügenbegriff im engeren Sinne“ (LH1), zweitens Meibauers auf falsche konversationelle Implikaturen „erweiterten Lügenbegriff“ (LH2) und drittens meinem versuchsweise formulierten „weitesten Lügenbegriff“ (LH3) entsprechen, der auch andere vorgetäuschte Sprechakte als Assertive und Komponenten der illokutiven Kraft einschließt. Im fünften Kapitel überprüfe ich diese Hypothesen in einer experimentellen empirischen Untersuchung zum intuitiven Lügenbegriff von Sprechern.

1 Grundlagen

1.1 Analysen der Lüge

Die Wissenschaft setzt sich auf verschiedenen Ebenen mit dem Thema Lüge auseinander: Ethik, Psychologie, Soziologie, Pädagogik, Religions- oder Rechtswissenschaft nähern sich dem Phänomen von unterschiedlichen Blickwinkeln an. Für die Philosophie ist die Lüge auch heute noch klassisches Forschungsobjekt: Viele aktuelle moralphilosophische (vgl. Adler 1997, Martin 2009, Carson 2010), aber auch begriffsanalytische Analysen (Mahon 2008, Fallis 2009) beschäftigen sich mit den Phänomenen Lüge und Täuschung. Eine umfassende linguistische Begriffsbestimmung legt Falkenberg (1982) vor. Seine Dissertation „Lügen“ dient vielen linguistischen Analysen der Lüge und auch dieser Arbeit als Diskussionsgrundlage. Falkenbergs handlungstheoretische Begriffsbestimmung geht von einer klassischen Kategorienauffassung mit notwendigen und hinreichenden Bedingungen aus, postuliert dabei jedoch bestimmte Kriterien, nach denen Falkenberg „Grade der Lügenhaftigkeit“ abstuft. Falkenbergs Begriff des „zentralen Falls der Lüge“ könnte man daher auch als linguistischen „Prototyp der Lüge“ bezeichnen. Eine der wenigen empirischen Untersuchungen zur Lüge stammt tatsächlich aus dem Gebiet der Prototypensemantik: Linda Coleman und Paul Kay (1981) haben eine empirische Untersuchung des englischen Verbs „to lie“ durchgeführt. Auch in der Prototypensemantik geht man zunächst davon aus, dass jeder sprachliche Ausdruck eine endliche Liste von Eigenschaften hat, das Zutreffen aller Eigenschaften auf dieser Liste sagt jedoch nicht unbedingt etwas über den Grad der Kategorienzugehörigkeit aus (vgl. Harras/Haß/Strauß 1991:58). Coleman und Kays Untersuchung und Falkenbergs Lügenbegriff werden vor allem im zweiten Kapitel dieser Arbeit, in dem wir uns dem Prototypen der Lüge annähern wollen, vorgestellt. Eine detaillierte Typisierung sprachlicher Täuschungen nimmt Giese (1992) vor, bei der sie sich in vielen Punkten auf Falkenbergs theoretische Vorarbeit stützt. Für die Bestimmung der Lüge übernimmt sie Falkenbergs Definition und bestimmt Lügen wie Falkenberg als Behauptungen, an deren Wahrheit der Sprecher nicht glaubt. Sie räumt jedoch ein, dass der Begriff „Lügen“ im alltäglichen Sprachgebrauch „abweichend“ von Falkenbergs Definition verwendet werde (vgl. Giese 1992:91). So werde häufig bei eindeutigen, Falkenbergs „prototypischer“ Definition entsprechenden Lügen der Begriff „Lüge“ vermieden. Stattdessen werden im alltäglichen Sprachgebrauch häufig Ersatzausdrücke wie „schwindeln, kohlen, flunkern“ (Giese 1992:92) etc. gewählt. Zudem verwenden Sprecher den Begriff „Lüge“ nicht nur für sprachliche Handlungen, sondern auch für Einstellungen oder Konzepte, wie etwa die oft umgangssprachlich so genannten „Selbst-“ oder „Lebenslügen“. Diese Verwendung wie auch die Vermeidung des Begriffs „Lüge“ im Sprachgebrauch führt Giese darauf zurück, dass „lügen“ nicht nur ein Sprechaktverb, sondern zugleich ein moralischer Begriff ist. Giese orientiert sich bei ihrer Untersuchung schematisch an den verschiedenen Aspekten des Sprechakts, wie er von Austin (1979) und Searle (1971, 1982) beschrieben ist. So liefern etwa verschiedene Teilakte des Sprechakts die Grundlage für verschiedene Typen der Täuschung, die Giese detailliert auflistet, so nennt sie z.B. für den lokutionären Teilakt:

(i) Die Stimme verstellen (am Telefon)

(ii) Künstlich radebrechen, um für einen Ausländer gehalten zu werden […]

(iii) Die Wahl eines bestimmten Jargons oder Soziolekts, der nicht der eigene ist, um für ein Mitglied der entsprechenden sozialen Gruppe gehalten zu werden.

(Giese 1992: 111)

Letztlich bestimmt Giese sprachliche Täuschungen bei ihrer sprechakttheoretischen Analyse als „Perlokutionen sprachlicher Handlungen“(Giese 1992:75), da mit dem Begriff der sprachlichen Täuschung die intendierte Wirkung einer sprachlichen Handlung beschrieben werde. Viele philosophische Analysen versuchen neben einem moralphilosophischen Ansatz eine begriffsanalytische Definition der Lüge vorzunehmen (vgl. Mahon 2008, Fallis 2010 u.a.). Eine vielzitierte und für uns bedeutende sprachphilosophische Arbeit ist der Aufsatz „The intent to deceive“ von Chisholm und Feehan (1977), die als Erste eine Begriffsbestimmung der Lüge aufstellen, die durch eine Definition der Behauptung ergänzt wird. Chisholm und Feehan betrachten die Lüge als Unterform der Täuschung und versuchen, sie von anderen Formen der Täuschung abzugrenzen. Sie bestimmen die Lüge als Behauptung, wobei der Behauptende entweder glaubt, dass seine Proposition falsch ist oder glaubt, dass sie nicht wahr ist (vgl. Chisholm/Feehan 1977:152). Als notwendige Bedingungen für die Lüge nehmen sie also erstens die Täuschungsabsicht des Sprechers an und gehen zweitens davon aus, dass Lügen an Behauptungen („assertions“, vgl. Chisholm/Feehan 1977:149f.) gebunden sind. In ihrer Dissertation „Der Wert der Lüge“ (2002) geht es der Moralphilosophin Dietz zwar in erster Linie um eine Bestimmung des Verhältnisses von Sprache und Moral, doch versucht sie zunächst, den Sprechakt des Lügens zu bestimmen. Dietz charakterisiert die Lüge als „missbrauchte Behauptung“, d.h. sie bestimmt die Lüge, aufbauend auf Austin, nicht als gescheiterte „Scheinbehauptung“, sondern als „unredliche Behauptung“ (Dietz 2002:57), die eine Lüge impliziert. Sprechakttheoretisch charakterisiert sie die Lüge letztlich als „missbrauchte Illokution oder getarnte Perlokution“ (ebd.): Die Lüge missbrauche illokutive Wirkungen durch gezielte Fehlanwendung sprachlicher Konventionen, um damit verdeckte Handlungszwecke zu erreichen (Dietz 2002:62). Einige philosophische Begriffsbestimmungen der Lüge (Carson 2010, Fallis 2010, Sorensen 2007) verzichten auf sonst übliche Bedingungen wie die Täuschungsabsicht oder die Behauptungsbedingung, und bringen dafür neue Bedingungen in ihre Lügendefinition ein. So verzichtet Carson (2010) auf die Behauptungsbedingung, und nimmt stattdessen die zusätzliche Bedingung an, dass der Sprecher bei einer Lüge für die Wahrheit seiner Äußerung garantiere. Letztlich unterscheiden sich die Ansätze von Carson (2010), Fallis (2010) und Sorensen (2007) vor allem durch ihre Verleugnung der Täuschungsabsicht als notwendiger Bedingung von traditionellen Begriffsbestimmungen der Lüge. Zwar werden in den meisten Analysen falsche Implikaturen nicht als Lügen bestimmt (vgl. Falkenberg 1982:138, Fallis 2010:2, Mahon 2008:1.2., Adler 1997:446), in einer Analyse des Lügens und falschen Implizierens stellt Meibauer (2005) jedoch einen Lügenbegriff auf, der auch nicht-wörtliche Lügen einschließt. Er übernimmt weitgehend Falkenbergs Lügendefinition, erweitert sie jedoch auf falsche konversationelle Implikaturen, Ironie und Tautologie. In einer späteren Analyse der Lüge (Meibauer 2011) stützt sich Meibauer weiterhin auf seine erweiterte Lügendefinition, doch seine Zielsetzung verschiebt sich: Er versucht nun, mittels des Phänomens der Lüge einen Beitrag zur aktuellen Diskussion um Bedeutungsminimalismus und Kontextualismus zu liefern, und hebt die Lüge als geeignetes Forschungsobjekt für Fragen zur Semantik-Pragmatik-Schnittstelle hervor.

1.2 Lüge vs. Täuschung

In seinen „Vorlesungen über Ethik“ (vgl. Menzer 1925) beschreibt Immanuel Kant den Fall von jemandem, der absichtlich vor einer anderen Person seine Koffer packt, damit diese fälschlicherweise annehme, er verreise. Kant selbst schlussfolgert: „… dann habe ich ihn nicht belogen, denn ich habe nicht deklariert, meine Gesinnung zu äußern“ (Menzer 1925:286). Zur Abgrenzung von Lüge und Täuschung stützen sich Chisholm/Feehan auf dieses Beispiel und werten das täuschende Kofferpacken, weil es nonverbal geschieht, nicht als Lüge. Weiter argumentieren Chisholm und Feehan (1977:149), dass, um zu „deklarieren, seine Gesinnung zu äußern“, nur assertive Sprechakte in Frage kämen. Die meisten Analysen (Chisholm/Feehan 1977, Vincent/Castelfranchi 1981, Adler 1997, Meibauer 2005,2011 u.a.) heben als wesentliche Unterschiede zwischen Lüge und Täuschung diese beiden hervor:

(1) Unterscheidungsmerkmale zwischen Lüge und Täuschung

(a) Die Lüge ist im Gegensatz zur Täuschung an sprachliche Handlungen gebunden.

(b) Die Lüge ist im Gegensatz zur verbalen Täuschung an Behauptungen gebunden.

Die Behauptungsbedingung (b) und mögliche Definitionen der Behauptung werden wir uns im zweiten Kapitel genauer ansehen. Adler (1997) wendet richtig ein, dass Kants Beispiel nicht nur den Unterschied zwischen nonverbaler Täuschung und Lüge, sondern auch den zwischen nonverbaler und verbaler Täuschung verdeutliche. Indem er mutmaßt, Kant wolle mit diesem Beispiel auf den Gedanken verweisen, dass jedes Individuum als autonom denkendes Wesen selbst die Verantwortung für die Rückschlüsse, die es zieht, trage (vgl. Adler 1997:444), verweist Adler nicht nur auf Kants „kategorischen Imperativ“, sondern, aus linguistischer Sicht, auch auf Grice‘ Begriff der „Sprecherbedeutung“ (vgl. Grice 1979b), die Grice im sogenannten „Grice’schen Grundmodell“ (vgl. Meggle 1981:17) zusammenfasst.

