Nationalbewegung in Mittelhessen. Bedeutung und Funktion des Turnens und der Turnlieder bei den Giessener Schwarzen


Epreuve d'examen, 2010

133 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Bedeutung und Funktion des Turnens und der Turnlieder bei den „Giessener Schwarzen“

1. Einleitung
1.1 Fragestellung
1.2 Aufbau der Arbeit
1.3 Forschungsstand und Literatur

Teil I: Epochenprofil: Das „lange“ 19. Jahrhundert Voraussetzungen und Bedingungen für die Turn/Nationalbewegung in Deutschland

2. Historische Entwicklungen im 19. Jahrhundert
2.1 Die Französische Revolution und ihre Bedeutung für Deutschland
2.1.1 Der Reichsdeputationsbeschluss
2.1.2 Die Rheinbundakte
2.1.3 Der Friede von Tilsit und die Folgen für Preußen
2.1.4 Die Befreiungskriege- Erhebung der Völker gegen Napoleon
2.2 Der Wiener Kongress- Neuordnung Europas
2.2.1 Der Deutsche Bund
2.3 Hessen zu Beginn des 19. Jahrhunderts
2.3.1 Das Herzogtum Hessen-Darmstadt

3. Exkurs: Nationalismus
3.1 Begriffsbestimmung
3.1.1 Entstehung und Entwicklung des Nationalismus in Deutschland
3.1.2 Die Trägerschicht des Nationalismus in Deutschland
3.2 Das nationale Programm von Friedrich Ludwig Jahn

4. Zwischenfazit zu Teil I

Teil II: Die Entwicklung der Turn- und Burschenschaftsbewegung

5. Die Universität im 19. Jahrhundert
5.1 Studentische Zusammenschlüsse: Landsmannschaften, Orden und Burschenschaften
5.1.1 Die Entstehung der Urburschenschaften
5.1.1.1 Die Jenaer Urburschenschaft
5.2 Das Wartburgfest: Einheitsbestrebungen der Urburschenschaften
5.2.1 Einladung und Ablauf des Wartburgfestes
5.2.2 Bücherverbrennung auf dem Wartburgfest
5.2.3 Reformen und Beschlüsse
5.2.4 Unmittelbare Auswirkungen: Die Karlsbader Beschlüsse

6. Exkurs: Burschenschaft und Turnen
6.1 Kleine Geschichte des Turnens
6.2 Der Beginn der Turnbewegung Hasenheide
6.3 Burschenturner

7. Zwischenfazit Teil II

Teil III: Turn- und Burschenschaftsbewegung in Giessen Funktion und Bedeutung von Turnliedern und Turnen bei den „Gießener Schwarzen“

8. Die Landesuniversität Gießen im 19. Jahrhundert
8.1 Studentische Zusammenschlüsse in Gießen

9. Die „Gießener Schwarzen“
9.1 Karl Follen: Biografie und Persönlichkeit
9.2 Organisationsgeschichte der „Gießener Schwarzen“
9.3 Politische Zielsetzung der „Gießener Schwarzen“
9.3.1 Der „Gießener Ehrenspiegel“
9.3.2 Die „Grundzüge einer zukünftigen
9.3.3 teutschen Reichsverfassung“

10. Funktion des Turnens und der Turnlieder bei die „Gießener Schwarzen“
10.1 Geschichte der Leibesübungen an der Universität Gießen
10.2 Die Funktion des Turnens
10.3 Turnlieder und Dichtung der „Gießener Schwarzen“
10.3.1 Das Glaubensbekenntnis der „Unbedingten“: Das „Große Lied“
10.3.1.1 Aufbau und Inhalt
10.3.2 Das Liederbuch der „Unbedingten“: „Freye Stimmen frischer Jugend“
10.3.2.1 „Turnerstaat“
10.3.2.2 „ Des Strommannes Frühlingsgruß“
10.4 Zusammenfassung: Funktionen der Turnlieder

11. Zusammenfassung und Fazit

12. Abbildungsverzeichnis

13. Literaturverzeichnis

14. Internetquellen

1. Einleitung

1.1 Fragestellung

Brüder, so kann’s nicht gehn,

Laßt uns zusammenstehn,

Düldet’s nicht mehr!

Jeder am Bettelstab,

Beißt bald ins Hungergrab;

Volk ins Gewehr!

(zitiert nach Wit, 1830, S.434f. )

Der besagte Vers ist einer von 473 Versen des „Großen Liedes“, welches hauptsächlich von Karl Follen, dem führenden Mitglied der „Gießener Schwarzen“, verfasst worden ist. Schon die wenigen Zeilen lassen die radikalen Forderungen von Karl Follen und den „Unbedingten“, dem engsten Kreis der „Gießener Schwarzen“, erkennen. Die Gruppierung um Karl Follen ist in der Zeit zwischen 1814-1819 aktiv. Follen, der Freiwilliger im Krieg gegen Napoleon ist, avanciert zu einem einflussreichen Vertreter der studentischen Reformbewegung, dessen Methoden zur Durchsetzung seiner politischen Ziele als durchaus radikal bezeichnet werden können. Grundlage für seine politischen Zielsetzungen ist zum einen das Gemeinschaftsgefühl der kriegsfreiwilligen Studenten, die im realen Leben durch die territoriale Zersplitterung Deutschlands nicht existiert. Die Studenten kämpfen für Einheit und Vaterland, Standesunterschiede und Konflikte innerhalb der studentischen Kämpfer sind durch das gemeinsame Kriegserlebnis und den Kampf für ein deutsches, geeintes Vaterland nichtig geworden. Mit diesen neuen Erfahrungen und der Hoffnung auf positive Beschlüsse in territorialen Fragen auf dem Wiener Kongress 1815 kehren vielen Burschen in die Vorlesungssäle ihrer Universitäten zurück.

Karl Follen, national-patriotische Publizisten, sowie viele Burschen, die ihr Leben für den Wunsch einer geeinten Nation im Krieg gegen Napoleon riskiert haben, sind maßlos enttäuscht über die Ergebnisse aus Wien.

Aus der nationalen Enttäuschung, aber auch aus dem Wunsch heraus das studentische Leben zu reformieren, finden sich in Gießen wie auch in anderen deutschen Universitätsstädten verschiedene studentische Zusammenschlüsse zusammen.

In Gießen sind es maßgeblich die Gebrüder Follen, die zunächst in einer deutschen Gesellschaft nach dem Vorbild Arndts Studenten um sich sammeln. Durch Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Landsmannschaften werden Zusammenschlüsse von Studenten des Öfteren behördlich untersagt. Der Kern der „Gießener Schwarzen“, wie Karl Follen und seine Anhänger durch das Tragen der Altdeutschen Tracht genannt werden, bleibt aber im Kern bestehen und arbeitet teilweise auch im Geheimen weiter. Die Kerntruppe um Karl Follen wird „die Unbedingten“ genannt und kann als geistige Elite bezeichnet werden.

Interessant ist die Persönlichkeit Karl Follens auch dahingehend, dass sich sein Wirken auf zwei Bereiche stützt. Einerseits setzt er sich theoretisch durch Schriften und Aufsätze, aber auch durch religiöse Ansätze und Überzeugungen mit seiner Vorstellung von seinem deutschen Vaterland auseinander. Aber auch praktisch, durch das Turnen, versucht er die vaterländische Gesinnung, Sittlichkeit und Freiheit, zunächst bei den Studenten später auch bei den Gießener Bürgern heraufzubeschwören.

Im Folgendem soll gezeigt werden, dass die Reformbewegung sowohl Burschenschafter als auch Turner, die oftmals Studenten sind, an vielen deutschen Universitäten erfassten und bewegten, dass sich die Zielsetzungen und die Forderungen aber erheblich unterscheiden. Auch hier wird zu zeigen sein, dass die „Gießener Schwarzen“ eine Sonderrolle einnehmen, da ihre Forderungen weit über die Ziele der meisten Burschenschaften hinausragen.

Wie durch den eingangs beschriebenen Vers des „Großen Liedes“ wird die Radikalität und die Intensität des Kampfes für das Vaterland und die Einheit Deutschlands deutlich, die ihn zu einer umstrittenen Persönlichkeit in der Geschichtswissenschaft macht. Einerseits wird er als Fanatiker beschrieben, der antisemitische Tendenzen aufweist und auch vor einem politischen Mord nicht zurückschreckt. Einige Historiker bringen seinen Namen mit dem Mord des russischen Botschafters und Dichters Kotzebues in Verbindung, der von dem Studenten Sand, der auch mit Follen in Kontakt steht, erstochen wurde.

Andererseits loben andere Historiker Follens fortschrittliche demokratische Elemente und Überzeugungen, die im „Gießener Ehrenspiegel“ und auch in den „Gießener Grundzügen einer zukünftigen deutschen Verfassung“ ausführlich dargelegt werden.

1.2 Aufbau der Arbeit

Die Gliederung der Arbeit sieht vor, dass zunächst ein allgemeiner Überblick über historische Ereignisse und Entwicklungen aufgezeigt werden, die für das Thema bedeutsam sind. Einer Betrachtung im Großen folgt dann die exemplarische Sicht auf den Verlauf der Dinge in Gießen.

