Opfer oder Täterin? Die Darstellung der Klytämnestra in der Literatur


Thèse Scolaire, 2012

16 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Der Mythos und seine Folgen

2 Die Darstellung der Klytämnestra in der Literatur
2.1 Klytämnestra als Täterin
2.1.1 Aeschylos’ „Agamemnon“
2.1.2 Hans Sachs’ „Die mördisch’ Königin Clitimestra“
2.2 Klytämnestra als Opfer
2.2.1 Homers „Odyssee“
2.2.2 Jochen Bergs „Klytaimestra“
2.2.3 Christine Brückners „Wenn du geredet hättest, Desdemona“

3 Resümee
3.1 Zusammenfassung der Darstellung Klytämnestras
3.2 Einordnung in das Thema des W-Seminars

4 Literaturverzeichnis
4.1 Primärliteratur
4.2 Sekundärliteratur

1 Der Mythos und seine Folgen

„Du hast auch gesagt: Nenne niemanden glücklich, bis er nicht gestorben ist. Bist du nun glücklich?“1 Dieses Zitat stammt aus Christine Brückners Buch „Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen.“. In ihrem Werk lässt die Autorin verschiedene Frauengestalten aus Literatur und Geschichte in Monologen aufleben, wie auch Klytämnestra, die an der Bahre ihres toten Ehemannes seine Grabrede hält.

Doch was genau macht den Mythos der Klytämnestra so interessant, dass eine deutsche Autorin den Stoff noch im Jahr 1983 aufgreift? Die Tatsache, dass sämtliche Faktoren, welche die Gesellschaft erschüttern, darin enthalten sind: prekäre Familienverhältnisse, Begierde, Betrug, Rache, Lügen und Mord.

Der Mythos kann wie folgt kurz zusammengefasst werden: Klytämnestra ist verheiratet mit Agamemnon, dem König von Mykene. Als Agamemnons Schwägerin Helena von Paris nach Troja entführt wurde, zog der König von Mykene mit seinem Bruder Menelaos in den Krieg, um die Gestohlene zurückzuholen. Nach dem siegreichen Kriegsende herrscht eine unendliche Windstille, welche die Heimfahrt Agamemnons und seiner Truppen behindert. Um der Flaute endlich ein Ende zu bereiten, opfert der König die gemeinsame Tochter Iphigenie. Als Agamemnon nach zehn langen Jahren in Begleitung seiner Geliebten, der jungen, trojanischen Seherin Kassandra, in Mykene einläuft, werden er und seine Liebschaft von Klytämnestra und deren Geliebten Ägisth ermordet.

In der Vergangenheit wurde der Mythos um den König von Mykene und seiner mörderischen Gattin oft aufgegriffen, wobei die Darstellungsweise der Königin variiert. Sowohl der Epiker Aeschylos, der Dichter Homer als auch der Dramatiker Hans Sachs, sowie die Schriftsteller Jochen Berg und Christine Brückner beschäftigten sich mit der Gestalt der Gattenmörderin. In dieser Seminararbeit wird folgendes untersucht: Bei welchem Autor erscheint Klytämnestra als Opfer ihrer Lebenssituation und welcher Schriftsteller lässt die Königin als Täterin auftreten? Mithilfe von Sekundärliteratur werden die Werke der oben genannten Autoren analysiert, wobei die Opera Brückners und Bergs einen Schwerpunkt der Seminararbeit bilden.

2 Die Darstellung der Klytämnestra in der Literatur

2.1 Klytämnestra als Täterin

2.1.1 Aeschylos’ „Agamemnon“

Der Epiker Aeschylos lässt im ersten Teil seiner „Orestie“, im Werk „Agamemnon“, Klytämnestra als Täterin erscheinen.

