Leseprobe
Inhalt
1. Grundlagen der Wissenschaftstheorie
1.1 Einleitung
1.2 Erkenntnis
1.2.1 Arten der Erkenntnis
1.3 Empirismus
1.3.1 Idealistischer (naiver) Empirismus
1.3.2 Logischer Empirismus (Neopositivismus)
1.3.3 Kritischer Rationalismus
1.3.4 Zusammenfassung
1.4 Die Kritische Theorie
1.4.1 Methodische Konsequenzen
1.5 Der hermeneutische Ansatz der Erkenntnis
1.5.1 Einleitung
1.5.2 Begründung der Hermeneutik (Dilthey)
1.5.3 Methodische Konsequenzen (Hermeneutik)
1.6 Kritische Wissenschaftstheorie
1.6.1 Einleitung
1.6.2 Begründung
1.6.3 Zusammenfassung
1.7 Konstruktivismus
1.7.1 Einleitung
1.7.2 Begründung (Radikaler Konstruktivismus)
1.7.3 Zusammenfassung
2. Verstehende Sozialforschung
2.1 Einleitung
2.2 Hermeneutik und Verstehende Sozialforschung
2.3 Erkenntnisprozess der Sozialforschung
2.3.1 Einleitung
2.3.2 Soziologischer Erkenntnisprozess
3. Exkurs: Erkenntnisprozess der Medizin
3.1 Einleitung
3.2 Erkenntnistheoretischer Diskurs (Medizin)
3.3 Medizinimmanentes Erkenntnisinteresse
3.4 Prognoseanspruch in der Medizin
3.5 Zusammenfassung
4. Theorie
4.1 Einleitung
4.2 Was ist Theorie
4.2.1 Beispiel abweichendes Verhalten
4.2.2 Zusammenfassung
4.3 Hypothesen
4.3.1 Hypothesen vor der Operationalisierung
4.3.2 Operationalisierungen
4.3.3 Statistische Hypothesen
4.3.4 Zusammenfassung
5. Messmethoden der Empirischen Sozialforschung
5.1 Einleitung
5.2 Qualitative Verfahren
5.2.1 Qualitative Erhebungsverfahren
5.2.2 Qualitative Auswertungsverfahren
5.3 Quantitative Verfahren
5.3.1 Einleitung
5.3.2 Ausgewählte Verfahren
5.3.3 Quantitative Auswertungsmethoden
5.4 Zusammenfassung (kurzes Resume)
6. Forschungsansätze
6.1. Einleitung
6.2 Der allgemeine Forschungsansatz
6.2.1 Auftrag, Idee, Problem
6.2.2 Bestandsaufnahme und Problemanalyse
6.2.3 Konzeption
6.2.4 Planung
6.2.5 Implementation
6.2.6 Auswertung und Präsentation
6.2.7 Zusammenfassung
6.3 Allgemeiner Ansatz der qualitativen Forschung
6.3.1 Einleitung
6.3.2 Konzeption
6.3.3 Planung
6.3.4. Implementation
6.3.5 Auswertung
6.3.6 Präsentation der Daten
6.4 Evaluationsforschung
6.4.1 Einleitung
6.4.2 Definitorische Klärung
6.4.3 Prozess der Evaluationsforschung
6.4.4 Zusammenfassung
6.5 Projektmanagement
6.5.1 Einleitung
6.5.2 Handlungslogik des Projektmanagements
6.6 Case-Management
6.6.1 Einleitung
6.6.3 Zusammenfassung
6.7 Der Ansatz der Marketingforschung
6.7.1 Einleitung
6.7.2 Handlungslogik der Marketingforschung
6.7.3 Zusammenfassung
7. Forschungsdesigns
7.1 Einleitung
7.2 Spezielle Forschungsdesigns
7.2.1 Querschnittsstudien
7.2.2 Longitudinalstudien
7.2.3 Panel
7.2.4 Monitoring
7.2.5 Zusammenfassung
7.3 Epidemiologie
7.3.1 Einleitung
7.3.2 Besondere Studienarten
7.3.3 Begriffe der Epidemiologie
7.3.4 Dokumentation
7.3.5 Zusammenfassung
7.4 Evidence based Medicine
8. Qualitative Forschungspraxis
8.1 Einleitung
8.2 Grounded Theory (Glaser und Strauss 1967)
8.3 „Triangulation“ (Flick 2004/08)
8.4 Qualitative Studie
8.4.1 Einleitung
8.4.2 Idee, Problem
8.4.3 Inhaltliche Konzeption
8.5 Methodische Konzeption
8.5.1 Zur Stichprobe:
8.5.2 Planung
8.5.3 Implementation
8.6 Auswertung
8.6.1 Einleitung
8.6.2 Auswertungsbasis
8.6.3 Auswertungsstrategie der narrativen Interviews
8.6.4 Zusammenfassung
8.7 Präsentation der Ergebnisse
8.8 Zusammenfassung
9. Quantitative Forschungspraxis
9.1 Einleitung
9.2 Forschungsansatz
9.2.1 Entdeckungskontext (Quantitative Studie)
9.3 Begründungskontext (Patientenzufriedenheit)
9.3.1 Exploration
9.3.2 Inhaltliche Konzeption
9.3.3 Methodisches Konzeption
9.3.4 Planung
9.3.5 Implementation
9.3.6 Auswertung und Präsentation
9.3.7 Exkurs Faktorenanalyse
9.3.8 Zusammenfassung der Ergebnisse
10. Qualität von Studien
10.1 Einleitung
10.2 Probleme der Beurteilung wissenschaftlicher Arbeiten
10.2.1 Exkurs: Beispiel einer medizinischen „Studie“
10.3 Interpretation von Ergebnissen
10.3.1 Exkurs:
10.2 Die Lehre von der Frage
10.2.1 Einleitung
10.2.2 Probleme bei der Frageformulierung
10.2.4 Die Anordnung der Fragen im Fragebogen
10.3 Zur Zuverlässigkeit (Reliabilität) und Gültigkeit (Validität) von Studien
10.3.1. Einleitung
10.3.2 Zur Reliabilität
10.3.3 Zur Validität
10.3.4 Zusammenfassung
10.4. Gütekriterien der qualitativen Sozialforschung
10.4.1 Einleitung
10.4.2 Gütekriterien
10.4.3 Zusammenfassung
10.5 Ethik der Forschung
10.5.1 Einleitung
10.5.2 Ethik-Kommission und Antrag
10.6 Interessenkonflikte
10.6.1 Einleitung
10.6.2 Die Realität
10.6.3 Zusammenfassung:
Literaturverzeichnis
1.Grundlagen der Wissenschaftstheorie
Definition: „Wissenschaftstheorie ist ein Sammelbegriff für alle metawissenschaftlichen Erörterungen über Wissenschaft, zu denen insbesondere die logische Analyse der Begriffe der Wissenschaft, der wissenschaftlichen Methoden sowie der Wissenschaftsvoraussetzungen gehört“ (Lexikon der Soziologie).