Es gilt die Vorbedingungen des „langen“ 19. Jahrhunderts zu klären, die verantwortlich für diese radikalen Parolen sind. Weiter muss gefragt werden, wer genau die „Gießener Schwarzen“ sind, welche Ziele sie verfolgen und wen sie mit dem Turnen, Turnliedern und den Gedichten ansprechen wollen.

Mit dieser Arbeit soll gezeigt werden, inwiefern Karl Follen und die „Gießener Schwarzen“ Turnlieder und das Turnen zur Zeit der Turn- und Nationalbewegung genutzt haben, um ihre politischen Zielsetzungen und Vorstellungen von einem geeinten Deutschland zu erreichen.

Es erscheint sinnvoll zunächst einen Blick über die Grenzen des Deutschen Reiches im 19. Jahrhundert zu richten. Denn hier liegen die Ursachen für die Forderungen der „Gießener Schwarzen“, Burschenschaften, national gesinnten Dichtern und Denkern aus dem Bürgertum und vieler turnerischer Gruppen begründet. Durch die Erstellung eines „Epochenprofils“ des „langen“ 19. Jahrhunderts sollen daher zunächst die großen Umbrüche in der Zeit der Französischen Revolution und deren Einflüsse auf Europa und speziell auf das Deutsche Reich beschrieben werden. Da die „ Gießener Schwarzen“ vornehmlich in Hessen aktiv sind, natürlich auch über die Grenzen Hessens hinaus, scheint es sinnvoll, sich die speziellen Gegebenheiten und den politischen Hintergrund in Hessen anzuschauen. In Hessen, auch in Gießen, sind napoleonische Truppen stationiert, sodass die Fremdherrschaft besonders spürbar ist. Dies ist auch ein Grund, warum Gießener Bürger und Studenten besonders für nationale Ideen zu begeistern sind.

In dieser Arbeit muss auf Grund des historischen Hintergrunds und der politischen Ereignisse geklärt werden, was Menschen jener Zeit unter dem Begriff „Nation“ verstehen. Warum entsteht das Bewusstsein für die Nation in Deutschland zu dieser Zeit und welches nationale Verständnis von Deutschland haben die Menschen in jener Zeit. Man darf bei der Aufarbeitung nicht vergessen, dass während der aktiven Zeit der „Gießener Schwarzen“ von keinem Gesamtdeutschen Reich die Rede sein kann.

Teil II. dieser Arbeit soll die Geschichte der Urburschenschaften und der daraus entstehenden Burschenschaften an den deutschen Universtäten beleuchten. Neben den Dichtern und Intelektuellen, die sich während der Freiheitskriege für ein deutsches Vaterland ausgesprochen haben, sind es vor allem die Studenten, die zunächst im kleinen Rahmen der Universität die Einheit der Burschen anstreben, um später im Großen für einen deutschen Staat einzutreten. Viele Studenten haben aktiv in den Befreiungskriegen gegen Napoleon gekämpft und sind verbittert und enttäuscht in die Hörsäle der Universitäten zurückgekehrt. Denn das künstliche Gebilde des Deutschen Bundes stellt für sie keine Lösung der nationalen Frage dar. Durch die Gründung von Landsmannschaften und Burschenschaften wollen sie das kommende, das wirklich geeinte Vaterland vorwegnehmen und vorleben. Die „Gießener Schwarzen“ lassen sich ebenfalls in diese Tradition einordnen, da Gründungsmitglieder und Professoren der Universität Gießen gegen Napoleon in den Krieg gezogen sind. Neben der Beschreibung der Burschengeschichte soll im Exkurs von Teil II. auch eine Verknüpfung von Turnen und Burschenschaftsgeschichte erfolgen, da viele Studenten aktive Turner sind. Durch Jahn entsteht eine politische Bewegung, die große Teile der Studentenschaft erfasst. Auch die Studenten aus Gießen und die „Gießener Schwarzen“ betreiben Turnübungen und verfolgen damit spezifische Ziele, die im Verlauf der Arbeit aufgezeigt werden. Neben Turnübungen spielen Turnlieder eine große Rolle. Auch hier sollen später ausgewählte Texte näher betrachtet und interpretiert werden.

Nachdem in Teil I und Teil II die Vorbedingungen aus historischer und gesellschaftspolitischer Sicht für Forderungen und Reformbestrebungen der Studenten beschrieben wurden, befasst sich Teil III. der Arbeit mit der Gruppe der „Gießener Schwarzen“. Zunächst soll die Strukturgeschichte der Gruppe und die herausragende Führungspersönlichkeit der Gruppe, Karl Follen, beschrieben werden.

Auch die „Gießener Schwarzen“ sind aus einer Burschenschaft entstanden. Viele der Mitglieder, so auch die Gründer Karl und August Follen, waren Teilnehmer an den Befreiungskriegen und unzufrieden mit der politischen Gesamtsituation in Deutschland. Neben dem Ziel eines geeinten Deutschlands sollen weitere Ziele der „Gießener Schwarzen“ aufgezeigt werden, die unter anderem die Forderung nach einer Verfassung beinhaltet, die die Freiheitsrecht des Einzelnen und die Mitwirkung des Volkes am politischen Geschehen umfasst.

Nachdem die politischen Zielsetzungen der Gruppe um Karl Follen erläutert worden sind, soll die Umsetzung im Mittelpunkt stehen. Einerseits soll hier das Turnen betrachtet werden, aber auch die Einflussnahme durch Turnlieder dargestellt werden.

1.3 Forschungsstand und Literatur

Norbert Gissel (1995, S. 45) beschreibt den Forschungsstand der frühen Turngeschichte als „äußerst defizitär“. Als Gründe führt er zum einen die Schwerpunktsetzung auf die Person Friedrich Ludwig Jahns auf, ein Name, der mit der Turnbewegung unweigerlich und hauptsächlich verbunden ist.

Dem Umfeld von Jahn wird kaum Bedeutung zugemessen, auch eine Aufarbeitung der Persönlichkeit Jahns durch die allgemeine Geschichtswissenschaft hat in der Vergangenheit kaum stattgefunden, sodass einige „Zerrbilder“ von Friedrich Ludwig Jahn entstanden sind (ebenda, S. 46), die ihn als Nationalhelden darstellen und auch heute noch ein Geschichtsbild von Jahn entwerfen, dass übersteigert und unrealistisch erscheint.

Gissel (ebenda, S.51) sieht vor allem eine Überschätzung des Einflusses auf die Entwicklung der Burschenschaften. Die entworfene Burschenschaftsordnung Jahns von 1811 sei kein „originäres Gedankengut“ gewesen. Ideen bezüglich Reformbestrebungen des studentischen Lebens und studentischer Zusammenschlüsse seien schon früher von Fichte und auch schon kurzzeitig nach der Französischen Revolution an der Universität Jena nachweisbar gewesen.

Der Forschungsstand, der sich direkt auf die Gruppe der „Gießern Schwarzen“ bezieht, bewertet Gissel ebenfalls als unbefriedigend, obwohl aussagekräftige Quellen wie der „Ehrenspiegel“ oder der Verfassungsentwurf Aufschluss über die politischen Zielsetzungen geben könnten (ebenda, S. 51).

Gerade Karl Follen als führende Persönlichkeit der „Gießener Schwarzen“ wird sehr unterschiedlich von der Geschichtswissenschaft und verschiedenen Autoren bewertet. Ein besonderer Bruch zeichnet sich in der deutschen und amerikanischen Geschichtsschreibung ab. Mehring (2004) schreibt hierzu, dass die deutsche Geschichtsschreibung Follen die Rolle des radikalen Burschenschaftsführers aus Gießen zuschreibt, wohin gegen er in Amerika einen Beitrag zur Menschenrechtsdebatte maßgeblich prägte. Jedoch werden beide Wirkungsbereiche nur selten verknüpft.

Deutsche Historiker beschäftigen sich vornehmlich mit Follen, weil sie seinen vermeintlichen Einfluss auf Sand und dessen eventuelle Mittäterschaft am Meuchelmord von Kotzebue klären wollen. Eine biografische Annäherung an die Persönlichkeit Follens erfolgt durch Julia Wüst. Diese Abhandlung ist allerdings schon über 70 Jahre alt. Haupt (1907), Wüst (1937) und Pregizer (1912) versuchen eine Rekonstruktion von Follens Leben, gehen hierbei aber nur auf seine Zeit in Deutschland ein, sodass die Rekonstruktion unvollständig ist. Gissel merkt kritisch an, dass viele Beiträge zu der Strukturgeschichte und den politischen Zielsetzungen der „Gießener Schwarzen“ auf detaillierte Quellenarbeit verzichten. Dies sei bei Wüst und Pregizer der Fall, die sich in ihren Aussagen hauptsächlich auf Haupt (1907) verließen. Diese haben in seiner Abhandlung akribisch alle vorhanden Quellen aufgearbeitet, sodass seiner Erläuterung zur Strukturgeschichte bedenkenlos gefolgt werden könne (Gissel, 1995, S. 52). Allerdings dürften die Bewertung der politischen Handlung der „Gießener Schwarzen“, vorgenommen durch Haupt, nicht ohne weiteres übernommen werden. Seine Bewertungen sind geprägt durch „politisch-ideologische Vorstellungen, die als extrem nationalistisch und monarchistisch charakterisiert werden können“ (ebenda, S. 52).