Um Klytämnestra in ihrer Rolle als Hauptschuldige von Anfang an möglichst authentisch zu gestalten, fertigt Aeschylos ihren Charakter den später folgenden Taten entsprechend: Sobald der Herold ihr Nachricht von der baldigen Ankunft ihres Ehemannes bringt und sie jenem ausrichten lässt, er solle so schnell wie möglich zu seiner treuen Gattin kommen2, lügt sie. Der Grund dafür ist die einfache Tatsache, dass sie schon seit mehreren Jahren mit Ägisth eine Beziehung führt. Auch als sie zu den Bürgern von Argos spricht und vor jenen ihr „gattenliebend, treu Gemüth“3 offenbart, redet sie heuchlerisch. Zudem ist sie im Gespräch mit Agamemnon erneut doppelzüngig, als das Fernbleiben ihres Sohnes Orest zur Sprache kommt: Der Beweis ihrer Treue sei leider kriegsdienstlich verhindert.4

Ein weiteres Argument dafür, Klytämnestra als schuldfähige Täterin zu sehen, ist folgendes: Vor Agamemnons Eintreffen lässt Klytämnestra zahlreiche edle Purpurteppiche, eigentlich ein Privileg der Götter, auf dem Weg zum Palast auslegen. Nicht, um den heimkehrenden Sieger aufrichtig zu ehren, sondern viel mehr als Bemühen den Neid der Götter und des Volkes auf Agamemnon, ihr Opfer, zu laden, indem er überdurchschnittliche Ehrbezeichnungen erhält. Agamemnon beschreitet den Teppich, jedoch nicht ohne seiner Ehefrau zuvor aufzutragen, seine Beute aus Troja, er nennt sie „die Blume vieler Schätze“5, die Seherin Kassandra, in den Palast zu führen.

Nachdem die Königin ihren Angetrauten in das Gebäude geführt hat, kommt sie zu Kassandra zurück: Sie solle doch in das Haus hineingehen, schließlich habe Zeus sie zu einem Hause frei von Groll gesandt.6

Hier wird dem Leser abermals deutlich, dass Klytämnestra unaufrichtig ist, da sie gewiss nicht „frei von Groll“7 ist, wenn ihr Gatte nach zehnjähriger kriegsbedingter Abwesenheit mit einer jungen Gespielin nach Hause zurückkehrt. Zudem versichert sie der Seherin, dass sie alles, was die Sitten erfordern8, hier bei ihnen finden würde. Betrachtet man diese Aussage in Verbindung mit dem Ausbreiten der Purpurteppiche, so gelangt man von Neuem zu dem Schluss, dass die Königin mit Vorsatz lügt. Es entspricht nicht der guten Manier, vor dem gerade gelandeten siegreichen Gatten diverse Purpurteppiche auszulegen, um den Hass sämtlicher irdischer und überirdischer Personen auf ihn zu lenken.

Doch der wohl eindeutigste Beleg, dass Aeschylos Klytämnestra als durch und durch schuldig darstellt, ist die Art und Weise, wie sie sich nach dem begangenen Mord verhält: Sie tritt aus dem Palast heraus und geniert sich nicht im geringsten für ihre Tat, sondern bekennt, diese schon lange zuvor geplant zu haben, und legt ohne erkennbare Reue Rechenschaft vor dem Chor Argeiischer Greise ab:

„Ich macht’ es so; denn leugnen werd’ ich’s nimmermehr,

dass nicht Entfliehen vom Tode blieb, nicht Gegenwehr.

Erst werf’ ich ringsumfahend, fischgarnähnliches,

endlos Gewand ihm über, Unglückskleiderschmuck. [..]

So haucht er aus das Leben, fallend hin in Staub,

von sich schießend seiner Schlachtung bittren Strom,

bespritzt mit schwarzen Tropfen blutigen Thaus er mich. [..]

Weil dies also, Argos Volkes Älteste,

seid freudig, wenn’s euch freuet; ich frohlocke drob. [..]