1.1 Einleitung
Wissenschaftstheorie kann als Metatheorie des kulturspezifischen wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses bezeichnet werden. Sie beschäftigt sich primär mit den begrifflichen und methodischen Grundannahmen und Regeln, nach denen Wissenschaft und Ergebnisse der Wissenschaft als allgemeingültig anerkannt werden. Wissenschaftstheorie ist anders ausgedrückt ein Problem unterschiedlicher Vorgehensweisen zur Erkenntnisgewinnung. Die Naturwissenschaften arbeiten nach anderen Regeln als die Psychologie oder die Soziologie, die Philosophie oder die Jurisprudenz.
Aufgrund ihrer formal-logischen und mathematisch orientierten Regeln unterstellt man den Naturwissenschaften ein höheres Maß an Objektivität als den Sozialwissenschaften, wobei der Begriff der Objektivität gleichsam zu problematisieren wäre (s. Konstruktivismus).
Prinzipiell ist Wissenschaftstheorie aber ein Sprachspiel mit Begriffen und Regeln, die mehr oder weniger Konsens bzw. Verbindlichkeit in der scientific community beanspruchen können.
Die generelle Problematik der Wissenschaftstheorie ist gekennzeichnet durch:
den Werturteilsstreit der Sozialwissenschaften: Dürfen wissenschaftliche Ergebnisse bewertet werden?
den Methodenstreit Hermeneutik-Empirismus-Dialektik: Welche Methoden dürfen in der Wissenschaft verwendet werden? Gibt es eine einheitliche wissenschaftliche Methodik.
den Theorie-Realitätsstreit (Rationalismus-Empirismus-Konstruktivismus). Was ist Realität und was ist Theorie?
das Ethikproblem. Wie weit darf die Freiheit von Wissenschaft und Forschung gehen? Wissenschaftsprinzip oder wissenschaftliches Präventionsprinzip.
den Wahrheits- und Unversalisierungsanspruch. Gibt es universelle Wahrheiten und Erkenntnisse?
und den Prognoseanspruch. Können aus Beobachtungen wahre Aussagen über zukünftige Entwicklungen gemacht werden oder ist die Prognose nur eine unbestätigte Hypothese?
In der wissenschaftlichen Forschung lässt sich generell eine Dominanz der logisch-analytischen Methoden (Experimente), insbesondere die der Naturwissenschaften, konstatieren. In den Sozialwissenschaften wiederum dominieren die quantitativen Methoden der Positivisten (Comte 1840, Carnap1931/32, Popper1934), die teils eine induktive und teils eine deduktive Denkweise in Anlehnung an die exakten Naturwissenschaften intendieren.
Die hermeneutisch orientierten Wissenschaften (Schleiermacher 1838, Dilthey1960, Gadamer 1960) präferierten die induktive Denkweise und gelten als Gegenpart zu den Positivisten, sind aber mithin dem logisch rationalen Erkenntnisprozess verhaftet. Die Philosophen der Frankfurter Schule (Adorno1969, Horkheimer 1970, Habermas 1973, Markuse1969) hingegen vertreten eine Gegenposition zu diesen Ansätzen, sie präferieren die Dialektik (bzw. negative Dialektik- Adorno). Insbesondere haben sie auf die Probleme einer subjektunabhängigen Formalisierung und die einseitige Subsummtion der Wissenschaft bzw. der Theorie unter die formale Logik hingewiesen sowie auf den Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Mit anderen Worten, Wissenschaft ist kein autopoietisches System, sondern abhängig bzw. Bestandteil gesellschaftlicher und kultureller Traditionen und Rahmenbedingungen. Der Wissenschaftler selbst lebt in einem spezifischen sozialen Interaktionskontext und unterliegt zwangsläufig internalisierten kultur- und wissenschaftsspezifischen Denkweisen und Erkenntnisregeln.
1.2 Erkenntnis
Generell ist Wissenschaft ein Problem der Regeln und Methoden, die zu spezifischen Erkenntnissen (Gesetzen, Kausalitätsmodellen, Theorien, Modellen, Hypothesen, Deskriptionen) führen und von der scientific community anerkannt werden. Grundsätzlich werden vier Arten der Erkenntnis differenziert.
1.2.1 Arten der Erkenntnis
Wissenschaftliche Erkenntnis:
Sie sollte – im Gegensatz zur Alltagserkenntnis - allgemeingültig, nachprüfbar, wiederholbar und konsensfähig sein. Um Transparenz und Verbindlichkeit zu sichern, wird eine stringente Anwendbarkeit der methodischen Regeln gefordert. In den Naturwissenschaften gilt fast ausschließlich die logisch-analytische Methode, d.h. Formalisierung und Mathematisierung des Erkenntnisgegenstands durch Anwendung von Experiment, Logik und Statistik.
In den Geistes- und Sozialwissenschaften spielt neben der Formalisierung und Mathematisierung auch die Hermeneutik, Dialektik und Phänomenologie eine große Rolle, wobei die Heuristik (Modell der Erkenntnisgewinnung) wiederum vernachlässigt wurde.
Meditative Erkenntnis (ganzheitliche Erkenntnis):
Im hinduistischen und im buddhistischen Kulturkreis sind Methoden der Meditation (Atemtechnik, Körperbeherrschung, Konzentration, mentale Kontrolle) dominierend und akzeptiert, so dass diese Erkenntnisart allgemein anerkannt, nachprüfbar und intersubjektiv gültig ist. Ziel der Meditation ist als letzte Stufe der Erkenntnis die Erleuchtung. Die Erkenntnis ist hier zunächst eine genuin subjektive Kategorie, in deren Verlauf differenzierte Bewußtseinstufen erreicht werden, um zum Nichts (Nirwana) zu gelangen. Erst auf dieser Stufe ist eine offene, völlig unvoreingenommene Sichtweise des Selbst und der Welt möglich. Dadurch, dass die tradierten internalisierten Denkweisen reduziert werden, gelangt man zur kosmischen Erkenntnis.
