Eheschließungen in Halle. Überlegungen zur Bearbeitung serieller Massendaten


Hausarbeit (Hauptseminar), 2011

40 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Halle im 19. Jahrhundert
2.1. Allgemeines
2.2. Entwicklung des Wirtschafts- und Verwaltungszentrums
2.3. Urbanisierung der Stadt Halle
2.4. Zusammenfassung

3. Serielle Quellen zur Eheschließung
3.1. Die Standesamtsakten der Stadt Halle. Quelleninformationen und -kritik
3.2.Klassifikationen
3.3. Operationalisierung. Methodik und Fragestellungen

4. Fazit

5. Quellen- und Literaturverzeichnis
5.1. Quellen
5.2. Literatur

1. Einleitung

Nachdem in einer vorangehenden Arbeit versucht worden ist, einen Überblick über die vielfältige – um nicht zu sagen kaum noch zu überblickende – Forschungsgeschichte und Forschungslage der historisch-soziologischen Beschäftigung mit den Themenfeldern Ehe und Familie zu geben, soll es in dieser Arbeit um eher methodische Aspekte gehen.

Dazu ist es notwendig, die Entwicklung der Stadt Halle zu umreißen, um den ‚Charakter‘ des Untersuchungsortes zu beschreiben. Halle wurde im späten 19. Jahrhundert zu einer Groß-stadt, allerdings nicht unter Umständen, wie Berlin oder München es wurden bzw. schon waren, auch mit den zum Teil aus Dörfern entstehenden Industriemetropolen des Ruhr-gebietes ist es nur bedingt vergleichbar. Halle hatte städtische Traditionen und erfuhr Transformationen, aber auch Kontinuitäten.

Im Anschluss an die Darstellung dieser Entwicklungen sollen die zur Verfügung stehenden Quellen beschrieben und hinsichtlich ihrer Auswertbarkeit kritisch untersucht werden.

Es geht dabei zunächst um den Informationsgehalt der Standesamtsakten und die Grenzen des damit Machbaren. Um es vorweg zu nehmen, allein der vollständige Datensatz eines Jahrgangs, hier: 1895 bestehend aus 853 Urkunden, ist nur mit enormem Arbeitsaufwand digital zu erfassen. Langzeituntersuchungen mit vollständigen Datensätzen lassen sich so für den einzelnen Bearbeiter kaum realisieren. Stichproben in bestimmten Zeitintervallen zu entnehmen, ist allerdings auch nicht unproblematisch.1 Eine quellenkritische Analyse soll deshalb die Möglichkeiten und Einschränkungen in der Materialauswertung darlegen und den Rahmen empirischer Untersuchungen bzw. die anwendbaren Methoden definieren.2

In Abgleich mit den bereits erörterten und hier explizierten theoretischen Konzepten zur Erklärung sozialer Praxis, hier: der Ehe, ist es letztlich Anliegen dieser Arbeit, einige, die empirische Untersuchung einleitende und begleitende Fragen und Hypothesen zu formulieren und den methodischen Rahmen zu setzen.

2. Die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Halle im 19. Jahrhundert

2.1. Allgemeines

Wenn auch der Ort der Untersuchung nicht das Thema der Untersuchung ist, kommt man dennoch nicht umhin, einige Ausführungen zur Geschichte der Stadt Halle im 19. Jahr-hundert anzubringen, wenn man sich mit ihren Eheschließungen beschäftigt. Heiratsmärkte sind, wenn auch nicht ausschließlich, lokale Märkte. Einen Blick auf etwaige hallesche Besonderheiten zu richten, ist daher lohnenswert.

„Halle war noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts eine der ärmsten, schmutzigsten, verfallensten Städte in ganz Preußen“, fasst Erich Neuss den Stand der Entwicklung der Stadt zu diesem Zeitpunkt zusammen.3 Am Ende des Jahrhunderts präsentierte es sich groß-städtisch, unternehmerisch und dynamisch.4 Das bedeutet, dass es in erster Linie wuchs. Die Bevölkerung wuchs, verdoppelte sich beinahe in gerade einmal etwas über 20 Jahren und zählte damit zu den am schnellsten wachsenden Städten im Deutschen Reich.5 1900 wurden Giebichenstein, Kröllwitz und Trotha, nach den Eingliederungen Glauchas und des Neuwerks im Jahr 1817, der Stadt einverleibt;6 das Paulus-, das Luther-, Lucken- und Luisenviertel sowie die Vereinsstraßen entstanden, um der wachsenden Bevölkerung Raum zu geben. Dass das nicht immer entschieden und schnell genug vorangetrieben wurde, kritisierten schon Zeitgenossen wie der Stadtarzt Risel in Bezugnahme auf die Zustände in den Arbeiterquartieren.7 Die Beschäftigtenzahlen stiegen und die Betriebsgrößen nahmen zu; geringer und langsamer als bspw. in den zu Städten ausufernden Dörfern des Ruhrgebietes, doch stetig.8

Und die Bevölkerung wurde hochmobil.9 In einigen Vierteln wechselten die Bewohner eines Hauses so schnell, dass – zeitgenössischen Berichten folgend – der Vermieter kaum Aus-sicht auf die Begleichung der Miete hatte.10 Außerdem zogen jährlich Menschen im Umfang je etwa eines Fünftels der Gesamtbevölkerungszahl zu, weg und um, sodass etwa 60% der Stadtbevölkerung mit steigender Tendenz bis zum 1. Weltkrieg am Ende des Jahres nicht mehr am selben Ort wie zu Jahresanfang anzutreffen war.11

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 1: Entwicklung der Einwohnerzahlen 1871-1910. 12

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 2. Zu-, Ab- und Umzüge innerhalb ausgewählter Städte 1890-1910.13

In Halle begannen sich, trotz relativer Kleinräumigkeit der Stadt und sozial heterogen verteilter Wohnbevölkerung auf die einzelnen Stadtteile, Quartiere auszubilden.14 Ins-besondere der Süden und Südosten der Stadt wurden vor allem von proletarischen Gruppen bewohnt, die Pfännerhöhe, die Streiber-, Thomasius- oder Dryander-Straße sowie der Schülershof seien exemplarisch genannt.15 In der nördlichen Innenstadt, entlang des Mühlweges und auch im Luisenviertel, ließ sich indes eine vorrangig bildungsbürgerliche Klientel nieder. Das Paulusviertel wurde ursprünglich recht heterogen bewohnt.16 Der Marktplatz lag in dieser Segregationsphase entlang einer groben Nord-Süd-Linie in deren Mitte und erfuhr im Prozess der City-Bildung17 eine Umwandlung zum Geschäfts- und Verwaltungszentrum, wodurch er seine Bedeutung als Wohnlage für die wachsende Stadt-bevölkerung weitestgehend verlor. Daneben gab es, wie auch heute noch, Wohnlagen in Stadtrandlage mit eigener, einst unabhängiger Entwicklung und einer daher überkommen eigenen Bevölkerungsstruktur. So hatte Giebichenstein in den 1890er Jahren bereits über 14.000 Einwohner und wies hohe Anteile proletarischer Bevölkerung auf; ähnliches findet sich für Nietleben und Ammendorf.18

Damit ist die Entwicklung der Stadt grob umrissen; im Folgenden geht es um die Entwicklung des Wirtschaftsstandortes und Verwaltungszentrums sowie die Urbanisierung und Veränderung der Bevölkerungsstruktur.19

2.2. Entwicklung des Wirtschafts- und Verwaltungszentrums

Traditionell eine Stadt ihres Umlandes, prägten landwirtschaftsnahe Gewerbe Halle um 1800.20 Die Produktion von Salz, Branntwein, Lebensmitteln, Leim und Stärke sind hier zu nennen.21 Halle zählte damit nicht zu jenen früh und großflächig industrialisierenden, durch die Expansion der Textilproduktion charakterisierten Standorten, wie sie in Sachsen häufig waren22, barg aber Potential für eine industrielle Spezialisierung in sich. So etablierte sich bspw. in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts die Hallesche Zuckersiederei-Compagnie auf Actien, die bis 1906 bestand, in der Stadt.23