Von engen Vertrauten sind ebenfalls Überlieferungen zu Karl Follens Überzeugungen und Einschätzungen zur Person vorhanden. Hier sind vor allem Berichte der Zeitzeugen Witt, Sartorius und Münch zu nennen. Bei diesen Zeitzeugenberichten muss beachtet werden, dass diese ihre Erinnerungen mit zeitlicher Verzögerung von mehreren Jahren verfasst haben, sodass sich fehlerhafte Erinnerungen eingeschlichen haben könnten, oder sich Gefühle zum damaligen Geschehen verändert haben könnten. Gissel folgert, dass somit keine geschichtswissenschaftlich fundierten Darstellungen der „Gießener Schwarzen“ vorliegen würden (ebenda, S. 53).

Teil I: Epochenprofil des „langen 19. Jahrhunderts“ -Voraussetzungen und Bedingungen für die Turn/Nationalbewegung in Deutschland

2. Historische Entwicklungen im 19. Jahrhundert

Das 19. Jahrhundert wird von vielen Historikern als das „lange 19. Jahrhundert“ bezeichnet. Weiter kann man häufig Überschriften finden, die dem 19. Jahrhundert den Beinamen „Zeitalter der Revolutionen“ und der großen Umstürze geben. Aber auch der Begriff Restauration, der eigentlich im Gegensatz zum Begriff Revolution gebraucht wird, wird mit dem 19. Jahrhundert in Verbindung gebracht. Mit dem zusätzlichen Adjektiv „lang“ soll verdeutlicht werden, dass eine neue Epoche nicht beginnt, wenn sich zwei Nullen zeigen, sondern durch historische Einschnitte und Veränderungen markiert wird, die „kollektive Schicksale sozialer Großgruppen“ (Bauer, 2004, S.9) betreffen. Im Fall des „langen“ 19. Jahrhundert stellt für den Beginn der Epoche der Ausbruch der Französischen Revolution 1789 eine solches Großereignis dar. Die Französische Revolution kann als Komplex von weitreichenden Ereignissen gesehen werden, die über Frankreich hinaus auf ganz Europa einwirkt. Selbstverständlich ist dieses Datum nicht punktuell zu verstehen, sondern als ein Komplex von Ereignissen, die über einen lang andauernden Prozess insgesamt betrachtet einen Wendepunkt markieren. Thomas Nipperdey (1991, S.11) stellt im Bezug auf die weitreichenden Ergebnisse dieser Revolution fest, „dass die Grundprinzipien der Modernen Welt mit der französischen Revolution ins Leben getreten sind“, auch wenn sie in Deutschland bewusst erst durch die Fremdherrschaft Napoleons und dem damit verbundenen Umsturz der Alten Ordnung wahrgenommen werden.

Neue Leitideen und Schlagwörter wie Volksouveränität, Nation oder der Wunsch nach Verfassungen, sind Begriffe, die neu auftreten und von Frankreich in andere europäische Länder „überschwappen“. Zum Teil stehen die Ideen aus Frankreich auch im weltgeschichtlichen Zusammenhang (Bauer, 2004, S.13).

Das 19. Jahrhundert trägt den Beinamen „Zeitalter der Revolutionen“. Neben der Französischen Revolution wirken noch weitere aus das gesellschaftliche und politische Leben der Menschen im 19. Jahrhundert ein. Die Amerikanische Revolution im Kampf um Unabhängigkeit gegen England und die daraus folgende Verfassung mit demokratischen Grundrechten führt zur Emanzipation und dem Bedürfnis nach Freiheit des Einzelnen. Neben den politischen Umwälzungen laufen besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch Modernisierungsprozesse im wirtschaftlichen Sektor an, die unter dem Namen „Industrielle Revolution“ bekannt sind (Vgl. Dann, 1994, S.4)

Der Begriff ist verknüpft mit tiefgreifenden Veränderungen der Lebensverhältnisse, die mit zeitlicher Verschiebung von England aus Europa und Nordamerika durchdringen. Auf vielseitige Weise beeinflusst die Doppelrevolution die Entwicklung in Deutschland: „Im wirtschaftlichen Bereich regte das Vorbild der Industriellen Revolution in England zu Neuerung an. Auf politischer und geistiger Ebene machte sich der Einfluss des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges[1] und, stärker noch, der Französischen Revolution bemerkbar.“ (Berding/Ullmann, 1980, S.11). Die Industrialisierung ist gekennzeichnet durch den Einsatz von neuen Techniken und Maschinen, die massenhafte Nutzung von Eisen und Steinkohle, die Entstehung eines Fabriksystems und die Lohnarbeit. Alle Typen von Revolutionen, politisch/gesellschaftlich oder wirtschaftlich, verlaufen parallel und leiten den Übergang in die moderne Welt ein.

2.1 Die Französische Revolution und ihre Bedeutung für Deutschland

Die Ideen der Französischen Revolution verbreiten sich durch die Revolutionskriege über die Grenzen Frankreichs hinaus in weite Teile Europas. Die europäischen Ländern und deren gesellschaftliches und politisches Ordnungssystem sehen sich mit einer neuen Herrschaftsordnung konfrontiert, die nicht mehr auf dem bekannten ständischen System beruht und so ihre alte Ordnung bedroht. Eine Revolution, hervorgerufen durch Revolutionskriege und die Fremdherrschaft Napoleons, bleibt in Deutschland allerdings aus und kann durch Reformen abgewendet werden. Modernisierungsprozesse vollziehen sich aber auch in Deutschland auf allen Ebenen: Sowohl die Gesellschaft, die sich von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft entwickelt, sowie die Verfassungen der europäischen Länder und auch die Wirtschaft der europäischen Länder, die von einer weitgehend agrarisch geprägten Subsistenz eine Wandlung zur industriellen Marktwirtschaft durchläuft, verändern sich grundlegend.

Durch die Fremdherrschaft Napoleons werden neue Ideen und Entwicklungen auch nach Deutschland, zunächst in süddeutsche Herrschaftsgebiete exportiert (Langwiesche, 2000, S.2) und führen im weiteren zu einer Umformung der deutschen Staatenwelt und zum Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nationen, welches seit dem 10. Jahrhundert durch die Dynastie der Ottonen Bestand hat.

In den Anfangsjahren des 19. Jahrhunderts zeigen sich in Deutschland die Ausläufe der französischen Revolution. Es ist die Zeit, in der Napoleon immer mehr Einfluss und Macht in Deutschland gewinnt. In diesem Zeitraum liegt durch zahlreiche kriegerische Auseinandersetzungen (Koalitionskriege) zwischen Napoleons Frankreich und Deutschland begründet.

Nach der Schreckensherrschaft von Robespierre tritt ein Mann auf die politische Bühne Frankreichs, der seine Karriere der Revolution verdankt: Napoleon Bonaparte. Dieser lässt sich nach altrömischem Vorbild zum ersten Konsul auf Lebenszeit ernennen und soll die Hoffnung des Volkes nach Ruhe und innerer Ordnung erfüllen. Doch die Machtposition als Konsul reicht Napoleon nicht aus. 1804 lässt er ein erbliches Kaisertum durch Volksentscheid errichten und nimmt somit bewusst die daraus resultierende Provokation von anderen europäischen Staaten in Kauf (Vgl. Hein-Mooren, Hirschfelder u.a, 2005, S. 52 ff.).

2.1.1 Der Reichsdeputationsbeschluss

Der Umsturz, welcher durch die Revolution in Frankreich hervorgerufen wird und mit dem Ende der alten Ordnung einhergeht, wird dem Deutschen Reich erst durch die Fremdherrschaft und die Revolutionskriege bewusst.

Die Herrschaft Napoleons muss eine Bedrohung und Provokation für die europäischen Staaten darstellen. Napoleon ist sich dessen bewusst und ist daher bestrebt die Staaten Europas in seine Abhängigkeit zu bringen. Anlass hierfür bietet der Ausbruch des 2. Koalitionskrieges (1799-1802) den Frankreich gegen England, Russland, Österreich, Portugal und die Türkei führt. Preußen bleibt zunächst noch neutral. Napoleons Truppen siegen und sichern sich im Frieden von Lunéville die eroberten Gebiete. Die Umwälzung erfasst auch Deutschland, das durch den Frieden von Lunéville alle Gebiete links der Rheins abtreten muss.

In Folge des Reichsdeputationsbeschluss wird die deutsche Landkarte auf Grund von Mediatisierung und Säkularisierung grundlegend verändert. In diesen Prozess werden „fast alle geistlichen, reichsstädtischen und reichsritterschaftlichen Gebiete sowie die kleineren Fürstentümer […] im Reichsdeputationsbeschluss und 1805/1806 nach dem Frieden von Preußburg den größeren weltlichen Staaten zugeteilt (Fehrenbach, 2001, S.71). “ Folge der territorialen Veränderungen sind zum einen die sinkende Zahl der reichsunmittelbaren Staaten und die Auflösung der Zersplitterung der deutschen Staatenwelt.