Spirituelle Offenbarung:
Sie gilt als eine genuin subjektive Art der Erkenntnis, die auf dem Glauben an eine höhere Macht beruht. Sie ist das Resultat ritualisierter spiritueller Handlungen, quasi "göttliche Eingebung". Aber auch das ist nicht ganz korrekt, sondern durch Methoden wie Trance, Rituale der Bewusstseinsveränderung – Musik, Drogen, Tanz, Hypnose, Askese – werden subjektive Zustände initiiert, die eine bewusste Handlungskontrolle ausschalten und so Bewußtsein bzw. Denkkontrollen durchlässiger machen.
Intuitive Erkenntnis:
Vorbewusste und unbewusste psychische Repräsentanzen können sich mittels Assoziationen quasi verselbständigen und so neue mentale Verbindungen herstellen, die in bewußte Repräsentanzen transformiert werden und Erkenntnisse produzieren (Hypothesen, Ideen, Theorien, Modellen). Repräsentanzen unterschiedlicher Bewusstseinsebenen konstituieren sich ohne bewusste (ohne kontrollierte) Einflussnahme zu neuen Repräsentanzen. (Sympathie, Antipathie, Geistesblitz, spontane Eingebung) Die Intuitive Erkenntnis zeigt eine enge Affinität zur spirituellen Offenbarung aber ohne Einfluss einer exorbitanten Macht.
Die Differenzierung der Arten der Erkenntnis zeigt offensichtlich, dass meditative, intuitive Erkenntnis und spirituelle Offenbarung genuin subjektive Kategorien sind bzw. nach abendländischer Tradition werden sie als irrationale Erkenntnisarten definiert. Die Begriffe formale Logik, Formalisierung, Mathematisierung, Objektivität, Rationalität, Wahrheit sowie Universalisierungs- oder Prognoseanspruch spielen dabei – wenn überhaupt – nur eine marginale Rolle, d.h. das Begriffssystem ist nicht vergleichbar mit dem des abendländischen Verständnisses der Erkenntnis. Zudem wird keine Trennung zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und allgemeiner Erkenntnis (Alltagserkenntnis) konstruiert, sondern diese Erkenntnisarten beanspruchen Allgemeingültigkeit, d.h. der Disput der Erkenntnisbewertungen ist nicht feststellbar.
Erkenntnis im abendländischen Kulturkreis ist gleichbedeutend mit dem ‚deduktiv-nomologischen Modell‘ der kausalen Erklärung, also mit dem Rationalitätsprinzip. Dieser wissenschaftliche Erkenntnisprozess ist in der neueren Geschichte erstmals von Karl Popper, in "Logik der Forschung" (1934) formuliert worden - Theorie (Hypothese, Idee) – Datenerhebung - Auswertung – Bestätigung der Hypothese (Theorie) durch das Falsifikationsprinzip.
Das sogenannte nomologisch-analytischen, quasi dem Rationalitätsprinzip folgenden Erkenntnismodell ist insofern zu bezweifeln, als seine Anwendung eine normative Implikation enthält. Der Formalisierung sind latente subjektive Wertungen immanent, die auf einem tradierten unreflektierten Wertesystem und Weltbild beruhen, insbesondere weil der Entdeckungskontext der Diskussion entzogen wird, anders ausgedrückt: Hypothesen sind ohne wissenschaftliches Vorverständnis bzw. wissenschaftspezifisches Problembewußtsein nicht möglich, wiewohl der Forscher selbst kein neutraler Beobachter sein kann, sondern in einen ganz spezifischen sozialen Interaktionskontext eingebunden ist, der seine Denkweise und somit auch seine Datenanalyse und Interpretationen bestimmt.
Außerdem ist die unreflektierte Präsupposition einer Reduzierung des Menschen auf ein Objekt, das durch formalisierte Parameter vollständig beschrieben und kontrolliert werden kann, eine unerreichbare Idealvorstellung, wenngleich für die Methode notwendig, da Subjekte in ihr keine Rolle (durch den Kunstgriff der Abstraktion, Operationalsierung und Repräsentativität von subjektiven Informationen – S-O-R - wird quasi Objektivität impliziert) spielen dürfen. Ein Proband, der auf einen vom Forscher definierten Reiz reagieren muss, ist als Person irrelevant, er wird ausschließlich auf eine Reaktion reduziert, gleichgültig ob dieser Reiz für die Person von Interesse ist oder nicht, d.h ob er ihn überhaupt jemals wahrgenommen hat oder ganz anders reagieren möchte als erwartet wird.
Die Ergebnisse dieser simplen Reiz-Reaktions-Modelle werden dann aber als wissenschaftlich valide Erkenntnisse kommuniziert. Durch die Vermittlung dieser Ergebnisse in die Öffentlichkeit intervenieren Wissenschaftler aber in sogenannte objektive Strukturen (Strukturen der sozialen Wirklichkeit) als handelnde Akteure, nicht als neutrale Beobachter quasi-naturgesetzlicher Prozesse. Sie interpretieren nicht nur die erhobenen Daten, sondern sie transportieren - zumindest auf einer latenten Ebene -, Meinungen, Verhaltennormen und Handlungrichtlinien bzw. Regeln, Naturgesetze, Wahrheit oder Universalien, und zwar aufgrund ihrer selektiven, nur auf einen Objektbereich (bzw. einen Sachverhalt) reduzierten Forschungsintentionen. Diese restriktive Forschung wird ganz selten in dem relevanten gesellschaftlichen Interaktionskontext diskutiert. Mögliche negative oder positive Folgen dieser Forschung werden aus der Diskussion ausgeblendet, d.h Forschung als subjektive Kategorie, nicht als gesellschaftliche Leistung oder zum Wohle der Menschen. In der Moderne haben wir zwei für die Wissenschafttheorie evidente Ansätze, die einen präferieren das sogenannte Wissenschaftsprinzip (Freiheit von Wissenschaft und Forschung), d.h. die Folgen von Forschungsergebnissen werden erst dann diskutiert, wenn in der Realität Probleme oder negative Folgen konstatiert werden, die anderen präferieren das sogenannte Präventionsprinzip (Übernahme der Verantwortung für Forschungsergebnisse), das besagt, dass Probleme und negative Folgen von Forschung erst eruiert werden müssen, bevor Ergebnisse veröffentlicht werden.