(2) Das „Grice’sche Grundmodell“ (GGM):

„Ein Sprecher S meinte etwas mit dem Äußern von x“ ist wahr gdw.[3] für einen Hörer H gilt:

S äußerte x mit der Absicht, dass

(1) H eine bestimmte Reaktion r zeigt;
(2) H glaubt (erkennt), dass S (1) beabsichtigt;
(3) H (1) aufgrund seiner Erfüllung von (2) erfüllt. (Grice 1979b:20).

Wenn Paul beispielsweise möchte, dass seine Frau ihm das Salz reicht, bittet er sie, ihm das Salz zu reichen, mit der Absicht, dass sie seine Absicht erkennt und ihm deshalb das Salz reicht. In jeder Kommunikation laden Sprecher die Hörer ein, ihre „Sprecherbedeutung“ zu verstehen[4], in der nonverbalen Kommunikation fehlt jedoch eben diese „Einladung“ (vgl. Adler 1997:444). Der Packende in Kants Beispiel „lädt“ den Zuschauer nicht dazu „ein“, irgendeinen Schluss zu ziehen, noch nicht einmal dazu, zu verstehen, was er da mache. Er liefert dem Zuschauer nur absichtlich Beweise, aus denen sich Rückschlüsse ziehen lassen. Auch die verbale Täuschung erfordert, genau wie die Lüge, die „Einladung“ des Sprechers, zu begreifen, was er meint. Diese „Einladung zum Verstehen“ (vgl. Adler 1997: 445) schließt jedoch nicht nur die Behauptung des Sprechers, sondern die ganze Sprecherbedeutung im Grice‘schen Sinn (vgl. Grice 1979b:20), d.h. auch mögliche Implikaturen ein. In seinen erweiterten Lügenbegriff, den wir in Kapitel 3.3 betrachten, schließt nun Meibauer diese gesamte Sprecherbedeutung ein und argumentiert, dass man, wenn man eine Behauptung als Lüge, ihre Implikatur jedoch als Täuschung klassifiziere, der engen Beziehung zwischen einer Behauptung und ihrer Implikatur nicht gerecht werde (vgl. Meibauer 2005:1384). Die meisten Analysen (vgl. Adler 1997, Mahon 2008, Fallis 2010) grenzen falsche Implikaturen jedoch klar von der Lüge ab[5]: Sie werten sie zwar als einen Untertyp der Täuschung, jedoch nicht als Lügen. Ein Konsens in der Forschung herrscht jedoch darüber, dass „Lüge“ ein Unterbegriff von „Täuschung“ ist: Chisholm und Feehan (1977) unterscheiden acht[6], Vincent und Castelfranchi (1981:753) sogar zwölf Arten der sprachlichen Täuschung, der Begriff „Lüge“ wird in allen Analysen als Hyponym der Täuschung behandelt (vgl. Falkenberg 1982, Giese 1992, Meibauer 2005).

Lüge zielt notwendigerweise auf Täuschung ab, aber nicht jede Lüge bewirkt tatsächlich eine Täuschung. Die Lüge ist nur ein Fall unter vielen von versuchter Täuschung. (Falkenberg 1982:121)

Als Gemeinsamkeit und notwendige Bedingung sowohl für Lügen als auch für Täuschungen führt Falkenberg (1982) die Täuschungsabsicht an: Er argumentiert, dass es weder unabsichtliche Lügen, noch unabsichtliche Täuschungen geben kann. Da „täuschen“ im Gegensatz zu „lügen“ ein Erfolgsverb und zudem kontrafaktiv ist, schließt die Täuschung beides mit ein: sowohl die Perlokution, als auch das bloße Intendieren der illokutiven Wirkung. Man hat jemanden nur dann getäuscht, wenn man ihn direkt dazu verleitet, sich zu irren (vgl. Falkenberg 1982:115). Das Verb „lügen“ ist dagegen semantisch nicht an perlokutionäre Wirkungen gebunden. Giese (1992:70) definiert die Täuschung deshalb als perlokutionären Effekt, wobei sie den Sprechakt des Täuschens als Perlokution, dagegen den Sprechakt des Lügens - als Hyponym vom „Täuschen“ - als „perlokutionären Versuch“ bestimmt. In diesem Kontext hebt Falkenberg (1982:116) auch den „engen begrifflichen Zusammenhang zwischen Täuschung und Falschheit“ hervor: Im Gegensatz zur Lüge ist die Täuschung an die Falschheit der Äußerung gebunden, da sich die Täuschungsintention für das Zustandekommen einer Täuschung tatsächlich erfüllen muss. Lügen jedoch bleiben Lügen, auch wenn der Belogene sich nicht täuschen lässt. Gebraucht man den Begriff „Täuschung“ als Hyperonym für „Lügen“, spricht man also etwa von „Lügen als Beispiel für sprachliche Täuschung“, so kann auch er nur als perlokutionärer Versuch begriffen werden. In vielen Analysen wird der Begriff „Täuschung“ daher vorwiegend als metonymische Verkürzung für „sprachliche Handlungen mit Täuschungsabsicht“ und somit als perlokutionärer Versuch (Giese 1992:74) verwendet.

2 Der „Prototyp“ der Lüge

In diesem Kapitel werden zunächst drei Variablen diskutiert, die uns in den meisten Untersuchungen der Lüge begegnen: Die Glaubensbedingung, die Täuschungsabsicht und die Behauptungsbedingung, die in die meisten Analysen der Lüge als notwendige und hinreichende Bedingungen eingehen. Eine Ausnahme von Begriffsanalysen der Lüge nach klassischer Kategorienauffassung mit notwendigen und hinreichenden Bedingungen bildet die prototypensemantische Untersuchung von Coleman/Kay (1981). Anhand ihrer Analyse des englischen „to lie“ haben Coleman und Kay (1981) untersucht, inwieweit bestimmte Variable der Lüge auch dem intuitiven Lügenbegriff von Sprechern entsprechen. Zuletzt stelle ich mit Falkenbergs „zentralem Fall der Lüge“ einen Lügenbegriff nach klassischer Kategorienauffassung vor, der dennoch auch eine Art linguistischen Prototyp der Lüge darstellt.

2.1 Dimensionen der Lüge

2.1.1 Die Glaubensbedingung

Häufig umschreiben wir eine Lüge dadurch, dass „jemand etwas Unwahres sagt“. Einige Lügendefinitionen, so z.B. eine der ersten linguistischen Annäherungen an die Lüge von Weinrich (1966), beschränken sich in ihrer Begriffsbestimmung sogar ausschließlich auf die Falschheit der Aussage:

Wenn hinter einem (gesagten) Lügensatz ein (ungesagter) Wahrheitssatz steht, der von jenem kontradiktorisch, d.h. um das Assertionsmorphem ja/-nein, abweicht.

(Weinrich 1966:41).

Es gilt demnach:

(3) Lügendefinition nach Weinrich 1966:

Ein Sprecher A hat B belogen, gdw.

(a) A zu B gesagt hat, dass p[7].

(b) p falsch ist.

Falkenberg (1982:56) führt das Beispiel von jemandem an, der behauptet, er sei herzkrank, um die anderen zu täuschen.[8] Ohne es zu wissen, ist er jedoch tatsächlich herzkrank, d.h. er denkt, er sage die Unwahrheit, er spricht jedoch die Wahrheit. Eine Lügendefinition sollte in der Lage sein, zwischen Lüge und Irrtum zu differenzieren. Dies gelingt jedoch nur durch Bezugnahme auf die Einstellung des Sprechers. Die meisten Analysten bewerten daher eine Definition der Lüge, die nicht auf die Intentionalität des Sprechers eingeht, als nicht haltbar (vgl. Falkenberg 1982:31, Giese 1992:90). Nicht nur Lüge und Irrtum, auch Fälle von Ironie, Hyperbel und metaphorischer Sprache lassen sich mit Weinrichs Definition nicht von der Lüge abgrenzen. In vielen Begriffsbestimmungen der Lüge wird die Falschheit der Aussage daher gar nicht zu den notwendigen Variablen gezählt, stattdessen nehmen sie Bezug auf die Einstellung, d.h. die Unaufrichtigkeit des Sprechers (vgl. Chisholm/Feehan 1977, Falkenberg 1982, Meibauer 2005). Die Bedingung (3b) wird durch die „Glaubensbedingung“, d.h. durch die Bedingung „Der Sprecher glaubt, dass p falsch ist“ ersetzt. Als vorläufige Definition möchte ich demnach zunächst festhalten:

(4) Vorläufige Lügendefinition 1

A hat B belogen, gdw.

(a) A hat zu B gesagt, dass p.

(b) A glaubt, dass p falsch ist.

2.1.2 Die Täuschungsabsicht

Nehmen wir an, Anton macht gegenüber Berta folgende Bemerkung über einen glatzköpfigen Herrn: „Was für eine schicke Frisur der hat!“. Der Glatzköpfige hat sicher nichts auf dem Kopf, das man als besonders schick, auf keinen Fall etwas, das man als Frisur bezeichnen kann. Wörtlich betrachtet sagt Anton also etwas, von dem er glaubt, dass es falsch ist. Die Bedingungen (4a) und (4b) treffen zwar auf diese Bemerkung zu, dennoch haben wir es nicht mit einer Lüge zu tun: Anton weiß sehr wohl, dass der Herr eine Glatze und keine Frisur auf dem Kopf hat. Er weiß auch, dass Berta weiß, dass er dies weiß, und die Glatze des Herrn auch sehr wohl sehen kann. Berta kann daher schlussfolgern, dass die Bemerkung von Anton ironisch war, und dies war auch Antons Intention.[9] Nehmen wir nun aber an, Berta, extrem kurzsichtig, habe ihre Brille vergessen, Anton sei mit ihr beim Tanztee und habe die Absicht, sie mit seiner Bemerkung zu täuschen und ihr den Glatzköpfigen als potentiellen Tanzpartner schmackhaft zu machen: Nun ließe sich Antons Aussage sehr wohl als Lüge deuten. Um die Ironie von der Lüge abzugrenzen, müssen wir eine zusätzliche Variable der Lüge hinzuziehen: die Täuschungsabsicht. Sehen wir von Weinrichs Definition (3) ab, enthalten fast alle Definitionen die Täuschungsintention des Sprechers als notwendige Bedingung (vgl. Augustinus 1952 [395]: 56; Chisholm/Feehan 1977; Mahon 2008). Demnach gilt:

(5) Vorläufige Lügendefinition 2

A hat B belogen, gdw.

(a) A zu B gesagt[10] hat, dass p,
(b) A glaubt, dass p falsch ist,
(c) A die Absicht hat, B zu täuschen, indem er p äußert.