Der unmittelbare Anlass ergibt sich aus der französischen Eroberung der linksrheinischen Gebiete. Um die deutschen Reichsfürsten für ihre Verluste auf linksrheinischer Seite zu entschädigen, werden ihnen durch den Reichsdeputationsbeschluss vom 25. Februar 1803 rechtsrheinische Herrschaftsgebiete übertragen. In dem Reichsdeputationsbeschluss heißt es, dass „im Namen des deutschen Reiches […] die Ueberlassung der Lande der linken Rheinseite nicht nur gewilliget, sondern auch wegen des dadurch auf solcher Rheinseite entstehenden Verlustes die Grundlage der Entschädigung durch Säcularisationen angenommen […]“ (Zeumer, 1913, S. 509) worden ist.

Insgesamt werden auf rechtsrheinischer Seite zwei Kurfürstentümer, neunzehn Bistümer und vierundvierzig Abteien aufgelöst und an andere Herrschaftsgebiete angegliedert. Neben der Säkularisierung tritt auch die Mediatisierung von Herrschaftsgebieten in den Vordergrund. Dies bedeutet, dass kleinere weltliche Herrschaftsgebiete, wie unabhängige Reichsstädte, ihre Unmittelbarkeit verlieren und sich der Landeshoheit eines anderen Reichstandes unterwerfen müssen. Durch den Reichsdeputationsbeschluss bleiben von einst über 300 selbstständigen Reichsständen nur noch 41 Herrschaftsgebiete übrig. Resultat des Beschlusses ist die Entmachtung der Stützen des Kaisers, nämlich der Kirchen und Reichsstädten (Vgl. Fehrenbach, 2001, S. 71).

Stattdessen formieren sich neue größere, lebensfähige Mittelstaaten, die an Selbstständigkeit und Macht hinzu gewinnen. Gewinner des Reichsdeputationsbeschluss sind Preußen und die süddeutschen Mittelstaaten wie Baden, Württemberg, Bayern und Hessen-Darmstadt (Nipperdey, 1991, S.12). Oftmals sind die Entschädigungen in Form von rechtsrheinischen Gebieten, die ihnen durch den Beschluss zugesichert werden, um ein vielfaches Größer als die verlorenen linksrheinischen Gebiete (ebenda, 1991, S.11). Napoleon stattet Preußen mit mächtigen Gebietsgewinnen aus, um ein Gegengewicht zu Österreich aufzubauen. Kleinere Mittelstaaten sollen mächtige Verbündete für Frankreich sein, aber eine gewisse Größe nicht überschreiten um ohne die Hilfe Frankreichs machtpolitisch nicht handlungsfähig zu sein. Der Reichsdeputationsbeschluss leitet erste Auflösungserscheinungen des alten Reichs ein. Denn das deutsche Reich verliert seine Machtstützen, den Reichsadel und die Reichskirche, die als Garanten für die Kontinuität des Reiches angesehen werden können. Gleichzeitig ist es Napoleon gelungen, die durch den Reichsdeputationsbeschluss vergrößerten Mittelstaaten, an Frankreich zu binden (Vgl. Hein-Mooren/Hirschfelder u.a, 2005, S. 60f.).

2.1.2 Die Rheinbundakte

Die politische Lage spitzt sich für das Heilige Römische Reich deutscher Nation durch den 3. Koalitionskrieg, den Napoleon gegen England, Österreich und Russland führt, erneut zu. In der Drei- Kaiser-Schlacht von Austerlitz vernichtet das Heer von Napoleon die österreichischen und russischen Truppen und zwingt Österreich einen Diktatfrieden auf, der mit weiteren Gebietsverlusten für Österreich einhergeht. Die neu gebildeten Mittelstaaten Deutschlands stehen zwischen den Fronten. Sie wollen einerseits ihre neugewonnene Souveränität gegen den Habsburger Kaiser verteidigen, sind aber machtpolitisch auf Frankreich angewiesen. Schlussendlich wird das Ende des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation durch diesen Krieg besiegelt: Die Süddeutschen Staaten kämpfen auf französischer Seite gegen den Habsburger Kaiser.

Gestärkt durch den Sieg über Österreich und Russland wird schnell deutlich, dass die Machtexpansion Napoleons noch kein Ende gefunden hat und er die natürlichen Grenzen Frankreichs längst verlassen hat. Im Juli 1806 gelingt es Napoleon 16 Süd- und südwestdeutsche Staaten unter seinem Protektorat zu vereinen und so endgültig aus dem Reich herauszulösen (Vgl. Nipperdey, 1991, S.13). In der Rheinbundakte vom 12. Juli 1806 heißt es, dass „die im folgenden aufgeführten Staaten auf ewig von dem Territorium des deutschen Reichs getrennt werden […]“ und „ zwischen dem Kaiser der Franzosen und den Staaten des rheinischen Bundes, eine Allianz statt haben soll, Kraft welcher jeder Kontinentalkrieg, welchen einer der vertragsschließenden Teile zu führen hätte, für den anderen zur gemeinsamen Sache wird “ (Königliches-Baierisches Regierungsblatt, 1807, S.97 ff.).

Dieser Zusammenschluss ist als Rheinbund bekannt. Die darin angeschlossenen Staaten sind verpflichtet Napoleon im Kriegsfall Truppen bereitzustellen und für die Kosten der Truppen aufzukommen.

Nach der Gründung des Rheinbundes legt der Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation am 6. August 1806 die Kaiserkrone nieder und erklärt das Heilige Römische Reich deutscher Nation, nach fast 1000 jährigem Bestehen, als aufgelöst. Nipperdey (1991, S.14) schlussfolgert, dass das Reich dem extremen Machtdruck der französischen Revolutionsarmee nicht gewachsen ist, der Dualismus zwischen Österreich und Preußen eine zusätzliche Schwächung darstellte, die bereits vorhandende zersplitterte Herrschaftsorganisation der Reichskirche, des Reichsadels und der Reichsstädte die Existenz des Heiligen Römischen Reichs auf Dauer bedrohen müsse.

Um Homogenität in den neu geschaffenen Rheinbundstaaten zu schaffen, führt Napoleon umfangreiche Reformen in den Rheinbundstaaten durch, die dem französischen Verwaltungssystem entlehnt sind. Die Neuorganisation der Staaten nach innen wird rigoros durchgeführt und unterscheidet sich von der Art und Weise von den Preußischen Reformen, die harmonischer verlaufen und das politische System von innen heraus, also "organisch", modernisieren. Die Reformen sind in vielen Staaten umfassend. Neben der Reform des Verwaltungswesens und der Einführung der wichtigsten Prinzipien der Französischen Revolution, wie Gleichheit, Eigentumsrechte und dergleichen (allgemeine Grundrechte), reformiert man das Agrarwesen, das Bildungswesen, Wirtschaft, Steuer und Finanzen. Wirklichen Anklang finden die Reformen bei den Bürgern der Rheinbundstaaten nicht, da die Organisationsstruktur kaum Rücksicht auf bereits vorhandene Strukturen nimmt. Aber die Reformen bringen für die Rheinbundstaaten auch positive Errungenschaften mit sich: Die Bildungsreform führt zur Ausformung eine zuverlässigen Berufsbeamtentums, Finanzreformen führen zu einem Aufschwung im Handel und stärken das Kauf- und Handelsbürgertum (Vgl. Fehrenbach, 2001, 82ff.).

2.1.3 Der Friede von Tilsit und die Folgen für Preußen

Preußen unterhält seit der kriegerischen Auseinandersetzung mit dem revolutionären Frankreich von 1795, einen Sonderfrieden und hat sich seitdem auch aus kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und Europa herausgehalten. Da Preußen auf linksrheinische Besitzungen verzichtet, wird es durch Gebietsgewinne im Nordwesten in Folge des Reichsdeputationsbeschlusses entschädigt. Im wesentlichem will Preußen seine Neutralität waren und seinen Einflussbereich in Norddeutschland erhalten. Diese Ziele scheinen durch Napoleons Angebot an England, Hannover zurückzuerhalten, bedroht, sodass Preußen gegen Frankreich mobil macht. In der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 unterliegt Preußen den napoleonischen Armeen. Im Frieden von Tilsit verliert Preußen alle Gebiet westlich der Elbe und alle Neuerwerbungen, die aus der polnischen Teilung[2] hervorgegangen sind. Durch den Frieden von Tilsit (07. Juli 1807) wird das preußische Herrschaftsgebiet stark verkleinert und auseinandergerissen. Das Herrschaftsgebiet von Preußen umfasst nach dem Friedensschluss nur noch die Gebiete Ost- und Westpreußen ohne die Stadt Danzig, das Gebiet Brandenburg östlich der Elbe, sowie Pommern und Schlesien. Besonders die gebildeten Schichten, wie Verwaltungsbeamte, Staatsmänner und Gelehrte fühlen eine tiefe Demütigung, sodass sich die Idee einer Deutschen Nation und ein Nationalgefühl in den Köpfen dieser Menschen immer weiter verankert. Es wird ein Neuaufbau des Landes angestrebt, die Fremdherrschaft soll beendet werden (Vgl. Nipperdey, 1991, S. 32): „Sie wollten die neue Gesellschaft der Bürger und den neuen Staat schaffen, an die Stelle absolutistischer und feudaler Herrschaft sollten bürokratische Herrschaft treten, und nur in diesem Rahmen, wieder ein Element der Spannung, konnte es Teilhabe der Nation geben.“

Folgende Reformen werden, besonders durch die Reformbestrebungen des Ministers Karl Freiherr von Stein und später durch Karl August Fürst von Hardenberg, beschlossen:

In der Verwaltung des Staates werden erste Schritt hin zum konstitutionellen Königtum gegangen. Fünf Ministerien (für Inneres, Justiz, Finanzen, Auswärtiges und Krieg) ersetzen die nicht verantwortliche Kabinettsregierung. Auch für die Städteverwaltungen ergeben sich Neuerungen nach dem Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung. Die Größte Neuerung betrifft den Stand der Bauern. Durch die sogenannte Bauernbefreiung von 1807 wird das bäuerliche Erbuntertänigkeitsverhältnis beendet. Durch die Agrarreformen wird die persönliche Unfreiheit abgeschafft und den Bauern die Möglichkeit eröffnet, eigenes Land zu besitzen. Die Reformen werden zwar erst 1850 abgeschlossen, führen die Bauern aber in eine Position, in der sie zu einem gleichberechtigten Staatsbürger aufsteigen (vgl. Hein-Mooren, Hirschfelder u.a, 2005, S.75).

