Exception culturelle = culture exceptionnelle? Filmkultur, nationale Identität und kulturelle Macht Frankreichs


Masterarbeit, 2012

118 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Nationale Identität und Medien
2.1. Ansätze zur Konstitution des (nationalen) Raumes
2.1.1. Nationale Identität durch Alteritätskonstruktionen
2.1.2. Medien als identitätsstiftende Instanzen
2.2. Die Nation als vorgestellte Gemeinschaft - Benedict Anderson
2.2.1. Gemeinschaftsformen der Vergangenheit
2.2.2. Die Nation als kapitalistisches Produkt
2.2.3. Amerikanischer und europäischer Nationalismus
2.2.4. Gleichzeitigkeit und Medien
2.3. Resonanz und Weiterentwicklung des Ansatzes

3. Nationale Identität und Kino
3.1. Kino als Projektion der Gesellschaft
3.3. Zusammenfassung

4. Kulturpolitische Aspekte französischer Identitätskonstruktionen
4.1. Die Französische Revolution als Geburt des modernen Nationalismus..
4.1.1. Faktoren 'Verbissenheit und Sicherheitsbedürfnis'
4.1.2. Faktor 'Arroganz' - die Zivilisation als Gesellschaftsentwurf
4.2. Die kulturpolitische Ausrichtung Frankreichs
4.3. Geschichte und Gegenwart französischer Filmpolitik
4.4. Zusammenfassung

5. Nationalspezifische Narrative im französischen Film
5.1. Narrative und Mythen als identitätsstiftende Instanzen
5.2. Mythos Révolution
5.3. Mythos Résistance
5.4. EXKURS: Frenchness-Filme
5.5. Zusammenfassung

6. Mythen der französischen Filmgeschichte
6.1. Mechanismen der Geschichtsschreibung
6.2. Mythos Nouvelle Vague
6.3. Die Cinéphilie als nationales Narrativ
6.4. Filmbildung In Frankreich - ein Erbe der Cinéphilie?
6.4.1. Französische Ausrichtung der Filmbildung
6.4.2. Institutionen der Éducation au cinéma
6.5. Zwischenresümee

7. Französische Filmpolitik im internationalen Kontext
7.1. Die Maßnahme „exception culturelle“
7.1.1. Exception culturelle - eine Identitätsstiftende Maßnahme?
7.2. Kulturelle Diversität als 'Heilmittel' der Globalisierung?
7.2.1. Verteidigung des Konzepts diversité culturelle
7.2.2. Diskussion des Konzepts diversité culturelle und der außenkulturpolitischen Linie Frankreichs
7.3. Zwischenresümee

8. Postkoloniale Ordnung afrikanischer Filmkulturen
8.1. Französisch-afrikanisches Kino als Spiegel der Dekolonisierungsprozesse
8.1.1. Die Entstehung des afrikanischen Kinos
8.2. Inner-afrikanische Barrieren
8.3. Dependenzverhältnisse afrikanischer Filmkulturen
8.3.1. Französische Kooperation seit dem Ende der Kolonialzeit
8.3.2. Das französische Außenministerium als Steuerungsorgan afrikanischen Filmschaffens
8.3.3. Die Rolle des Publikums

9. Fazit

10. Literaturverzeichnis

„Wir müssen jene Tendenzen, die das tröstende Spiel des Wiedererkennens ermutigen, unbedingt aufgeben.“ (Michel Foucault)

1. Einleitung

Der Begriff „Grande Nation“ wird vielerorts immer noch mit Frankreich assoziiert, insbesondere im deutschsprachigen Raum wird er mit Hohn gegenüber Frankreich verwendet. Dabei ist der Begriff als Eigenbezeichnung unter den Franzosen und Französinnen längst nicht mehr in Verwendung1. Der Begriff basiert auf einer Idee, die ihre Wurzeln in der französischen Revolution hat und während der Ausweitung der französischen Staatsgrenzen unter Napoleon ihre Perfektion fand: Die Idee, Frankreich sei die herausragendste aller Nationen. Diese Anmaßung gehört zur Vergangenheit, jedoch bringt sie zumindest zwei Erben mit sich: Einerseits die kollektive Erinnerung an eine Zeit größerer Macht, andererseits eine Mitverantwortlichkeit an der Herausbildung der heute am weitesten verbreiteten modernen Vergemeinschaftsform: die Nation. Die mediale Öffentlichkeit spielt eine tragende Rolle innerhalb der Identitätskonstruktion einer Nation, und so transportiert auch das Medium Film und die Filmkultur nationale Mythen und Identitätsmerkmale, die sie aus dem kollektiven Gedächtnis einer Nation schöpfen - oder jenes überhaupt erst konstituieren. In Frankreich, wo das Selbstverständnis einer Kulturnation weit verbreitet ist, stehen Künste und nationale Identitätsentwürfe in einem engen Austauschverhältnis - so auch die Filmkultur.

Mich haben zwei Phänomene, die auf diskursiver Ebene um französische Filmkultur sehr auffällig sind, zum Erkenntnisinteresse dieser Arbeit geführt: Einerseits die Cin é philie - ein Begriff, der im Deutschen keine Entsprechung findet und eine besondere Neigung zu Film, Filmclubs, Filmzeitschriften und Kinosälen beschreibt (vgl. Bergala 2006: 18). Die Cin é philie hat in Frankreich den Status eines Images, das sowohl nach innen als auch nach außen die nationale Identität und ferner die Kulturpolitik Frankreichs prägt. Persönlich bin ich während meines Studienaufent- haltes in Frankreich des Öfteren mit dem Begriff konfrontiert worden, wo ihm meistens die Konnotation eines genuin französischen Phänomens anhaftete.

Andererseits sind es die politischen Maßnahmen, die Frankreich zum Schutz der eigenen Filmkultur ergreift und diese im europäischen Rahmen durchsetzt: Die

Diskurse um die exception culturelle (zu deutsch: kulturelle Ausnahme) in den 1990er Jahren haben Spuren hinterlassen, sowohl innerhalb des Verhältnisses Frankreichs gegenüber den USA, als auch das nationale Image französischer Filmkultur betreffend. Somit hat sich mein Erkenntnisinteresse dahingehend entwickelt, welche Faktoren zum französischen Selbst- und Fremdbild einer cinephilen Kultur verhelfen und welche (macht-) politischen Interessen damit verfolgt werden. Dabei soll auch die französische Vergangenheit mitsamt seiner spezifischen Kulturauffassung seit der Revolution und eine mögliche Macht-Nostalgie in Betracht gezogen werden. Hieraus ergibt sich ferner die Relevanz des gewählten Themas, denn die Frage nach kultureller Macht aufgrund nationaler Identitätskonstruktionen ist, auch in postkolonialen Verhältnissen, immer noch aktuell - nicht zuletzt, weil sich diese durch Migration auf den nationalen Raum Frankreichs verlagert hat.

Daher ist es ein Ziel der vorliegenden Arbeit, anhand eines diskursanalytischen Vorgehens die Verbindung zwischen nationalen Identitätskonstruktionen und der französischen Filmkultur herauszustellen. Nach einer theoretischen Einleitung wird zunächst der französische Kulturbegriff beleuchtet und dessen nationale Narrative herausgestellt, um daraufhin die französische Kultur- und Filmpolitik seit 1945 auf die spezifischen Elemente nationaler Identitätskonstruktion zu untersuchen. Im nächsten Kapitel wird sich die Analyse auf die Repräsentation nationaler Mythen im Film konzentrieren und deren Zusammenhang zu den historischen Bedingungen herausstellen. Darauffolgend wird untersucht, inwiefern die Geschichtsschreibung bestimmte Kapitel der französischen Filmgeschichte zu einem Teil französischer Identität machte und ferner die Bedeutung der französischen Filmbildung beleuchtet, um wieder den Bogen zur politischen Dimension zu schlagen.