Furchtlos mit sichrem Muthe, dass ihr’s wisset, sprech’

ich’s aus vor euch; ob loben, ob ihr’s tadeln wollt,

gilt einerlei mir; dieser ist Agamemnon, mein

Gemahl, ein Leichnam, dieser meiner rechten Hand,

gerechter Thatbeginn’rin, Werk.“9

Außerdem führt die Königin folgende Beweggründe für die Ermordung ihres Gatten auf: Zuerst nennt sie Iphigenies Opferung für günstigere Windverhältnisse durch Agamemnon10. Dies scheint der essentiellste Antrieb für die tödliche Rache gewesen zu sein, da sie im Gegenteil zu den anderen Gründen nur diesen zweimal11 aufzählt. Anschließend führt sie die Affäre ihres Gatten mit Kassandra ins Feld. Ihm zugesellt sei nun die kampferrungene Seherin, die Bettgenossin, seine zeichendeutende getreue Gattin, die er auf dem gleichen Schiff wie einst Klytämnestra hergebracht hat12. Dies geschah jedoch nicht ohne Folge und so tötete die Königin ein weiteres Mal aus Eifersucht, wobei sie beim Anblick der toten Kassandra ein Gefühl der höchsten Befriedigung empfindet, eine „Überwürze des Wonngefühls“13. Zuletzt beruft sich die Täterin auf den Atridenfluch14, als dessen Exekutionsorgan sie gedient habe: Zwar habe sie die Tat ausgeführt, doch eigentlich habe der rachsinnende Geist des Atreus15 den Toten in ihrer Gestalt bestraft.16 Von den eben angeführten Gründen für ihre Tat wecken vor allem die Opferung Iphigenies und Agamemnons Seitensprung ein gewisses Maß an Verständnis für Klytämnestra, wodurch man sie sogar beinah als Opfer wahrnehmen kann. Doch berücksichtigt man die zahlreichen Lügen, das heuchlerische Ausbreiten des Purpurteppichs, das Selbstbewusstsein vor dem Volk und die Befriedigung nach Kassandras Ermordung, so kann das Handeln der Königin auch mit den „entlastenden“ Argumenten nicht entschuldigt werden.

Durch eine letzte Instanz gelingt es Aeschylos erneut, Klytämnestra als Täterin zu brandmarken: Auch wenn der Chor Argeiischer Greise nicht direkt in das Geschehen eingreift, sondern stets nur seine Ansichten preisgibt17 und Klytämnestras Tat bewertet, erscheint ihm die Königin eindeutig als Mörderin: „Dass du des Mordes schuldlos seyst, des verübeten, wer bezeugt es? Doch vom Vater her schon half vielleicht dir der Dämon.“18 Und obgleich die Greise Klytämnestras Ausflüchte scheinbar akzeptieren, bringen sie eine Einschränkung hervor, und zwar das Wort „vielleicht“. Dies bedeutet, dass die Täterin trotz der Ausflüchte selbstverantwortlich ist. Lutz Walther fasst Klytämnestras Darstellung bei Aeschylos folgendermaßen zusammen: „Sie ist allein schuldig am Tod ihres Gatten und Aischylos sorgt dafür, dass sie als von ihrer Tat geprägt und voll verantwortlich scheint.“19

2.1.2 Hans Sachs’ „Die mördisch’ Königin Clitimestra“

Hans Sachs verfasste mehrere Werke über Klytämnestra. In der „tragedia“ mit dem Titel „Die mördisch’ Königin Clitimestra“ von 1554 wechselt die Darstellung dieser im Laufe des Stückes.