Einige Philosophen (Carson 2010, Sorensen 2007; Fallis 2010:2-3) plädieren jedoch dafür, dass die Täuschungsabsicht keine notwendige Bedingung der Lüge sei. Um die These zu untermauern, führt Carson (2010) u.a. folgendes Beispiel an:

Suppose that I witness a crime and clearly see that a particular individual committed the crime. Later, the same person is accused of the crime and, as a witness in court, I am asked whether or not I saw the defendant commit the crime. I make the false statement that I did not see the defendant commit the crime, for fear of being harmed or killed by him. However, I do not intend that my false statements deceive anyone. (I hope that no one believes my testimony and that he is convicted in spite of it.) (Carson 2010:20)

Die Täuschung des Gerichts definiert Carson hier nur als „Nebeneffekt“ (vgl. Carson 2010:20). Dem widerspricht Meibauer (2011:283): Der Zeuge in dem Beispiel habe zweifellos sowohl das Gericht als auch den Angeklagten getäuscht. Was Carson als „Nebeneffekt“ bezeichnet, interpretiert Meibauer als konversationelle Implikatur[11]. Ich widerspreche beiden Hypothesen: Letztendlich verfolgt der Zeuge mit seiner Falschaussage verdeckte Absichten. Zwar ist es nicht seine Hauptabsicht, das Gericht über die Schuld des Angeklagten zu täuschen, sondern die, sein eigenes Leben zu schützen. Dennoch täuscht der Zeuge wissentlich seine Zuhörer – und hat auch die Absicht, zu täuschen. Die notwendigen Bedingungen für eine Lüge nach unserer vorläufigen Definition (5) bleiben demnach bestehen: (a) sagt der Zeuge zu B, dass p, (b) glaubt er, dass p falsch ist, (c) hat er die Absicht, mit der Äußerung von p B zu täuschen.[12] Sorensen (2007) führt als Beispiele für Lügen ohne Täuschungsabsicht sogenannte „bald-faced lies“ an, d.h. offene, „entblößte Lügen“. Bei einer „bald-faced lie“ nach Sorensen geht der Sprecher von vornherein nicht davon aus, dass sein Gegenüber sich täuschen lässt, da beide Parteien wissen, dass es sich um unwahre Äußerungen handelt und dass das Gegenüber weiß, dass man selbst weiß, und so weiter ad infinitum. Betrachtet man Sorensens „bald-faced lies“ mit Rücksicht auf den Grice’schen Begriff der „Sprecherbedeutung“ [13] (vgl. Kapitel 1.2.,2), erscheint es äußerst fragwürdig, solche Fälle in eine Lügendefinition aufzunehmen: Dann wäre es z.B. nicht mehr möglich, Ironie und Lüge voneinander abzugrenzen. Die meisten linguistischen Analysen halten eine Bestimmung der Lüge, die die Intentionalität des Sprechers, d.h. seine Täuschungsabsicht, nicht einschließt, für unbrauchbar (Falkenberg 1982:31, Giese 1992:90, Meibauer 2011:283): Sie argumentieren, dass die Variable, die für eine Abgrenzung der Lüge von beispielsweise Ironie oder Irrtum von Bedeutung sei, die Täuschungsabsicht des Sprechers anstelle der Falschheit der Aussage sei. Dennoch nehmen Falkenberg (1982) und Meibauer (2005, 2011) die Täuschungsabsicht nicht als gesonderte Bedingung in ihre Lügendefinition auf. Sie ergibt sich, wie wir noch sehen werden, bereits aus der Behauptungs- und der Glaubensbedingung.

2.1.3 Die Behauptungsbedingung

Schon das Lügenverbot in den Geboten der großen Weltreligionen bezieht sich - wörtlich - fast immer auf Behauptungen[14]: „Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten“ heißt es beispielsweise im Lügenverbot der Lutherbibel. „Zeugnis ablegen“ gehört wie „behaupten“ in die Sprechaktklasse der Assertive und hat sprechakttheoretisch den von Searle in seiner Taxonomie der Sprechakte festgestellten illokutionären Zweck:

Der Witz oder Zweck der Elemente dieser Klasse ist es, den Sprecher (in unterschiedlichem Maß) darauf festzulegen, dass etwas der Fall ist, dass die zum Ausdruck gebrachte Proposition wahr ist. Alle assertiven Äußerungen lassen sich in der Dimension, die wahr und falsch umfasst, beurteilen. (Searle 1982:31)

Illokutionslogisch ist der Sprechakt des „Bezeugens“ sogar stärker[15] (vgl. Vanderveken 1997) als der des „Behauptens“, d.h. der Sprecher legt sich mit ihm stark auf die Wahrheit seiner Proposition fest.[16] Bereits klassische Lügendefinitionen beschreiben die Lüge als „enuntiatio“[17], also in deutscher Übersetzung „Aussage“, so etwa die vielzitierte Lügendefinition von Augustinus:

Mendacium est ennuntiatio cum voluntate falsum enuntiandi.[18] (Augustinus [395]: 7).

Thomas von Aquin spricht bei seiner Charakterisierung der Lüge sogar an einer Stelle von „asserere“[19] (vgl. Thomas von Aquin [1265-73]:§111,1). Doch erst Frege (1892, 1918) klassifiziert die Lüge eindeutig als Behauptung. Dennoch stellt er seiner Bestimmung der Lüge keine Definition der Behauptung an die Seite: Ohne Behauptungen oder ihre begriffliche Verbindung zur Lüge näher zu bestimmen, nimmt Frege es als selbstverständlich an, dass eine Lüge nur eine Behauptung sein kann:

In „A log, dass er den B gesehen habe“ bedeutet der Nebensatz einen Gedanken, von dem erstens gesagt wird, dass A ihn als wahr behauptete, und zweitens, dass A von seiner Falschheit überzeugt war. (Frege 1892:37)

Frege hebt in seiner Lügendefinition den Widerspruch der Behauptung des Sprechers zu seinem Urteil über Wahrheit oder Falschheit seiner Äußerung hervor. Auch für Austin (1961) wird die Lüge unter dem Aspekt der Haltung des Sprechers zur Wirkung seiner sprachlichen Handlung betrachtet. Er bezeichnet die Lüge als missbrauchte Behauptung (Austin 1961:136, 1979:33): Der Lügner verfolgt mit seiner falschen Behauptung verdeckte perlokutionäre Effekte, die er durch eine „missbrauchte Illokution“ des Sprechakts erreichen will (vgl. Dietz 2002:58). Falkenberg schreibt der linguistischen Forschung einen einhelligen Konsens zu, dass Lügen nicht an irgendeine sprachliche Handlung gebunden sind, sondern an Behauptungen:

Alle Autoren stimmen sinngemäß darin überein, dass lügen heißt, einen - wie Austin es formuliert - „speech-act of an assertive kind“[…] zu vollziehen. (Falkenberg 1982:79)

Chisholm und Feehan (1977) veranschaulichen die Behauptungsbedingung, wie wir bereits gesehen haben, an Kants Beispiel des Koffer packenden Mannes und der Schlussfolgerung „… dann habe ich ihn nicht belogen, denn ich habe nicht deklariert, meine Gesinnung zu äußern“[20]. Kants Schluss interpretieren Chisholm und Feehan (1977:149) so: „der Lügner [gebe] zu erkennen, dass er seine Meinung ausdrückt“; was, so argumentieren sie (ebd.), nur auf assertive Sprechakte zutrifft. Im Gegensatz zu Frege fügen sie ihrer Lügendefinition erstmals eine Definition der Behauptung bei.

(6) Definition der Behauptung (engl. „assertion“) nach Chisholm/Feehan (1977):

D2 L asserts p to D = df L states p to D and does so under conditions which, he believes, justify D in believing that he, L, not only accepts p, but also intends to contribute causally to D's believing that he, L, accepts p. (Chisholm/Feehan 1977:152)

Als grundlegende Eigenschaft von Behauptungen heben Chisholm/Feehan also hervor, dass der Sprecher den Glauben des Hörers hervorruft, seine Proposition sei wahr. Auch Falkenbergs Definition der Lüge enthält die Behauptungsbedingung, auch er hebt in seiner Behauptungsdefinition als wesentliche Eigenschaft hervor, dass der Sprecher mit seiner Behauptung einen Glauben beim Adressaten hervorrufen möchte (vgl. Falkenberg 1982:81).[21] Die Hypothese, „Behaupten“ sei eine notwendige Bedingung für die Lüge, begründet Falkenberg unter anderem damit, dass es Voraussetzung der Lüge sei, das, was gesagt wird, könne „wahr oder falsch sein“:

[Für die Lüge kommt demnach nur] der besondere Fall von sageni[22] in Betracht […], in dem es so viel heißt wie „behaupten“, mitteilen“, usw. (…), denn was man befiehlt, verspricht usw. lässt sich nicht ohne weiteres als falsch, allgemeiner: als wahr oder falsch, bezeichnen. (Falkenberg 1982:34-35.)

Auch Meibauer (2005) definiert Lügen nicht als „eigenen Sprechakt wie Versprechen oder Fragen“, sondern gruppiert sie in die Sprechaktklasse der Assertive ein: „they are always assertions“ (Meibauer 2005:1375)[23]. Seine Behauptungsdefinition übernimmt Meibauer in den Grundzügen von Falkenberg (1982), erweitert Falkenbergs Behauptungsbegriff aber dahingehend, dass er auch auf nicht-wörtliche Lügen mit konversationellen Implikaturen angewandt werden kann[24]. Ohne den Anspruch, eine linguistisch angemessene Definition assertiver Sprechakte zu formulieren, stellt Fallis (2009) eine Bestimmung der Behauptung auf, die seinen Lügenbegriff untermauern soll. Als für die Lüge wesentliches Merkmal von Behauptungen postuliert er Grice‘ erste Konversationsmaxime (vgl. Grice 1979c:249):

(7) Definition der Behauptung nach Fallis (2009):

(a) A sagt etwas

(b) A geht davon aus, dass Grice‘ Maxime der Qualität als Konversationsnorm zu diesem Zeitpunkt des Gesprächs in Kraft ist. (vgl. Fallis 2009:35)

Eine Lüge liegt nach Fallis dann vor, wenn die Konversationsnorm das Befolgen der Qualitätsmaxime[25] verlangt, der Sprecher sie aber nicht befolgt. Fallis missachtet dabei, dass die Konversationsmaximen nach Grice grundsätzlich in jeder Konversation „in Kraft“ sind. Erst bei der späteren Besprechung einiger Beispielfälle grenzt Fallis seine Definition dahingehend ein, dass der Sprecher dem Hörer im Falle einer Lüge zudem keine Gründe zu der Annahme liefere, dass er die Maxime bewusst verletze, um etwas anderes zu implikatieren[26] (vgl. Fallis 2009:38). Nur nach diesem Zusatz wäre es mit seiner Definition möglich, die Lüge z.B. von der Ironie abzugrenzen. Es gibt aktuelle philosophische Lügendefinitionen, die die Behauptungsbedingung nicht explizit[27] enthalten, wie die von Carson (2010). Im Gegenzug enthält seine Definition jedoch eine zusätzliche Bedingung, die besagt, dass der Sprecher dem Hörer die Wahrheit seiner Äußerung garantiere:

(8) Definition von „Lügen” (engl. „lying“) nach Carson (2010):

A person S tells a lie to another person S1 iff:

a) S makes a false statement X to S1,

b) S believes that X is false or probably false (or, alternatively, S does not believe that X is true), and

c) S intends to warrant the truth of X to S1. (Carson 2010:37)

Für eine Definition, die die Behauptungsbedingung explizit einschließt, ist dieser Zusatz nicht nötig: Die Bedingung (8c) folgt dann bereits aus der Taxonomie der Sprechakte. Sie wird durch den illokutiven Sinn (vgl. Searle 1975b, 1982) und die Aufrichtigkeitsbedingung von assertiven illokutionären Akten festgelegt:

The sincerity rule: the speaker commits himself to a belief in the truth of the expressed proposition. (Searle 1975b:322)

Zusammenfassend wird in vielen Analysen (Falkenberg 1982, Chisholm/Feehan 1977, Meibauer 2005, Fallis 2009) die Bedingung, dass Lügen notwendig assertive Sprechakte sind, vorausgesetzt, jedoch häufig nur unzureichend oder gar nicht begründet. Meist führen die Autoren zur Untermauerung ihrer Hypothese, dass Lügen notwendig Behauptungen sind, verschiedene Eigenschaften von assertiven Sprechakten an, insbesondere die, dass der Sprecher sich mit einem assertiven Sprechakt auf die Wahrheit seiner Äußerung festlegt.