Denn die politische Dimension wird im darauffolgenden Kapitel relevant: Ein weiteres Ziel ist es, die machtpolitische Dimension französischer Identitätskonstruktionen im Kontext der internationalen Filmindustrie zu betrachten. Anhand der Diskurse um eine exception culturelle werden dabei folgende Fragen berücksichtigt: Wie werden

Elemente nationaler Identität in Frankreich für politische Zwecke instrumentalisiert? Inwiefern haben diese Elemente eine Verbindung zum französischen Kulturbegriff? Offenbaren die Diskurse eine Rhetorik, die mit den hegemonialen Tendenzen der Kolonialgeschichte Frankreichs in Verbindung zu setzen ist? In welchem Verhältnis steht die Maßnahme zum Konzept der kulturellen Diversität?

Um die machtpolitische Dimension im globalen Kontext noch differenzierter zu betrachten, soll auch ein Blick auf die postkoloniale Konstellation zwischen Frankreich und Afrika geworfen werden. So soll im Ansatz die Frage beantwortet werden, ob das kulturelle Machtbestreben Frankreichs auch nach der Dekolonisation innerhalb afrikanischer Filmkultur weitergeführt wird. Dabei wird kein Anspruch auf eine vollständige, tiefergehende Analyse erhoben, weil dazu der Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht ausreicht. Jedoch ist die thematische Einführung vor dem Hintergrund des Untersuchungsgegenstandes interessant und kann als Anknüpfungspunkt für tiefergehende Analysen gesehen werden.

2. Nationale Identität und Medien

„A nation does not express itself

through its culture, it is cultural

aparatuses that produce <the nation>.“

(Donald 1988: 32)

Im Folgenden sollen interdisziplinäre Ansätze, die sich mit dem Zusammenhang zwischen den diskursiven Konstruktionen Nation, nationale Identität und Medien bzw. Film beschäftigen, dargestellt werden. Dabei werden sowohl die theoretischen Grundlagen dargelegt, als auch stellenweise Bezüge zum französischen Beispiel gemacht. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass wir uns heute in einer Situation befinden, in der nationale Bezüge immer weiter verschwimmen, wobei gleichzeitig immer mehr inter- und transnationale kulturelle Prozesse im Bereich nationaler Repräsentationen zu beobachten sind. Dies zu ignorieren hieße, dem Funktionalismus sozialwissenschaftlicher Kommunikationstheorie, der Mediologie und der weiteren hier erwähnten Theorien, nachzugeben (vgl. Hepp 2006: 194). Dieser Umstand wird ausdrücklich berücksichtigt, jedoch erklärt sich die Plausibilität der hier dargestellten theoretischen Ansätze durch den Gegenstand und den historischen Bezug der vorliegenden Arbeit, der den Fokus klar auf nationalisierende Er- scheinungsfaktoren legt.

2.1. Ansätze zur Konstitution des (nationalen) Raumes

In vielen wissenschaftlichen Teildisziplinen hat sich in den letzten Jahren eine Tendenz zu raumtheoretischen Ansätzen erwiesen, die unter anderem Verknüpfungen verschiedener Disziplinen verursachte. In der Geisteswissenschaft kann ein so genannter „spatial turn“ beobachtet werden und auch in der Geografie hat sich, nicht zuletzt durch postmodernistische und poststrukturalistische Theorien, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Paradigmenwechsel ereignet, aus dem die Teildisziplin der „Kulturgeographie“ hervorgegangen ist. Raum wird seither allgemein „nicht länger als eine gegebene und für sich bestehende Einheit, sondern immer in der sich wechselseitig konstituierenden Beziehung zum Sozio-Kulturellen gesehen“ (Hipfl 2004: 17).

Löw, Steets und Stoetzer (2007) weisen auf eine Dualität innerhalb der Raum- konstitution hin: Es besteht die Annahme, dass „Räume nicht einfach nur existieren, sondern dass sie im Handeln geschaffen werden und als räumliche Strukturen, eingelagert in Institutionen, das Handeln beeinflussen können“ (Löw/ Steets/ Stoetzer 2007: 63). Auch Henri Lefèbvre betont die Handlungskomponente des Raumes („(Social) Space is a (social) product“, Lefèbvre zitiert nach Löw/ Steets/ Stoetzer 2007: 52). Die so genannte „Spacial Practice“2 ist ihm zufolge eng verflochten mit den Repräsentationen und Symbolen des Raumes, die diesen definieren, und lesbar machen (vgl. ebd.). Marc Augé (2012) betont in diesem Zusammenhang das 'sich- Wiedererkennen' der Angehörigen einer Gemeinschaft auf symbolischer Ebene - weniger geht es um das Erkennen selbst. Das Symbolische eines Ortes besitzt somit zumeist schon existierende, diskursive Artikulationen und kann so von den Angehörigen der ortsbezogenen Gemeinschaft wiedererkannt werden. Dabei ist der Ort niemals festgelegt, sondern bedarf einer ständigen Aktualisierung seiner Grenzziehungen (vgl. Augé 2012: 52). Ein Raum, wie beispielsweise jener einer Nation, unterliegt somit einer ständigen Bearbeitung - unter anderem durch mediale bzw. filmische Diskurse, die das Symbolische einer Nation und die Abgrenzung zum Anderen prägen. Er zeichnet sich somit durch einen gewisse Kontingenz aus, denn auch die Möglichkeit der Verschiebung dieser spezifischen Beziehungskonstellationen ist möglich. Aufgrund dieser Kontingenz ist der Raum ein umkämpftes Gebiet, in dem bestimmte Akteure ihre Vormachtstellung zu verteidigen suchen (vgl. Hipfl 2004: 9/27). Somit gehen die AutorInnen von einem weitestgehend konstruktivistischen Charakter des Raumes aus. Im nationalen Zusammenhang zeigt sich die ihm zugrunde liegende Handlungskomponente beispielsweise durch institutionelle Dispositive, die politischen Rahmen für weiteres kulturelles Handeln bestimmen.

2.1.1. Nationale Identität durch Alteritätskonstruktionen

Innerhalb von Grenzen ziehenden, symbolischen Handlungen eines (nationalen) Raumes werden Subjekte produziert und reproduziert. Die Abgrenzung der einzelnen Subjekte begründet sich bereits durch die Beschaffenheit von Sprache: Betrachtet man menschliche Kommunikation als Handeln, so kann bereits in der interpersonalen

Kommunikation ein Moment der potentiellen Grenzziehungen zwischen Subjekten verortet werden, die sich im Prozess der Identifizierung manifestieren. Nach Lacan hat Sprache in der symbolischen Ordnung eine zentrale Rolle für Identität, da nur durch sie die Möglichkeit besteht, das Selbst und Andere mit Begriffen zu versehen. Erst durch Sprache gelingt es somit, sich als Zugehörige/-r einer bestimmten Nation (bzw. Gruppe, sozialen Schicht, etc.) bewusst zu bezeichnen und sich dabei von Fremd- bezeichnungen zu differenzieren (vgl. Hipfl 2004: 37f). Sprache beinhaltet somit einen klar definierten, symbolischen Handlungsraum, der nur bestimmte Möglichkeiten der Zuschreibungen zulässt, da sie auf einer determinierten symbolischen Ordnung beruht. So hat auch Stuart Hall (1994), im Zuge seiner Bemühungen um einen neuen Identitätsbegriff, auf das Problem der Konstruktion von Identität durch „das Nadelöhr des Anderen“ (Hall 1994: 45) hingewiesen. Die Produktion von Alterität ist also die Vorraussetzung für die Entstehung von Subjekten aller Art. So entstehen im Prozess der Identitätsbildung auch jene Grenzziehungen, die sich beispielsweise auf unsere Vorstellung einer Nation niederschlagen (vgl. Hipfl 2004: 9/27).