Die Jahre von etwa 1850 bis 1870 kann man gewissermaßen als ‚Take-off-Phase‘ der halleschen Industriegeschichte bezeichnen; danach schloss sich bis etwa 1885 ein regel-rechter ‚Gründerboom‘ an. Vorher kleine – gemessen am sächsischen oder rheinischen Standard rückständige – kaum mechanisierte Betriebe, expandierten oder wichen neuen, größeren Industrieansiedlungen. Daneben öffnete sich die Stadt: der Bau des ersten (nicht des heutigen) Bahnhofes, der Hafenbahn und des Sophienhafens 1857 stehen dafür exemplarisch.24

Die Lebensmittel- und landwirtschaftsnahe Industrie – vor allem der Landmaschinenbau – expandierten. Interessanterweise verzeichnete die Wirtschaft der Stadt auch in den Rezessionsjahren des ‚Gründerkrachs‘ 1873 bis 1879 ein strukturelles Wachstum, das sich in einem überproportional zur Bevölkerung wachsenden Steuervolumen manifestiert. Es gab in diesen Jahren mehr Händler und Grossisten. Petri deutet die Krisenjahre daher als Initiativ- und Aufrüstungsphase dieser relativ nachfrageunelastischen, da Agrarprodukte verarbeitenden, Stadtwirtschaft.25 In diesem Zusammenhang ist sicherlich die Zuckerrüben-industrie zu nennen, deren technische Aufrüstung Investitionen im Maschinenbau bedingte.

Die hallesche Maschinenbauindustrie, ein Konglomerat von 136 Unternehmen in den Jahren 1856 bis 1914, war dabei in ihren Größenordnungen eher mittelständisch, verglichen mit Großunternehmen in Leipzig und Magdeburg, jedoch hochspezialisiert. Von Zuliefererbetrieben abgesehen, produzierte man bspw. in den Fabriken von Carl Ferdinand Möves & Ernst Traugott Leutert, bei Weise & Monski oder auch bei Wegelin & Hübner in der Turmstraße schlüsselfertige Zuckerfabriken sowie neuartige Kreisel- und Turbinenpumpen, insbesondere für die Agrarwirtschaft und den Bergbau.26

Die städtische Industrie, durch die Hafenbahn untereinander und durch den Sophienhafen mit überregionalen und internationalen Märkten verbunden27, entwickelte sich auf engem Raum, im Wesentlichen im Osten und Süden der Stadt. Die Unternehmer kannten sich, ebenso die Finanziers; mitunter waren sie sogar verwandt. Petri konstatiert daher einen transparenten örtlichen Arbeitsmarkt.28 Das spiegelte sich auch in der gängigen Unternehmenspraxis wider, eine Stammarbeiterschaft hochqualifizierter Arbeiter, bspw. „Schlosser, Dreher, Former, Mechaniker, Klempner, Installateure, Gürtler, Graveure, Stell-macher, Sattler und Tischler“ auszubilden und diese Bindung auch in der Folgegeneration dieser Arbeiter fortzuführen.29

Finanziert wurde, um diesen Aspekt aufzugreifen, unter anderem von den Bankiers Reinhold Steckner und Heinrich Franz Lehmann. Beide verbanden gemeinsame Verwandte, Klienten und Verbündete. Die Rolle der Beiden für die Kreditierung der Region sollte also nicht unterschätzt werden.30 Daneben siedelten sich etliche, lokale und regionale Unter-nehmen finanzierende Banken, vor allem zwischen 1881 und 1897, in der Stadt an.31

Im Zuge des erhöhten Kapitalflusses expandierten viele Unternehmen und erwuchsen einige aus handwerklicher Tradition, während aber auch viele kleinere Handwerksbetriebe ihr Gewerbe einstellten.32

Prominentestes Beispiel einer gelungenen Transformation mag dabei wohl der aus dem Täschner-Betrieb hervorgegangene Waggonbau Lindner sein, der 1908 beinahe 500 Arbeiter beschäftigte.33 Generell lässt sich für die Jahrzehnte um 1900 auch ein Konzentrationsprozess beobachten. Während 1882 noch über 70% der Beschäftigten in kleinen und mittleren, jedoch nur 27,6% in Betrieben mit über 50 Beschäftigten arbeiteten, stieg die Zahl der Letztgenannten bis 1907 auf 44,4%, während die der Erstgenannten kontinuierlich sank. Die Beschäftigtenquoten in den mittelständischen Betrieben blieben konstant.34

Bilanzierend lässt sich nach diesem gerafften Überblick festhalten, dass Halles ‚urbaner‘ Charakter um 1800 wohl vor allem durch die örtliche Universität geprägt war.35 Kleine und mittlere Industrien verarbeiteten, was das agrarische Umland bot und belieferten zugleich einen begrenzten Regionalmarkt.36 Mit Verspätung zu früh industrialisierenden Orten, bspw. Sachsens und des Rheinlandes, entwickelte sich die Stadt vor allem in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zum regionalen Industrie-, Kredit-, und Verwaltungszentrum. Letzteres wird u. a. durch die Funktion Halles als „Sitz des Oberbergamtes für die Provinzen Sachsen, Brandenburg und Pommern, eines Landgerichts, Schwurgerichts, Amtsgerichts, einer Ober-Postdirektion, des Landrathamtes für den Saalkreis, eines Eisenbahnbetriebs-amtes, Hauptsteueramtes, Reichsbankstelle, einer Handelskammer und anderer Behörden“37 illustriert.

Die Grundlagen dieser zentralörtlichen Entwicklung und wirtschaftlichen Spezialisierung boten die umliegende Landwirtschaft, insbesondere Zuckerüben- und Getreideanbau, aber auch der Salzbergbau sowie der Braunkohletagebau (und die damit vor allem nach 1900 massiv ausgebaute Düngemittel- und petrochemische Industrie38 ), aber auch die topographische Lage – es gibt keine größeren, sich im Geltungsbereich preußischer Interessen-politik befindende Städte vergleichbaren Potentials in der Region.39

2.3. Urbanisierung der Stadt Halle

Hinter dem Begriff der Urbanisierung verbirgt sich ein Forschungskonzept, das die Großstadtentstehung und die damit implizit und explizit verbundenen Prozesse beschreibt, also das Flächenwachstum und die Entfestigung bestehender Städte sowie das Heranwachsen von nicht-städtischen, ländlichen Gemeinden zu Städten – erinnert sei an Gelsenkirchen und Bochum bspw.

Damit einher gehen oftmals eine Vervielfachung der Einwohnerzahlen durch steigende Geburtsraten einerseits, mehr aber noch durch sinkende Sterblichkeitsziffern im Zuge verbesserter Hygiene und flächendeckenderer medizinischer Versorgung, ferner sich verbessernder Lebensumstände auch in den unterbürgerlichen Schichten sowie massive Zu-wanderungen.40 Urbanisierung bedeutet somit auch Zuzug, Abzug und Umzug – also Migration großer Bevölkerungsteile in und zwischen Dörfern, Städten, Regionen und sogar Ländern. Urbanisierung kann folglich Entwurzelung, Fremdheit, und Deplatzierung, kann aber auch Karriere und Opportunismus bedeuten. In jedem Fall sind mit Migrationen viel-fältige Assimilations- und Integrationsleistungen großer Bevölkerungsgruppen verbunden; erinnert sei an die Eingliederung der ‚Ruhrpolen‘ und an die alltäglichen Interaktionen zwischen den, in vielen Städten in der Minderheit befindlichen, Einheimischen und den Zu-gezogenen, deren Vergemeinschaftungen die modernen Stadtgesellschaften hervor-brachten.

Eng verknüpft ist dieses Konzept gleichsam mit Modernisierungsvorstellungen im Sinne erhöhter Rationalisierung und technischen Fortschrittes, sei es im sozialen Wohnungs- und im funktionalen Städtebau, in der Schaffung moderner städtischer Infrastrukturen, bspw. bei der Bereitstellung sauberen Trinkwassers, dem Straßen- und Trassenbau, der Segregation zwischen Wohnen und Arbeiten bzw. auch der zwischen Armen und Reichen.41

Urbanisierung bedeutet Entstehung moderner Großstädte, wie sie seit dem 20. Jahrhundert für über die Hälfte der deutschen Bevölkerung selbstverständlicher Lebensraum sind: Orte mit Industrie-, Handels-, Verwaltungs-, Bildungs- und Kulturkonzentrationen.