2.2 Prototypensemantische Analysen der Lüge

2.2.1 Prototypensemantik: Das englische Verb „to lie“

Eine völlig andere Herangehensweise an eine Bestimmung der Lüge stammt aus der Kognitiven Semantik. In einer prototypensemantischen Untersuchung haben Coleman und Kay (1981) die Semantik des englischen Verbs „to lie“ untersucht. Auch in der Prototypensemantik geht man zunächst davon aus, dass jeder sprachliche Ausdruck eine endliche Liste von Eigenschaften hat. Dabei sagt, im Gegensatz zur klassischen logisch-mathematischen Auffassung über Kategorien, das Zutreffen aller Eigenschaften auf dieser Liste jedoch nicht unbedingt etwas über den Grad der Kategorienzugehörigkeit aus (vgl. Harras/Haß/Strauß 1991:58). Die Grenzen zwischen den Kategorien sind zudem „unscharf“, d.h., es kann z.B. auch Elemente geben, die Vertreter zweier Kategorien sind, oder die zwischen zwei Kategorien stehen. In der Prototypensemantik spricht man dann von „blurry edges“ (Coleman/Kay 1981:27) oder „fuzzy concepts“ (vgl. Lakoff 1972:458). So lässt sich die Frage nach der Zugehörigkeit zu einer Kategorie nicht durch „ja oder nein“, sondern nur durch „mehr oder weniger“ (Coleman/Kay 1981:27) beantworten. Die Vertreter einer Kategorie sind durch Familienähnlichkeit (vgl. Wittgenstein, PU 66f., Keller 1995:89) miteinander verbunden. Jedes Element der Kategorie teilt mindestens eine Eigenschaft mit einem oder mehreren anderen Vertretern, es muss aber keine Merkmale geben, die allen Elementen gemein sind. Der Grad der Zugehörigkeit zu einer Kategorie ergibt sich aus dem Grad der Ähnlichkeit mit dem Prototyp. Die ersten prototypensemantischen Studien wurden mit sinnlich-wahrnehmbaren Eigenschaften (z.B. „color terms“, vgl. Berlin/Kay 1969) oder physischen Objekten (z.B. „cup“, vgl. Labov 1973) durchgeführt. Die Hauptthese von Coleman und Kay ist nun, dass das Prototypenphänomen auch in der Semantik von Wörtern zu finden ist, die weniger konkret sind, und dass Sprecher in der Lage sind, auch abstrakte Konzepte wie z.B. einen Sprechakttyp einem „kognitiven Schema“ zuzuordnen (vgl. Coleman/Kay 1981:27). An die Stelle der semantischen Merkmalskomplexe tritt dann dieses „kognitive Schema“, für das Coleman/Kay zunächst auch notwendige und hinreichende Eigenschaften annehmen. Coleman und Kay nehmen als Hypothese an, dass die Zugehörigkeit zur Kategorie Lüge ein graduelles Phänomen sei, so dass die Kriterien „hinreichend“ und „notwendig“ (Coleman/Kay 1981:28) konzeptuell nicht mehr zum Tragen kommen:

(9) Empirische Hypothese der Untersuchung von Coleman/Kay (1981):

Membership in the category lie is a gradient phenomenon.

(Coleman/Kay 1981:27)

Ihre endliche Liste von notwendigen und hinreichenden Eigenschaften für das kognitive Schema von „to lie“ sieht folgendermaßen aus:

(10) Coleman/Kay (1981): Notwendige und hinreichende Eigenschaften von „to lie“

a) p ist falsch
b) s glaubt, dass p falsch ist
c) Indem S p äußert, beabsichtigt er, A zu täuschen. (vgl. Coleman/Kay 1981:28)

Nach Coleman und Kay konstituiert sich der semantische Prototyp der Lüge also aus den Bestandteilen (a) der Falschheit der Aussage, (b) dem Glauben des Sprechers bezüglich der Wahrheit bzw. Falschheit seiner Aussage und (c) seiner Täuschungsabsicht. Sprechereignisse, die alle drei Bedingungen erfüllen, wären nach Colemans und Kays Hypothese klare Fälle von Lügen. Sprechereignisse, die keine Bedingung erfüllen, keine Lügen, Sprechereignisse, die nur eine oder zwei Bedingungen erfüllen, Lügen eines gewissen Grades. In ihrer empirischen Untersuchung haben Coleman und Kay 67 Probanden Fragebögen mit acht Geschichten vorgelegt, in denen verschiedenartige Sprechereignisse beschrieben werden. Bei zwei Items handelte es sich um Parameter für „Lüge“ bzw. „Wahrheit“. Für das Kontrollitem „Wahrheit“ traf keine der in (10) angenommenen Eigenschaften zu, für das Kontrollitem „Lüge“ trafen alle Eigenschaften (10a-c) zu. In den übrigen Items wurden die Eigenschaften (10a-c) verschiedenartig kombiniert, so dass bei drei Items nur jeweils eine der Eigenschaften zum Tragen kam, in den anderen drei Items wurden jeweils zwei der Eigenschaften kombiniert. Auf den folgenden Fall, Item „VI“ in Coleman/ Kays Fragebogen, trifft etwa nur die Eigenschaft (10c) zu.

(11) Beispiel für „Lügen“-Item nach Coleman/Kay (1981)

John and Mary have recently started going together. Valentino is Mary’s ex-boyfriend. One evening John asks Mary, “Have you seen Valentino this week?” Mary answers, “Valentino’s been sick with mononucleosis for the past two weeks.” Valentino has in fact been sick with mononucleosis for the past two weeks, but it is also the case that Mary had a date with Valentino the night before. Did Mary lie? (Coleman/Kay 1981:31)

Die Probanden mussten nach jedem Item beurteilen, ob der jeweilige Protagonist der jeweiligen Geschichte gelogen habe. Dabei konnten sie zunächst zwischen den Antwortmöglichkeiten „Ja, er/sie hat gelogen“, „Nein, er/sie hat nicht gelogen“ und „weiß nicht“ wählen. Anschließend wurden die Probanden gefragt, ob sie glauben, dass andere diese Einschätzung teilen, wobei sie die Möglichkeit hatten, zwischen „ganz sicher“, „ziemlich sicher“ und „nicht so sicher“ zu wählen. Für die quantitative Auswertung der Daten nehmen Coleman und Kay schließlich eine Skala von 1 bis 7 an, wie in Tabelle I dargestellt.

Tabelle I: Auswertungssystem nach Coleman/Kay 1981:30

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die quantitativen Ergebnisse der Untersuchung sind in Tabelle II dargestellt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle II: Quantitative Ergebnisse des Experiments von Coleman/Kay (1981)

Die Untersuchung ergab, dass die Probanden als wichtigstes Kriterium für eine Lüge das Merkmal (10b) („s glaubt, dass p falsch ist“) erachteten. Nicht ganz so wichtig beurteilten die Probanden (c), d.h. die Täuschungsabsicht des Sprechers, am unwichtigsten befanden sie schließlich das Merkmal (a) („p ist falsch“). Mit Ausnahme eines Parameters (Item III mit den Eigenschaften 10a und c mit einem Mittelwert von 3,66 im Gegensatz zu Item VIII mit nur einer Eigenschaft, 10b, mit einem Mittelwert von 4,61) beurteilten die Probanden Fälle, in denen zwei der Eigenschaften zutrafen, eher als Lüge, als Fälle, in denen nur eine Eigenschaft zutraf. Coleman und Kay betrachten diese Daten als Beleg für die Vagheit des Konzepts „lügen“.

2.2.2 Kritik an Coleman und Kays‘ Ansatz

Kritisiert wurden Coleman und Kay vor allem dahingehend, dass sie keine klare Grenze zwischen dem Phänomen der Vagheit und dem der Zentralität von Konzepten ziehen. Ihre methodische Vorgehensweise wurde dahingehend angefochten, dass durch die Art der Fragestellung für den zweiten Antwortblock („Meinst du, andere würden deiner Entscheidung zustimmen?“) Typikalität ins Spiel gebracht wird (vgl. Tsohatzidis 1990, Blutner 2002). Diese jedoch hat mit der Vagheit (den „fuzzy edges“) von Begriffen nichts zu tun, denn offenbar konzeptualisieren wir die Grenzen von Kategorien anders als ihre typischen Vertreter: So konnten Armstrong, Gleitman und Gleitman (1983) in einer Studie zeigen, dass auch „wohldefinierte“ Kategorien mit scharfen Grenzen, wie zum Beispiel die Kategorie „gerade Zahlen“, Typikalitätsunterschiede aufweisen.[28] Demnach muss unterschieden werden zwischen der Vagheit, d.h. dem Grad der Kategorienzugehörigkeit, und der Zentralität, d.h. dem Grad der Typikalität eines Konzepts. So könnten die Abstufungen in den Urteilen im Experiment von Coleman und Kay mit dem Grad der Typikalität anstatt mit dem Grad der Kategorienzugehörigkeit unseres Konzepts von lügen zu tun haben. Für viele Begriffe beurteilt Blutner (2002) die Prototypidee als Modell der Kategorisierung sogar als unbrauchbar. Er führt eine heuristische Typisierung für lexikalische Begriffe ein, die sich in unterschiedlicher Weise durch die Phänomene der Vagheit und Zentralität charakterisieren. Dabei unterscheidet Blutner vier Typen von lexikalischen Begriffen:

Tabelle III: Vagheit und Zentralität von Begriffen, nach Blutner (2002).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Blutner (2002:10) argumentiert, dass wir, obwohl auch „wohldefinierte“ Kategorien wie „gerade Zahlen“ oder „Primzahlen“ Typikalitätsunterschiede aufweisen, dennoch nicht den Schluss ziehen können, klassische Definitionen dieser Kategorien aufzugeben und Zuflucht in der Prototypentheorie zu suchen. Aus demselben Grund hält Blutner es für verfehlt, für Verben wie „töten“ oder „lügen“ die herkömmlichen Definitionen aufzugeben. Eine Studie zu Typikalitätsunterschieden von Sprechaktverben gibt es von Pulman 1983 für die Verben kill und speak, die zeigt, dass es auch hier Typikalitätsunterschiede gibt. Auch das Sprechaktverb „lügen“ rechnet Blutner unter den Typ 3, demnach hat der Begriff „lügen“ zwar scharfe Grenzen als Kategorie, weist jedoch Typikalitätsunterschiede auf. Für Begriffe vom Typ 3 hält er die Prototypidee als Modell der Kategorisierung für überflüssig (Blutner 2002:13): Zwar ließe sich mit einem Verfahren wie dem von Coleman/Kay ein Typikalitätsgradient berechnen, die Struktur eines Begriffs dieses Typs werde dennoch immer durch klassische Kategorienstrukturen begrenzt und müsse durch einen klassischen „definitorischen Kern“ (vgl. Blutner 2002:12) festgelegt werden. Blutner schlägt deshalb einen alternativen Ansatz vor, um das Verb „lügen“ semantisch zu bestimmen und dabei dennoch einen systematischen Zugang zum Phänomen der Typikalität beizubehalten. Dafür nimmt er zunächst eine Definition des „semantischen Kerns“ von lügen an.