2.1.2. Medien als identitätsstiftende Instanzen

Die Exklusion von Subjekten beinhaltet gleichzeitig aber auch eine Inklusion dieser. Dies kann sich auf mehreren Ebenen ereignen, wobei in der vorliegenden Arbeit ihre mediale Form relevant ist. Gellner (1983) verbindet diesbezüglich einen linguistischen Ansatz mit der berühmten Formel Mc Luhans' „The Medium is the message“, wenn er schreibt:

„The most important and persistent message is generated by the medium itself, by the role which such media have acquired in modern life. The core message is that the language and style of the transmissions is important, that only he [the native speaker recipiant] who can understand them, or can acquire such comprehension, is concluded in a moral and economic community, and that he who does not and cannot, is excluded.“ (Gellner zitiert nach Schlesinger 2000: 22)

Gellner betont hier die vergemeinschaftende Wirkung der Muttersprache, die durch Medien transportiert wird. Andererseits ist es der besondere Stil, der Gellner zufolge von einer Gruppe in medialer Form produziert wird - somit diese wiedererkennbar macht. Es sind aber auch mediale Anrufungen wie „wir“ oder „die Anderen“, die zur Inklusion von Subjekten führen. Nach Hipfl (2004) führen solche abgrenzenden Anrufungen dazu, die vorgestellte Gemeinschaft, beispielsweise einer Nation, als eine Kraft zu legitimieren und somit einen politischen Apparat handlungsfähig zu machen. Auf diese Weise wird auch das „wir“ zu einem Subjekt - zu einer Nation in diesem Fall. Nationale Identitäten unterliegen somit der Anrufung durch einen bestimmten Rahmen akzeptierter Daseinsformen und sind eng mit einem bestimmten Bild der Nation verknüpft. Dieses Bild konzipiert sich im Wesentlichen durch alltägliche Diskurspraktiken in den Medien, sie transportieren die spezifischen Repräsentationen und kognitiven Wissenselemente einer Gesellschaft (vgl. Hipfl 2004: 24).

Der Soziologe Karl W. Deutsch erkannte bereits in den 1950er Jahren den positiven Effekt, den Medien, als Träger dieser alltäglichen Diskurspraktiken, auf eine stabile Struktur des nationalen Gedächtnisses - und ferner auf die nationale, politische Macht - haben können (vgl. Schlesinger 2000: 20). Auch Mike Featherstone spricht von einem „Set von mehr oder weniger kohärenten Bildern und Erinnerungen“ (ebd.), die die Nation repräsentieren und „die die grundlegende Frage der Differenzen und Spezifika einer nationalen Identität behandeln“ (ebd.). Somit prägen Medien unsere „imaginäre Geografie“ (Hipfl 2004: 16) und füllen die Vorstellung von bestimmten geografischen Räumen oder Nationen mit Gedächtnisbildern, die angefüllt sind mit einem symbolischem Gehalt der Ein- und Ausgrenzung. Im Zuge der Entstehung von Gemeinschaften einigen sich daher die verschiedenen Mitglieder einer Gruppe auf verschiedenste Symbole, Narrative, Selbst- und Fremdbilder. Medien, wie beispiels- weise Film, bilden innerhalb dieses Prozesses die „Plattformen der sozialen Praxis“ (Bauer zitiert nach Gries 2009: 22).

2.2. Die Nation als vorgestellte Gemeinschaft - Benedict Anderson

Das Medium, das wahrscheinlich am längsten die Vorstellung eines homogenen, territorial abgegrenzten Raumes einer Gesellschaft erzeugt, ist die geografische Karte. Seit der Galilei-Newtonschen Physik und dem daraus resultierenden neuzeitlich- naturwissenschaftlichen Weltbild, beruhen geografische Karten auf einem modernen Verständnis von Raum. Sie repräsentieren die Idee des Nationalstaates und erzeugen die Vorstellung einer naturgegebenen, politischen, sozialen und kulturellen Gemeinschaft. Somit kann die geografische Karte als Mittel zur kognitiven Aneignung eines Raumes bezeichnet werden (vgl. Löw/ Steets/ Stoetzer 2007: 66ff). Solche Karten werden daher nicht ohne Grund als Medium bezeichnet - so beschreibt etwa John Brian Harley, ein amerikanischer Kartografiehistoriker, „die Kartografie als ein rhetorisches Verfahren, als eine Kunst der überzeugenden Kommunikation“ (vgl. Löw/ Steets/ Stoetzer 2007: 70). Doch nicht nur Karten sind Medien, die durch kognitive und sozialisierende Prozesse die Imagination einer - beispielsweise genuin französischen - Nation erzeugen. Wenn es um die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Medien, dem modernen Nationalismus und der konstitutiven Funktion von Medien in Hinblick auf nationale Identitäten geht, dann ist es Benedict Anderson, der eine der bekanntesten Antworten in seinem Werk Imagined Communities darauf gegeben hat. Die Kernpunkte seiner Theorie der „Imagined Community“ sollen im Folgenden dargelegt, und im Sinne eines möglichen Erklärungsversuches für den Zusammenhang von Nation und Kino, diskutiert werden.

2.2.1. Gemeinschaftsformen der Vergangenheit

Die Idee des Nationalstaates und dessen scheinbar naturgegebene Gemeinschaft ist ein relativ neues Modell innerhalb der Menschheitsgeschichte. Um zu verstehen, dass der heutige Nationalismus jedoch ein allgemein akzeptiertes Modell geworden ist, muss nach Anderson (1991) der Untergang der beiden ehemaligen großen kulturellen Systeme - die religiöse Gemeinschaft und das dynastische Reich - betrachtet werden. Für den Untergang der religiösen Gemeinschaft spielte die Sprache eine tragende Rolle. Die großen globalen Gemeinschaften beruhten damals auf einer gemeinsamen heiligen Schrift und -Sprache, die Anderen nicht zugänglich waren. Die Grundlage für diese Gemeinschaften war der Glaube an Sprache und Zeichen als eine Emanation der Realität. Ist in der westlichen Welt mittlerweile die Arbitrarität von Zeichen Konsens, so glaubte man im Mittelalter fest an die unbegrenzte Wahrheit der heiligen Sprachen. Die Dynastie gilt nach Anderson als ein weiterer, politischer Vorreiter des heutigen Nationenmodells. Der wesentliche Unterscheid zwischen diesen Modellen liegt darin, dass die damaligen königlichen Herrschaften zentral organisiert waren, während zeitgenössische Nationen ihre politische Macht gleichmäßig auf das legal abgetrennte Gebiet verteilen (vgl. Anderson 1993: 21ff). Einen Wandel erfuhren die welt- umspannenden religiösen Gemeinschaften nach dem späten Mittelalter - einerseits durch Forschungsreisende wie etwa Marco Polo, die Horizonte für andere Lebensweisen öffneten, andererseits durch den allmählichen Machtverfall der heiligen Sprachen. Der Grund für diesen Verfall sieht Anderson in der Bedeutung des Buchmarktes, der ab Mitte des 15. Jahrhunderts mit dem Aufkommen des industriellen Buchdrucks stark expandierte (vgl. Anderson 1991: 24ff).