Mit den preußischen Reformen geht der Anspruch einher, die Menschen zu loyalen Bürgern gegenüber Nation und Vaterland zu erziehen. Für diese Erneuerung ist die Herausbildung einer neuen Gesinnung nötig, die in engem Zusammenhang mit Schulbildung, Erziehung, Wissenschaft und Verfassung steht.

Schlagworte wie Idealismus und Humanismus[3] sollen Grundsatz der neuen Erziehung sein.

2.1.4 Die Befreiungskriege - Erhebung der Völker gegen Napoleon

In vielen Teilen Deutschlands nimmt die Unzufriedenheit durch die Fremdherrschaft Napoleon zu. Besonders Preußen ist auf Grund der Besetzung durch französische Heere und hohe Reparationszahlungen unzufrieden mit der Situation und strebt durch ein neues Nationsgefühl und Reformen eine Änderung dieses Zustandes an.

Doch auch in den stark rheinbündisch geprägten Staaten Süddeutschlands und in Sachsen nimmt ab 1810 die Unzufriedenheit stark zu, die im wesentlichem zwei Ursachen hat: Die anhaltenden militärischen Konskriptionen und Blutopfer für Napoleons imperiale Kriege und zweitens den wirtschaftlichen Druck, der durch die Kontinentalsperre, aber auch das Bündnissystem insgesamt auf das rechtsrheinische Deutschland ausgeübt wird.

Aber auch andere europäische Staaten beginnen sich nach dem Spanischen Unabhängigkeitskrieg gegen Napoleon zu erheben. Die nationalen Erhebungen stützen sich auf kein einheitliches Programm, sondern sind getragen durch ein intensives aber ebenso auch diffuses Freiheitsverlangen der Völker. Dieses Freiheitsverlangen und der angestaute Hass gegen die französischen Besatzer vereinigt 1813 ein Großteil der deutschen Bevölkerung, auch wenn keine klaren politischen Zielvorstellungen oder Programme vorhanden sind: „Fürsten und Adlige, die Reformpartei und das Bildungsbürgertum, die konservativen Generäle, reguläre Armeen, Landwehr und Freikorps , Freiwillige aus allen Bevölkerungsschichten und Landesteilen, Handwerker, Bauern, Tagelöhner, Studenten und Akademiker und Kaufleute (Fehrenbach, 2001, S. 125)“.

Napoleon will seine Vormachtstellung in Europa 1812 durch einen Russlandfeldzug besiegeln, nachdem das geschlossene Bündnis mit Zar Alexander I. zerbrochen ist. Napoleon marschiert mit einer 700.000 Mann starken Armee, Truppenkontingente müssen von 20 Nationen gestellt werden, Richtung russischer Grenze. Ihm gelingt der Vorstoß bis nach Moskau, wo er die Stadt niederbrennt. Die Wende tritt mit dem Wintereinbruch ein, der die napoleonischen Truppen zum Rückzug zwingt und hohe Verluste, von bis zu 96 %, fordert. Napoleon kehrt geschlagen nach Frankreich zurück. Russland und Preußen organisieren hingegen die Befreiungskriege, die Europa von der Hegemonialmacht Frankreich endgültig befreien sollen (Vgl. Müller, 2003, S.144). In einer Konvention mit Preußen erhält der russische Zar das Einverständnis, zunächst noch gegen den Willen des Königs, die Ländergrenzen von Preußen mit seinen Truppen zu durchqueren, um gegen die französischen Armeen in den Krieg zu ziehen. Unter dem Druck des erstarkten preußischen Bürgertums und des Adels erklärt die preußische Regierung Frankreich den Krieg und weckt erste nationale Hoffnungen im Volk. Österreich tritt neben Preußen und Russland erst in den Krieg ein, nachdem beide Staaten die Ziele von Metternich, dem österreichischen Außenminister anerkennen: Die Wiederherstellung des alten Gleichgewichts.

Die napoleonischen Armeen können schließlich in der Vielvölkerschlacht von Leipzig im Oktober 1813 geschlagen werden. Russland, Preußen und Österreich kämpften mit ihren Verbündeten England und Schweden erfolgreich gegen Napoleon und die meisten Rheinbundstaaten. Nachdem viele Armeen des Rheinbundes große Verluste zu beklagen haben und eine Niederlage Napoleons absehbar ist, wechseln nach und nach die Rheinbundstaaten auf die Seite der Alliierten. Bayern ist der erste Staat, der einen Bündniswechsel vollzieht, aus dem Rheinbund austritt und die Wende im Krieg einleitet.

2.2 Der Wiener Kongress- Neuordnung Europas

Nachdem der napoleonischen Hegemonialpolitik durch die Vielvölkerschlacht bei Leipzig ein Ende bereitet werden konnte, treffen sich Vertreter von England, Preußen, Österreich und Russland in Wien, um die Grundlagen einer europäischen Friedensordnung zu verabschieden (Langewiesche, 2000, S.6). Auch Vertreter von Frankreich, das nach der Verbannung Napoleons auf die Insel Elba, wieder vom Königshaus der Bourbonen regiert wird, sind anwesend.

Die Beschlüsse, die auf dem Wiener Kongress gefasst werden, werden häufig mit dem Leitbegriff „Restauration“ umschrieben. Neben dem Gleichgewicht der europäischen Mächte wollen viele anwesende Politiker ein festes monarchisches System installieren und alte Staatsgrenzen wiederherstellen.

Die getroffenen Vereinbarungen über neue Besitzrechte und internationale Beziehungen bewähren sich über ein Jahrhundert, „indem gemessen an vergangenen Jahrhunderten, die Kriege in Europa seltener wurden, die Bürgerkriege dagegen zunahmen und die Revolutionen keine Ende nahmen“ (Bergeron, Furet, Koselleck u.a., 2000, S.202). Auf dem Wiener Kongress wird eine Neuordnung der europäischen Staatenwelt durch die drei folgenden Prinzipien festgelegt: Restauration, Solidarität und Legitimität. Mit dem Begriff Restauration ist gemeint, dass ein „wahrer“ Souverän, welcher nur durch einen Monarchen repräsentiert werden kann, eingesetzt werden soll, da Volkssouveränität, wie sie die Französische Revolution propagierte, nicht zu innerer Stabilität führen könne. Durch das Prinzip der Legitimität wird einerseits die Staatsgewalt rechtmäßig anerkannt, aber auch Staaten, „(die) sich durchgesetzt hatten und von den Siegern im Vertragswerk von 1815 völkerrechtlich anerkannt wurden“ (Langewiesche, 2000, S.9).

Gerade die Legitimität von Staaten, die aus der napoleonischen Fremdherrschaft, also aus der Revolution herausgegangen sind, sprechen gegen die restaurativen Ziele der Siegermächte aus.

Fürst Metternich, der österreichische Außenminister, der den Kongress leitet, sieht den Grund für Revolutionen in dem Unvermögen der jeweiligen Regierungen begründet, sodass er in der Solidarität der europäischen Monarchien ein Instrument gegen innere und äußere Gefährdungen sieht. Nipperdey (1991, S.88) schreibt hierzu, dass man eine Ordnung des Gleichgewichts wollte, „[…] eine Ordnung, die nicht auf Freiheit und Selbstbestimmung der Völker, sondern auf der Legitimität von Staaten und Dynastien, beruhte.“

2.2.1 Der Deutsche Bund

Für Deutschland wird auf dem Wiener Kongress sowohl eine Entscheidung bezüglich der Neuordnung der Territorien, als auch eine Reglung der deutschen Verfassungsfrage getroffen. Metternich lehnt für Deutschland einen Nationalstaat ab, da er durch ein zu starkes, geeintes Deutschland das Gleichgewicht der europäischen Mächte in Gefahr sieht (Vgl. Hein-Mooren, Hirschfelder u.a., 2005, S.83).