(12) Semantischer Kern des Begriffs lügen (Blutner 2002:17)

/lügen/: S äußert P (zu A) & S glaubt P ist falsch

Weiterhin nimmt Blutner an, dass unser Alltagsverstand über sogenannte „Präferenzregeln“[29] (vgl. Blutner 2002:17) für unsere kommunikativen Absichten verfügt. Daher postuliert er folgende „Präferenzregeln“ für den Begriff :

(13) Präferenzregeln des Begriffs lügen (Blutner 2002:17)

(i) S beabsichtigt zu täuschen

(ii) P ist falsch

Der angenommene „semantische Kern“ (12) und die angenommenen „Präferenzregeln“ (13i,ii) generieren also die drei Eigenschaften, die auch für Coleman/Kay den semantischen Prototyp von lügen (10a-c) konstituieren. Letztlich nimmt er einen systematischen Zusammenhang zwischen dem Typikalitätsgrad und den angenommenen Präferenzregeln (i) und (ii) an. Sein duales Modell verbindet also zwei Ansätze: Für den semantischen Kern des Begriffs lügen geht Blutner von einer klassischen Kategorienauffassung aus. Dennoch wird er durch die - nicht ausgewiesene - Annahme eines Zusammenhangs zwischen Präferenzregeln und Typikalitätsgrad dem Phänomen der Zentralität gerecht, das offenbar auf unser Konzept von lügen zutrifft. Auch wenn sein Ansatz stark vereinfacht und heuristisch ist, gelingt es Blutner mit diesem Modell immerhin, die Vermischung der Phänomene Zentralität und Vagheit zu vermeiden.[30]

2.3 Falkenberg: Der „zentrale Fall“ der Lüge

Einen klassischen Kategorienansatz verfolgt dagegen Falkenberg in seiner Dissertation „Lügen“, in der er eine Definition des „zentralen Falls der Lüge“ (Falkenberg 1982:75) vornimmt. Falkenberg baut also, anders als Coleman/Kay, nicht auf dem intuitiven Lügenbegriff von Sprechern auf, sondern versucht, die Lüge über ihre hinreichenden und notwendigen Bedingungen zu bestimmen. In seiner handlungstheoretischen Analyse stellt Falkenberg zunächst fünf Variablen auf, denen die pragmatische Lügenhandlung zugrunde liegt.

(14) Dimensionen einer pragmatischen Lügenhandlung (Falkenberg 1982)

Lügen sind:

i. personal, d.h. Es ist immer jemand, der lügt
ii. sozial, damit sind Selbst- und Lebenslüge aus den Betrachtungen ausgeschlossen
iii. temporal und somit datierbar
iv. intentional, sie geschehen also absichtlich,
v. verbal, also laut- oder schriftsprachlich; ggf. können nonverbale Äußerungen adäquat durch eine sprachliche Äußerung ersetzt werden. (Falkenberg 1982, 14ff.)

Auf diesen Variablen aufbauend bestimmt Falkenberg die Lüge als Behauptung, die zum Zeitpunkt ihrer Äußerung nicht mit der Überzeugung des Sprechers übereinstimmt. Der Kern der Lüge liegt für ihn also in der „Entzweiung von verbalem Akt und Bewusstsein“ (Falkenberg 1982:76).

2.3.1 Falkenbergs Behauptungsbedingung

Die Lüge definiert Falkenberg nicht als eigenständigen illokutionären Akt, etwa den „Sprechakt der Lüge“, mit eigenen Gelingensbedingungen[31]. Bereits Searle (1982:48f.) betont, dass illokutionäre Verben nicht mit dem illokutionären Zweck gleichgesetzt werden dürfen, dass es ihm also nicht darum geht, illokutionäre Verben zu klassifizieren. Falkenberg definiert die Lüge als „Behauptungsakt“ (Falkenberg 1982:99), jedoch „unter der zusätzlichen Bedingung, dass der Behauptende unwahrhaftig ist“ (ebd.). Damit möchte Falkenberg sich von Austin und Searle abgrenzen, die die Lüge als „missglückte“ (Austin 1961:136) bzw. „defektive“ (Searle 1975b:322) Behauptung beschreiben. Falkenberg deutet die Termini „defektiv“ und „missglückt“ so, dass eine „defektive“ oder „missglückte“ Behauptung keine Behauptung mehr sei, da die Behauptung nicht zustande komme. Tatsächlich haben wir es nach Searle, wird eine der Gelingensbedingungen missachtet, mit einem „defektiven“ Sprechakt zu tun. Eine Lüge liegt z.B. vor, wenn die Aufrichtigkeitsregel eines assertiven Sprechakts missbraucht wird. Nach Searle wäre der Sprechakt dann zwar „defektiv“, doch der assertive Akt bliebe bestehen:

[...] eine Lüge und andere unaufrichtige Sprechakte sind immer noch Sprechakte, bei deren Vollzug ein intentionaler Zustand ausgedrückt wird, auch wenn der Sprecher den von ihm ausgedrückten intentionalen Zustand nicht hat. (Searle 1983:26).

Auch für Searle ist eine Lüge demnach erstens nicht als eigener Sprechakt, also etwa der „Sprechakt des Lügens“, sondern immer als der Sprechakt zu klassifizieren, in dessen illokutionärem Gewand er daherkommt. Zweitens ist für Searle ein Merkmal der Lüge, dass in ihrem Fall die Aufrichtigkeitsbedingung, d.h. der intentionale Zustand, nicht eingehalten wird. Bei der Unterscheidung zwischen misslungenen, gelungenen und erfüllten illokutionären Akten geht es nicht um eine Unterscheidung zwischen „wahr“ und „falsch“ sondern um die Ausführung bestimmter Sprachkonventionen. Auch im folgenden Zitat zeigt sich, dass die Aufrichtigkeitsregel für Searle keine konstitutive Regel für das Gelingen eines Sprechakts ist. Man kann die Aufrichtigkeitsregel missachten, und doch gelingt der illokutionäre Akt.

Beim Vollzug eines beliebigen illokutionären Aktes mit einem propositionalen Gehalt bringt der Sprecher irgendeine Haltung, Einstellung, usw. gegenüber diesem propositionalen Gehalt zum Ausdruck. Man beachte, dass dies selbst dann er Fall ist, wenn er unaufrichtig ist, wenn er nicht die Überzeugung, die Absicht, den Wunsch, das Vergnügen oder Bedauern hat, das er zum Ausdruck bringt. Gleichwohl bringt er mit dem Vollzug des Sprechakts eine Überzeugung, Absicht, einen Wunsch, Bedauern oder Vergnügen zum Ausdruck. (Searle 1982:21).

Genauer betrachten wir den Unterschied zwischen „Misslingen“, „Gelingen“ und „nicht-defektivem Erfüllen“ eines Sprechakts in Kapitel 4.1 anhand der Illokutionslogik (vgl. Searle/Vanderveken 1985). Bei seiner Kritik an Searle scheint Falkenberg vor allem ein Problem mit dem Terminus „defektiv“ zu haben, denn letztlich meinen Searle und Falkenberg dasselbe, d.h. sie gehen davon aus, dass die Lüge ein assertiver Sprechakt ist, der trotz Missachtung der Aufrichtigkeitsbedingung ein assertiver Sprechakt bleibe. Selten verwendet Falkenberg den sprechakttheoretischen Terminus assertiver Sprechakt: Er bleibt beim Begriff der Behauptung. Sein Behauptungsbegriff umfasst jedoch Handlungen „wie feststellen, aussagen, berichten, abstreiten, verneinen, vorwerfen, usw.“ (Falkenberg 1982:79) und entspricht Searles Begriff des „assertiven illokutionären Akts“ (vgl. Searle 1982). Bereits in Kapitel 2.1.3. haben wir Falkenbergs Beweisführung umrissen und gezeigt, warum seine Lügendefinition eine „Behauptungsbedingung“ enthält: Eine notwendige Voraussetzung für die Lüge sei, dass die Proposition p des Sprechers wahr oder falsch sein könne (vgl. Falkenberg 1982:79). Dies entspricht Searles wesentlicher Bedingung für Assertive (vgl. Searle 1982:100). Falkenbergs Argumentation, warum Lügen Behauptungen sind, liegen die Eigenschaften zugrunde, die er für die Behauptung als notwendig und hinreichend annimmt:

(15) Eigenschaften von Behauptungen (Falkenberg 1982)

a) Die geäußerte Proposition p kann nur entweder wahr oder falsch sein (vgl. Falkenberg 1982:79).[32]
b) Mit der Proposition p hat der Sprecher die Intention, einen Glauben im anderen zu erzeugen (vgl. Falkenberg 1982:81).[33]
c) Mit der Proposition p hat der Sprecher verbal einen Glauben zum Ausdruck gebracht (vgl. Falkenberg 1982:83).[34]

Schließlich formuliert Falkenberg noch eine zusätzliche Bedingung für Behauptungen, die besagt, dass der Sprecher, wenn er behauptet, dass p, auch einen Satz s äußern müsse, der „p“ bedeutet (vgl. Falkenberg 1982:91)[35]. Aus diesen Vorüberlegungen generiert Falkenberg schließlich folgende Definition für Behauptungen:

(16) Definition der Behauptung (Falkenberg 1982)

A hat zu t behauptet, dass p, gdw.

(a) A hat zu t den Deklarativsatz σ geäußert
(b) A hat, indem (a), M-intendiert[36], dass ein Adressat B aktiv glaubt, dass p
(c) A meintenn [37] zu t „p“ mit σ. (Falkenberg 1982:91)

Die Bedingung (16a) bezeichnet die Entsprechung von assertiven Sprechakten in Syntax und Semantik: In vielen Analysen wird schlicht vorausgesetzt, dass Behauptungen syntaktisch an Deklarativsätze gebunden sind, und auch Falkenberg (1982:91) charakterisiert Deklarativsätze als einfache Sätze im Indikativ Präsens ohne indexikalische Zeichen, die an assertive Sprechakte gebunden sind. Die Bedingung (16b) stützt sich vor allem auf Grice‘ Begriff der M-Intention (vgl. Grice 1979a), und lehnt an (15b) an. In einer ausführlichen Argumentation begründet Falkenberg, dass die Eigenschaft, dass der Sprecher mit seiner Proposition verbal einen Glauben zum Ausdruck bringt (15c), ebenfalls durch (16b) repräsentiert wird: Sie ergibt sich aus Falkenbergs Definition der M-Intention, die auf Grice‘ Begriff der M(eaning)-Intention im GGM (vgl. 2, Grice 1979a) aufbaut:

(17) Falkenbergs Definition der M-Intention

A hat s geäußert mit der M-Intention, den Glauben zu erzeugen, dass p

Gdw. A meintenn, indem er s geäußert hat, dass p (Falkenberg 1982:88)

Die Eigenschaften (15b) und (15c) werden also durch die Bedingung (16b) repräsentiert, d.h., wenn ein Sprecher nach Falkenberg „M-intendiert“, einen Glauben im Hörer hervorzurufen, bringt er diesen Glauben auch notwendigerweise selbst zum Ausdruck. Auf die Bedingung (16c) müssen wir noch gesondert eingehen, ihretwegen sind aus Falkenbergs Lügenbegriff „indirekte“ Lügen ausgeschlossen. Falkenberg geht davon aus, dass nur wenn

[…] A mittels s behauptet, dass p, dann meintnn er nicht nur, dass p, sondern er meintnn auch „p“ mit s. Behaupten scheint demnach gekennzeichnet zu sein durch Koinzidenz von wörtlicher Bedeutung (A meinte „p“ mit s) und dem, was gemeintnn wird, indem der Satz geäußert wird. (Falkenberg 1982:91)

Demnach müssten Sprecherbedeutung und Äußerungsbedeutung bei assertiven, lügentauglichen Sprechakten notwendig übereinstimmen, oder, um es mit Grice zu formulieren: „what is said“ und „what is meant“ müssen zusammenfallen, damit eine Proposition nach Falkenbergs Definition eine Behauptung sein kann. Damit ist Falkenbergs Behauptungsbegriff sehr eng gefasst.