2.2.2. Die Nation als kapitalistisches Produkt

Das Aufkommen des industriellen Buchdrucks, zurückgehend auf die Erfindung Gutenbergs, trieb schnell kapitalistische Logiken voran. Lediglich die gebildeten Eliten Europas waren damals des Lateins mächtig, doch wollten Verleger ihre Produkte an breitere Massen verkaufen und druckten daher bald Bücher in den jeweiligen Landessprachen, die für eine möglichst große Anzahl von Lesern interessant war: „Waren von den 88 Ausgaben, die 1501 in Paris gedruckt wurden, bis auf acht alle lateinisch, so überwogen nach 1575 immer die französischen“ (ebd.: 26). Dabei vermochte es der Kapitalismus, die verschiedensten Idiome, die unter den gesprochenen Sprachen herrschten, zu Hoch- bzw. Schriftsprachen zusammen- zufassen. Nach Anderson kann hierin der Beginn einer „Imagined Community“ gesehen werden: Die zuvor unterschiedlichen Angehörigen einer Sprachgemeinschaft, welche vorher kaum die Möglichkeit hatten, miteinander zu kommunizieren, konnte dies nun mittels Buchdruck und Papier in der Hochsprache tun. In diesem Prozess wurden sie „allmählich der Hunderttausende, ja Millionen Menschen in ihrem eigenen Sprachbereich gewahr - und gleichzeitig der Tatsache, dass ausschließlich jene Hunderttausende oder Millionen dazu gehörten“ (ebd.: 51). Dies bewirkte nach Anderson den „ […] Niedergang der vorgestellten Gemeinschaft des Christentums“ (ebd.: 49).

2.2.3. Amerikanischer und europäischer Nationalismus

Die Entstehung eines spezifischen Nationalbewusstseins in Nordamerika datiert Anderson erst ab dem 18. Jahrhundert. Auch hier bezeichnet Anderson den Durchbruch des kapitalistischen Buchdrucks als ausschlaggebend, und Benjamin Franklin war eine zentrale Figur bezüglich der Entwicklung des Zeitungsdruckgewerbes. Er trieb ihn entschieden voran und machte ihn so zu einem vermeintlich (nord-) amerikanischen Phänomen (vgl. ebd.: 68).

In Europa führte die zunehmende Alphabetisierung der Mittelklassen dazu, dass Kommunikation mittels Schriftsprache ermöglicht wurde und somit soziale Bewegungen erleichterte. Die Vormacht der gebildeten Dynastien, mitsamt ihres Schrift- und somit Machtmonopols, schwand darunter. Die zwei großen Revolutionen (Unabhängigkeit Amerikas/ Französische Revolution) etablierten das Modell eines souveränen Nationalstaates und der Staatsbürgerschaft endgültig zu einer Selbst- verständlichkeit und ersetzten letztlich die Idee des dynastischen Reiches (vgl. Anderson 1991: 29). Auf den spezifischen Zusammenhang zwischen der französischen Revolution und dem modernen Nationalismus wird an später Stelle genauer eingegangen.

2.2.4. Gleichzeitigkeit und Medien

Außerdem ist nach Anderson einer der wichtigsten Faktoren für die Entstehung eines Nationalbewusstseins die Idee der Gleichzeitigkeit. Anderson benutzt dafür den Begriff des „Vorstellens“ (orig. „Imagination“). Er beschreibt eine neue Disposition des Aktes des 'sich-Vorstellens' im 18. Jahrhundert, die vor allem durch die Verbreitung des Romans und der Zeitung hervorgebracht wurde. Im Roman beobachtet der Leser alle Figuren gleichzeitig, auch wenn sich bestimmte Figuren in der Geschichte niemals begegnen. In der Zeitung gilt ebenfalls diese Regel des Romans: Figuren (als Metapher für Ereignisse und Akteure) kommen vor und verschwinden wieder, ihre Geschichte geht jedoch zweifellos weiter. Mit den industriell hergestellten Zeitungen wird es dann zum ersten Mal möglich, dass in regelmäßigen Abständen jene Gleichzeitigkeit innerhalb einer Gemeinschaft hergestellt, und somit die Imagination eben dieser entstehen konnte. Das Wissen darüber, dass die morgendliche Zeitung ein Duplikat vieler weiterer Exemplare ist, die anderen Lesern dieselben Informationen liefert, transformiert insofern eine Fiktion in eine gesellschaftliche Wirklichkeit (vgl. ebd.: 30ff).

2.3. Resonanz und Weiterentwicklung des Ansatzes

Der Ansatz Andersons' ist auch auf andere, modernere Medien übertragbar. Dies zeigt sich nicht zuletzt im breiten Anklang seines Ansatzes in den Geisteswissenschaften. Hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Medien und nationaler Identität ist Anderson sicherlich einer der meist zitierten, wenn nicht sogar der meist zitierte Theoretiker, wenn es um den Zusammenhang zwischen Medien und National- bewusstsein geht. Etliche wissenschaftliche Artikel, die um das Thema „Medien und Nation“ oder, wie im Folgenden auch behandelt werden wird: „Film und Nation“ bzw. „Kino und Nation“ kreisen, fußen auf den Überlegungen Andersons (siehe Hediger/Schneider 2005, Chow 1998, Crofts 1998, Schlesinger 2000, Higson 2000, Hayward 2005, etc.). Aufgrund dieser Resonanz bezeichnet Schlesinger Andersons Ansatz als den „[...] theoretical starting point for most writing on national cinema“ (Schlesinger 2000: 22).

Hepp (2006) meint beispielsweise, dass nationale Identität seit dem Medienzeitalter - welches seiner Auslegung nach er ab der Erfindung des Buchdrucks anfing - immer schon als Medienidentität zu denken ist. Allerdings wird davon ausgegangen, dass die Digitalisierung der Medien und das Aufkommen des Internets zu einer DeNationalisierung der (Medien-) Identitäten führten (vgl. Hepp 2006: 275f).

Die Auswirkungen von vergangenen Medienrevolutionen und der zunehmenden Globalisierung von Medien auf nationale Identitätsentwürfe ist auch Gegenstand der „Mediologie“. Die Mediologie ist eine primär französische Teildisziplin der Medien- wissenschaft und beobachtet in Relation zu anderen Fachgebieten weit mehr die Wechselwirkungen zwischen bestimmten Medienkonfigurationen und politischen Konstellationen. Daher fragt die Mediologie auch insbesondere vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen: Gesetzt, dass neue Medien eine kulturelle De- nationalisierung und Globalisierung zu verantworten haben - welche Medien- konfigurationen waren es dann, die die Konstitution nationaler Kulturen, die nun im Begriff so zu verschwinden, begünstigten? Das Phänomen der 'Naturalisierung' einer kulturellen Nation steht somit im Zentrum der Debatte. Das Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte und einer gemeinsamen kulturellen Zugehörigkeit verdanken wir der Mediologie zufolge vor allem dem Vergessen darüber, welche Medienkonfigurationen die Entstehung der Nation überhaupt ermöglicht haben. Dabei spielt, wie schon bei Andersons Ansatz angedeutet wird, Sprache eine große Rolle. Allerdings schreibt die Mediologie den Medien eine prioritäre Rolle gegenüber der Sprache zu, denn „[…] es braucht Institutionen, in denen sich Sprache verkörpern kann, es braucht Netzwerke und Transportmittel zu ihrer Verbreitung [...]“ (Kaufmann 2004: 16). Medien vermögen es gemäß der Mediologie nämlich, Diskurse zu transportieren, die eine nationale Identität festigen. Dabei obliegt dieser Identitäts- entwurf einer ständigen Aktualisierung durch Institutionen, die für die Vermittlung nationaler Heldensagen, Volksmärchen, nationaler Geschichte, musealer Installationen, Denkmäler, etc., zuständig sind (vgl. Kaufmann 2004: 7ff).