Auf dem Wiener Kongress wird neben territorialen Fragen auch eine Lösung der deutschen Verfassungsfrage angestrebt. Um ein Gleichgewicht der Staaten, besonders Frankreichs und Russlands herzustellen, soll Mitteleuropa als „Pufferzone“ dienen und zugleich eine eigene Ausbreitung zur Hegemonialmacht ausschließen. Unterstützung erhält Metternich von den Mittelstaaten, die Eigenständigkeit erkämpft haben, diese auch beibehalten und sich unter keinen Umständen einer neuen Zentralgewalt beugen wollen.

Die gefassten Beschlüsse mit der Beschränkung auf die Bildung eines Staatenbundes ohne gemeinsames Staatsoberhaupt, ohne einheitliche Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung und kein einheitliches Heereswesen, entspricht in keinem Fall den nationalen Erwartungen und Hoffnungen der deutschen Bürger.

Durch die erstarkten Mittelstaaten werden die Hoffnungen der nationalen Kräfte enttäuscht, denn ein gesamtdeutsches Reich mit gemeinsamer Verfassung rückt hierdurch in weite Ferne. Nach zähen Verhandlungen können sich die europäischen Staatsmänner bezüglich der Verfassungsfrage in Deutschland auf einen „locker gefügten Deutschen Bund“(Nipperdey, 1991, S.94) einigen. Zum Deutschen Bund schließen sich 37 Fürsten und vier freie Städte (Bremen, Frankfurt, Hamburg, Lübeck) zusammen, die als Grundlage für ihre Territorien die Grenzen des untergegangen Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation akzeptieren. Nipperdey beschreibt dem Bund als „locker zusammengefügt“ und verweist damit auf den Minimalkonsens des Deutsche Bundes (Nipperdey, 1991, S.355). Weder eine gemeinsame Regierung der 37 Fürsten und 4 freien Städte, noch eine handlungsfähige Exekutive kann verzeichnet werden.

Ein Bundesgericht, welches für alle Staaten des Deutschen Bundes Recht sprechen soll, wird ebenfalls abgelehnt. Gemeinsames Organ des Bundes ist lediglich die Bundesversammlung, die in Frankfurt tagt und deren Vorsitz Österreich inne hat. Zweck des Bundes „ist (die) Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands und die Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit der einzelnen deutschen Staaten“ (Huber, 1978, S. 84ff.). In seiner Handlungsfähigkeit war der Deutsche Bund ohne souveräne Staatsgewalt sehr eingeschränkt. Lediglich zur Friedenswahrung nach innen und gegenseitiger Unterstützung im Kriegsfall waren die Staaten des Deutschen Bundes verpflichtet. In Artikel 11 der Bundesakte lässt sich hierzu finden: „ Alle Mitglieder des Bundes versprechen […] jeden einzelnen Bundesstaat gegen jeden Angriff in Schutz zu nehmen und garantieren sich gegenseitige Hilfe […]. Bei einmal erklärtem Bundeskrieg darf kein Mitglied einseitige Unterhandlungen mit dem Feinde eingehen“ (vgl. ebenda, 1978, 85).“

Im folgendem soll nun ein Fazit für die territoriale und verfassungsrechtliche Neuordnung Deutschlands durch den Deutschen Bund gezogen werden. Generell kann festgehalten werden, dass auf dem Wiener Kongress „eine Ordnung der Fürsten und Staaten gegen die liberalen und nationalen Bewegungen, gegen die Selbstbestimmung der Völker“ (Nipperdey, 1991, S.100) getroffen wurde. Die Forderung von nationalgesinnten, patriotischen Publizisten wie Arndt oder Jahn der liberalen Politikern, sowie der Turner und Studenten, die für ein gesamtdeutsches Reich eingetreten sind, aber auch die breite Masse, die seit den Napoleonischen Befreiungskriegen ein wachsendes Zusammengehörigkeitsgefühl und ein Nationalbewusstsein entwickelt, werden durch die Beschlüsse des Wiener Kongress enttäuscht und verbittert (ebenda, S.92).

In Bezug auf die Verfassungsfrage nehmen die unterschiedlichen Staaten des Deutschen Bundes unterschiedliche Entwicklungen an: Kurhessen oder Hannover führen altständische Verfassungen ein, während Hessen-Darmstadt oder Bayern französische Verfassungselemente zum Vorbild nehmen und fortschrittliche Verfassungen installieren.

2.3 Hessen zu Beginn des 19. Jahrhunderts

Nachdem im vorherigen Punkt eine Gesamtbetrachtung Europas und dem Deutschen Reiches erfolgte, soll nun der Fokus auf Hessen gelegt werden, den Staat in dem die „Gießener Schwarzen“ hauptsächlich tätig sind und versuchen ihren Einfluss auf die Bevölkerung zu vergrößern.

Nach bedeutsamen geschichtlichen Eckdaten des Landes Hessen folgt eine Erläuterung der Situation Hessens im 19. Jahrhundert, um die Situation und die Forderungen der „Gießener Schwarzen“ besser nachvollziehen zu können und auch die Vorgeschichte in die Betrachtung mit einzubeziehen. Da eine vollständige Darlegung der hessischen Geschichte den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, werden nur Ereignisse und Daten genannt, die zum weiteren Verständnis des Themas von Bedeutung sind.

Vorab ist zu vermerken, dass Hessen eine Gebietstransformation und territoriale Neuordnung durch die Folgen der Französischen Revolution und der damit verbundenen napoleonischen Fremdherrschaft durchläuft: Napoleon ist viel daran gelegen, Hessen auf seine Seite zu ziehen. Hessen muss Teile seine Gebietes, nämlich die linksrheinisch gelegenen, an Frankreich abtreten. Entschädigt wird Hessen durch den Reichsdeputationsbeschluss von 1803, wodurch säkularisierte Kirchengebiete und die Mehrzahl der fürstlichen, gräflichen und reichsritterlichen Herrschaften, zu Gunsten des neuerhobenen Großherzogtums Hessen von der Landkarte verschwinden. Im Krieg muss der hessische Landgraf Ludwig I. an der Seite Napoleons 1806 gegen Preußen, 1812 im Russlandfeldzug und auch in der Schlacht von Leipzig unter hohen Verlusten an der Seite Frankreichs kämpfen.

Die Geschichte Hessens beginnt 1247/48 durch die Geburt Heinrichs von Thüringen, dessen Mutter, Sophie von Brabant, eine Tochter der Heiligen Elisabeth von Thüringen ist und ihn zum Erben von „Terra Hassia“ erklärt (Vgl. Heidenreich, Franz, u.a., 2009, S.6). Ähnlich wie auch in anderen Gebieten des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation zersplittert das Territorium durch Erbteilungen. Nach über 450 Jahren lassen sich in Hessen noch zwei Hauptlinien erkennen: Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel (ebenda, 2009, S.9).

2.3.1 Das Herzogtum Hessen-Darmstadt

Da Gießen zum Gebietsteil Oberhessen, welches Hessen-Darmstadt angegliedert ist, gehört, liegt der Schwerpunkt der Betrachtung auf diesem Gebietsteil.

Landgraf Ludwig X. übernimmt durch Vererbung 1790 die Regierungsgeschäfte von Hessen-Darmstadt. Zu dieser Zeit gehören verschiedene Gebietsteile zu seinem Regierungsgebiet: Die Grafschaft Hanau- Lichtenberg, die Obergrafschaft und ein Teil der Niedergrafschaft Katzenellenbogen, Eppstein, gemeinsam mit Kassel auch die Stadt Umstadt, die württembergische Vogtei Kürnbach und das Fürstentum Oberhessen. Demandt (1972, S. 312) schätz die Größe des Gebietes auf etwa 5900 km², die Einwohnerzahl könnte etwa 290.000 Menschen betragen haben. Ludwig X. hat nach dem Regierungswechsel mit den Nachwirkungen der politischen Unentschlossenheit seines Vorgängers Ludwig dem IX. zu kämpfen. Dieser wollte während seiner Regierungszeit eine neutrale Stellung wahren und sich weder der Habsburger Monarchie noch dem Fürstenbund des preußischen Kaisers anschließen. Die unklare politische Stellung der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt zwischen Wien und Berlin wird schließlich durch Napoleon überschattet. Seit April 1806 verhandeln beide Parteien über eine Allianz, ähnlich wie in Bayern und Württemberg. Am 12. Juli 1806 ist Hessen-Darmstadt einer der sechszehn Staaten, der sich im Rheinbund unter das Protektorat von Napoleon stellt. Ludwig X. befürchtet bei Nichteintritt eine Auflösung seiner Grafschaft und eine Angliederung an andere deutsche Partikularstaaten. Allerdings ist die Erhebung zum Großherzogtum auch an Bedingungen geknüpft, die in der Rheinbundakte festgeschrieben sind: Die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt wird aufgefordert aus dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation auszutreten und im Kriegsfall für Frankreich Militärkontingente zur Verfügung zu stellen (Vgl. Heidenreich, Franz, 2009, S.6).

Neben der Verpflichtung, Napoleon im Kriegsfall militärische Kräfte zur Verfügung stellen zu müssen, führt der Beitritt in den Rheinbund zu einer Prestigesteigerung und einer Gebietserweiterung von Hessen-Darmstadt. Landgraft Ludwig X. trägt ab August 1806 den Titel Großherzog und nennt sich seitdem Ludwig I.