Dass Erkenntnisgewinnung restriktiv normativen und logischen Regeln folgen muss, die für alle Beteiligten der scientific community Verbindlichkeit beanspruchen, ist eine Erfindung der Wissenschaftstheoretiker. Wir brauchen nur in die Philosophiegeschichte zurückgehen, um uns eines Besseren belehren zu lassen. Beispielsweise war für Spinoza (1632-1677) die intuitive Erkenntnis die höchste Gattung der Erkenntnis, was wiederum mit den fernöstlichen Philosophien (Buddhismus) korrespondiert. Der Nihilismus Nietsches ist nichts anderes als ein Erkenntnisprozess, der Bestehendes verwirft, um neue Aspekte und Probleme aus diesem quasi „Nicht-Wissen“ zu eruieren und dadurch zu neuen, möglicherweise ganz anderen Erkenntnissen zu gelangen. Nicht umsonst wurden gerade die Schriften Nietsches ideologisch missbraucht, weil sie Demagogen eine Anzahl von möglichen Interpretationen bieten.
Die sogenannte westliche bzw. abendländische Erkenntnistheorie basiert auf einer Vernunftlehre, die dem Glauben verhaftet ist, dass alle beobachtbaren (naturwissenschaftliche, soziologische, psychologische, ökonomische) Phänomene spezifischen Gesetzen gehorchen und mittels Kausalprinzip erklärt werden können. Ihre Implikationen müssen aber relativiert werden, denn menschliches Verhalten und Handeln, gesellschaftliche Strukturen und Interaktionskontexte unterliegen keinen unveränderbaren (universellen) Gesetzmäßigkeiten – auch wenn einige Sozialforscher (wie beispielsweise Oevermann 1979) glauben, ‘universelle Strukturen’ der sozialen Konstituierung des Subjektes rekonstruieren zu können‘ -, sondern sie unterliegen permanenten Modifikationen, sie sind dynamisch und nicht statisch angelegt.
Das Erkenntnisproblem der abendländischen scientific community besteht in dem Dilemma, dass logische Sprachspiele und Wissenschaft gleichgesetzt werden, dass Erkenntnis sich in einem Begriffsdisput (Empirismus-Hermeneutik) erschöpft und sprachliche bzw. mathematisch-logische Symbole (Gedankenexperimente) die einzig wahre Form der Erkenntnis darstellen. Dieses Dilemma hat dazu geführt, dass die scientific community sich permanent in einen Ideologiediskurs im Hinblick auf die bessere Methodik verstrickt. Sie scheint immer noch dem Glauben verhaftet, dass durch ihre Erkenntnismethoden die Welt beherrschbar und alles machbar ist, was denkbar ist. Sie impliziert, dass der Mensch, insbesondere aber sie selbst wertfrei, objektiv und vernunftgemäß argumentieren, handeln, forschen und sich auch so verhalten. Die Forschungsrealität widerlegt diesen idealistischen Standpunkt – selektive Forschung (nur ökonomisch verwertbare Forschung), Auftragsforschung (Abhängigkeit und Beeinflussung durch Auftraggeber), Fälschung von Ergebnissen, Unwissenheit, ideologisch gefärbte Interpretationen von Daten oder sogar Datenmanipulationen usw.
1.3 Empirismus
Die folgende historische Chronologie beruht primär auf der Zuordnung von Holzkamp 1971, (vgl. auch Stegmüller 1968, Stangl-Zugriff 2012- und Stigler 2001 –Zugriff 2011-).
Definition: Empirismus
Philosophische Strömung, die bereits mit dem Ausgang des Mittelalters einsetzt und die nicht Vernunft, sondern in der Erfahrung die Quelle allen Wissens sieht. Im Gegensatz zum klassischen Rationalismus will der E. von der unmittelbar gegebenen Wahrnehmung her durch induktive Schlüsse die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten erschließen. Neue Formen des E. lassen Erfahrung nicht mehr als Erkenntnisquelle, sondern nur mehr als Bestätigungsinstanz für Aussagen gelten (Lexikon zur Soziologie).
1.3.1 Idealistischer (naiver) Empirismus
Der naive oder idealistische Empirismus – der im weiteren noch differenziert wird in Sensualismus, materialistischen und idealistischen Positivismus - wurde insbesondere von R. Bacon (1561-1626), Locke (1632-1704) Berkeley (1684-1753) und D. Hume (1711-1776) beeinflusst und erreichte im 17. und 18. Jahrhundert seinen Höhepunkt. Seine Vertreter lehnten die Vernunft als Grundlage der Erkenntnis ab und postulierten dagegen eine angeborene Leere des menschlichen Verstandes. Die menschliche Ausstattung supponiert nur Denken und Empfindungen. Erkenntnis ist eine Transformation von Sinneswahrnehmungen und Erfahrungen in Denkprozesse. Wissenschaft kann nach dieser Auffassung, nur eine rein empirische Wissenschaft sein – nur Empfindungen, Perzeptionen und Erfahrungen können als Basis der Erkenntnis Validität beanspruchen.
Hobbes beispielsweise behauptet, dass ein Begriff in Wirklichkeit die Widerspiegelung real existierender Körper im menschlichen Bewusstsein sei. (vgl. Wörterbuch der Logik 1978: 300).
Empiristen kritisierten die bis dahin geltende philosophische Erkenntnistradition, im besonderen die präsupponierten unbegrenzten Fähigkeiten der menschlichen Vernunft, das sogenannte apriorische Wissen, d.h. Wissen, das allein durch Denken entsteht und keiner Erfahrung oder Beobachtung bedarf und deshalb auch nicht bestätigt werden muss.