Kaufmann konstatiert ferner, dass die starke Ansiedelung der Mediologie in Frankreich kein Zufall ist. Er ist der Ansicht, Frankreich sei ein besonders gutes Beispiel für den Zusammenhang von Kultur und dem Phänomen des Nationalismus: „Wenige Nationen haben ihrer nationalen Kultur eine derart große Bedeutung als Faktor des sozialen Zusammenhalts oder als Identitätsstifter beigemessen wie Frankreich“ (Kaufmann 2004: 18). Nationale Identität ist demnach in Frankreich regelrecht zu einer politischen Frage geworden, was durch den vermehrten Einsatz außerordentlicher institutioneller Mittel zur Förderung nationaler Identität unterstrichen wird. Eine Folge dieser Förderung im Bereich der Filmkultur ist beispielsweise der wahrnehmbare Stolz, wenn es um die einzig ernstzunehmende Konkurrenz Europas gegenüber dem Hollywood -Kino geht (vgl. ebd.: 16ff).

3. Nationale Identität und Kino

Eine Studie von Jean-Michel Guy aus dem Jahr 2000 belegt, dass neben anderen kulturellen Bereichen vor allem die französische Filmkultur in der französischen Bevölkerung „solide verankert“ (Guy zitiert nach Lüsebrink 2004: 111) ist. Dieser hohe kulturelle Stellenwert bezieht sich jedoch nicht nur auf eine elitäre Gruppe, sondern ist in der breiten Masse etabliert und hat somit gegenüber anderen Künsten einen Sonderstatus (vgl. Walter 2004: 111).

Betrachtet man die identitätsstiftende Funktion von Medien, wie sie Anderson oder auch die Mediologie argumentiert, so ist der Film zunächst jedoch ein vergleichsweise junges Medium. Im Laufe des 19. Jahrhundert hatten sich viele europäische Staaten bereits „zu Nationen ideologisiert“ (Hayward 2005: 5) und erst am Ende dieses Jahrhunderts der Nationalismen ist die Erfindung des Kinos zu datieren (Anno 1895). Dabei fällt die Erfindung des Films in die Zeit eines ideologischen Scheidepunktes. So verortet Hayward die 'Geburt' des Films zwischen einem Zelebrieren des Nationalismus und einer ersten Reflexion des Konstrukts Nation und verweist somit auf die Juxtaposition der Erfindung.

Dieses Umdenken geht einher mit dem Ende der Kolonialzeit und einer gleichzeitig übereifrigen Militarisierung vieler Staaten (vgl. ebd.: 5). Es ist gleichzeitig die Dekade des Fin de si è cle, in der ein Zerfall der Kultur befürchtet wurde. Diese Dekade, die sich von 1890 bis zum ersten Weltkrieg erstreckt, prägte sowohl Frankreich als auch das restliche Europa. Sie kennzeichnete vor allem eine Abwendung des Realen hin zum Imaginären- eine Tendenz, die sich besonders in den Künsten artikulierte. So schuf sie „Räume der Phantasie“ und produzierte eine „neue[n] Wahrnehmung von Körper, Raum, Zeit und Klang“ (Lubkoll 2002: 7). Nicht zufällig wurde der Film als projiziertes Medium dabei einer besonderen Rolle innerhalb der Gesellschaft zuteil und erzeugte ein narzisstische Geflecht zwischen Medium und nationaler Identität.

3.1. Kino als Projektion der Gesellschaft

Der französische Filmkritiker Jean-Michel Frodon behauptet, dass die Veranlagung von Kino und Nation dieselbe sei, da beide auf dem Prinzip der Projektion beruhen. Genauso wie Kino mit der lichtmechanischen Projektion von Bildern arbeitet, entsteht nationale Identität aus der kollektiven Projektion von Idealbildern einer Gemeinschaft. Ähnlich formulieren Shohat und Stam in Anknüpfung an Kracauer und Jameson ein „nationales Imaginäres“, eine „gemeinschaftliche Einbildungskraft“, die, unter anderem, durch Bilder des Kinos entsteht. Hier treten der Grundgedanke Andersons und die erwähnten Ansätze zum Verhältnis von Raum und Identität wieder zum Vorschein, den Hediger und Schneider (2004) wie folgt auf das Kino anwenden: Aufgrund der Produktion von Bildern, die das 'nationale Imaginäre' anfüttern, ist der Zusammenhang von Film und Nation als ein „operatives Konzept“ zu verstehen - operativ in dem Sinne, dass hiermit gewisse Praktiken der Ex- und Inklusion einhergehen. Diese Praktiken sind diskursiver Natur, haben ein explizites „Wir- Gefühl“ zur Folge und führen nicht zuletzt zu einer affektiven Variante des Zugehörigkeitsgefühls zu einer Nation. Oft sind vermeintlich neutrale Filme „semantische Doppelagenten“ (Hediger/Schneider 2004: 221), die nationale Pro- jektionen von nationaler Geschichte mitliefern. Film fungiert dabei als ein Ort des nationalen Gedächtnisses, als der so genannte „lieux de mémoire“, um den Begriff des französischen Kulturhistorikers Pierre Nora aufzugreifen (vgl. ebd.: 216ff).

Dieses nationale Gedächtnis wird im Film durch Narrative transportiert, die vor dem Hintergrund nationaler Narrationen zu betrachten sind. Denn diese treten in zweierlei Gewand auf: Entweder, der Film stellt eine Literaturverfilmung dar und nimmt somit direkt Bezug auf ein nationales literarisches Kulturgut. In diesem Fall wird der kulturelle Artefakt in den Filmtext überschrieben und gelangt als nationalspezifische Narration auf dem Bildschirm. Vor allem in der französischen Filmgeschichte sind es Literaturverfilmungen, die als klassische Narrative wahrgenommen werden, wie beispielsweise die zahlreichen Adaptionen der Zola Novellen 3. Oder der Film ist unabhängig von der Literaturgeschichte und liefert eine explizite oder implizite Konstruktion der Nation (vgl. Hayward 2005: 9).

Wie eingangs bereits erwähnt, geht mit der Profilierung der Imagination einer Nation, eines nationalen Gedächtnisses und nationalen Idealbildern eine Abgrenzung zu anderen Nationen einher. Schlesinger (2000) führt in diesem Zusammenhang Crofts an, der die Herausbildung nationaler Filmkulturen seit jeher als eine Alternative zum allseits präsenten Hollywood -Kino versteht. Er verweist auf die Notwendigkeit, nationale Filmkultur immer auch vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen zu betrachten und behauptet: „Indeed, it is precisely the extra-territorial cultural pressure of Hollywood's production, imported to a national space, that sets up the contemporary issue of national cinema“ (Schlesinger 2000: 24). Die größte Herausforderung für nationale Filmkulturen ist Schlesinger zufolge die Tatsache, dass der Hollywood -Film nicht als 'das Andere' gegenüber dem nationalen Film, sondern als der populäre Überbau allgemeiner Filmkultur betrachtet wird (vgl. ebd.: 24ff).