Urbanisierung bedeutet auch soziale, kulturelle und strukturelle Veränderung. Die Auf-lösung vorindustrieller zünftiger Produktionsweisen unter einer städtischen Honoratioren-regierung zugunsten fabrikmäßiger Lohnarbeit und bürokratischer Verwaltung sowie die Auflösung ständischer sozialer Lagen bei zeitgleicher Ausbildung neuer gesellschaftlicher Großgruppen sind dabei zu nennen. Die Diskussion ob und in welchem Maß das Kaiserreich als Klassen- oder Schichtengesellschaft zu bezeichnen ist und welche Rolle überkommenen Distinktionsmechanismen, seien es ‚Standesdünkel‘ oder soziale Ehre im Sinne Max Webers, dabei zukommen, gehört an eine andere Stelle.42

In Halle spielten sich alle diese Prozesse ab, ohne dass zu sehr ins Detail gegangen werden soll. Einen guten Überblick über einige ‚Aspekte der Urbanisierung Halles‘ bietet Andrea Hauser.43

Neben einer sich über das gesamte 19. Jahrhundert verändernden Stadttopographie durch den Bau der Promenaden, der Ringstraße, den Abriss der Stadtbefestigung, die Nord-Süd-ausdehnung der Stadt und die sukzessive Erschließung neuer Wohnlagen für bürgerliche und nicht-bürgerliche Bevölkerungsgruppen sowie die Errichtung zahlreicher Neubauten – darunter der Hauptbahnhof, das Stadtgymnasium, das Universitätshaupt- und das Bibliotheksgebäude, die Wohn- und Geschäftsbebauung nördlich des Marktplatzes und die Kliniken in der Magdeburger Straße – sind die Anschlüsse der Randgemeinde, Giebichenstein und der „Industriedörfer Kröllwitz und Trotha“ zu nennen.44

Halle wuchs. In den Außenbezirken entstanden neue Wohnviertel, Verwaltung und Handel konzentrierten sich in der Innenstadt – der City. Gravierend veränderte sich in dieser Stadt, die nach Hauser Wachstumsraten wie Bergbau- und Schwerindustrie-Städte aufwies und zwischen 1867 und 1890 so schnell wuchs wie keine andere vergleichbare Stadt im Deutschen Reich, die Sozialstruktur.45 Vor allem die Unterschichten nahmen absolut und relativ an der Gesamtbevölkerung stark zu. Mathias Tullner gibt an, dass unter den 1895-1905 Zugezogenen 96% Arbeiter gewesen seien.46 Damit stellten sie im selben Zeitraum etwa zwei Drittel aller Berufstätigen.47

Mit dem, auch durch Zuzug verursachten, massiven Bevölkerungswachstum, ging eine, wenn auch kleinräumige Segregation der Bevölkerung einher. Wohnungsknappheit und überbelegte Wohnungen, wenngleich in geringerem Ausmaß, als es bspw. in Berlin oder Leipzig der Fall war, wurden zu zeitgenössischen Problemen in den Arbeiter-Mietskasernen. Mondäne Bürgerhäuser und Villen in attraktiveren Wohnlagen im Norden der Stadt kontrastierten dazu.48 Wenn auch nicht strikt, bildeten sich so spezifische Wohnlagen mit ihrer eigenen Bebauungs- und Bevölkerungsstruktur und einem milieueigenen Charakter heraus; hier das Stadttheater, Bibliotheken und Museen, dort die Eckkneipe und der Kaninchen-züchterverein.49

2.4. Zusammenfassung

Es soll das Fazit durch eine zeitgenössische Beobachterin, Anselma Heine, eingeleitet werden. Sie stellte fest: „im Jahrzehnt 1870/1880 wandelte sich unsere Stadt. Die Vorherrschaft der Alma mater war vorüber. Wer nun von Halle sprach, meinte Zichorienfabriken, Braunkohle, Maschinen und Zuckerrüben.“50

Halle war damit keine ungewöhnliche Erscheinung im ausgehenden 19. Jahrhundert, der Phase der Hochindustrialisierung. Festhaltenswert, wenngleich damit nur vereinfachend, beinahe stichwortartig, auf Probleme und Zustände hingewiesen wird, die in der an-gegebenen Literatur ausführlicher und schwerpunktmäßiger behandelt werden, sind: die Bedeutungsverlagerung vom Hochschulstandort zum Industrie- und Verwaltungszentrum, damit einher gehend ein Bevölkerungs- und Flächenwachstum, ein rückgängiger Anteil der Universitätsangehörigen an der Gesamtbevölkerung, damit verbunden einerseits eine relative und absolute Bedeutungszunahme des Wirtschaftsbürgertums gemessen am Bildungsbürgertum und ein enormes, durch Zuzug und Geburtenzuwachs begründetes, An-wachsen des Anteils der Arbeiter an der Gesamtbevölkerung. Im Zusammenhang damit stehen die im Konzept der Urbanisierung enthaltenen Prozesse der sozialen und der Wohn-segregation, der Ausbildung neuer Sozialisationskontexte im Prozess der Integration der Zugezogenen und der Assimilation des ‚Althalleschen‘, wie es Tenfelde abstrakter mit Sozialisationsdefiziten und Milieubildung u. a. durch Vereinsgründung und politische Zusammenschlüsse, beschreibt.51

Halle steht damit nicht vereinzelt, es lässt sich mit Städten wie etwa Braunschweig und Erfurt vergleichen, die ähnliche Züge ihrer Entwicklung aufwiesen.52 Besonders oder zumindest erwähnenswert sind, neben der relativ hohen ethnischen und konfessionellen Homogenität der Stadtbevölkerung, der ausgeprägten politischen Bipolarität53 und der besonderen, durch die regionalen Gegebenheiten geprägten Industriekultur, vor allem die enorme Zahl der Arbeiter an der Gesamtbevölkerung und ihre absolute Dominanz unter den Zuwanderern sowie ihr großenteils geringes Qualifikationsniveau.54

3. Serielle Quellen zur Eheschließung

3.1. Die Standesamtsakten der Stadt Halle. Quelleninformationen und -kritik

Seit Einführung der obligatorischen Zivilehe in Preußen 1874 und im Deutschen Reich 1876 werden alle Eheschließungen auf kommunaler Ebene zentral und vollständig erfasst. Damit setzen sie die seit dem 16. Jahrhundert geführten Kirchenbücher fort. Da sie im Gegensatz zu diesen aber nicht lediglich eine Kirchgemeinde, sondern die gesamte Kommune erfassen und zudem formal standardisiert sind, bieten sie eine enorme Fülle direkt vergleichbarer Daten für einen breiten Querschnitt der Gesamtbevölkerung. Banal gesprochen, registrieren evangelische Gemeinden lediglich die Heiraten ihrer Mitglieder, während die Standesämter jede Eheschließung registrieren. Damit widerspiegeln sie die Bevölkerungsstruktur bspw. einer (heiratsfähigen!55 ) Stadtbevölkerung unverzerrter; sie sind im Gegensatz zu den Kirchenbüchern für diese Bevölkerung nicht tendenziös.56

Die Ehebücher der Stadt Halle wiederum enthalten besonders viele Informationen. Im günstigsten Fall sind neben den üblichen Daten (Personendaten, Angaben zur Herkunft, An-gaben zu den Zeugen, Randvermerk einer späteren Scheidung) auch die zu einem späteren Zeitpunkt ehelich geborenen Kinder namentlich erfasst sowie die Sterbedaten und -orte der Ehegatten notiert. Leider scheinen diese zusätzlichen Informationen nicht konsequent erfasst worden zu sein – die Sterbedaten sind bei weniger als der Hälfte oder nur für einen der Partner oder nur mit Jahr und Ort statt des Datums vermerkt. Ehelich geborene Kinder wurden in den seltensten Fällen als Anmerkung registriert, wenn man davon ausgeht, dass in einem Großteil der geschlossenen Ehen auch Kinder gezeugt und aufgezogen wurden.57