Folgenden Gebietsgewinne sind zu vermerken: „ Sein Land wurde durch den Anschluß der bis dahin souveränen Herrschaften Erbach und Wittgenstein, der oberhessischen Burggrafschaft Friedberg, der Ganerbschaft Staden, der Herrschaft Ilbenstadt, sowie durch den Besitz der Grafen von Solms in der Wetterau, der Grafen von Stollberg und Schlitz und der Freiherren Riedesel im Vogelsberg und abrundend durch die übrigen reichsritterlichen Besitzungen im Entschädigungsgebiet erheblich vergrößert (Demandt, 1972, S.562).“

Im gleichen Jahr noch führt Frankreich Krieg gegen Preußen und auch hessische Soldaten müssen nun ihren Kriegsdienst leisten. Ebenso im Krieg gegen Spanien und im Russlandfeldzug von 1812, wo hohe Verluste zu beklagen sind.

1813 kämpfen zum letzten Mal hessische Soldaten in der Vielvölkerschlacht auf napoleonischer Seite. Als Letzer der süddeutschen Fürsten wechselt der Landgraf, nachdem zuvor schon Bayern und Württemberg den Rheinbund verlassen haben, auf die Seite der Alliierten. Der Austritt aus Napoleons Protektorat weckt bei vielen Studenten und Bürgern das Nationalgefühl. Sie wollen auf der Seite Preußens gegen Frankreich in den Kampf ziehen. Auch die Follen Brüder und weitere Studenten der Gießener Universität schließen sich Freicorps an. Jedoch kommt es zu keinen Kampfhandlungen der Studenten mehr, da Napoleon vorher abdankt. Mit dem Sieg der Alliierten über Frankreich und Napoleon werden die Grenzen Hessens erneut verändert, auch der Kurfürst Wilhelm kehrt nach Kassel zurück (Heidenreich, Franz, 2009, S. 17).

Hessen-Darmstadt verliert auf dem Wiener Kongress das Herzogtum Westfalen und die Grafschaft Wittgenstein, ebenfalls müssen einige Orte an Kurhessen und Bayern abgetreten werden. Hessen-Homburg muss ebenfalls abgetreten werden, da Hessen-Homburg Unabhängigkeit als Entschädigung für den Widerstand gegen Frankreich zu gestanden wird. Neben den Verlusten lässt sich für Hessen-Darmstadt auch ein Gewinn von neuen Gebieten verzeichnen: Mainz, der Kreis Alzey, der Kanton Worms sowie Pfeddersheim werden zu Rheinhessen zusammengefasst. Hessen-Darmstadt umfasst nach der Neuordnung durch den Wiener Kongress drei Provinzen: Rheinhessen, Starkenburg und Oberhessen (Demandt, 1972, S.564 f.).

Die nationalgestimmten Kräfte in Hessen sind ,wie in anderen Teilen Deutschlands, mit den Ergebnissen des Wiener Kongress alles anderes als zufrieden. Weder ein deutsches Vaterland noch eine liberale Verfassung können errungen werden. Trotzdem muss man anmerken, dass Hessen im 19. Jahrhundert durchaus ein fortschrittlicher Staat ist.

Hier ist besonders das Herzogtum Nassau zu erwähnen, dass 1814 als erster der 41 Staaten des Deutschen Bundes eine Verfassung verabschiedet, die für damalige Zeiten und auch aus heutiger Sicht Elemente einer liberalen Verfassung enthält. 1820 folgt Hessen-Darmstadt, erst mit elfjähriger Verspätung auch Hessen-Kassel (Heidenreich, Franz, 2009, S. 17). Wie auch in anderen Ländern des Deutschen Bundes, welchem Hessen-Darmstadt seit 1815 angehört, sind die Jahre nach den Befreiungskriegen bis 1820 durch Unruhen gekennzeichnet, die durch den Wunsch einer Verfassung und durch die schwierige Versorgungslage (Hungerwinter 1816/1817) hervorgerufen werden.

3. Exkurs: Nationalismus

Damit man die nationalen Forderungen der „Gießener Schwarzen“ nachvollziehen kann, soll hier zunächst eine Definition des Begriffs erfolgen und die Entstehung des Nationalismus in Europa und speziell in Deutschland aufgearbeitet werden. Das beginnende 19. Jahrhundert in Deutschland ist geprägt durch die Besatzung von französischen Truppen, kriegerischen Auseinandersetzung und durch die Suche nach einer gemeinsamen Identität, die sowohl auf theoretischer und philosophischer Grundlage als auch durch Einsatz von Gewalt vollzogen wird.

Die Entwicklung einer gemeinsamen Identität wird durch den mittelalterlich geprägten Herrschaftsverband, das Heilige römische Reich deutscher Nation, erschwert. Durch eine absolutistische Herrschaft der Fürsten ist politische Partizipation kaum möglich, auch der aufkommende bürgerliche Patriotismus überwindet vor Beginn der napoleonischen Fremdherrschaft die verschiedenen Landesgrenzen nicht. So spricht man beispielweise von dem „ bayrischen “ oder dem „sächsischen Volk “(Dann, 1994, S.12), aber nicht vom Deutschen Volk.

3.1 Begriffsbestimmung

Wie auch bei anderen Begriffen gibt es eine Vielzahl von Definitionen, die alle unterschiedliche Gesichtspunkte in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen rücken. Hier wird im folgendem eine Definition von Peter Alters zitiert, die den modernen Nationalismus in den Fokus rückt und sich auf die Nationen bezieht, die nach der französischen Revolution entstehen. Peter Alters (1985, S.14 f.) definiert Nationalismus wie folgt:

„Nationalismus liegt dann vor, wenn die Nation die gesellschaftliche Großgruppe ist, der sich der einzelne in erster Linie zugehörig fühlt, und wenn die emotionale Bindung an die Nation und die Loyalität ihr gegenüber in der Skala der Bindung und Loyalitäten oben steht. Nicht der Stand oder die Konfession, nicht die Dynastie oder ein partikularer Staat, nicht die Landschaft, nicht der Stamm und auch nicht die soziale Klasse bestimmen primär den überpersonalen Bezugsrahmen. Der einzelne […] fühlt sich vielmehr als Angehöriger einer bestimmten Nation (und) […] bildet für ihn den Lebensraum und vermittelt ihm ein Stück Lebensinn in Gegenwart und Zukunft“.

Diese Auffassung von Nationalismus stellt Vielvölkerstaaten wie die Habsburgermonarchie oder lose Staatenverbünde wie den Deutschen Bund in Frage. In der Zeit um und nach der Französischen Revolution ist die Nation oberste Legitimationsebene, die alle Forderungen an die politische Obrigkeit rechtfertigt. Im Wunsch nach einem Nationalstaat liegt der oberste handlungsleitende Wert der Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts begründet. Auch wenn sich diese Vorstellung nur langsam und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zeitlich verschoben entfaltet (Langewiesche, 2000, S.16 f.). Bauer (2004, S.53) benennt die gesellschaftlichen Gruppen wie folgt: „Nationsbildung nimmt ihren Ausgang zunächst in Köpfen weniger, in der Regel einer intellektuellen Avantgarde, von der sie dann in einem komplexen, kommunikativen Prozess, auch breiteren Bevölkerungsschichten identitätsstiftend und mobilisierend vermittelt wird.“

Weitere Autoren wie Ute Planert (2004, S.11) benennen weitere Merkmale, die sich bei vielen Definitionen wiederfinden lassen. So schreibt sie von 12 Merkmalen des Nationalismus, wie der Möglichkeit Menschen in ein System zu integrieren, sich aber gleichzeitig gegenüber anderen Menschen abzugrenzen. Ute Planert beschreibt den modernen Nationalismus als eine „Integrationsideologie, in der sich Inklusion und Exklusion einander bedingen“ (ebenda, S.11). Loyalität gewinnt im Nationalismus Vorrang über andere Werte. Des Weiteren decken sich die Grenzen des Staates mit der der Nation. Ähnlich wie bei Alter (1985) geht Planert auch davon aus, dass der Nationalismus nicht gleichzeitig von allen Menschen einer Gesellschaft getragen wird. Planer schreibt hierzu, dass nationale Vorstellungen zunächst von einer bestimmten Trägerschicht mit spezifischen Interessen geäußert und später verbreitet werden. Die Verbreitung von nationalen Ideen unterliegen allerding einigen Voraussetzungen: Es muss eine gemeinsame Sprache oder eine übergreifende Institution vorhanden sein. (Vgl., ebenda, S.11). Auch August Renan hebt dieses Merkmal in einer Rede von 1882 an der Pariser Universität Sorbonne heraus: „Die Sprache lädt dazu ein, sich zu vereinigen; sie zwingt nicht dazu“ (Renan, Euchner, 1996, S.27). Eine allzu starke Zentrierung lehnt er allerdings ab, da es noch weitere Aspekte über die Sprache hinaus gibt, die ein Volk zusammenführt oder trennt.