Aus diesem Grund begreifen es viele Staaten als kulturpolitische Aufgabe, die nationale Filmkultur zu schützen und sich von anderen Filmkulturen abzuheben. Higson sieht hierin eine weitere Form der Projektion nationaler Identität:

„One of the ways in which the nation talks to itself, and indeed seeks to differenciate itself from others, is in terms of state policy […,] as governements continue to develop defensive strategies designed to protect and promote both the local cultural formation and the local economy .[….] Such developments have traditionally assumed, that a strong national cinema can offer coherent images of the nation, sustaining the nation at a ideological level, exploring and celebrating what is understood to be the indigenous culture.“ (Higson 2000: 69)

Ein Beispiel hierfür ist das Maß, in dem sich ein Staat um die Restaurierung einheimischer Filmproduktionen bemüht. Denn je nach dem, wie sehr ein Staat sich um eine solche Instandhaltung bemüht, kann die nationale Filmkultur erhalten bleiben und tradiert werden. Glasze und Meyer (2009) formulieren es mit den Begriffen Andersons, wenn sie die Funktion von Kulturpolitik als eine „Reproduktion einer „imagined community“ und damit [als] Legitimation politischer Gemeinschaften[...]“

(Glasze und Meyer 2009: 194) betrachten. Allerdings bemerkt Pivasset (1971), dass in diesem Kontext die Verarbeitung nationaler Themen im Kino immer auch von der jeweiligen politischen Ausrichtung der Nation und dem entsprechenden Umgang mit historischen Themen abhängig ist (vgl. Pivasset 1971: 341).

Insgesamt ist der jeweilige Zusammenhang zwischen nationaler Kulturpolitik und dem Film bzw. Kino ein wichtiger Aspekt, unter dem nationales Kino zu analysieren ist. Daher soll dies an späterer Stelle der Arbeit an der französischen Filmpolitik vorgenommen werden. Ein weiteres Konzept dazu, nach welchen Kriterien ein nationales Kino noch zu betrachten ist, macht das „Konzept der National- kinematografien“. Dieses soll nachfolgend kurz umrissen werden, um verdeutlichen zu können, welche weiteren Kriterien für die vorliegende Arbeit relevant sind.

3.2. Das Konzept der 'Nationalkinematografien'

Aufgrund der Bedeutung des Kinos für das Konzept der Nation, haben sich die Filmwissenschaften schon seit langer Zeit um einen Beitrag zu der soziologischen Fragestellung, wie das (nationale) Bewegtbild einen Beitrag zur Vergesellschaftung führt, bemüht. Heutzutage sind dahingehende Analysen grundlegender Bestandteil soziologischer Untersuchungen zur Formierung nationaler Identitäten (vgl. Schlesinger 2000: 29).

Jedoch sind auch Entwicklungen innerhalb der internationalen Filmkultur ein Grund für die Beschäftigung mit dieser Fragestellung. Vor allem der Sektor, der Film als Kunst betrachtet, verstand es relativ früh, durch das Label des Filmautors/ der Filmautorin einen Film mit einer nationalen Marke zu versehen. Diese Handhabung fand ihren Höhepunkt in den 1960er Jahren: Die Wirtschaft reagierte auf das Konzept der Autorenschaft, das die französische Nouvelle Vague ins Leben gerufen hatte, indem anglophone Verlage anfingen, Literatur über nationale Kinematografien zu ver- öffentlichen. Auf diese Weise hat es sich durchgesetzt, angelehnt an die Literatur- geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, Filme in Zusammenhang mit Kategorien nationaler Kennzeichnung zu ordnen: nationale FilmemacherInnen, Entstehungsort des Films, technischer Fortschritt des nationalen Filmmetiers, nationale film- geschichtliche Aspekte, etc. (vgl. Crofts 1998: 385). Hediger und Schneider entwerfen aufgrund dieses Sachverhalts die Begriffstriade „Film-Nation-Autor“. Diese kann unter anderem herangezogen werden, wenn man die stark nationalstaatliche Ausrichtung bei großen Filmfestivals, wie Cannes, erklären will: Bis in die 1950er Jahre wurden die Beiträge der teilnehmenden Länder nicht von einer künstlerischen Kommission ausgewählt (wie es heute der Fall ist), sondern von den diplomatischen Vertretungen der Länder. Zum Renommee einer nationalen Filmkultur sind aber auch Mythen technischer Vorreiterschaft zu zählen, die sich in Frankreich z.B. auf die Gebrüder Lumière begründen. Diese gelten hier als Nationalhelden technischen Fortschritts- es heißt, sie veranstalteten mit ihren selbst entwickelten Kameras und Projektoren im Jahre 1895 in Paris die weltweit erste öffentliche Filmvorführung - wobei sich hierüber die Geister aber immer noch scheiden (vgl. Hediger/Schneider 2004: 209f).

Zur umfassenden Analyse nationaler Filmkulturen hat sich daher seit den 1960er Jahren die Denkschule der „Nationalkinematografie“ herausgebildet ( im Englischen „National Cinema“). Bis in die 1980er Jahre war der ihr zugrunde liegende Analysegegenstand relativ eindimensional beschaffen: Analysiert wurde der Filmtext eines nationalen Kinos, das unter kulturessentialistischen, gelegentlich anti- imperialistischen Gesichtspunkten analysiert wurde. Im Rahmen einer solchen Analyse standen zumeist Kategorien wie „Der längste Film“, „Der teuerste Film“ oder „Der beste Film“ einer beliebigen Nation im Vordergrund. Ab den 1980er Jahren unterlag das Konzept der Nation und des Nationalismus jedoch einem Umdenken zugunsten der Konstitution nationaler Identität und der Berücksichtigung mehr- dimensionaler Kategorien von Nationalkinematografien (vgl. Hediger/ Schneider 2004: 204). So ist Ende der 1980er Andrew Higsons „The Concept of National Cinema“ entstanden, das einen Kanon von Untersuchungskriterien für Nationalkinemato- grafien umfasst. Sein Konzept stellt folgende Aspekte vor, unter denen man Nationalkinematografien untersuchen kann:

- Kulturpolitische undökonomische Aspekte der Filmkultur einer Nation
- Interpretation von nationalen Filmen hinsichtlich ihrer Motiv- und Stilgeschichte
- Das Lesen von Kunstfilm als Ausdruck nationalspezifischer Kultur
- Interpretation des Rezeptionsverhaltens

(vgl. ebd.: 213f).

In den darauffolgenden Jahren hatte sich das Konzept der Nation, nicht zuletzt durch das Aufkommen der digitalen Medien, um ein weiteres dekonstruiert. Dies zeigt beispielsweise der Ansatz Appadurais (1990), der auf den zunehmend de-territorialen Charakter von vorgestellten Gemeinschaften im Sinne Andersons verwies und somit eine starke Kritik an eben diesem Ansatz übte. Crofts (1998) hingegen diagnostiziert Schwächen an jenen post-nationalen theoretischen Tendenzen, wie sie beispielsweise der Ansatz Appadurais beinhaltet („This conceptualization of the post-national does, however, have weaknesses“, Crofts 1998: 386) und bekräftig seinen Standpunkt anhand des Ansatzes von Shohat und Stam (1994), die auf die unverändert hegemonialen Strukturen in der globalisierten und multipolarisierten Welt aufmerksam machen (vgl. Crofts 1998: 386). Crofts hält somit an Higsons Ansatz fest, betont allerdings die Notwendigkeit, diesen zu erweitern. So sollen ihm zufolge folgende Faktoren bei der Untersuchung von Nationalkinematografien berücksichtigt werden4:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(vgl. Crofts 1998: 385ff)