Ein üblicher Datensatz58 hält daher folgende Daten bereit:

1. Formale Daten: Datum und laufende Nummer der Eheschließung, gegebenenfalls auch der Scheidung als Randvermerk, Unterschrift aller Beteiligten.
2. Personendaten: Name der Brautleute, Geburtsdatum und -ort der Braut-leute, Beruf des Bräutigams/der Braut (falls vorhanden59 ), Konfession, Familienstand (für den Mann als ‚ledig‘ angenommen, da nirgends explizit anderes benannt wurde)60, Wohnort und Adresse (falls Wohnort Halle ist) der Brautleute.61
3. Soziale Herkunftsdaten: Name und Beruf des Vaters der Brautleute, Name/Mädchenname der Mutter, gegebenenfalls auch Namensangaben zur Wiederverheiratung nach einer Scheidung oder Verwitwung (Angaben zum Beruf der Mutter nur, wenn kein Vater bekannt und ein Beruf vorhanden ist), Wohnort bzw. letzter Wohnort bei verstorbenen Elternteilen (Adressnennung, falls der Wohnort bei lebenden Eltern Halle ist).
4. Ergänzende Daten: Name, Alter (ohne Geburtsdatum), Beruf und Wohnort (mit Adressnennung, falls der Wohnort Halle ist) der beiden Zeugen. Ferner werden vor der Eheschließung gezeugte Kinder mit Nennung des Namens, des Geburtsdatums und -ortes vom Ehemann als ‚von ihm erzeugt‘ an-erkannt.62

Einige Fragen lassen sich daraus schnell ableiten und beantworten, bei anderen wird es schwieriger. Das Alter der Eheschließenden lässt sich als Differenz aus Heiratsdatum und Geburtsdatum errechnen und statistisch darstellen im Sinne eines Durchschnittes oder einer Häufigkeitsverteilung (n Heiraten im Alter von x, y, z Jahren). Wer uneheliche Kinder einbrachte, wessen Eltern noch lebten, welche Konfessionsgruppen heirateten, wer ein-heimisch oder in die Stadt gezogen war, wer vor der Ehe nah beieinander oder zusammen oder bei/mit den Eltern wohnte, wer Geschwister, Verwandte (hypothetisch bei Namens-gleichheit) und Eltern oder Kollegen, Freunde und Bekannte zu Zeugen63 bestimmte, lässt sich tabellarisch darstellen. Vergleiche mit Statistiken zur Gesamtbevölkerung der Stadt Halle, dem Regierungsbezirk Merseburg, der Provinz Sachsen, dem Königreich Preußen, mit anderen Staaten oder dem Deutschen Reich bieten sich an, um zu sehen, ob die heiratende Bevölkerung Halles 1895 in irgendeiner Hinsicht besonders war oder sich in die statistische Norm der Zeit einordnete.64

Schwierigkeiten in der Bearbeitung liegen zum einen in der vergleichenden Statistik, zum anderen in der Beschaffenheit der Quellen begründet. Um Thesen der Forschung bspw. zu divergierenden Familienformen und -mustern verschiedener sozialer Gruppen, zur sozialen Mobilität (Berufs- und konnubiale Mobilität) sowie zur Bedeutung der Ehe als Praxis im Kontext der sozialen Platzierung und deren Folgen zu prüfen, müssen die Daten operationalisiert werden.65 Probleme ergeben sich dabei hinsichtlich der Kategorisierung von Berufen in verschiedene Klassen und Schichten und der Definition von Herkunft.66

Die offizielle Statistik des Deutschen Reiches subsummiert bspw. Handlungsgehilfen und Verkäufer/-innen 1907 noch zur Arbeiterschaft, während wir heute retrospektiv die Kategorisierung ‚neuer Mittelstand‘ oder ‚Angestellte‘ bevorzugen würden; vom zeitgenössischen Selbstverständnis und Distinktionsbestrebungen gegenüber der Arbeiterschaft ganz zu schweigen.67 Auf der Ebene der Reichsstatistik, die hochaggregierte Massen-daten verwendet, ergeben sich so Verzerrungen in den Größenrelationen einzelner sozialer Klassen.68

Auf der konkreteren Ebene der Ehebücher häufen sich solche Ungenauigkeiten. 1895 führten in Halle ausweislich der Handschrift drei verschiedene Schreiber Buch, die ihre je eigenen Gewohnheiten und Tagesformen gehabt zu haben scheinen; daneben gab es einen lokalen Usus der Handhabung von Berufsbezeichnungen. Das heißt, dass es neben Arbeitern, Handarbeiter, Fabrikarbeiter, Bahnarbeiter, Gold- und andere ‚Branchen‘-arbeiter gab. Worin der Unterschied zwischen Arbeit und Handarbeit besteht, bleibt dabei offen. Ebenso wissen wir nicht, welche Qualifikationen die Fabrikarbeiter besaßen, ob sie un-, an- oder gelernt waren oder ob der Bahnarbeiter trotz seiner Berufsfunktionen vielleicht sogar Subalternbeamter war. Es sei die Vermutung geäußert, dass die Erfassung des Berufes auf Zuruf geschah, also der Bräutigam nicht seinen Arbeitsvertrag vorlegte, sondern bekannt gab, er sei Arbeiter, Raffineriearbeiter oder Güterbodenarbeiter. Handarbeiter oder Arbeiter wären dabei dann letztlich Termini für un- oder angelernt Tätige, wie H. Zwahr für Leipzig herausstellte. Bei qualifizierten Arbeiterberufen, z. T. handwerklicher Tradition, er-folgen explizite Nennungen, also: Dreher, Former, Drucker, Setzer etc. Darin könnte sich, falls die Vermutung zutrifft, so etwas wie Berufsstolz oder zumindest -identifikation äußern.

Ein lokaler Usus in der Verwendung der Berufsbezeichnungen scheint sich also abzuzeichnen.69 Ähnlich schwammig wie die Berufskategorie Arbeiter, die an sich nichts über Qualifikationen, Tätigkeiten und Verdienst besagt, ist die des Kaufmanns.70 Wenn auch Victualien- und andere Händler i. d. R. explizit als solche bezeichnet werden, kann sich hinter einem Kaufmann der Inhaber eines Zeitungskiosks, eines Warenhauses oder einer Bank verbergen. Sicherlich würde der notwendigerweise mit der Geschichte des Untersuchungsortes vertraute Bearbeiter einen prominenten Namen erkennen71, doch stößt man in einem solchen Fall auf die strukturellen Grenzen des Machbaren. – Eine Stadt-bevölkerung ist nicht mit einem Dorf wie Neckarhausen vergleichbar. In Halle heirateten 1895 853 Paare, in Neckarhausen heirateten so viele in einem Jahrhundert nicht. Man kann nicht, ohne vorrangig Lokalhistoriker zu sein, die familiär-biographischen und finanziellen Hintergründe jeder heiratenden Person kennen.72 Gleichfalls kann man die Vernetzungen von Personen, Paaren und Familien nicht über einen längeren Zeitraum verfolgen. Konkret heißt das, dass man in einer rasant wachsenden Stadt wie Halle, in der große Bevölkerungs-teile Wohnung, Wohnort und Anstellung häufig wechseln, keine Einzelfälle, trotzdem man sie namentlich kennt, über längere Zeit verfolgen kann. Ob der Kaufmann A. Gemüse-händler ist oder Finanzier einer Fabrik, ob er reich wird, die Branche wechselt oder Bankrott geht… – wir wissen es nicht. Ob der Fleischermeistergeselle später noch Meister wird wie sein Vater und den Betrieb übernimmt, ob der Unteroffizier beim Kommiss bleibt und Karriere macht, wie so viele seiner Kameraden in den Polizeidienst geht oder als Drehorgel-spieler endet… – wie wissen es genauso wenig, wie wir wissen, was aus dem Fabrikarbeiter oder Former im Alter wird. Das Spektrum reicht vom Invaliden bis zum Kneipier/ Restaurateur.73

[...]