Am Anfang des Dramas wird die Königin als Opfer dargestellt. Nachdem zehn Jahre seit dem Aufbruch ihres Mannes in den trojanischen Krieg vergangen sind und sie sich im Unklaren darüber ist, ob jener noch lebt oder umkam, ersucht sie den griechischen Oberpriester Ägisth darum, das Orakel zu befragen. Die Königin wird als eine Frau beschrieben, die Sehnsucht nach ihrem Gatten verspürt und Furcht empfindet: „Ach, mir ist in meim hertzen bang, [d]as mein herr gmahel ist so lang im krieg nun [..] [u]nd ich weiß gentzlich nit fürwar, [o]b er ist lebendt oder todt“20. An dieser Stelle lässt noch nichts darauf schließen, dass Klytämnestra ihre Ehe brechen wird. Nach dem Aufsuchen des Orakels berichtet der Priester der Königin, dass Agamemnon nun von Kassandra besessen sei und dass er es deswegen nicht eilig habe, heimzukehren21. Diese Offenbarung entspricht jedoch nicht der Wahrheit. Agamemnon freut sich auf das Wiedersehen mit seiner Gattin; er bringt ihr sogar kostbare Geschenke aus dem entfernten Troja mit.22 Auf eine Affäre mit der Seherin deutet nichts hin. Widmet man sich dem Priester genauer, so erfährt man seine tatsächliche Absicht: Die Affäre des Königs hat er erfunden, um Klytämnestra gegen ihren Ehemann aufzuhetzen. Er wolle sein Glück versuchen, der Liebhaber der Königin zu werden23. Dass er sein verwerfliches Vorhaben erfolgreich in die Tat umsetzt, erfährt man durch den Kammerherr Cleon, der seinem Kameraden von der „bulschaft“24 berichtet. An dieser Stelle ändert sich die Königin von der Verführten, die durch die Ränke des griechischen Oberpriesters zum Opfer wurde25, zur Ehebrecherin und bald darauf auch zu der Frau, die den Mord ihres Gatten plant.

Als nach einigen Monaten Agamemnons Heimkehr näher rückt, beratschlagen die Ehebrecher. Die Liebschaft soll vor dem Gatten geheim gehalten werden, jedoch könne dies wegen der Schwangerschaft der Königin nicht lange verborgen werden26. Als einzigen Ausweg aus der Misere, mit dem die Liebenden einem schlimmen Schicksal entrinnen können und gleichzeitig an der Macht bleiben können, sei laut Klytämnestra die Ermordung des Königs:

„Da müß wir den könig umbbringen, [d]arnach das königklich regiment [e]innemen mit gwaltiger hendt“27.

Sie fasst den Plan, dass sie Agamemnon ein Purpurkleid ohne ein Loch für den Kopf anfertigen wird und sobald ihr Gatte im Kleid nach der Öffnung sucht, soll Ägisth den Heimgekehrten erstechen. Und damit die gemeinsame Herrschaft in Zukunft nicht durch den Sohn Agamemnons und Klytämnestras, Orest, gefährdet werden kann, will die Königin auch diesen heimlich töten lassen. Zweifelte der Leser beziehungsweise der Zuschauer bisher an der Schuld der Königin, so wird spätestens am Ende des zweiten Akts deutlich, dass sie nun die Führungsrolle, die zuerst Ägisth innehatte, übernimmt. Sie plant das Verbrechen und zeigt dem Mittäter, welche Aufgaben ihm zufallen werden28. Klytämnestra ist es also, die Ägisth letztendlich zum Mord anstiftet und so zur eigentlichen Täterin wird.

Bevor am Tag der Ankunft Agamemnons dessen Ermordung stattfindet, durchfließen Ägisth Bedenken und ihm „grauset aber hart dargegen“29. Auf diese Aussage hin erpresst ihn die Königin schließlich; falls er nun kneife und Agamemnon nicht wie abgesprochen ermorde, würde sie ihn bei ihrem Gatten wegen Vergewaltigung anklagen30. Es vollzog sich also eine Wandlung: Der Verführer Ägisth wurde gezwungenermaßen zum Mörder und gab ungewollt das Führungszepter an Klytämnestra ab.