Im letzten Punkt thematisiert Crofts die Gefahr einer eingeschränkten Sichtweise von entsprechenden Theoretikern und Analysten. Auch Higson, der als maßgebliche Referenz für Crofts Konzept gilt, bemerkte später, dass es nur schwer möglich sei, sich dieser Gefahr zu entziehen. So benennt er im Jahr 2000 die Schwächen seines eigenen Konzepts von 1989 - das nach eigener Angabe auf einer weitestgehend anglo- zentristischen Sichtweise beruht - und bemühte sich um eine Revision dessen (vgl. Higson 2000: 63). Den Wandel seines eigenen Kulturbegriffs formuliert Higson folgendermaßen:

„[...] it ist difficult to see the indigenous as either pure or stable. […] the degree of cultural cross-breeding and interpenetration, not only across borders but also within them, suggests that modern cultural formations are invariably hybrid and impure […] as opposed to exhibiting an already fully formed identity“ (Higson 2000: 67)

Higson identifiziert das Problem, dass innerhalb der Analyse von National- kinematografien eine Tendenz zu jenen Filmen besteht, die Nation als ein endliches Gebilde mitsamt einer determinierten Identität beschreiben. Hierin begründet er auch seine Kritik an Andersons Ansatz der „imagined community“, die Higson zufolge die heute gegebene kulturelle Diversität außer Acht ließe (vgl. ebd.: 66). Dieser Kritikpunkt ist für die vorliegende Arbeit insofern relevant, als dass von einer kulturessentialistischen Analyse französischer Filmkultur abgesehen werden soll. So geht es in der vorliegenden Arbeit nicht um eine Analyse nationaler Charakteristika des französischen Kinos als klassische Methode ausgehend von dem hier vorgestellten Konzept, vielmehr ist Gegenstand der Analyse, inwiefern Frankreich selbst eine Filmkultur forciert, die auf eine essentialistische Auffassung von Kultur und Nation zurückzuführen ist. Die Untersuchungsfaktoren nach Higson und Crofts dienen hierbei lediglich als grobe Anhaltspunkte, welche Bereiche einer Filmkultur dabei zu berücksichtigen sind.

3.3. Zusammenfassung

In Anbetracht der Theorien zum Zusammenhang von Film, Kino und nationaler Identität, stellt sich der konstitutive Charakter nationaler Identität als ein zentraler Punkt heraus, der per definitionem von Ein- und Ausgrenzung gekennzeichnet ist. Die Bedeutung von Medien in diesem Zusammenhang hat Benedict Anderson in seinem Ansatz „Imagined Community“ hervorgehoben: Medien haben seit der Erfindung des Buchdrucks eine vergemeinschaftende Wirkung im nationalen Raum und haben Anteil an der Definition seiner symbolischen Grenzen. Auch Kino fungiert seit seiner Erfindung als Plattform nationaler Repräsentationen, sei es auf impliziter, expliziter, technischer oder wirtschaftlicher Ebene. Nationale Narrationen sind in ihren verschiedenen Ausprägungen Ausdruck der Vorstellung einer Nation, wobei aktuelle Tendenzen zu einer hybriden Kultur und einem entsprechenden Wechselspiel mit medialen bzw. filmischen Inhalten nicht ignoriert werden dürfen. Dabei sollten nationale Faktoren einer Filmkultur immer auch im internationalen Kontext betrachtet werden: Es bilden sich sowohl Nationen als auch Nationalkinematografien heraus, die sich anhand diverser Faktoren von anderen abzugrenzen und, mittels entsprechender Politik, zu schützen suchen. So kann von einer Art „Identitätspolitik“ gesprochen werden, die sowohl Zugehörigkeiten benennt, als auch symbolische und politische Abgrenzungen verfolgt.

Um den Wurzeln französischer Filmkultur näher zu kommen, werden nun zunächst die sozio-kulturellen Faktoren des französischen Kulturbegriffs erläutert, um die Hintergründe der französischen Filmpolitik, die darauffolgend dargestellt werden soll, zu beleuchten.

4. Kulturpolitische Aspekte französischer Identitätskonstruktionen

4.1. Die Französische Revolution als Geburt des modernen Nationalismus

„Die Revolutionierung der Nation endete

mit der Nationalisierung der Revolution.“ (Fahrenbach zitiert nach Albrecht 1995: 220)

Die 'Nation' ist als Idee schon im 14. Jahrhundert vorhanden5. Auf der Spurensuche nach diesem Begriff fällt, im Vergleich zu weniger besetzten Begriffen wie beispielsweise 'Staat' und 'Volk', schnell die ideologische Komponente des Begriffes auf. Die ideelle Komponente dient dabei vor allem der Distinktionsfunktion: „[...] entscheidend ist, daß [sic!] die Angehörigen einer N.[ation] von deren Anders- und Besonderssein [sic!] im Vergleich zu allen anderen Nationen überzeugt sind“ (Hirschelmann 1991: 285). Doch wie genau im Falle Frankreichs zur Herausbildung nationaler Ideologien?

Im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Konzept 'Nation' stößt man schnell auf seine Verwurzelungen in der französischen Revolution. Albrecht (1995) meint sogar, dass „[...] die Entstehung des modernen Nationalismus […] untrennbar mit der französischen Revolution verbunden [ist]“, Albrecht 1995: 220). Der historische Wendepunkt war bedingt durch eine Reihe von historischen Zusammenhängen, die zugleich Ursache und Wirkung der Revolution darstellten. Hayward (2005) bündelt diese zu den Faktoren Verbissenheit, Sicherheitsbedürfnis und Arroganz (vgl. Hayward 2005: 1f, eigene Hervorhebung), anhand derer das Verhältnis zwischen der französischen Revolution und des modernen Nationalismus nun genauer beleuchtet werden soll.

4.1.1. Faktoren 'Verbissenheit und Sicherheitsbedürfnis'

Wie Anderson bereits anmerkte, brachte die bürgerliche Revolution, sei es in Nordamerika oder Frankreich, ein gewisses Unbehagen mit sich. Die Abkehr von religiösen Werten, die sich schon seit der Reformation ankündigte, produzierte eine Reihe von Unsicherheiten und beendete gleichzeitig die Plausibilität von Dynastien. Nach Anderson'scher Definition wurde die Kontinuität des Lebens von jetzt an auf den Staat projiziert, er diente als Substitut religiöser Werte („Nation […] becomes a secular transformation of religion and devine monarchy into a sovereign state [...]“, Anderson zitiert nach Hayward 2005: 3). Hayward betont in Anlehnung an Anderson ebenfalls die teleologische Beschaffenheit der Nationalidee: Das Nationale als imaginäres Konstrukt suggeriert die Sicherheit einer beständigen sozialen Ordnung und die Solidarität einer kollektiven Gemeinschaft. So wird der Staat auf narzisstische Weise zum Eigentum seiner Bürger, indem sie ihn Einverleiben („the state is their state, the governing body is their indigenous governing body“, ebd. 2005: 5). Die nationale Ideologie spielt dabei als Fundus von Mythen eine große Rolle- artikuliert als „socially symbolic acts“ (Jameson zitiert nach Hayward 2005: 2) produziert sie eine Einvernehmlichkeit der Werte, die letztlich in einer kohärenten nationalen Identität mündet (vgl. ebd.: 4). Diese Ideologie war im Fall der französischen Revolution von besonderer Innovationskraft und hat einen besonderen Status bezüglich der Abgrenzungsfunktion zu anderen Nationen erlangt, der nun genauer beschrieben werden soll.