1 Die Gefahr besteht darin, statistische Zufälle abzubilden, bspw. schlechte regionale und saisonale Konjunktur-zyklen oder etwa religiöse Ehehemmnisse (Fastenzeit, Freitage) zu erfassen.

2 Es lässt sich mit den Quellen mehr untersuchen, als Gegenstand einer Magisterarbeit sein kann, da nur die Er-kenntnisinteressen die Fragestellungen und die Techniken der Datenauswertung beschränken. So hat Bart van de Putte bspw. den Einfluss der Zuwanderung unter Berücksichtigung dieser zu Grunde liegender Parameter auf die Entwicklung der konnubialen Homogamie, resp. Heterogamie, mittels analytischer Regressionsanalyse untersucht. Siehe B. van de Putte 2003, Homogamy by geographical origin. Segregation in nineteenth-century Flemish cities (Gent, Leuven, and Aalst), Journal of Family History 2003.28, 364-390.

3 E. Neuss, Die Entwicklung des halleschen Wirtschaftslebens vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Welt-krieg, Halbestadt 1924.

4 Die Präsentation der Stadt gegenüber einer Reichs- und Weltöffentlichkeit steht hier nicht zur Diskussion. Der Hinweis auf Halle als Ausrichter der Bau- und Gewerbeausstellung 1881 mag als Beispiel für den Geltungsdrang der Stadt genügen. Beispielgebende Stadtplanungskonzepte und Industrieprojekte, die die Gesichter vieler moderner Städte nachhaltig prägen sollten, wurden dort präsentiert.

5 Zahlen nach J. Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, ND Frankfurt (Main) 1997, 203. 1870/1 53.000 – 1910 181.000; ‚Großstadtwerdung‘, d. h. 100.000 Einwohner 1890.; vgl. Tabelle 1. Vgl. auch M. Tullner, Halle 1806-2006. Industriezentrum, Regierungssitz, Bezirksstadt, Halle 2007, 52.

6 Giebichenstein grenzte schon 1890 an die Wohnbebauung der Stadt Halle an, siehe Tullner 2007, 55.

7 A. Hauser, Aspekte der Urbanisierung Halles 1870-1914, in: W. Freitag/K. Minner (Hrsg.), Geschichte der Stadt Halle, Bd. 2: Halle im 19. und 20. Jahrhundert, Halle (Saale) 2006, 37 f., 39 ff.

8 Bspw. hatte Hamborn bei Duisburg 1895 9000 Einwohner/1905 120.000, nach K. Saul u.a. (Hrsg.), Arbeiter-familien in Kaiserreich. Materialien zur Sozialgeschichte in Deutschland 1871-1914, Königstein (Ts.) 1982, 14 f.

9 Siehe dazu bspw.: D. Langewiesche, Wanderungsbewegungen in der Hochindustrialisierung. Regionale, inter-städtische und innerstädtische Mobilität in Deutschland 1880-1914, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirt-schaftsgeschichte 64.1977, 1-40. A. a. O., 2 ff. zeigt, dass das Wanderungsvolumen deutlich über dem Bevölkerungszuwachs liegt. Dadurch kam es binnen kurzer Zeit zu einem fast vollständigen ‚Bevölkerungs-austausch‘. Nach W. Köllmann, Industrialisierung, Binnenwanderung und „soziale Frage“. Zur Entstehungs-geschichte der deutschen Industriegroßstadt im 19. Jahrhundert, Vierteljahresschrift für Wirtschaftsgeschichte 46.1959, 64 hatte Halle 1907 172.100 Einwohner, davon waren 40,6% Ortsgebürtige, 44,1% Nahwanderer, 14,4% Fernwanderer, 1% Ausländer (damit hatte die Stadt gemessen an der mitteldeutschen Industrieregion 4% weniger Ortsgebürtige, 2% mehr Nah- und 5% mehr Fernwanderer, aber 2,5% weniger Ausländer – M. E kommt damit zum einen ein deutlicher Bezug der Stadt zu ihrem Umland zum Ausdruck, zum anderen ihre Attraktivität für auswertige Fachkräfte.

10 Illustratives Beispiel über die Verhältnisse in der Feldstraße um 1900 bei S. Kowalski, Bürgerliche Segregation und Stadtplanung – die Entstehung des Paulus-Viertels, in: W. Freitag/K. Minner (Hrsg.), Geschichte der Stadt Halle, Bd. 2: Halle im 19. und 20. Jahrhundert, Halle (Saale) 2006, 208 f.

11 Siehe Tab. 2. Zur Thematik auch St. Bleek, Mobilität und Sesshaftigkeit in deutschen Großstädten während der Urbanisierung, Geschichte und Gesellschaft 15.1989, 5-33. 300 bis 600 Mobile auf 1000 Einwohner und äußerst variable Belegungsdauern der Wohnungen (ebd., 31). Vgl. auch F.-J. Brüggemeier, Leben in Bewegung, in: R. van Dülmen (Hrsg.), Armut, Liebe, Ehre. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt (Main) 1988, 225 f.

12 Zahlen nach W. Köllmann, Verstädterung im Deutschen Kaiserreich, Blätter für deutsche Landesgeschichte 128.1992, 200; ausweislich des Statistischen Jahrbuches für das Deutsche Reich, 18. Jg., Berlin 1897, 5 betrug die Einwohnerzahl der Stadt Halle am 02.12.1895 116.304 Personen. In diesem Jahr wurden 853 Ehen geschlossen, in der Provinz Sachsen waren es insgesamt 21.361 (a. a. O., 25. Eheschließungszahlen für Halle aus eigener empirischer Arbeit)

13 Zahlen nach L. Niethammer/F.-J. Brüggemeier, Wie wohnten die Arbeiter im Kaiserreich?, Archiv für Sozialgeschichte 16.1976, 83. Die Zahlen entstammen den Statistischen Jahrbüchern für die Deutschen Städte. M. W. wurden alle am Erhebungszeitpunkt in einem Haushalt angetroffenen Personen als zum Haushalt zugehörig gezählt. Inwiefern Niethammer und Brüggemeier die dadurch nicht einfach auf die Gesamtmobilität der Stadt übertragbaren Zahlen mit polizeilichen Melderegistern oder Adressbüchern abglichen, ist mir nicht bekannt.

14 Zu diesem Prozess vgl. allgemein Niethammer u. a. 1976, 61-134. Dazu ausführlicher auch B. Fritzsche, Das Quartier als Lebensraum, in: W. Conze/U. Engelhardt (Hrsg.), Arbeiterexistenz im 19. Jahrhundert. Lebens-standard und Lebensgestaltung deutscher Arbeiter und Handwerker, Stuttgart 1981, 92-113. Vgl. auch Reulecke 1997, 101-108.

15 Vgl. Hauser 2006, 36 ff.

16 Vgl. Hauser 36 ff. Belletage und Straßenhäuser von Bürgern, ausgesprochene Villen am Kaiserplatz (Rathenau-platz) von städtischen Honoratioren bewohnt. Dachkammern und Hinterhäuser von Angehörigen der Unter-schichten bewohnt (so im Paulusviertel um 1900 25%). Ausführlich zur Entstehung des Paulusviertels Kowalski 2006, 209 f.

17 zur räumlichen und sozialen Segregation Reulecke 1997, 91-101., zur City-Bildung in Halle siehe Hauser 2006, 34 f.

18 Zu Giebichenstein siehe G. Wermert, Grundzüge der wirtschaftlichen Entwicklung von Halle a/S., in: von Fritsch/K. Hüllmann/G. Staude (Hrsg.), Die Stadt Halle an der Saale im Jahre 1891. Festschrift für die Mitglieder und Teilnehmer der 64. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. Halle (Saale) 1891, 74. Andere Zahlen bei H. Allendorf, Der Zuzug in die Städte, seine Gestaltung und Bedeutung für dieselben in der Gegenwart. Ein Beitrag zur Statistik der Binnenwanderungen mit besonderer Berücksichtigung der Zuzugs-verhältnisse der Stadt Halle a. S. im Jahr 1899, Diss. Halle 1901, 21.