Letzten Endes gelingt es den beiden Ehebrechern, ihren grausigen Plan in die Tat umzusetzen: Der ahnungslose König zieht sich das Purpurkleid über und wird daraufhin von Ägisth ermordet. Zudem wird Kassandra, welche die Eifersucht der Königin anregte, gehängt. Mit Gegenwehr oder einem Aufstand müssen Klytämnestra und Ägisth nicht rechnen, da der Priester auf Geheiß seiner Liebsten die meisten Hofleute durch Bestechungsgelder auf ihre Seite bringen konnte31.

Insgesamt wird die Königin nicht nur durch ihr eigenes Handeln und ihr wechselndes Verhältnis zu Ägisth beschrieben, sondern auch durch die Charakteristik ihres Gatten wirkt Klytämnestra in der Rolle der Täterin glaubhaft: Agamemnon wird als liebender und treuer Gatte präsentiert, der nicht an der Loyalität seiner Angetrauten zweifelt. „Die Gestalt des Königs erscheint damit makellos, und die ganze Schuld fällt auf die Ehefrau, deren Vergehen dadurch noch heimtückischer wirkt.“32, schließt Martin Langner daraus treffend.

2.2 Klytämnestra als Opfer

2.2.1 Homers „Odyssee“

Der antike Dichter Homer stellt in seiner „Odyssee“ vielmehr den Geliebten Klytämnestras als Täter dar als die Königin selbst.

Durch die Ausführungen Nestors im dritten Gesang des antiken Werkes wird dem Leser vor Augen geführt, dass Ägisth als Verführer auftrat, der sich durch Niederlagen und eine lange Eroberungsdauer nicht einschüchtern ließ. Sobald Klytämnestras Ehemann nach Troja in den Krieg gezogen war, umwarb er die Königin lange Zeit, doch seine Angebetete ging anfangs nicht auf seine Avancen ein; „[s]chändlich schien ihr die Tat; sie hegte ja Gutes im Sinne“33.

Agamemnon ließ seine Gattin in der Obhut eines Sängers zurück, den er zu ihrem Schutz bestellte. Diesen ließ Ägisth jedoch auf einer einsamen Insel aussetzen und beseitigte so ein Hindernis, das zwischen ihm und der Königin stand. Nach wiederholtem langwierigem Umgarnen schenkte Klytämnestra ihm dann Gehör und brach ihre Ehe. Über einen längeren Zeitraum konnte sie sich den anhaltenden „Charmeoffensiven“ scheinbar nicht entziehen.

In der „Odyssee“ fällt Ägisth jedoch nicht nur die Rolle des Verführers zu, sondern auch die des Haupttäters. An mehreren Textstellen macht Homer deutlich, dass Ägisth den Löwenanteil an Agamemnons Mord verrichtet hat. Beispielsweise erzählt Menelaos im vierten Gesang von der grausamen Ermordung seines Bruders:

„[..] Aigisthos besann sich sofort auf schurkische Künste:

Wählte zwanzig der Besten im Volk, sie auf Lauer zu legen.

Zugleich ließ er woanders ein großes Essen bereiten,

Ging dann hin, Agamemnon zu grüßen, den Hirten der Mannen,

Kam mit Gespannen und Rossen vergrübelt in scheußlichste Untat,

Führte den Ahnungslosen hinauf und lud ihn zur Mahlzeit.

Dabei schlug er ihn tot, wie ein Rind vor der Krippe man totschlägt.

Nicht ein einziger Mann der Gefolgschaft des Sohnes des Atreus

Blieb da verschont [..]“34

Auch Nestor spricht im dritten Gesang lediglich von Ägisth, der „sein [des Königs, Anm. d. V.] grausiges Ende [p]lanvoll betrieb“35.