2.3.2 Falkenbergs Definition des „zentralen Falls“ der Lüge

Falkenberg geht von einem „einfachen, zentralen Fall“ (vgl. Falkenberg 1982:75) der Lüge aus, den er gegen den Fall der „vollkommenen Wahrhaftigkeit“ (Falkenberg 1982:140) abgrenzt. Falkenberg zeigt, dass die Bedingungen „behaupten“ und „glauben“ gemeinsam hinreichend sind, um den „zentralen Fall“ der Lüge zu bestimmen, und legt seiner Bestimmung der Lüge den Fall eines Sprechers A, der eine Behauptung p aufstellt, jedoch glaubt, dass ¬[38] p, zugrunde. Für die Proposition p als Träger von Wahrheit bzw. Falschheit postuliert Falkenberg Prinzipien der klassischen Logik.

(18) Logische Prinzipien für die Proposition p (Falkenberg 1982)

(i) Prinzip der doppelten Negation: Wenn es nicht wahr ist, dass es nicht wahr ist, dass p, dann ist es wahr, dass p; und umgekehrt.
(ii) Prinzip der Bivalenz: Wenn es nicht wahr ist, dass p, so ist es falsch, dass p. Wenn es nicht falsch ist, dass p, so ist es wahr, dass p.
(iii) Prinzip des ausgeschlossenen Dritten: Entweder p oder nicht p.
(iv) Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs: Es ist nicht der Fall, dass zugleich p und nicht p. (Falkenberg 1982: 72)

Seine Definition des „einfachen, zentralen Falls der Lüge“ knüpft „lügen“ analytisch an „behaupten“ und „glauben“ (vgl. Falkenberg 1982:77). Zusätzlich nimmt Falkenberg einen Zeitpunkt t an, an dem die Behauptung p des Sprechers und sein „aktiver“ Glaube bezüglich der Proposition p zusammenfallen. Damit will Falkenberg Fälle wie das Beispiel des Herzkranken (vgl. Kapitel 2.1.1), bei denen ein Sprecher lediglich irrtümlich oder zufällig einen bestimmten Glauben äußert, aus seiner Definition ausschließen. Auf der Grundlage seiner Behauptungsdefinition (16) bestimmt Falkenberg nun den „zentralen Fall“ der Lüge:

(19) Falkenberg: Der „zentrale Fall“ der Lüge

A hat zu t gelogen

Gdw (a) A hat zu t behauptet, dass p

(b) A glaubte aktiv zu t, dass nicht p. (Falkenberg 1982:75)

Obwohl Falkenberg auch die Täuschungsabsicht zu den notwendigen und hinreichenden Bedingungen einer Lüge rechnet (vgl. 14iv), nimmt er sie nicht gesondert in seine Definition der Lüge auf. Er argumentiert, dass sich die Täuschungsabsicht bereits aus der Behauptungsbedingung und der Glaubensbedingung seiner Lügendefinition ergebe (Falkenberg 1982:121). Im Falle einer Lüge folgt sie aus Falkenbergs Behauptungsbedingung (19a) auf der Grundlage seines Behauptungsbegriffs (16), der bereits vorwegnimmt, dass der Sprecher „M-intendiert einen aktiven Glauben im Adressaten“ (vgl. 16b) hervorzurufen, in Kombination mit der Glaubensbedingung (19b) seiner Lügendefinition, die besagt, dass der Sprecher selbst seine Behauptung für falsch hält.

2.3.3 Falkenbergs „Grade der Lügenhaftigkeit“

Zum Abschluss seiner Analyse nimmt Falkenberg eine graduell abgestufte Charakterisierung verschiedener Lügentypen vor und bedient sich hierzu dreier Gegensatzpaare, die auf verschiedenen Skalen angeordnet sind. Auf einer Glaubensskala unterscheidet er zwischen „starken und schwachen“ Lügen, auf der „Skala der Behauptungsstärke“ (Falkenberg 1982:139) zwischen „harten und weichen“ Lügen und auf einer Nahelegungsskala zwischen „direkten und indirekten“ Lügen. Den Unterschied zwischen einer starken und einer schwachen Lüge erklärt er am Beispiel eines Atheisten gegenüber einem Agnostiker (vgl. Falkenberg 1982:135f.): Eine starke Lüge wäre der typische Fall, oder, mit Falkenberg, „der zentrale Fall“ der Lüge, d.h.: A behauptet, dass p, glaubt aber aktiv, dass ¬ p. Eine schwache Lüge liegt dagegen vor, wenn A über seine Proposition p weder glaubt, dass sie wahr, noch, dass sie falsch ist, sondern sie sozusagen „ins Blaue“ (vgl.ebd.) hinein behauptet. Relativ ähnlich verhält es sich mit „harten und weichen“ Lügen. Hier unterscheidet Falkenberg zwischen den „Graden des Behaupteten“[39] und expliziert dies an Beispielen wie:

(a) Ja
(b) Jooh
(c) Mmh. (Falkenberg 1982:138)

Die „Grade des Behaupteten“ wiegt Falkenberg, sozusagen um den „Grad der Lüge“ (Falkenberg 1982:139) zu explizieren, gegen die „Glaubensstärke“ auf:

Die Äußerung von σ war in dem Grade eine Lüge, in dem der Stärkegrad der Behauptung mittels σ, dass p, und der Stärkegrad der Glaubenseinstellung, dass nicht p, auseinanderfielen. (Falkenberg 1982:139)

Mit Hilfe dieser Abgrenzungen auf verschiedenen Skalen charakterisiert Falkenberg die „vollkommene“, prototypische Lüge, die stark, hart und direkt ist. Als Gegenpol zur prototypischen Lüge bestimmt Falkenberg, in Anlehnung an Augustinus (395:§3), den Prototyp der „vollkommenen Wahrhaftigkeit“:

(20) Prototyp der vollkommenen Wahrhaftigkeit (Falkenberg 1982)

A war vollkommen wahrhaftig, gdw. die Stärke seiner Behauptung, dass p, gleich der Stärke seiner Glaubenseinstellung war, dass p. (Falkenberg 1982:140)

Durch systematisches Kombinieren lassen sich mit Falkenbergs Modell nun verschiedene Mischformen der Lüge ableiten.

Als Strategie erscheint es mir günstig, von starken, direkten, harten Lügen auszugehen, und von dort aus in verschiedene Richtungen vorzustoßen, um zu sehen, wie der Begriff der Lüge an den Rändern ausfranst; wie die Lüge übergeht in andere Arten versuchter verbaler Täuschung […]. (Falkenberg 1982:140)

Falkenberg verwendet hier zwar weder eine prototypensemantische Terminologie, noch nimmt er auf die Prototypensemantik Bezug; dennoch kommen die „ausgefransten Ränder des Begriffs Lüge“ dem, was prototypensemantisch als „blurry edges“ (Coleman/Kay 1982:27, dt. „verschwommene Ränder“) einer Kategorie bezeichnet wird, sehr nah. Falkenbergs Ziel ist es schließlich, mit seinem Modell nicht nur die „ausgefransten Ränder“ des Begriffs Lügen abzustecken sondern das gesamte Spektrum des Phänomenbereichs „Lüge“ abzudecken.

2.4 Zwischenfazit

Sowohl Falkenberg als auch Coleman/Kay und Blutner nehmen Eigenschaften an, über deren Kombination sich Grade der Lüge beschreiben lassen. Falkenberg räumt selbst ein, dass sein Lügenbegriff (19) per definitionem sehr eng gefasst sei, weitet seinen Lügenbegriff mit der Annahme von skalaren Eigenschaften, die Lügen graduell abstufen, jedoch wieder aus und nähert sich den Modellen aus der Prototypensemantik durch die Unterscheidung „zentraler“ und weniger „zentraler Fälle der Lüge“ an. Coleman und Kays empirische Studie ist die bisher einzige linguistische empirische Untersuchung zur Lüge[40], und für die linguistische Lügen-Forschung und meine Analyse daher von zentraler Bedeutung. Ihre These, dass unser Konzept von „Lügen“ ein graduelles Phänomen ist, halte ich für zutreffend. Blutners und Tsohatzidis‘ Kritik an Coleman und Kays Methodik stimme ich jedoch darin zu, dass Coleman und Kay aufgrund ihrer zweifachen Fragestellung die Phänomene der Vagheit und Zentralität vermischen. Ihre Ergebnisse könnten daher tatsächlich auf das Phänomen der Zentralität anstelle der Vagheit hinweisen. Letztlich bleibt jedoch auch dies Hypothese, da empirisch auch nicht ausgeschlossen werden konnte, dass die Grenzen der Kategorie Lüge vage sind. So wäre es auch möglich, dass der Begriff „lügen“ durch beide Phänomene charakterisiert wird. Die von Blutner vorgenommene Einteilung von vier Begriffstypen halte ich insofern für anfechtbar, als dass man Begriffe wie „gerade Zahlen“, „Primzahlen“, „Mann“ und „Frau“ und das Sprechaktverb „lügen“ nicht ohne weitere Rechtfertigung demselben Begriffstyp zuordnen kann: Während für den Begriff „Primzahl“ oder „Frau“ klare mathematische bzw. biologische Merkmalsdefinitionen bereitstehen, die tatsächlich kaum „fuzzy edges“ zulassen, ist dies für das Sprechaktverb „lügen“ nicht der Fall. Dies könnte etwa damit zusammenhängen, dass „lügen“ auch ein moralischer Begriff ist und die moralische Bewertung in unsere intuitive Bewertung, ob etwas der Kategorie Lüge zuzuordnen ist oder nicht, einfließt (vgl. Giese 1992:92, Falkenberg 1982:8). Während Coleman/Kay ihre Untersuchung als Beweis für die Vagheit des Konzepts lügen betrachten, gelingt es Blutner zwar, beide Phänomene theoretisch abzugrenzen, seine These, dass die Kategorie lügen zwar klare Kategoriengrenzen, aber Typikalitätsunterschiede aufweist, ist jedoch empirisch nicht nachgewiesen: Der Begriff Lügen könnte etwa auch durch beide Phänomen [+Vagheit, +Zentralität] gekennzeichnet sein. Falkenbergs begriffsanalytisches Modell des „zentralen Falls der Lüge“ und Blutners heuristisches duales Modell für lügen ähneln sich darin, dass beide Ansätze zunächst einen definitorischen Kern - nach klassischer Kategorienauffassung - bestimmen, letztlich jedoch auch der Gradualität unseres Konzepts von Lügen gerecht werden. Denn obwohl Falkenberg für seine Analyse nicht explizit auf prototypensemantische Modelle und die Phänomene der Vagheit und Typikalität Bezug nimmt, zielt auch sein Modell auf Begriffe wie „vollkommen“ und „zentral“ ab, mit denen er seine Analyse auf verschiedene „Grade“ und einen „Prototyp“ der Lüge ausrichtet. Seine Analyse orientiert sich allerdings nicht an unserer intuitiven Konzeptualisierung von Begriffen, sondern seine „Grade der Lüge“ sind, wie sein Lügenbegriff, empirisch nicht nachgewiesen. Aus der Perspektive der Prototypensemantik müsste man zudem auch Falkenberg eine Vermischung der Phänomene der Vagheit und der Zentralität vorwerfen: Während der „zentrale Fall der Lüge“ und die auf Skalen angeordneten Eigenschaften von Lügen eher auf das Phänomen der Typikalität schließen lassen, führt uns die abschließende Gegenüberstellung von Lüge und „vollkommener Wahrhaftigkeit“ zum Schluss, dass Falkenbergs Abgrenzungsversuch letztlich eher den Grenzen der Kategorien „Lüge“ bzw. „Wahrhaftigkeit“ geschuldet ist, und somit auf das Phänomen der Vagheit verweist. Blutners Vorschlag, für Begriffe wie „lügen“ zunächst einen definitorischen Kern anzunehmen, und diesen dann durch „Präferenzregeln“ auszuweiten, könnte jedoch als Vorbild für eine Begriffsbestimmung dienen. Als definitorischen Kern und „Prototyp der Lüge“ möchte ich für meine Analyse zunächst Falkenbergs Lügenbegriff (Falkenberg 1982) festhalten. Offenbar kommt Falkenbergs Lügenbegriff durch die Glaubensbedingung, die Bedingung der Täuschungsabsicht und die Behauptungsbedingung auch unserem intuitiven Begriff der Lüge sehr nahe (vgl. Coleman/Kays Studie von 1981).