19 So bspw. nach Köllmann 1992, 207 nur 40,6% Ortsgebürtige.

20 Diese Aussage mag banal klingen, ist sie aber nicht, wenn man sich bspw. Leipzig vor Augen führt. Die Stadt Leipzig ‚lebt‘, nicht ausschließlich aber vor allem, von ihrer Verwaltungs- und, historisch gesehen, Handelsort-Funktion, nicht vorrangig von der Veredelung der Güter ihres agrarischen Umlandes.

21 Vgl. R. Petri, Der Aufstieg zur Industriestadt, in: W. Freitag/K. Minner (Hrsg.), Geschichte der Stadt Halle, Bd. 2: Halle im 19. und 20. Jahrhundert, Halle (Saale) 2006, 10 ff.

22 So bspw. Chemnitz, vgl. dazu J. Ehmer, Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel. England und Mitteleuropa in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1991, 114 f.

23 Petri, 2006, 14 ff. In diesem Beispiel kommt Halles zentralörtliche Bedeutung für die Zuckerrübenindustrie der Provinz Sachsen zum Ausdruck.

24 Ebd., 14 ff., 17 ff.

25 Ebd., 17 ff. Dazu zählen Mälzereien, Brauereien, Bäckereien, Zichorienröstereien u.a.; vgl. auch Wermert 1891 80-87. Hohe Exportvolumina und die zentralörtliche Funktion in der Braunkohleverarbeitung ließen Halle die ‚Gründerkrise‘ gut überstehen.

26 Vgl. Petri 2006, 19 ff. Daneben sind für Halle kleinere chemische Industrien, Großziegeleien und Druckereien erwähnenswert. Zur Unternehmensgeschichte von Wegelin & Hübner, dessen Börsengang 1899 und Fusion mit der Hallesche Union AG 1901 siehe E. Neumann, An den Gleisen der Hafenbahn - zur Topographie der halle-schen Industriegeschichte, in: W. Freitag/K. Minner (Hrsg.), Geschichte der Stadt Halle, Bd. 2: Halle im 19. und 20. Jahrhundert, Halle (Saale) 2006, 165-169.

27 Siehe allgemein Neumann 2006.

28 Petri 2006, 19 ff.

29 siehe T. Kügler, Arbeiterschaft, Gewerkschaften und Sozialdemokratie im Kaiserreich, in: W. Freitag/K. Minner (Hrsg.), Geschichte der Stadt Halle, Bd. 2: Halle im 19. und 20. Jahrhundert, Halle (Saale) 2006, 64.; einige Aspekte: Facharbeiter stammten oft aus handwerklichen Berufen, Arbeitsplätze wirkten sozial regulierend, Gehilfen waren angelernt, es gab starke Unterschiede und fließende Übergänge in Lohn und Verhalten ver-schiedener Gruppen, Fachkräfte von weiter her/Unqualifizierte aus dem näheren Umland – zu allem W. Conze, Sozialgeschichte 1850-1918, in: H. Aubin/W. Zorn (Hrsg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozial-geschichte, Bd.: Das 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1976, 618 f.

30 Petri 2006, 21 ff.

31 Dazu ausführlich Petri 2006, 21-25.

32 Zum Niedergang vieler Gewerke und zur Blüte vor allem metallverarbeitender Betriebe vgl. Tabelle 1 bei Petri 2006, 23. Zur Umstrukturierung vom Meisterbetrieb zum Unternehmen vgl. Petri 2006, 23 ff. Insgesamt ge-sehen ging es den Gewerbebetrieben 1895 gut. In diesem Jahr erreichte die Zahl der Betriebe ihr nur noch 1907 im Absoluten leicht übertroffenes Maximum mit 4.925 Betrieben und 4,5 Beschäftigten je Betrieb. Vgl. Tabelle 2 bei Petri 2006, 24.

33 Ebd., 24, 20.

34 Ebd. 24 f. Zur Zunahme der Lohnarbeiter- und der Angestelltenschaft von 1895 bis 1907 auf 70,1%, resp. 10,5% und zur Abnahme selbständiger Betriebsleiter siehe Kügler 2006, 63.

35 Die Universität blieb auch im gesamten 19. Jahrhundert ein wichtiger Wirtschaftsfaktor (Ingenieure, Ärzte, Wissenschaftler), vgl. A. Dolgner, Stadtumbau und Universität im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: W. Freitag/K. Minner (Hrsg.), Geschichte der Stadt Halle, Bd. 2: Halle im 19. und 20. Jahrhundert, Halle (Saale) 2006, 150-154. Petri 2006, 25 f. gibt den Anteil der Universitätsangehörigen samt deren Familien und allen in deren Haushalten lebenden Personen an der Stadtbevölkerung mit 5% an.; Anselma Heine beschreibt das Halle der 1850er als klein und provinziell, während in den 1870ern ein deutlicher Wandel spürbar gewesen sei (A. Heine, Mein Rundgang. Erinnerungen, Stuttgart 1926, 11 f., 59 f.; vgl. Zitat bei Hauser 2006, 34.)

36 Zur industriellen Entwicklung Sachsen-Anhaltes, die nach Friedrich-Wilhelm Hennig als für das Reich durch-schnittlich hinsichtlich der sektoralen Verteilung der Erwerbsbevölkerung betrachtet werden kann, siehe Ders., Die Ansätze der industriellen Entwicklung in Sachsen-Anhalt im 19. und 20. Jahrhundert, Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte. Neue Folge, Bd. 4/1.1994, 1 f.

37 Petri 2006, 25.

38 Genannt sei Carl Adolph Riebeck, vgl. Petri 2006, 18 f.

39 Wie Andrea Dolgner richtig bemerkt, wirkte sich dabei für die weitere Entwicklung die Tatsache als hemmend aus, dass Merseburg und nicht Halle, Bezirksregierungssitz bzw. Magdeburg und nicht Halle Provinzial-regierungssitz wurde, desgleichen, dass Naumburg Sitz des Oberlandgerichtes war. Halle lag gewissermaßen zentral in einem dezentralisierten Raum. Es ist also die Mischung aus Verwaltungsaufgaben (wenn auch nicht den höchsten) und Industriekultur (wenn auch nicht alles überrangender) und kulturellem Zentrum (Universität, Landesbibliothek, Theater, Bürgerliche Vereinskultur etc.), die Halle charakterisieren. Siehe Dolgner 2006, 154-157.

40 Siehe allgemein zu dieser Entwicklung Allendorf 1901. Allendorf bemerkt a. a. O., 23 ff., dass der Zuzug aus Stadt und Land in die Stadt sich etwa in glichen und dass von den über 23.000 Zuwanderern 1899 über 15.000 aus Städten verschiedener Größenordnung stammten; darunter mehrheitlich Männer, vor allem in qualifizierten Berufen mehrheitlich aus anderen Städten (a. a. O., 25 f.).

41 Dazu für Halle Hauser 2006, 33-36. A. a. O., 36 ff. zur Quartierbildung.

42 Zur Diskussion kurz: Kocka, Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 2001, 98-101.

43 Hauser charakterisiert die Urbanisierung Halles als Wandel von einer Mittelstadt mit Universität hin zu einer industriellen Großstadt, vergleichbar mit Braunschweig, Erfurt oder Hannover, also multifunktionalen, schwerpunktmäßig auf Zentralität und Export-Industrie gerichteten Städten, siehe Hauser 2006, 33-36.; Zur weiteren Thematik Reulecke 1997. Konkret für Halle a. a. O., 224 f.: Zentralort mit diversifizierter Industrie-struktur. Siehe weiterführend auch: H. J. Teuteberg (Hrsg.), Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Historische und geographische Aspekte, Köln 1983.