Egal wer in der Odyssee das Schicksal des Agamemnon aufgreift, betont die grausame Tat des Ägisth, während Klytämnestras Beitrag zur Tötung ihres Gatten unklar bleibt.36 Da im gesamten Werk kein Hinweis darauf zu finden ist, dass Klytämnestra maßgeblich an der Ermordung des Agamemnon beteiligt war, kann man folgern, dass sie ihrem Liebhaber lediglich Beihilfe zum Mord geleistet hat. Auch wenn sie nicht ihren Ehemann getötet hat, so machte sich die Königin doch des Mordes an Kassandra schuldig. Dies erfährt man im elften Gesang, als Odysseus in der Unterwelt Agamemnons Geist trifft, der ihm ausführlich von seinem Tod berichtet und auch von der Ermordung Kassandras:

„Aigisthos und mit ihm im Bund meine grausige Gattin –

Tod und Schicksal brachten sie mir. Er lud mich zur Mahlzeit,

Rief mich ins Haus und erschlug mich dabei wie ein Rind vor der Krippe.

Jämmerlich musste ich sterben, daneben die anderen Gefährten,

Alle schlug man sie nieder [..],

Endlos, als gäbs eine Hochzeit, gäb es ein Mahl unter Freunden,

Gäb es ein Schlemmen und Schwelgen im Haus eines mächtigen Reichen.

[..] An beladenen Tischen, am Mischkrug

Lagen im Saal wir herum und das Erdreich dampfte vom Blutdunst.

Priamos’ Tochter Kassandra hörte ich jämmerlich schreien;

Über mir schlug sie die hinterlistige Klytaimnestra

Tot. Und ich –: wohl hob ich die Hände, mein Schwert noch zu fassen –

Sank aber sterbend zu Boden. Doch sie mit den hündischen Augen

Brachte es fertig und ging; sie schloss mir den Mund nicht, die Augen

Drückte sie nicht mir zu mit den Händen beim Gang in den Hades.“37

Neben diesen Ausführungen des Königs gibt es keine andere Textstelle, an der man so vieles über Klytämnestra erfährt als in den letzten sechs Versen. Doch der Fakt, dass sie ihrem toten Ehemann nicht den Mund und die Lider schließt, nachdem er nach zehn Jahren mit einer jüngeren Frau heimgekehrt ist, über deren Wichtigkeit in Agamemnons Leben man nichts erfährt, macht sie nicht zu einer Täterin. Lediglich wegen des Mordes an Kassandra könnte man Klytämnestra als Täterin verurteilen. Da Homer jedoch in der ganzen „Odyssee“ nur ein einziges Mal die Ermordung der Seherin erwähnt und Ägisth als Verführer der Königin und den Haupttäter darstellt, nimmt der Leser Klytämnestra eher als Opfer wahr. Zudem wird Klytämnestra in der „Odyssee“ nicht so oft erwähnt wie der „schurkisch gesinnte Aigisthos“38 ; dies trägt ebenso dazu bei, die Königin als Opfer und ihren Liebhaber als den eigentlichen Täter zu sehen.

[...]


1 Brückner, Christine: Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen. München 2002, S. 195 - S. 208, S. 195.

2 Aeschylos: Agamemnon. [Herausgegeben von?]. [Übersetzt von?]. [Ort?] 1871,

V. 593 - 595.

3 ebd., V. 832.

4 ebd., V. 854.

5 ebd., V. 930.

6 ebd., V. 1007 - 1011.

7 ebd., V. 1008.

8 Aeschylos: Agamemnon. [Herausgegeben von?]. [Übersetzt von?]. [Ort?] 1871, V. 1018.

9 ebd., V. 1354 - 1380.

10 ebd., V. 1393f.

11 ebd., V. 1393f sowie V. 1509ff.

12 ebd., V. 1418 - 1420.

13 Aeschylos: Agamemnon. [Herausgegeben von?]. [Übersetzt von?]. [Ort?] 1871, V. 1418 - 1420.

14 Atridenfluch: Fluch, der seit mehreren Generationen auf Agamemnons Familie lastet.

15 Atreus: Agamemnons Vater

16 Aeschylos: Agamemnon. [Herausgegeben von?]. [Übersetzt von?]. [Ort?] 1871, V. 1481 - 1485.

17 Wörterbuch der Antike. Mit Berücksichtigung ihres Fortwirkens. Begründet von Hans Lamer, fortgeführt von Paul Kroh. Stuttgart 91989, Stichwort „Chor“.