3 Falsch Implizieren: Lügen, obwohl man die Wahrheit behauptet

Nicht selten werden in der Alltagssprache bewusst falsche konversationelle Implikaturen oder Präsuppositionen verwendet. Besonders rhetorisch geschulte Menschen gebrauchen sie gerne, denn die falsche Implikatur hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber der „glatten Lüge“: Im Falle der Überführung lässt sie sich einfach zurücknehmen. Das liegt daran, dass konversationelle Implikaturen immer und falsche Präsuppositionen immerhin in einigen Kontexten löschbar sind. Obwohl Falkenberg nicht abstreitet, dass man mit konversationellen Implikaturen oder Präsuppositionen lügen kann, schließt er falsche Implikaturen letztlich aus seiner Definition der Lüge aus. Im Rahmen seiner Klassifikation verschiedener Lügen-Grade stellt er nur versuchsweise, in Abgrenzung zur „direkten“ Lüge, eine Definition von „indirekten Lügen“ auf. Zahlreiche Analysen der Lüge führen „lügen, während man die Wahrheit sagt“ (vgl. Castelfranchi/Poggi 1994) oder „falsch Implizieren“ (vgl. Adler 1997, Chisholm/Feehan 1977) als Sonderform der Täuschung an, grenzen sie jedoch von der Lüge ab. Aufbauend auf Grice’ Theorie der konversationellen Implikatur (vgl. Grice 1979c) stellt Meibauer (2005, 2011) als Einziger eine Definition der Lüge auf, die auch falsche Implikaturen einschließt.

3.1 Die konversationelle Implikatur und andere Implikaturentypen

Auch indirekte Formulierungen besitzen eine Regelhaftigkeit und können illokutionäre Rollen übernehmen. Grice erklärt dies durch das Prinzip der Kooperation zwischen Sprecher und Hörer:

(21) Das Grice‘sche Kooperationsprinzip

Mache deinen Gesprächsbeitrag jeweils so, wie es von dem akzeptierten Zweck oder der akzeptierten Richtung des Gesprächs, an dem du teilnimmst, gerade verlangt wird. (Grice 1979c:248)

Aufbauend auf Kants Kategorien der Qualität, Quantität, Modalität und Relation unterscheidet Grice die vier Konversationsmaximen, die dazu beitragen, dass Kommunikationspartner in der Lage sind, einander zu verstehen.

(22) Die Grice‘schen Konversationsmaximen (vgl. Grice 1979c:249f):

(a) Maxime der Quantität:

1. Mach deinen Beitrag so informativ (für die gegebenen Gesprächszwecke) wie nötig.

2. Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig.

(b) Maxime der Qualität:

1. Sage nichts, was du für falsch hältst.

2. Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen.

(c) Maxime der Relation

1. Sei relevant.

(d) Maxime der Modalität

1. Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks.

2. Vermeide Mehrdeutigkeit.

3. Sei kurz (vermeide unnötige Weitschweifigkeit).

4. Der Reihe nach!

Nach Grice machen Sprecher durch die offenkundige Verletzung oder Befolgung einer oder mehrerer Konversationsmaximen konversationelle Implikaturen, die der Hörer anhand eines Schlussprozesses rekonstruieren kann. Zur Veranschaulichung dieses Prozesses wähle ich das folgende bekannte Beispiel von Kapitän und Steuermann[41].

(23) Die Geschichte von Steuermann und Kapitän

Ein Kapitän, selbst absoluter Abstinenzler, der an jedem Tag nüchtern ist, ärgert sich darüber, dass sein Steuermann ständig betrunken ist. Eines Tages wird er so wütend darüber, dass er ins Logbuch einträgt: „Heute, am 11. Oktober, ist der Steuermann betrunken.“ Ein paar Tage später, jetzt ist der Steuermann der Wachhabende, entdeckt dieser den Logbucheintrag des Kapitäns. Erst ärgert er sich, doch nach kurzer Überlegung schreibt er seinerseits ins Logbuch: „Heute, 14. Oktober: Der Kapitän ist nüchtern.“

Der Schlussprozess zur Ableitung der Implikatur könnte etwa so aussehen: Der Steuermann verstößt hier gegen die Grice’sche Maxime der Relation. Gemeinhin geht man davon aus, dass im Logbuch nur wichtige Ereignisse dokumentiert werden. Die Tatsache, dass der Kapitän am 14. Oktober nüchtern war, ist jedoch nur relevant, wenn dies die Ausnahme ist. Der Leser kann also schlussfolgern, dass der Steuermann hier implikatieren will, dass sein Kapitän normalerweise immer betrunken ist. Grice wählt die Termini „Implikatur“ bzw. „implikatieren“ [42] um die pragmatische Implikation bzw. das pragmatische Implizieren gegen die semantische Implikation bzw. das semantische Implizieren abzugrenzen (vgl. Grice 1979c:246). Konversationelle Implikaturen werden in der Linguistik durch verschiedene Eigenschaften charakterisiert, um sie von anderen linguistischen Phänomenen abzugrenzen: Erstens sind konversationelle Implikaturen, wie für Beispiel (23) gezeigt wurde, rekonstruierbar. Zweitens sind konversationelle Implikaturen kontextabhängig, d.h. es lässt sich ein Kontext denken, in dem die entsprechende Implikatur bei derselben Äußerung nicht ausgelöst wird. Drittens sind sie streichbar, d.h. es lässt sich im selben Kontext eine Rücknahme der Implikatur machen, ohne dass dies widersprüchlich ist. So könnte der Steuermann etwa sagen: „Heute ist der Kapitän nüchtern, aber das soll nicht heißen, dass er normalerweise betrunken ist.“, ohne dass dies widersprüchlich wäre. Zudem sind konversationelle Implikaturen nicht abtrennbar, d.h. sie beruhen nicht auf der sprachlichen Form, sondern auf dem semantischen Gehalt der Äußerung. Hätte der Steuermann anstelle von „nüchtern“ den Ausdruck „nicht betrunken“ gewählt, hätte seine Implikatur sich dadurch nicht geändert. Auch Meibauer (2005) nimmt als notwendige Bedingungen von konversationellen Implikaturen unter anderen ihre Streichbarkeit („cancellability“) und Rekonstruierbarkeit („calculability“) an (vgl. Meibauer 2005:1380) und definiert sie folgendermaßen:

(24) Meibauer: Definition konversationeller Implikaturen

A conversationally implicated at t that q

Iff (a) A asserted at t that p

(b) A presented q as true

(c) q is calculable from the assertion of p,

(d) q is cancellable. (Meibauer 2005:1378, Meibauer 2011:284)

Daraus, dass die Implikatur q streichbar ist, schlussfolgert Meibauer, dass der Sprecher, der q implikatiert, q auch als wahr darstellt (vgl. Meibauer 2005:1379) und hält dies als zusätzliche Bedingung fest (vgl. 24b). Dadurch umgeht er die Frage nach den Wahrheitsbedingungen von konversationellen Implikaturen, die traditionellerweise in der Linguistik gerade wegen ihrer Streichbarkeit als jenseits der Wahrheitsbedingungen angesehen werden. Zudem nimmt Meibauer in seine Definition der konversationellen Implikatur die Behauptungsbedingung auf (vgl. 24a). Grice (1961) unterscheidet grob vier verschiedene Implikaturentypen: Konventionelle Implikaturen, Präsuppositionen, konversationelle Implikaturen, bei denen er partikuläre und generalisierte Implikaturen unterscheidet. Falsche konventionelle Implikaturen sind an die wörtliche Bedeutung von Äußerungen gebunden, die zwar keinen Einfluss auf den propositionalen Gehalt des Satzes haben, aber die Implikatur auslösen. So etwa löst die Äußerung „Yvonne ist hübsch aber dumm“ die Implikatur aus, dass ein Gegensatz zwischen Yvonnes Hübschsein und ihrem Dummsein bestünde. Da sie abtrennbar und nicht streichbar sind, können wir konventionelle Implikaturen unter Falkenbergs Definition von Lügen „im engeren Sinne“ subsumieren. Auf falsche Präsuppositionen gehe ich in Kapitel 3.4 ein. Bei unserem Beispiel von Kapitän und Steuermann (23) haben wir es mit einer partikulären konversationellen Implikatur zu tun. Partikuläre Implikaturen sind in hohem Maße kontextabhängig, zur Ableitung generalisierter Implikaturen sind dagegen keine spezifischen Kontextannahmen notwendig: Häufig basieren sie auf bestimmten Eigenschaften der wörtlichen Ausdrücke. So subsumiert man unter die generalisierten etwa skalare Implikaturen, die auf der Anwendung der ersten Submaxime der Quantität beruhen. Mit der Äußerung „Grete hat drei Äpfel gegessen“ implikatiert man z.B., dass Grete nicht mehr als drei Äpfel gegessen habe. Während für die Ableitung partikulärer Implikaturen alle Grice’schen Maximen eine Rolle spielen können, hebt Levinson (2000:74) hervor, dass sich generalisierte Implikaturen nur nach den Grice’schen Maximen der Quantität und Modalität ableiten lassen. Diese übersetzt Levinson in allgemeinere Prinzipien[43], aus denen er verschiedene Typen generalisierter Implikaturen ableitet. Da diese sich, wie wir in Kapitel 3.3.4 noch sehen werden, in ihrer „Lügentauglichkeit“ letztlich nicht voneinander unterscheiden (vgl. Meibauer 2005:1390 und Tabelle V), werde ich nicht auf alle von Levinson unterschiedenen Implikaturentypen eingehen. Zusammenfassend charakterisiere ich konversationelle Implikaturen als Bedeutungsaspekte einer Äußerung, die sich aus der Anwendung oder offenkundigen Verletzung der Grice’schen Maximen rekonstruieren lassen und zudem streichbar, nicht abtrennbar und, in unterschiedlichem Maße, kontextabhängig sind.

3.2 Falkenbergs Definitionsversuch „indirekter“ Lügen

Obwohl sein Lügenbegriff sehr eng gefasst ist, beschreibt auch Falkenberg (1982) verschiedene Fälle von Lügen, die er als „indirekt“ klassifiziert. So nennt er als Beispiel für falsches Implizieren:

B: „Wie viele Kekse hast du genommen?“

A: „Einen“ (wenn er überzeugt ist, zehn genommen zu haben.) (Falkenberg 1982:136)

Bei dem, was Falkenberg hier als falsche Implikatur klassifiziert, handelt es sich m. E. n. um eine falsche Behauptung. Hätte B gefragt: „Hast du dir Kekse genommen?“ und A geantwortet: „Einen“, könnte man tatsächlich von einer falschen generalisierten Implikatur sprechen. Da B jedoch fragt: „Wie viele Kekse?“, ist die Antwort von A faktisch falsch und somit als „glatte Lüge“ einzuordnen. Für uns von Bedeutung ist jedoch, dass Falkenberg nicht ausschließt, dass man mit falschen Implikaturen lügen kann: Er schlägt versuchsweise sogar eine Definition für „indirektes“ Lügen vor.