Die Ausgangsposition des naiven Empirismus besagt, dass alles, was wir wissen und erkennen können, durch sammeln von Daten aus Beobachtung der Natur und Experiment– man könnte auch sagen der Realität - durch induktive Denkweise generalisierbar ist. Erkenntnis beruhe auf Perzeptionen, die zunächst in Form von Bildern mental repräsentiert sind, die Welt bildet sich durch sinnliche Wahrnehmung als psychische Repräsentanz direkt ab, der Wahrnehmende hat einen, - zwar gelegentlich durch Phantasie und Aberglauben verstellten - aber doch prinzipiell affektiv-wahrheitsgemäßen Zugang zur realen Welt (vgl. hierzu auch Oevermann 1979). Erkenntnis wird in diesem Kontext mit Denken gleichgesetzt, Empfindungen und Wahrnehmungen werden mittels Sprache in Begriffe und adäquate Zusammenhänge transformiert. Der frühe Empirismus wird auch Sensualismus genannt (Locke 1689, Hobbes 1588-1679, Hume 1711-1776 u.a.) - und beinhaltet zwei Grundgedanken, die in der Historie der Wissenschaftstheorie immer mal wieder diskutiert werden:
a) Man kann die Welt, will man sie unverfälscht perzipieren und internalisieren (affektiv wahrheitsgemäß), nur durch Bilder, quasi als Spiegel der Realität erleben und interpretieren.
Wissenschaftstheoretisch sehr viel bedeutsamer ist aber der zweite Ansatzpunkt, der später bei Feyerabend wieder neu entfaltet wird:
a) Es gibt kein irrelevantes Wissen und keine irrelevante Wissenschaft, sofern sie nur empirisch begründet sind. Jedes Einzelproblem hat grundsätzlich die gleiche Relevanz, denn es kann zu einer Erweiterung des Wissensbestandes führen bzw. das Wissen um ein neues Detail bereichern.
Die naiven Empiristen beobachten die Realität. Sinneseindrücke und Erfahrungen erwecken das Interesse, motivieren zu wissenschaftlicher Forschung und damit zur Lösung wissenschaftlicher Probleme. Spezifische Einzelphänomene werden in sprachliche Symbole transformiert und durch Beobachtung bzw. Experimente werden Beziehungen hergestellt, um aus präzisen Analysen von Einzelobjekten durch induktiv-logische Verfahren Allgemeingültigkeit abzuleiten, bzw. aus erkannten regelhaften Abläufen, die bei Einzelobjekten beobachtbar bzw. experimentell belegbar sind, können – nach dieser Aufassung – durch Analogien und logische Schlüsse allgemeingültige Kausalzusammenhänge abgeleitet werden.
Holzkamp (1971:26) fasst den naiven Empirismus folgendermaßen zusammen:
"Im naiven Empirismus, der auf die Sensualisten und frühen Positivisten zurückgeht und heute die unbefragte Grundlage des Wissenschaftsverständnisses des unreflektiert empirisch Forschenden darstellt, wird Wissenschaft als eine Institution zur Gewinnung von wahren Erkenntnissen über die Natur betrachtet, wobei man den Wissenschaftsprozess als eindeutig durch die Empirie geleitet und auf die Erforschung eines vorgegebenen Kosmos von Naturgesetzen gerichtet ansieht.“
Dieser Ansatz wurde von A. Comte (1798-1857), der als Begründer des Positivismus in der Soziologie gilt, weiterentwickelt. Comte supponiert eine Erkenntnis, die vom Realen, vom tatsächlich Bestehenden, vom "Positiven", ausgeht und lehnte metaphysische Diskussionen ab. Er hinterfragt nicht die soziale Realität, sondern stellt fest, dass die soziale Realität existiert. Seiner Meinung nach verläuft der Erkenntnisprozess der Wissenschaft, aber auch des Individuums, in drei Stadien:
a) das theologische, das zu Beginn im Kindesalter der Entwicklung des Denkens der Menschen vorherrschte und sich dadurch auszeichnet, dass theologische oder fiktive Denk- und Erklärungsmuster verwendet wurden. Erscheinungen und Phänomene in Natur und Gesellschaft werden als Folge von Einflüssen übernatürlicher Kräfte und Wesen gedeutet. Naturkatastrophen oder soziale Anomalien z.B. wurden dabei als direkte Intervention von übernatürlichen Kräften interpretiert.
b) Das metaphysische, in das die Menschheit im Zuge eines geistigen Reifungsprozesses gelangte. Die bewegenden Ursachen des Weltgeschehens wurden dabei nicht mehr übernatürlichen Wesen, sondern abstrakten und innerweltlichen Kräften und Prinzipien zugeschrieben.
c) Das Positive, das auf das theologische und metaphysische Stadium folgt und das im Gegensatz zur fiktiven Denkweise in den Zustand des "positiven Geistes" führen sollte. Positiv meint hier eine sachgerechte, realistische und differenzierte Denkhaltung gegenüber der Welt und ihren Problemen. (vgl. Kiss 1977: 241-244)
„Mit der Positivierung der Wissenschaften im allgemeinen und der Soziologie im Besonderen wurde der Anspruch erhoben, für alle Wissenschaften einheitlich gültige Verfahrensregeln aufzustellen und das Wissen über soziale Phänomene nach den sich bewährenden Vorbild der exakten Naturwissenschaften zu organisieren.“ (Kiss 1977:244) Comte unterstellt eine unmittelbar erfahrbare Realität, die vermittels Systematisierung und Analyse von Detailbeobachtungen grundlegende Gesetze der sozialen Bewegung generiert, er präferierte ebenfalls die induktive Erkenntnis.
Generell ist der naive Empirismus durch eine Denkweise geprägt, die Natur und Denkfähigkeit als Realität postuliert, die nicht weiter hinterfragt werden müssen. Der Wissenschaftler wird als neutraler objektiver Beobachter der Realität idealisiert, d.h. die Beobachtung der Natur führt automatisch zu Fragen, die beantwortet werden müssen. Mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden (Beobachtung und Experiment) können adäquate Erkenntnissen produziert werden. Für den naiven Empiristen gibt es keine irrelevante wissenschaftliche Fragestellung, sondern jede Erkenntnis erweitert das Wissen um neue Details und ist letztendlich auf das Ziel einer universellen Erkenntnis der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeiten gerichtet. Der empirische Forscher ist neutraler objektiver Beobachter, der die Wahrheit sucht und sich nicht durch Vorurteile und subjektive Interessen beeinflussen lässt. Diesen Ansatz der Universalität, absoluten Wahrheitsfindung, Wertneutralität und Objektivität des Forschers könnte man als den idealistischen Anspruch bezeichnen, der nicht eingelöst werden kann.
