»Moderne Depression hat [...] keinen Anklang mehr an die eigensinnige Weltbetrachtung eines Melancholikers.«
Wenn man sich daraufhin als Interessierter mit dem psychiatrischen Konzept der Melancholie befassen möchte, so stellt sich zunächst die Frage, welche Art der Untersuchung betrieben werden soll und kann.
Ausgehend vom Fehlen des Lemmas in den derzeit bedeutendsten medizinischen und psychiatrischen Diagnoseklassifikationssystemen ICD-10 und DSM-V scheint eine sich bis zum heutigen Datum erstreckende, durchgängige medizin-historische Begriffsgeschichte nachzuvollziehen nicht möglich. Dies resultiert aus der Versenkung des Terminus Melancholie in die Welt der Alltagssprache, vielleicht zu begründen mit der Vergeistigung und Ästhetisierung des ursprünglich medizinischen Begriffs im Mittelalter sowie mit seiner modernen Ansprüchen korrekter psychologischer Klassifikation nicht mehr entsprechenden Etymologie der schwarzen Galle, einem Relikt antiker Humoralpathologie, welche bereits seit Paracelsus, spätestens aber seit Harvey als veraltet gilt.
Eine derartige wissenschaftshistorische Perspektive kann demzufolge nur bis zur Ablösung der Melancholie als Diagnose durch ihre Integration in den Symptomenkomplex der affektiven Störungen, als deren nurmehr deskriptives Merkmal sie in der »rezidivierenden depressiven Störung« aufgeht, eingenommen werden. Das so erfolgte Absprechen der wissenschaftlichen Gültigkeit durch die regelrechte Streichung aus der psychiatrischen Nomenklatur reduziert den Begriff nicht nur auf ein diagnostisches Rudiment, sondern zugleich auf ein Attribut für die umgangssprachliche Beschreibung einer Verstimmung des Seelenlebens, welches in seiner Ausdruckskraft im Verlauf der Zeit deutlich an Schärfe verloren hat, sowohl was die reine Wortbedeutung angeht als auch den Grad der Belastung des mit dieser Eigenschaft Bedachten.
So wird Melancholie heute meist als ein Gemütszustand gesehen, der »von großer Niedergeschlagenheit, Traurigkeit oder Depressivität« gekennzeichnet ist, ohne diesen jedoch als Krankheitsbild zu verstehen.
Damit einher geht eine scheinbare Umrisslosigkeit des Begriffs, nicht zuletzt weil sich die Melancholie zu einer verfestigt geglaubten Denotation von eigentlich getrennt zu erklärenden körperlichen und geistigen Phänomenen entwickelt hat und damit zu einer Art Auffangbecken für die Vielfalt der Synonyme von bedrückter Stimmung wurde.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- 1. Entstehung der Formalität: Die Geschichte der ICD
- 2. Der inhaltliche Weg: Psychiatriegeschichte und der Wandel in der Deskription von Melancholie und Depression
- 2.1. Von Reil bis Kraepelin
- 2.2. Nach Einführung der ICD-6
- 3. Ein Ausblick
- 4. Abschließende Betrachtungen
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Der vorliegende Aufsatz befasst sich mit der Begriffsgeschichte von Melancholie und Depression vor dem Hintergrund der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD). Ziel ist es, die Entwicklung des Verständnisses dieser geistigen Zustände im Wandel der Zeit zu beleuchten und die Frage zu beantworten, unter welchen Umständen der Wandel von Melancholie zu Depression vollzogen wurde.
- Die Entstehung der ICD und ihre Bedeutung für die psychiatrische Klassifikation
- Der Wandel in der Deskription von Melancholie und Depression im Laufe der Geschichte
- Der Einfluss der ICD auf die Definition und Diagnose von Melancholie und Depression
- Die Bedeutung des zeitlichen Kontextes für die Interpretation von Melancholie und Depression
- Die Rolle der Psychiatrie und ihrer Diagnosesysteme in der Entwicklung des Verständnisses von Melancholie und Depression
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die Problematik der Melancholie als Begriff dar und erläutert die Notwendigkeit, sie in ihrem historischen Kontext zu betrachten. Kapitel 1 beleuchtet die Entstehung der ICD als ein wichtiges Instrument für die internationale Diagnostik im Gesundheitswesen. Kapitel 2 untersucht die Entwicklung der psychiatrischen Klassifikation von Melancholie und Depression, wobei die wichtigsten Stationen von Reil bis Kraepelin und die Entwicklung nach der Einführung der ICD-6 dargestellt werden. Ein Ausblick auf zukünftige Entwicklungen und abschliessende Betrachtungen runden den Aufsatz ab.
Schlüsselwörter
Melancholie, Depression, ICD, Psychiatriegeschichte, Klassifikation, Diagnostik, Symptomatik, Pathogenese, Ätiologie, Humoralpathologie, affektive Störungen, rezidivierende depressive Störung, Nosologie.
- Citation du texte
- Marcus Vorlop (Auteur), 2015, Beobachtungen zur psychiatrischen Klassifikation am Beispiel von Melancholie und Depression, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/300964