18 Aeschylos: Agamemnon. [Herausgegeben von?]. [Übersetzt von?]. [Ort?] 1871, V. 1489 - 1492.

19 Walther, Lutz (Hrsg.): Antike Mythen und ihre Rezeption. Ein Lexikon. Stuttgart 2003, S. 17 - S. 24, S. 18.

20 von Keller, Adelbert (Hrsg.): Hans Sachs. Band 12. Tübingen 1879, S. 317 - S. 341, S. 318.

21 ebd., S. 320.

22 ebd., S. 326.

23 ebd., S. 321.

24 ebd., S. 322.

25 Langner, Martin: Zum Bild der Klytaimestra in Historien und Fastnachtspielen von Hans Sachs (1494 - 1576). In: George, Marion (Hrsg.): Die Atriden. Literarische Präsenz eines Mythos. Dettelbach 2009, S. 79 - S. 96, S. 88.

26 von Keller, Adelbert (Hrsg.): Hans Sachs. Band 12. Tübingen 1879, S. 317 - S. 341, S. 324.

27 ebd., S. 325.

28 Langner, Martin: Zum Bild der Klytaimestra in Historien und Fastnachtspielen von Hans Sachs (1494 - 1576). In: George, Marion (Hrsg.): Die Atriden. Literarische Präsenz eines Mythos. Dettelbach 2009, S. 79 - S. 96, S. 91.

29 von Keller, Adelbert (Hrsg.): Hans Sachs. Band 12. Tübingen 1879, S. 317 - S. 341, S. 328.

30 ebd., S. 329.

31 Langner, Martin: Zum Bild der Klytaimestra in Historien und Fastnachtspielen von Hans Sachs (1494 - 1576). In: George, Marion (Hrsg.): Die Atriden. Literarische Präsenz eines Mythos. Dettelbach 2009, S. 79 - S. 96, S. 84.

32 Langner, Martin: Zum Bild der Klytaimestra in Historien und Fastnachtspielen von Hans Sachs (1494 - 1576). In: George, Marion (Hrsg.): Die Atriden. Literarische Präsenz eines Mythos. Dettelbach 2009, S. 79 - S. 96, S. 85

33 Homerus: Odyssee. Herausgegeben von Michael Schroeder. Übersetzt von Karl Ferdinand Lempp. Berlin 2011, 3. Gesang, V. 260.

34 ebd., 4. Gesang, V. 529 - 537.

35 ebd., 3. Gesang, V. 193 - 195.

36 Walther, Lutz (Hrsg.): Antike Mythen und ihre Rezeption. Ein Lexikon. Stuttgart 2003, S. 17 - S. 24, S. 17f.

37 Homerus: Odyssee. Herausgegeben von Michael Schroeder. Übersetzt von Karl Ferdinand Lempp. Berlin 2011, 11. Gesang, V. 406 - 434.

38 ebd., 3. Gesang, V. 250.

Fin de l'extrait de 16 pages

Résumé des informations

Titre
Opfer oder Täterin? Die Darstellung der Klytämnestra in der Literatur
Cours
wissenschaftlich propädeutisches Seminar
Note
1,0
Auteur
Année
2012
Pages
16
N° de catalogue
V301200
ISBN (ebook)
9783656978879
ISBN (Livre)
9783656978886
Taille d'un fichier
573 KB
Langue
allemand
Mots clés
Klytämnestra, Agamemnon, Kassandra, Ägisth, Mykene, Mythos, Odysee, Homer, Sachs, Aeschylos, Christine Brückner, Jochen Berg
Citation du texte
Corinna Seisenberger (Auteur), 2012, Opfer oder Täterin? Die Darstellung der Klytämnestra in der Literatur, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/301200

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