1.3.2 Logischer Empirismus (Neopositivismus)
Die Grundlagen des Logischen Empirismus werden historisch dem Wiener Kreis zugeordnet, einer Gruppe von Philosophen und philosophisch interessierten Naturwissenschaftlern, zu der u.a. E. Mach (1838-1916), O. Neurath (1882-1945) und insbesondere R. Carnap (1891-1970) gehörten. Sie entwickelten den Positivismus Comtes zum sogenannten Neopositivismus bzw. logischen Empirismus, indem auf der Basis der Comte’schen Methodologie eine eng an den Naturwissenschaften angelehnte Methodik für die wissenschaftliche Erkenntnis konzipiert wurde, deren Ziel mit der Entwicklung einer Universalsprache aller Wissenschaften verbunden ist. Sie wollten eine künstliche, aber universell gültige Wissenschaftssprache (in Anlehnung an die Mathematik) entwickeln. Diese Diskussion hinsichtlichlich des Universalisierunganspruchs in seinen unterschiedlichen Ausprägungen (von Universalsprache bis hin zu universellen Gesetzen und Wahrheiten) zieht sich wie ein roter Faden bis heute durch die Wissenschaftstheorie.
Die logischen Empiristen kritisierten, dass allein die Beobachtung der Natur alle Fragen der Wissenschaft offenbart und die Naturgesetze nur noch durch entsprechende Methoden bewiesen werden müssten, die Erkenntnisse sich quasi dem Beobachter aufdrängen. Gleichwohl bezweifelten Sie die voraussetzungslose Objektivität des Beobachters; denn Naturgesetze sind nicht einfach zu beobachten, sondern sind sprachliche definierte Annahmen über die Natur. Der Forscher muss wissen, was er erforschen will. Er definiert Kriterien, um aus einer unendlichen Menge realer Objekte bzw. Objektbereiche ein spezifisches Problem zu selektieren. Mit anderen Worten, Wissenschaft beginnt nicht mit der Erfahrung, sondern mit Forschungsideen bzw. selektiver Beobachtung, die zu intentionaler Forschung führt.
Erkenntnis und Wissenserwerb erfolgen nicht unmittelbar aus der Wahrnehmung: (subjektive) Erfahrung muss immer erst durch Protokollsätze, d.h. sprachlich formuliert und eine Theorie nach spezifischen Sinnkriterien aus Beobachtungssätzen abgeleitet (induziert) werden. Der Neopositivismus intendiert eine tradierte Verbindung zwischen dem naiven Empirismus und dem Rationalismus; denn Erkenntnis folgt logischen Gesetzen und basiert auf der Erfahrung. Im Mittelpunkt dieser Denkweise steht die Problematisierung von Sprache (bzw. sprachlichen Symbolen) als Vermittlungsinstanz zwischen Erkenntnis und Erfahrung (Realität), die gleichsam als Grundlage für den Anspruch einer Universalwissenschaft vermittelt wird. Die Vertreter des Neopositivismus plädierten für eine einheitliche Wissenschaftssprache (Universalisierungsanspruch im Sinne mathematischer Symbole). Insbesondere Carnap beschäftigte sich mit diesem Problem, er intendiert, wissenschaftliche Erkenntnis mit Hilfe intersubjektiv gültiger Symbole und Regeln für eine allgemeingültige wissenschaftliche Kommunikation fruchtbar zu machen. Durch Wiederholung von Beobachtungen, die Vergleichbarkeit implizieren, werden wissenschaftliche Erkenntnisse allgemein legitimiert bzw. bewiesen (verifiziert). Die Hauptaufgabe der Wissenschaft bestehe darin, Hypothesen über die Wirklichkeit zu formulieren, die dem empirischen Sinnkriterium korrespondieren.
Dieses Kriterium meint, dass theoretische Sätze in der Realität durch Beobachtung und Experiment verifiziert (bestätigt) werden müssen.
Theorien als wissenschaftliche Aussagesysteme sollten dabei folgende Bedingungen erfüllen:
a) Sie müssen sich nach den Gesetzen der Logik richten, d.h. sie müssen formal-logisch wahr sein (Widerspruchsfreiheit).
b) Theorien enthalten allgemeingültige Aussagen über einen Realitätsbereich (Anspruch der Allgemeingültigkeit).
c) Wissenschaftliche Aussagen dürfen nur wertfreie Aussagen enthalten. (Wertneutralität).
e) Jede wissenschaftliche Theorie muss prinzipiell überprüfbar und forschungslogisch wiederholbar sein. Sie muss in der Realität bestätigt werden (Verifikationsprinzip).
Erfahrung ist eine subjektive Kategorie, die immer eine induktive Denkweise unterstellt. Erfahrungen, Perzeptionen und soziale Phänomene sind nicht in allgemeiner Form existent, sondern kennzeichnen Einzelerfahrungen, individuelle Merkmale bzw. singulare Phänomene.
Prinzipiell wird nicht mehr allein aus der Beobachtung von Einzelfällen auf Naturgesetze geschlossen (Induktion), sondern der Validitätsanspruch hypothetischer Aussagen wird durch Zusammenfassung und Vergleich vieler Einzelbeobachtungen in der Realität begründet. Es werden formal logische Hypothesen formuliert, die durch empirische Methoden "verifiziert" werden. Eine Hypothese ist dabei eine wissenschaftlich begründete, aber empirisch noch nicht überprüfte, Aussage über einen realen Objektbereich bzw. Sachverhalt. Eine Hypothese wird erst dann evident, wenn sie als wissenschaftliche Aussage formuliert und in der Realität überprüft wird. Diese Überprüfung in der Realität unterstellt ein methodisches Regelsystem, das allgemein anerkannt ist.
Die idealistischen Empiristen hatten quasi von einer Beobachtung bzw. einem Experiment auf Allgemeingültigkeit geschlossen, während die Neopositivisten auf mehrere vergleichbare Beobachtungen als Basis von Verallgemeinerungen rekurrieren. Die diesbezügliche Entwicklung vereinfacht ausgedrückt, besagt nichts anderes, als dass die naiven Empiristen der Auffassung waren, sie könnten voraussetzungslos beobachten (vgl. groundet theory), während die Neopositivisten der Auffassung waren, sie müssen erst die Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Forschung präzisieren. Der zu untersuchende Objektbereich muss ex ante festgelegt und mittels eines Regelsystems für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess fruchtbar gemacht werden, nämlich Formulierung einer Hypothese und Bestätigung der Hypothese durch mehrere wiederholbare und übereinstimmende Einzelbeobachtungen.