Eine gemeinsame Geschichte wird ebenfalls von vielen Autoren als konstitutiv für eine Nation angesehen. Renan und Euchner (1996, S. 33) schreiben hierzu: „Eine Nation ist ein geistiges Prinzip, das aus tiefreichenden Verwicklungen der Geschichte resultiert […].“ Problematisch ist für die Entwicklung eines deutschen Nationalgefühls, dass die Menschen des ausgehenden 18. Jahrhunderts sich nicht auf eine gemeinsame Geschichte rückbesinnen können, da Deutschland zur Zeit des Heiligen Römischen Reiches über 800 Jahre eine Einzelstaatidentität und ein dementsprechendes Geschichtsbewusstsein der einzelnen Staaten förderte.

Damit sich die Idee einer modernen Nation durchsetzen kann, bedarf es mehrerer Voraussetzungen. Hier sind zum einen die Entstehung der Staatsbürger zu nennen und die damit verbundenen Rechte und politische Mitbestimmungsmöglichkeiten. Langewiesche (2000, S.32) hält den Willen der breiten Bevölkerungsmasse, den Staat und die Gesellschaft grundlegend umzugestalten als unmittelbar verbunden mit dem modernen Nationalismus.

Die „Kommunikationsrevolution“ schafft eine weitere Voraussetzung, um die Idee der Nation an weite Kreise der Bevölkerung weiter zu tragen. Wie auch Planert in einem ihrer 12 Merkmale des modernen Nationalismus schreibt, entsteht der Nationalismus erst in einem kleinen gebildeten Kreis, muss aber über kleine Zirkel Gebildeter hinaus auch andere Sozialgruppen erreichen. Zum Letztwert kann eine Nation nur werden, wenn sich die Kirchen sich Nationen als oberste Richtschnur ihrer Handelns einstellen und berufen. Schon im Mittelalter wird Religion und Kirche national verknüpft, allerdings bleibt der nationale Gedanke hinter dem Glauben. Beim modernen Nationalismus arbeitet die Kirche dem Staat zu, das heißt, die Kirche stellt sich zum Wohl der Nation zurück. Falls dies von den Kirchen verweigert wird, wird sie, wie in dem Kulturkampf in vielen europäischen Staaten geschehen, mit staatlichen Zwangsmitteln bekämpft (Vgl. ebenda, 32 f.).

3.1.1 Entstehung und Entwicklung des Nationalismus in Deutschland

Wie schon im historischen Abriss erwähnt, können die gefassten Beschlüsse auf dem Wiener Kongress in Deutschland nicht zur Nationalbildung beitragen. Die Beschlüsse zielen auf Erhalt der bestehenden Ordnung hin, Reformbestrebungen werden strikt abgelehnt, sodass nationale Hoffnungen nur enttäuscht werden können. Vage Anzeichen des Nationalen Denkens reichen bis in die frühe Neuzeit zurück: Die Entdeckung des Buchdrucks oder die luthersche Bibelübersetzung. Beide Ereignisse verfolgen keinerlei nationale Ziele sind aber Voraussetzungen für die spätere Entwicklung, denn nun kann sich eine einheitliche Schriftsprache entwickeln, im weiteren Sinne eine kulturelle Identität wie Nationalliteratur (Vgl. Kohl, 2008, S.56). Generell kann man aber noch nicht von Nationalismus sprechen. Dieser kommt erst nach der Französischen Revolution in Deutschland auf.

Beispielsweise trägt der Rheinbund unbewusst auch zur politischen Nationsbildung bei, denn die Reformen, die besonders in Preußen durch den Druck der napoleonischen Fremdherrschaft durchgeführt werden, dienen zwar vordergründig dem Selbsterhaltungszweck, führen aber auch zur Mobilisierung der Menschen und sind eine Voraussetzung für Nationsbildungsprozesse (Vgl. Langewiesche, 2000, S. 178). Nationale Forderungen sind eng verzahnt mit liberalen Forderungen. Liberale Grundsätze gehen auf die Epoche der Aufklärung zurück, die für angeborene und natürliche Grundrechte jedes Menschen einsteht. Vertreter des Liberalismus fordern größtmögliche Freiheit für den Einzelnen, die Abschaffung der feudalistischen Gesellschaft, Grundrechte für jeden Bürger, eine staatliche Gewaltenteilung und eine freie Entfaltung in der Wirtschaft. Der Wunsch im Liberalismus nach einem Nationalstaat wird mit den Schlagwörtern „Freiheit“ und „Einheit“ ausgedrückt.

3.1.2 Die Trägerschicht des Nationalismus in Deutschland

Planert (2004, S.15) stellt fest, dass am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland alle Merkmale vorhanden sind, die in der modernen Nationalismusforschung als konstitutiv für die Entstehung einer Nation angesehen werden. Hierzu zählt die Entdeckung einer Kulturnation mit gemeinsamer Sprache anzugehören, auch die Berufung auf eine gemeinsame Geschichte, sowie die Forderung die Nation im persönlichen Wertesystem über alle anderen Werte zu stellen. Ausdrucksformen um sich zur Nation zu bekennen sind Opferbereitschaft und identitätsstiftende Symbole wie Nationalhymne, Nationalfeiertage und Nationalfarben (ebenda, S.15). In Deutschland selbst spricht man weniger von der Nation, als vielmehr vom Vaterland oder von einem Volk (Vgl. Luys, 1992, S. 25). Es stellt sich nun die Frage, von welcher Schicht die Bewegung eigentlich getragen wird?

Träger der nationalen Gedanken sind auch in Deutschland zunächst Intellektuelle, Professoren, Studenten, Beamte, Schriftsteller, evangelische Pfarrer und gebildete Bürger, die liberale Werte und Zielvorstellungen verfolgen (Vgl. Koch, 2008, S.56). Diese heterogene Gruppe kommuniziert und tauscht sich in elitären Kreisen wie Lesezirkeln, Vorlesungen aber auch durch Predigten aus. Neben politischen sind es auch wirtschaftliche Motive, die hinter dem Wunsch nach einem Nationalstaat stehen. Das aufgeklärte Bürgertum sieht Deutschland, wirtschaftlich betrachtet, weit hinter den modernen, westlichen Nationalstaaten. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten von Amerika oder Frankreich ist das rückständige Deutschland nicht konkurrenzfähig, sodass diese Staaten zu Vorbildern avancieren. Koch (2008, S.57) beschreibt die Zielsetzungen der anfänglichen Trägerschicht wie folgt: „(Die Nationalbewegung) forderte einen deutschen Nationalstaat, der Menschenrechte, Demokratie und politische Teilhabe gewährte, der einen Rahmen für freies wirtschaftliches Handeln bot und so einen fairen Wettbewerb mit anderen Nationen ermöglichte“.

[...]


[1] (1775-1783) Schwere Belastungsprobe für England und die Gründung der Nordamerkanischen Union. Großbritannien erlässt für die nordamerikanischen Kolonien die „stamp act“ (allgemeine Steuer auf Druckerzeugnisse), gegen die die Kolonisten stark protestieren. Als Reaktion auf den Versuch Großbritanniens Kriegsschulden durch einen Teezoll zu finanzieren, überfallen britische Kolonisten Tee-Schiffe im Hafen von Boston und werfen die Landung ins Meer (bekannt als Boston Tea Party). Großbritannien entsendet Kriegsschiffe, der nordamerikanische Kongress beschließt einen Boykott für englische Waren. Am 4. Juli 1776 erklären die 13 Vereinigten Staaten ihre Unabhängigkeit, die den Gedanken der Freiheit und Gleichheit der Menschen und die Volkssouveränität betont. Im Frieden von Versailles 1783 erkennt Großbritannien die Unabhängigkeit der ehemaligen amerikanischen Kolonien an.

[2] Die „ Teilungen Polens “ umfasst in erster Linie die Teilungen des Doppelstaates Polen-Litauen Ende des 18. Jahrhunderts. In den Jahren 1772, 1793 und 1795 teilten die Nachbarmächte Russland, Preußen und Österreich den Unionsstaat untereinander auf, so dass auf der Karte Europas für über 120 Jahre kein eigenständiger polnischer Staat mehr existierte.

[3] Als Humanismus wird eine Geisteshaltung bezeichnet, die zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert die historische und kulturelle Epoche der Renaissance kennzeichnete. In Anlehnung an die Antike zielte sie auf ein Idealbild des Menschen, der seine Persönlichkeit auf der Grundlage allseitiger theoretischer und moralischer Bildung frei entfalten kann.

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Résumé des informations

Titre
Nationalbewegung in Mittelhessen. Bedeutung und Funktion des Turnens und der Turnlieder bei den Giessener Schwarzen
Université
Justus-Liebig-University Giessen
Note
1,0
Auteur
Année
2010
Pages
133
N° de catalogue
V301536
ISBN (ebook)
9783656976363
ISBN (Livre)
9783656976370
Taille d'un fichier
1667 KB
Langue
allemand
Mots clés
Nationalbewegung, Burschenschaften, Turnen, Karl Follen, Deutschland
Citation du texte
Hanna Heun (Auteur), 2010, Nationalbewegung in Mittelhessen. Bedeutung und Funktion des Turnens und der Turnlieder bei den Giessener Schwarzen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/301536

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