4.1.2. Faktor 'Arroganz' - die Zivilisation als Gesellschaftsentwurf

Clemens Albrecht (1995) hat sich mit den Ursprüngen der Begriffe Zivilisation und Gesellschaft beschäftigt und behandelt im Zuge dessen intensiv die französische Salonkultur des 18. Jahrhunderts. Innerhalb der Salonkultur arbeiteten Moralisten wie Rochefoucauld, La Bruyère oder Jacques Esprit einen Gesellschaftsbegriff heraus, der stark an die soziale Nähe ihrer Mitglieder und an einen bestimmten Habitus der Höflichkeit („ politesse “ ) gebunden war. Doch dieser Gesellschaftsbegriff stand ab Mitte des 18. Jahrhunderts vor einer Sinnentleerung: Die Rousseau'sche Kulturkritik, die einen solchen Gesellschaftsbegriff bzw. den Gesellschaftsbegriff per se ablehnte, wurde stark rezipiert. Hauptthese Rousseaus war, dass jegliche Art von Vergesellschaftung den individuellen Menschen verdirbt und somit von sich entfremden lässt (vgl. Albrecht 1995: 167f).

Dieser negative Gesellschaftsbegriff, sowie die durch die Modernisierung bedingte zunehmende Möglichkeit der Wahrnehmung fremder Völker, führte zu einer Neufassung des Gesellschaftsbegriffs, jedoch in einer neuen raum- zeitlichen Dimension: die Idee der „Zivilisation“ als erreichbarer Zustand einer Gesellschaft. De Marquis de Mirabeau, Physiokrat, Moralist und ideologischer Wegbereiter der Revolution, war wegweisend für diesen neuen Gesellschaftsbegriff, der in gewisser Weise eine Paradoxie verkörpert. Denn er lehnte einerseits an die Kulturkritik Rousseaus an, indem er sich ebenfalls für eine Verwerfung des alten Gesellschaftsbegriffs aussprach, führte jedoch gleichzeitig den Grundgedanken der französischen Salonkultur - den Gedanken einer tugendhaften Vergesellschaftung- weiter: So bedarf es nach Mirabeaus Auffassung einer wahren, tugendhaften Zivilisation im Sinne der Menschlichkeit - nicht einer „falschen“, wie er den Gegen- stand der Rousseau'schen Kritik benannte. Mirabeau übte damit gezielt Kritik an einer Vergesellschaftung, die durch Missbrauch von Reichtum und Luxus geprägt ist, wie es seinerzeit die Realität der in Paris angesiedelten Salonkultur war („[...] die Herrschaft des Geldes ist ihm ein sicheres Zeichen für den Krankheitszustand einer Gesellschaft“, Albrecht 1995: 180). Albrecht weist daher darauf hin, dass der Begriff civilisation zwischen Lob und Kritik an der Pariser Salonkultur zu verorten sei. Deshalb hat sich auch der Begriff civilisation vor dem Begriff culture durchgesetzt, weil dieser als der Reflexionsbegriff hinsichtlich der französischen Salonkultur fungierte. Der Begriff c ivilisation tauchte zum ersten Mal in Mirabeaus' Schrift „ Der Menschenfreund oder Traktatüber die Bevölkerung “ auf und setzte sich zunehmend durch, „denn rund hundert Jahre später war 'civilisation'... für den Franzosen das Palladium seiner nationalen Idee und zugleich die Bürgschaft allmenschlicher Solidarität“ (ebd.: 179).

Ausgehend vom moralistischen Standpunkt Mirabeaus wurde die Zivilisation nun im Werden verstanden, also als erreichbarer Zustand einer Gesellschaft. Die Zivilisiertheit wurde als ein Zustand begriffen, der die Ideen der Aufklärung - die Gleichheit unter den Menschen und die universellen Menschenrechte - mustergültig umsetzt (vgl. Todorov 2010: 38f). Nicht zuletzt trieb dies die Entwicklungen der französischen Revolution voran, denn im Sinne des Fortschritts wurde ihre Verwirklichung notwendig (vgl. Albrecht 1995: 163-185).

François Pierre Guillaume Guizot hat das Zivilisationskonzept nach der Revolution weiterentwickelt und dabei den Fortschrittsgedanken ausgebaut. Zur Beschaffenheit des Begriffs schreibt er 1842:

„L'idée du progrès, du développment, me paraît être l'idée fondamentale contenue sous le mot de civilisation […C]'est le perfectionnement de la vie civile, de développment de la société proprement dite, des relations des hommes entre eux6.“ (Guizot zitiert nach Albrecht 1995: 209).

Guizot konstatiert, dass die Zivilisation einerseits durch die Institutionen, andererseits durch den individuellen Geist mitgetragen wird und Frankreich, durch die vollzogene Revolution, im Jahre 1840 das Land Europas ist, in dem dieses Zusammenspiel zwischen Geist und Institutionen am besten gelungen ist (vgl. ebd.: 211). Diese Idee des Fortschritts wurde im Laufe der Geschichte weitergetragen und verbreitete sich in ganz Europa. Gleichbleibendes Merkmal ist der Entwicklungsgedanke, der sich innerhalb der Gesellschaften etablierte. Die Geschichte wurde immer mehr als Zivilisationsprozess gesehen, der einzelne Schritte der Höherentwicklung abverlangt. So beschreibt beispielsweise Holbach im Jahre 1770 die einzelnen Entwicklungsschritte genauer: „vom Zustand der Wildheit bis zur zivilisierten Gesellschaft“ (Todorov 2010: 45), und Diderot setzt 1776 der zivilisierten Nation den Zustand der Barbarei entgegen (vgl. ebd.: 45).

Die Idee der Zivilisation resultierte vor allem in der Ausbreitung des französischen beinhaltet […]. Sie ist die Perfektionierung des Lebens, der Entwicklung der Gesellschaft, also der Beziehungen der Menschen untereinander.“ (eigene Übersetzung, L.W.)

[...]


1 http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/? ressort=wa&dig=2008%2F01%2F16%2Fa0155&cHash=42e79ecc30

2 „Raumkonstituierende Praktiken“ (eigene Übersetzung, L.W.)

3 Französischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts und Mitbegründer des Naturalismus (vgl. Lexikon der Weltliteratur 1989: 945)

4 Eigene Übersetzung und Zusammenstellung der Autorin

5 „Nation w [v.Lat.natus= geboren; nation= Volk, Volksstamm, erstmals im 14. Jahrhundert gebraucht), Schicksals- und Lebensgemeinschaft eines Volkes als pol. Willens oder völk.Abstammungsgemeinschaft, als Staats-oder Kultur-N.en geschaffen [...]“ (vgl. Herder Lexikon Geschichte 1977:156)

6 „Die Idee des Fortschritts, der Entwicklung, scheint mir die fundamentale zu sein, die das Wort civilisation

Ende der Leseprobe aus 118 Seiten

Details

Titel
Exception culturelle = culture exceptionnelle? Filmkultur, nationale Identität und kulturelle Macht Frankreichs
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  (Medien- und Kulturwissenschaften)
Veranstaltung
Medien- und Kulturwissenschaften
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
118
Katalognummer
V301141
ISBN (eBook)
9783956873249
ISBN (Buch)
9783668004276
Dateigröße
1345 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nation, Filmkultur, Kulturpolitik, Frankreich, Revolution, Cinephilie, Exception culturelle, Filmbildung, Afrika
Arbeit zitieren
Laura Willms (Autor:in), 2012, Exception culturelle = culture exceptionnelle? Filmkultur, nationale Identität und kulturelle Macht Frankreichs, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/301141

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