Den Unversalisierungs- und Wahrheitsanspruch wissenschaftlicher Erkenntnis modifizieren sie dahingehend, dass sie keine universellen Wahrheiten mehr anerkennen, sondern nur noch wahrscheinliche Aussagen ableiten. Gleichwohl wird der Universalisierunganspruch in Form einer künstlichen universellen Wissenschaftssprache unter den Primat der formalen Logik beibehalten. Die prognostische Potenz einer Theorie wird ins Zentrum der Betrachtung gestellt, wobei gilt, je öfter eine Hypothese verifiziert werden kann, desto sicherer der Vorhersagewert der Theorie.
1.3.3 Kritischer Rationalismus
Definition: Klassischer Rationalismus
Erkenntnistheorie, vertreten u.a. von Descartes, Leibnitz, die auf Annahme von unmittelbar (a priori) gegebener, "eingeborener" Verstandesbegriffe wie Kausalität, Substanz etc. beruht. Im Gegensatz zum Empirismus etwa von Hume und Locke werden sie für wahr gehalten, weil sie im Denken und nicht in Sinneswahrnehmungen begründet sind (Lexikon der Soziologie).
Definition: kritischer Rationalismus
Umwandlung der Erkenntnistheorie des klassischen R. durch ...
(a) Aufgabe der Vorstellung einer Wahrheitsgarantie durch Rückgriff auf die Erkenntnisquelle (Vernunft) zugunsten der ständigen kritischen Überprüfung von Hypothesen und Theorien;
(b) Sicherung der Überprüfungsmöglichkeit. Ersatz des Verifizierbarkeitskriteriums durch das Kriterium der Falsifizierbarkeit (Popper). Der k. R. versteht sich als explizite Gegenposition zum logischen Empirismus (Lexikon der Soziologie).
Der kritische Rationalismus wurde 1934/35 von Karl R. Popper in "Logik der Forschung" begründet. Popper hat das Verifikationsprinzip der Neopositivisten quasi umgekehrt und das "Falsifikationsprinzip" vertreten, d.h. nicht die Bestätigung von Hypothesen und Theorien ist evident, sondern durch kontinuierliche kritische Widerlegungsversuche von Theorien bzw. Hypothesen kann unser Wissen sicherer werden. „Der Ehrgeiz Recht zu behalten, verrät ein Mißverständnis: nicht der Besitz von Wissen, von unumstößlichen Wahrheiten macht den Wissenschaftler, sondern das rücksichtslos kritische, das unablässige Suchen nach Wahrheit.“(Popper 1984: 225)
Den Ausgangspunkt jeder wissenschaftlichen Forschung beschreibt Popper folgendermaßen: „Die Methode der Sozialwissenschaften wie auch die der Naturwissenschaften besteht darin, Lösungsversuche für ihre Probleme – die Probleme von denen Sie ausgeht – auszuprobieren.“ (Popper 1984: 105)
Wissenschaftliche Erkenntnis beginnt mit einem spezifischen Problem, das gelöst werden soll. Nach Popper sind das zunächst theoretische Probleme, die logischen Gesetzen unterliegen und auf deduktiven Denkweisen beruhen. Popper ist insoweit zuzustimmen als er formuliert: „die Spannung zwischen Nichtwissen und Wissen führt zum Problem und zu Lösungsversuchen. Aber sie wird niemals überwunden. Denn es stellt sich heraus, dass unser Wissen immer nur in vorläufigen und versuchsweisen Lösungsvorschlägen besteht und daher prinzipiell die Möglichkeit einschließt, dass es sich als irrtümlich … herausstellen wird.“ (Popper 1984: 106) Der Ansatz von Popper im Hinblick auf die Lösung eines Problems ist unzweifelhaft, aber die Implikation dieses Ansatzes scheint fragwürdig, dass wir es primär mit theoretischen Problemen zu tun haben, die anscheinend immer einer deduktiven Argumentation folgen. Eine Theorie ist nach Popper ein Gefüge von formal logischen deduktiven Sätzen oder Hypothesen, deren „Axiomensystem den Forderungen der Widerspruchslosigkeit, Unabhängigkeit, Zulänglichkeit und Notwendigkeit“ genügen muss. (Popper1984: 136)
„Das zentrale Problem der Erkenntnislehre war immer – und ist es noch immer – das Problem des Wachstums oder des Fortschritts unseres Wissens. Und um das Wachstum unseres Wissens zu studieren, studiert man am besten das Wachstum der Wissenschaft. Ich glaube nicht, daß das Studium des Wachstums der Wissenschaft durch ein Studium des Sprachgebrauches oder der Sprachsysteme ersetzt werden kann. Ich habe aber bereits zugegeben, dass es etwas gibt, das man als die Methode der Philosophie bezeichnen kann. Sie ist aber keineswegs für die Philosophie allein charakteristisch. … Ich meine die Methode, die darin besteht, daß man sein Problem klar formuliert und die verschiedenen vorgeschlagenen Lösungsversuche kritisch untersucht. Ich habe hier die Worte ‚rationale Diskussion‘ und ‚kritisch‘ hervorgehoben, um zu betonen, dass ich die rationale und die kritische Einstellung gleichsetze. Wann immer wir nämlich glauben, die Lösung eines Problems gefunden zu haben, sollten wir unsere Lösung nicht verteidigen, sondern mit allen Mitteln versuchen sie selbst umzustoßen. Leider handeln nur wenige von uns nach dieser Regel.“ (Popper 1984: XIV/XV)
Der wissenschaftliche Ansatz Poppers kann als Gegensatz zum Neopositivismus interpretiert werden. Während der Neopositivismus sich mit Sprachanalysen und Bestätigung von Theorien beschäftigt, präferiert Popper eine kritische Haltung zu den eigenen Forschungsergebnisse, nicht eine Sprachanalyse oder eine Verifizierung von Hypothesen und Theorien sei entscheidend, sondern das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnisse und Wachstum an Wissen kann es nur geben, wenn Ergebnisse der Wissenschaft immer aufs Neue hinterfragt und geprüft werden, und zwar im Hinblick darauf, ob Theorien und Hypothesen noch zeitgemäß sind bzw. ob Erkenntnisfortschritte konstatierbar sind. „Sicheres Wissen ist uns versagt. Unser Wissen ist ein kritisches Raten; ein Netz von Hypothesen; ein Gewebe von Vermutungen.“ (Popper 1984: XXV) Diese Form der kritischen Selbstreflexion von Wissenschaft wird von keiner anderen Erkenntnistheorie vertreten.