44 Wermert 1891, 74. Vgl. auch Hauser 2006, 26-33.

45 Hauser 2006, 36.

46 Tullner 2007, 66 f. Ergänzend dazu Hauser 206, 36 Unter den Zugezogenen waren 60% Männer, darunter auch viele Facharbeiter. Unter den Frauen seien viele Berufslose gewesen, die dann in Fabriken oder als Dienstmädchen Anstellung suchten. Hauser konstatiert eine Dominanz der Nah- vor der Fernwanderung. Je ferner her die Zuwanderung, desto mehr Männer (prozentual, etwa 3:2). Vgl. Allendorf 1901, 36 f. Demnach stellten un- oder angelernte Arbeiter und Dienstboten sowie Berufslose (aus dem Umland und dem Regierungs-bezirk) das Gros der Zuzügler. Daneben gab es hohe Quoten an Handwerkern. Tendenziell: je spezialisierter die Tätigkeit, desto weiter her die Zuwanderung. Unqualifizierte Tätigkeiten oder Saisonarbeit wurden als Alternativbeschäftigungen von der regionalen Bevölkerung ausgeübt. Nur für solche ergab sich eine günstige Nutzen-Kosten-Relation (Arbeitslohn/Aufwand der Wanderung).

47 Nach Tabelle 4 bei Kügler 2006, 63 gab es 1895 insgesamt 8.375 Betriebsleiter, 2.210 Angestellte und 20.791 Arbeiter (davon 17.228 Männer).; Tullners Bemerkung (Tullner 2007, 66 f.), dass das Gros der halleschen Arbeiter niedrig oder unqualifiziert gewesen sei, da in den chemischen und braunkohleverarbeitenden Industrien oft keine besondere Ausbildung erforderlich sei, kann nicht generalisierend zugestimmt werden. Sicherlich gab es in Halle große Kapazitäten leicht ersetzbarer, hochmobiler Arbeitskräfte, wie auch die Migrationsraten der Stadt belegen, jedoch galten gelernte Arbeiter im Maschinenbau und im Druckgewerbe als ausgesprochene Fachkräfte, die es zu binden galt. Das Gleiche gilt für die Gesellen in den nicht-überfüllten Massenhandwerken; vgl. Tullner 2007, 71.

48 Vgl. Hauser 2006, 37. Nach Hauser gab es zu wenige Wohnungsneubauten (a. a. O., 39 ff.), erst ab den 1890ern zeichnete sich eine leichte Entspannung ab. Zu bürgerlichen Wohnlagen auch K. Minner, Besitz und Bildung, Stadtregiment und Stadtvisionen - das Bürgertum, in: W. Freitag/K. Minner (Hrsg.), Geschichte der Stadt Halle, Bd. 2: Halle im 19. und 20. Jahrhundert, Halle (Saale) 2006, 50 ff.

49 Vgl. Hauser 2006, 41 f.; Zum bürgerlichen Leben der Stadt und zu dessen Einflussnahme auf die Entwicklung der Stadt in allen Belangen, wenn auch vorrangig in der 1. H. des 19. Jh. siehe allgemein Minner 2006.

50 Heine 1926, 59., vgl. Zitat bei Hauser 2006, 34.

51 K. Tenfelde, Historische Milieus - Erblichkeit und Konkurrenz, in: M. Hettling/P. Nolte (Hrsg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland, München 1996, 250 ff. Vgl. dazu auch Bleek 1989, 32 schnelle Ausbildung von sozialen Milieus in neuen Großstadtrevieren. Vgl. dazu allgemein auch B. Fritzsche, Mechanismen der sozialen Segregation, in: H. J. Teuteberg (Hrsg.), Homo habitans. Zur Sozialgeschichte des ländlichen und städtischen Wohnens in der Neuzeit, Münster 1985, 165.

52 Zu Braunschweig St. Bajohr, Lass dich nicht mit den Bengels ein! Sexualität, Geburtenregelung und Geschlechtsmoral im Braunschweiger Arbeitermilieu 1900 bis 1933, Essen 2001. A. a. O., 9 f. folgende Charakteristika für die Stadt Braunschweig: konfessionelle/ nationale Homogenität, Großstadt seit 1890, Hochburg der Sozialdemokratie, Zuwanderung vorrangig aus dem Umland.; Halle wird hier als werdende junge Großstadt im ‚Dunstkreis‘ einer bedeutenderen, größeren Stadt verstanden (hier: Leipzig, Magdeburg, analog: Braunschweig im Schatten Hannovers). Ein bevölkerungsstruktureller Wandel zeichnete sich – wie auch die Betriebsgrößenrelationen widerspiegeln – vor allem am oberen und unteren Ende, weniger in der Mitte der Gesellschaft ab. Das bedeutet einen überproportionalen Anstieg der Arbeiterschaft und ein Wachstum der Verwaltung, während die neuen Mittelschichten (Angestellten) sich ebenso rasant, absolut aber dennoch nur langsam vergrößerten.

53 Nach Kügler 2006, 72 ff. über 95% Protestanten und zwei Lager: Konservative/ National- und Linksliberale bzw. Sozialdemokraten (als Milieupartei der Lohnarbeiterschaft, a. a. O., 74).; Nach Brüggemeier 1988, 231 ff. hohe Mobilität, wo schwankender Arbeitskräftebedarf (saisonale Tätigkeiten) vorherrschte, bspw. im Transport (Kutscher, Boten etc.) und im Baugewerbe.

54 Zur Arbeiterschaft der Stadt, ihrer politischen Organisation, ihren unterschiedlichen biografischen Hinter-gründen und ihrer Interaktion im gemeinsamen Milieu vgl. allgemein Kügler 2006. Insbesondere ist die Annäherung zwischen Gewerken handwerklicher Tradition und Lohnarbeiterberufen von Interesse. (dazu auch Conze 1976, 651 ff.) Allgemein beschreibt bspw. Ehmer 1991 diese Proletarisierung des Handwerks, besser vielleicht Nivellierung der sozialen Lagen der Beschäftigten in modernen Industriearbeiterberufen. In Halle so geschehen bspw. bei der Fusion der Verbände der Bauhilfsarbeiter und der Maurer. Dahinter – wenn auch quantitativ schwer zu überblicken (Eheschließungen sind aber ein Anfang) – stehen auch kulturelle oder zumindest alltägliche, lebenswirkliche Annäherungen. Eine Frage könnte lauten: wirkt sich das auf die Ehe-schließung aus?

55 Über eine unverheiratete Bevölkerung und deren soziale Mobilität lassen sich keine Informationen aus den Quellen entnehmen.

56 Jedoch sind auch in diesen Akten formale Unsicherheiten vorhanden, bspw. in der Inkonsequenz der Buch-führung (ehelich geborene Kinder, Sterbedaten) oder begrifflicher Ungenauigkeiten (insbesondere bei den Berufsbezeichnungen).

57 R. Nave-Herz und U. Oßwald geben an, das 1899 und früher 8,4% aller Ehen kinderlos gewesen seien. Siehe: R. Nave-Herz/U. Oßwald, Kinderlose Ehen, in: R. Nave-Herz/M. Markefka (Hrsg.), Handbuch der Familien- und Jugendforschung, Bd. 1: Familienforschung, Frankfurt (Main) 1989, 375.

58 Siehe Ehebücher der Stadt Halle, hier Bd. 1, 1895, Eheschließungen Nr. 1 und 9.

59 Die Ehefrau hat nur in der Minderheit einen eigenen, berufsmäßig erworbenen Status. Berufstätigkeit im bürgerlichen Milieu ist nur eine marginale Erscheinung. Heine 1926, 68 f. beschreibt die zunehmende Akzeptanz des Lehrerinnenberufs im Bürgertum, für den Fall, unverheiratet zu bleiben. Sonst gibt es keine verlässlichen Statistiken zum Maß und zur Weiterarbeit der Frauen nach der Eheschließung. Mehrheitlich wird man angesichts der oft knappen finanziellen Mittel eine Privattätigkeit der Frauen annehmen können, um das Familienbudget aufzubessern, bspw. als Wirtschafterin, Näherin, Schneiderin, Botin.