[...]


[1] Der Begriff „Behauptung“ (in vielen englischsprachigen Analysen der Begriff „assertion“, vgl. Chisholm/Feehan 1977, Meibauer 2005) verweist in den meisten Arbeiten (vgl. Falkenberg 1982, Giese 1992, Meibauer 2005 u.a.) in metonymischer Verkürzung auf alle assertiven Sprechakte im Sinne von Searles Taxonomie der Sprechakte (vgl. Searle 1982). Auch ich werde den Begriff „Behauptung“ im Folgenden, sofern nicht eindeutig etwas anderes aus dem Kontext hervorgeht, in der Bedeutung „assertiver illokutionärer Akt“ im Sinne Searles verwenden. Als Synonym für „Behauptung“ und „assertiver illokutionärer Akt“ verwende ich zudem an einigen Stellen die Begriffe „Assertiv“ und „Assertion“.

[2] Zwar schränkt Meibauer (2005) diese Hypothese in einer Fußnote dahingehend ein, dass Lügen „prototypischerweise Assertionen“ („prototypically assertions“, vgl. Meibauer 2005:) sind, für seine Definition der Lüge berücksichtigt er jedoch nur assertive Sprechakte. Meibauer (2011: 280) lässt diese Hypothese sogar uneingeschränkt stehen.

[3] Die Abkürzung „gdw.“ steht hier und im Folgenden für „genau dann, wenn“.

[4] Vergleichen lässt sich das, was Adler hier „Einladung“ nennt, auch mit Searles Begriff des „illokutiven Effekts“: „Es ist S‘ Intention (I-1), mit der Äußerung U von [einem Satz] T bei H die Erkenntnis (das Begreifen, das Erfassen) zu bewirken, dass bestimmte Sachlagen bestehen, die durch bestimmte für T geltende Regeln spezifiziert sind. (Diesen Effekt nennen wir den illokutionären Effekt IE.)“ (Searle 1971:78).

[5] vgl. Adler 1997:446: „That a lie is easier to ascribe than an implicated deception may give rise to a worthwhile belief in a moral distinction between them.”

[6] Chisholm/Feehan (1977) nehmen als vorrangiges Unterscheidungskriterium für die verschiedenen Täuschungstypen an, ob der Hörer durch die Täuschung des Sprechers dazu gebracht wurde, falsches Wissen anzunehmen („positive deception simpliciter“) oder richtiges Wissen aufzugeben („negative deception simpliciter“), vgl. Chisholm/Feehan (1977: 144-145).

[7] „p“ steht hier und im Folgenden für die Proposition bzw. den propositionalen Gehalt einer Äußerung.

[8] Falkenberg 1982:56 zitiert dabei ein Beispiel nach Utitz 1918:§IV.

[9] vgl. hierzu auch Grice’ Ableitungsverfahren für Implikaturen, speziell für Ironie: Grice (1979c:258).

[10] Ich verwende hier das Verb „sagen“, erstens, da sich (5c), wie wir später sehen werden, aus der Definition von „behaupten“ bzw. assertiven Sprechakten bereits ergibt, und wir (5c) deshalb bei Verwendung von „behaupten“ streichen müssten. Zweitens, da viele der hier erwähnten Definitionen tatsächlich vage „sagen“ („say“), „feststellen“(„state“) (u.a.), anstatt explizit „behaupten“ verwenden.

[11] Wo Meibauer (2011:283) hier in der Täuschung des Gerichts eine konversationelle Implikatur entdecken will, erschließt sich mir nicht.

[12] Eine starke Parallele mit Carsons Beispiel weist ein Beispiel von Constant auf, das er in einer schriftlichen Debatte mit Kant als Fall von „erlaubter Lüge“ anführt, vgl. Constant de Rebeque (1797), Kant (1797), wobei ich, indem ich Carsons Beispielfall als Lüge charakterisiere, Kants Position einnehme.

[13] vgl. Grice 1979a.

[14] So heißt es in der deutschen Übersetzung der Thora: „Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen“(2. Buch Moses, Kapitel 20, Vers 16) und auch im Koran wird in einigen Suren das Lügenverbot in Bezug auf assertive Sprechakte deutlich: "Ihr Gläubigen! Steht (wenn ihr Zeugnis ablegt) als Zeugen (die) Allah gegenüber (ihre Aussagen machen) für die Gerechtigkeit ein [...], auch wenn es gegen euch selbst oder gegen die Eltern und nächsten Verwandten (gerichtet) sein sollte!"(Sure 4, Vers 135, Hervorhebungen von mir.)

[15] vgl. zum Begriff der „illokutiven Festlegung“ Searle/Vanderveken 1985:23 und 78, Vanderveken 1997 und Kapitel 4.1.2.

[16] vgl. zum Begriff der „starken illokutiven Festlegung“ Kapitel 4.1.2. der vorliegenden Arbeit.

[17] Augustinus [395]:§6 bestimmt an anderer Stelle „enuntiare“ folgendermaßen: „quisquis enim aliquid enuntiat, testimonium perhibet animo suo“. („Jeder, der etwas aussagt, legt Zeugnis von seiner Gesinnung ab“, Übersetzung von Falkenberg 1982:78.)

[18] Deutsche Übersetzung: „Die Lüge ist eine Aussage, mit der Absicht, falsch auszusagen.”

[19] Deutsche Übersetzung: „behaupten“.

[20] vgl. Menzer 1925: 286.

[21] Falkenberg 1982:81 bezieht sich dabei auf Grice (1979a, 1979b) und Schiffer (1972), insbesondere auf Grice‘ Begriff der „M(eaning)-Intention“ (vgl. Grice 1979a).

[22] Ähnlich wie Grice (1979a) für das englische Verb „to mean“ unterscheidet Falkenberg verschiedene Verwendungsweisen des deutschen Verbs „sagen“: „sagend“ bezeichnet das reine Äußern von Lauten, d.h. nach Austin den „phatischen Akt“; „sageni“ soll dagegen den „illokutionären Akt“ von „sagen“ bezeichnen, vgl. Falkenberg 1982:25-30.

[23] Zwar revidiert Meibauer (2005:1375) diese These in einer Fußnote dahingehend, dass Lügen lediglich „prototypischerweise“ („prototypically“) Behauptungen seien, seine Behauptungsbedingung lässt er dennoch so stehen. In Meibauer (2011:280) fehlt dann diese Einschränkung: „They are always assertions.“ (Hervorhebung von mir).

[24] Meibauer (2005) nimmt die Behauptungsbedingung, wie wir im dritten Kapitel sehen werden, auch in seine Definition der konversationellen Implikatur und seine erweiterte Lügendefinition auf.

[25] Das Grice’sche Kooperationsprinzip und die Konversationsmaximen stelle ich in Kapitel 3.1 vor.

[26] Nach Grice würde es sich also um keine „offenkundige“ Verletzung, d.h. um keine „Ausbeutung“ der Maxime handeln (vgl. Grice 1979c:254), vgl. die Kapitel 3.1 und 4.1.3.

[27] Statt von einem klar definierten assertiven Sprechakt spricht Carson in seiner Definition von einem „statement“, ohne dies näher zu bestimmen. Eine angemessene Unterscheidung zwischen „say“, „state“ und „assert“ wird in vielen philosophischen Analysen (Fallis 2010, Carson 2010 u.a.) vernachlässigt.

[28] Armstrong/Gleitman/Gleitman (1983) zeigen in einem Experiment, dass wir „gerade Zahlen“ zwar als „wohldefinierte“ Kategorien konzeptualisieren, d.h. als Kategorie mit scharfen Grenzen, z.B.: „Achthundertundsechs ist (*gerade noch) eine gerade Zahl“. Dennoch erweist sich in psycholinguistischen Tests die Zahl „Zwei“ als typischere gerade Zahl als z.B. die „Achthundertundsechs“.

[29] Jackendoff (1983) bezeichnet mit dem Terminus „Präferenzregeln“ eine Art von kontextsensitiven Entscheidungsregeln, die in unserer alltäglichen Kommunikation dazu beitragen, dass wir in der Lage sind, unter einer Anzahl von möglichen Interpretationsvarianten eines Begriffs auszuwählen, z.B. in einem bestimmten Kontext die jeweilige Bedeutungsvariante von Schule (Gebäude, Institution, etc.) intuitiv zuzuordnen.

[30] Es gibt weitere Modellvorschläge, die Semantik von Sprechaktverben zu bestimmen, so etwa aus der Frame-Semantik (Konerding 1996), auf die ich in dieser Arbeit nicht eingehe.

[31] „Eigenständiger“ illokutionärer Akt soll hier einen Sprechakt bezeichnen, der einer Sprechtaktklasse mit eigenen Gelingensbedingungen (vgl. Searle/Vanderveken 1985) angehört. Zum Begriff der Gelingensbedingungen vgl. auch Kapitel 4.1.

[32] Für 13a) beruft sich Falkenberg auf Aristoteles‘ Behauptungsbegriff (vgl. Tugendhat 1976:§4).

[33] Für 13b) stützt sich Falkenberg auf die Intentionale Semantik, vornehmlich Grice (1979a, 1979b) und Schiffer (1972).

[34] Mit 13c) stützt sich Falkenberg u.a. auf Searles wesentliche Bedingung von Assertiven 1982:31.

[35] Für diese Bedingung beruft sich Falkenberg auf Schiffer (1972:§IV.2).

[36] Falkenbergs Begriff der „M-Intention“ baut auf Grice (1979a) und Schiffer (1972) auf. Falkenbergs Definition der M-Intention führe ich weiter unten auf.

[37] Falkenberg übernimmt den Terminus meinennn von Grice (1979a:11), wobei meinennn für „nicht-natürlich bedeuten“, genauer expliziert in Grice 1979a, steht.

[38] „¬“ steht, wie auch in der Aussagenlogik, hier und im Folgenden für „nicht“ bzw. für eine Negation des Nachstehenden.

[39] Falkenberg geht davon aus, dass es nur „Grade des Behaupteten“, nicht aber „Grade des Behauptens“ geben könne, denn entweder man behaupte etwas, oder nicht, vgl. Falkenberg (1982: 139).

[40] Mit einer Ausnahme, nämlich einer Neuauflage derselben Studie bei spanischen Muttersprachlern in Ecuador von Hardin (2010).

[41] Das Beispiel stammt ursprünglich von Posner (1980), und wird von Meibauer zitiert (vgl. Meibauer 2005:1380). Ich zitiere frei nach Meibauer.

[42] Im Originaltext: „implicature“/ „to implicate“, vgl. Grice 1989:24.

Ende der Leseprobe aus 119 Seiten

Details

Titel
Lügen, falsch Implizieren und vorgetäuschte Sprechakte
Hochschule
Universität zu Köln  (Philosophische Fakultät)
Veranstaltung
Germanistik / Linguistik
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
119
Katalognummer
V300262
ISBN (eBook)
9783656964391
ISBN (Buch)
9783656964407
Dateigröße
1681 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
lügen, implizieren, sprechakte
Arbeit zitieren
Eva Lippold (Autor:in), 2013, Lügen, falsch Implizieren und vorgetäuschte Sprechakte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/300262

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