60 Es konnte im Zuge der Recherche keine Durchführungsverordnung gefunden werden, nach der Scheidungen und Witwenschaft eines Ehemannes explizit erfasst oder nicht erfasst werden sollten. Es ist statistisch äußerst unwahrscheinlich, dass unter der großen Zahl an Bräutigamen 1895 keiner seine zweite oder dritte Ehe schloss. Es ist den Anregungen Prof. Dr. M. Hettlings zu verdanken, darin u. U. eine Folge des Namensrechtes zu sehen. Während die Ehefrau den Namen des Ehemannes zu führen hatte, blieb dieser für den Mann zeitlebens unverändert. In der Folge lässt sich deshalb leider nicht untersuchen, ob ein Mann geschieden oder verwitwet in die Ehe ging. Gleichfalls gibt es keinerlei Hinweise auf Kinder aus Vorehen beider Brautleute.; Nach Peter Becker fand sich bereits in den von ihm untersuchten Kirchenbüchern des 18. Jahrhunderts kein expliziter Hinweis auf Vorehen des Mannes, siehe P. Becker, Leben, Lieben, Sterben. Die Analyse von Kirchenbüchern, St. Katharinen 1989, 34.

61 Wenn nicht beide Brautleute in Halle ansässig waren, so zumeist die Braut.

62 Ob damit eine biologische Vaterschaft einhergeht, bleibt unklar. Interessant ist in diesem Zusammenhang sicherlich, in welchen sozialen Gruppen unehelich geborene Kinder vorkommen. Wenn die Geburtsdaten ehelich geborener Kinder notiert wurden, lässt sich der Konzeptionstermin errechnen. Damit ließen sich Einblicke in schichtenspezifisches Sexualverhalten und voreheliche Sexualmoral des Kaiserreichs verwirklichen. Problematisch ist allerdings die inkonsequente Buchführung in diesem Aspekt.

63 Siehe H. Zwahr, Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchungen über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution, Berlin 1978. Zwahr untersuchte Taufpatenschaft als Bestandteile sozialer Netzwerke.

64 In dieser Arbeit wird noch keine Statistik betrieben, das ist Gegenstand der Magisterarbeit.

65 Die Fragenbildung ist ein gesonderter Abschnitt dieser Arbeit. Wie aber aus der ersten, theoretischen Arbeit zur Thematik deutlich geworden sein dürfte, eignen sich Eheschließungen, um Interaktionsräume sozialer Gruppen zu untersuchen und damit auf Integration und Ausschließung, also auf Klassenbildungsprozesse zu rekurrieren und die Folgen auf die gesellschaftliche Entwicklung, insbesondere die soziale Mobilität, abzuschätzen.

66 Zum Beruf nachfolgend ausführlich. Zum Problem der Festlegung von Herkunft nur so viel: wenn ein Kind sehr früh in die Stadt kommt, wächst es in der Stadt auf und wird im urbanen Raum sozialisiert. Anders sozialisiert ist ein Dörfler, der des Arbeitsangebotes wegen im Erwachsenenalter in die Stadt zieht. Die Grundsätzliche Frage dahinter ist, wann jemand nicht mehr fremd sondern integriert ist. Als Konvention bietet sich an, den Geburts-ort als Herkunftsort anzunehmen, wenn die Eltern dort noch oder zuletzt wohnten. Den aktuellen Wohnort der Eltern (falls dieser nicht Halle und nicht der Geburtsort ist) als Herkunftsort festzulegen, ist problematisch, da nicht bekannt ist, wann die Eltern dorthin zogen. Ist der Geburtsort nicht mit dem Wohnort identisch, der Wohnort aber zugleich Wohnort der Eltern, kann man davon ausgehen, dass die Eltern mit dem noch nicht emanzipierten Kind dorthin zogen. Dann ist der Wohnort als Herkunftsort zu betrachten. Von Bedeutung ist diese Diskussion, wenn es darum geht, einzuschätzen, ob ein verwandtschaftliches Netzwerk vor Ort bestanden haben könnte, ob also Integration erleichtert war oder die Person völlig allein in die Fremde zog. Schwierig ist es auch, die Grenzen zwischen Nah- und Fernwanderung und den Grad der Aufrechterhaltung familialer Netzwerke abzuschätzen. – Ist ein Zuzügler aus dem Saalkreis wirklich ein Migrant? Ist ein Zuzügler aus der Provinz Sachsen ein Nahwanderer, einer aus dem Kgr. Sachsen jedoch ein Fernwanderer? Hier sind Konventionen nötig, wo man nicht Distanzen beliebiger Dörfer zur Stadt bestimmen möchte, bspw.: Provinzwanderung ist Nahwanderung, Wanderungen innerhalb des Regierungsbezirkes Merseburg werden überhaupt nicht als solche registriert (relative, urban geprägte Gleichförmigkeit der Region und unerhebliche Entfernungen dank Eisenbahn und Straßennetz; banal: jeder Umland-Bauer konnte bequem nach Halle gelangen und war dort schon öfters), alles jenseits der Provinzgrenzen ist Fernwanderung (ausschließlich Kgr. Sachsen/der thüringischen Staaten?).

67 Auch: Näherinnen, Wirtschafterinnen als Selbständige geführt, obwohl sie Arbeitertätigkeiten ausüben und im proletarischen Milieu anzusiedeln sind.

68 Hier im Sinne Webers: die Arbeiterschaft als Ganzes, das Kleinbürgertum, die besitzlose Intelligenz und Fach-geschultheit, die Klassen der Besitzenden und durch Besitz privilegierten. Nach M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriss der Soziolökonomik, 3. Abt., Tübingen 1922, 179

69 Entsprechende Durchführungsverordnungen zur Buchführung sind bei der Recherche nicht bekannt geworden.

70 Gleichfalls werden Angehörige des Handwerks meist als Geselle oder Meister bezeichnet. In einigen Fällen fehlt diese Zuordnung. Wie dann eine Zuordnung erfolgen kann, ist noch unklar. Zwar ist Handwerksmeister eine ähnliche breit streuende Kategorie wie Arbeiter oder Bürger, wenn man an die prekären, proletaroiden Massenhandwerke und die vergleichsweise saturierten Lebensmittelhandwerke denkt, jedoch sind auch das nur Verallgemeinerungen. Ob ein Schneidermeister wirklich ‚arm‘ oder Inhaber einer florierenden Schneiderei ist oder ob ein Schmiedemeister ernsthaft selbständig wirtschaftet oder nur im Dunstkreis der Zulieferarbeiten für größere Betriebe existieren kann, geht aus den Quellen nicht hervor. Es handelt sich um tendenziöse, aus der Forschungsliteratur abgeleitete Implikationen.

71 Deshalb auch hier der noch stark geraffte Überblick zur Stadtgeschichte.

72 H. Kaelble/R. Federspiel (Hrsg.), Soziale Mobilität in Berlin 1825-1957. Tabellen zur Mobilität, zu Heiratskreisen und zur Sozialstruktur, St. Katharinen 1990, V-VIII bemängeln, dass man mit diesen Quellen keine intra-generationale Mobilität fassen kann.

73 Vgl. allgemein H. Reif, Soziale Lage und Erfahrungen des alternden Fabrikarbeiters in der Schwerindustrie des westlichen Ruhrgebietes während der Hochindustrialisierung, Archiv für Sozialgeschichte 22.1982, 1-94. Und zu Berufswechseln im eigenen Milieu: D. Crew, Modernität und soziale Mobilität in einer deutschen Industriestadt. Bochum 1880-1901, in: H. Kaelble (Hrsg.), Geschichte der sozialen Mobilität seit der industriellen Revolution, Königstein/Ts. 1978, 159-185.

Ende der Leseprobe aus 40 Seiten

Details

Titel
Eheschließungen in Halle. Überlegungen zur Bearbeitung serieller Massendaten
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Institut für Geschichte)
Veranstaltung
Historische Familienforschung
Note
2,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
40
Katalognummer
V301503
ISBN (eBook)
9783956872150
ISBN (Buch)
9783668003507
Dateigröße
741 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
eheschließungen, halle, überlegungen, bearbeitung, massendaten
Arbeit zitieren
Benjamin Nowak (Autor:in), 2011, Eheschließungen in Halle. Überlegungen zur Bearbeitung serieller Massendaten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/301503

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