Der kritische Rationalismus ist dem Ansatz positivistischer Wissenschaftstheorien zuzuordnen, kritisiert aber den Universalisierungsanspruch von Theorien. Gemäß Popper impliziert Wissenschaft nicht, Theorien und Hypothesen zu belegen (= verifizieren), sondern wissenschaftliches Handeln intendiert, Theorien mittels Falsifikationsversuchen kontinuierlich zu überprüfen. Je häufiger eine Theorie einer "Bewährungsprobe", also einem Falsifikationsversuch (Widerlegungsversuch) unterworfen wird und diese Falsifikationsversuche scheitern, desto sicherer wird ihr Realitätsgehalt. Die Falsifikation einer Theorie hat aber prinzipiell nichts mit "richtig" oder "wahr" zu tun, sondern bedeutet, dass sie bei wiederholter Prüfung der Bewährungsprobe nicht standgehalten bzw. standgehalten hat, womit unser Wissen etwas sicherer wird. Theorien können die Realität nur approximativ (Annäherung an die Wahrheit), aber niemals universell erfassen, denn wir können nur selektive Forschung betreiben, wir sind nicht in Lage, universell zu forschen. Forschung in diesem Sinne ist immer restriktiv, auf ein spezifisches zu erforschendes Problem gerichtet.
Nach Popper steht am Anfang jeglicher Wissenschaft die Theorie und jede Beobachtung kann als Theorie formuliert werden: Man gewinnt auf reiner Erfahrungsgrundlage keine neuen Erkenntnisse, sondern nur durch die Konstruktion neuer Theorien bzw. neuer Hypothesen, wobei nicht danach gefragt wird, woher die Hypothesen kommen, d.h. der Entdeckungs- und Begründungskontext einer Theorie oder Hypothese wird der wissenschaftlichen Diskussion entzogen. Popper präferiert eine deduktive Denkweise, d.h. von der allgemeinen Theorie (Hypothese) werden Merkmale für die Bobachtung und Überprüfung der Hypothesen entwickelt. Diese Hypothesen müssen operationalisiert werden, d.h. die formallogische Hypothese/Theorie muss in messbare Kriterien transformiert werden, damit sie in der Realität durch Beobachtung, Befragung oder Experiment überprüft werden kann.
In Gegensatz zum materialistischen und idealistischen Empirismus wird beim Kritischen Rationalismus die Theorie zur logischen Basis der Forschung. Er bleibt aber der abendländischen Philosophie verpflichtet, die immer eine Erkenntnis präferierte, die die Perzeption der Sinne und Systematisierung des Verstandes als Grundausstattung des Menschen kennzeichnet, die nicht weiter hinterfragt werden muss.
In dieser Diskussion wurde auf die Bedeutung der Sprache verwiesen. Alle Wirklichkeit ist sprachlich erfassbar und kann mittels Sprache strukturiert und interpretiert werden, aber wir erfassen die Wirklichkeit nie in ihrer Ganzheit bzw. so wie sie wirklich ist, sondern nur als selektive Abstraktion vermittels sprachlicher Symbole und der sie bestimmenden Regeln (semantisch, grammatikalisch, pragmatisch).
Die wissenschaftliche Erkenntnisselektion ist danach Produkt der Erfahrung eines spezifischen Problembewusstseins. Erkenntnis im Sinne des Kritischen Rationalismus basiert nicht auf realen Phänomenen, sondern auf problembezogenen hypothetischen Vermutungen über reale Phänomene, die in der sozialen Wirklichkeit gemessen werden müssen. Nach Popper sind Theorien Netze, die ausgeworfen werden, um Welt, Wirklichkeit, Tatsachen, Realität ... einzufangen, um sie zu erklären und zu beherrschen. (vgl. hierzu Soziologische Erkenntnis)
Eine Theorie ist immer auf einen spezifischen Objektbereich bezogen, die entweder eine Erklärung anbietet oder Vorhersagen für zukünftige Entwicklungen intendiert. Um diesen Gegenstandsbereich ganz oder teilweise zu untersuchen, d.h. eine Erklärung zu finden oder über seine Zukunft etwas aussagen (Prognose) zu können, werden Hypothesen entwickelt. Sie müssen Grund für die Annahme bieten, dass eine generelle oder partielle Gültigkeit in der Realität nachweisbar ist. Eine Theorie wird dabei als Summe eines logisch konsistenten Hypothesengefüges zu einem untersuchten Objektbereich definiert. (vgl. Popper 1984, dazu Kutz 2004)
1.3.4 Zusammenfassung
Generell ist der naive Empirismus durch eine Denkweise geprägt, die Natur und Denkfähigkeit unhinterfagt voraussetzt. Der Wissenschaftler ist quasi ein neutraler objektiver Beobachter der Realität, d.h. die Beobachtung der Natur vermittelt unmittelbare Erkenntnisprobleme, die gelöst werden müssen. Die Anwendung wissenschaftlicher Methoden (Beobachtung und Experiment) führt dann zu adäquaten Erkenntnissen. Für den naiven Empiristen gibt es keine irrelevante wissenschaftliche Fragestellung, sondern jede Erkenntnis ermöglicht einen weiteren Schritt zur universellen Erkenntnis der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeiten. Der empirische Forscher ist neutraler objektiver Beobachter, der die Wahrheit sucht und sich nicht durch Ressentiments und subjektive Interessen beeinflussen lässt. Diesen Ansatz der absoluten Wahrheitsfindung, Wertneutralität und Objektivität könnte man als den idealistischen Anspruch bezeichnen, weil er nicht erfüllbar ist.
Die Neopositivisten hingegen vertreten die Auffassung, dass Erkenntnis und Wissenserwerb nicht unmittelbar aus der Wahrnehmung erfolgt: Erfahrungen müssen immer erst präzise protokolliert (Protokollsätze, d.h. sprachlich formuliert) werden. Aus diesen Beobachtungssätzen kann dann eine Theorie nach festzulegenden Sinnkriterien induktiv abgeleitet werden. Die Neopositivisten selektieren den zu untersuchenden Objektbereich und konstruieren ein Regelsystem, das als wissenschaftlicher Erkenntnisprozess Validität beanspruchen kann, und zwar mittels der Formulierung einer Forschungsidee, Hypothese und Bestätigung dieser Hypothese durch viele übereinstimmende Einzelbeobachtungen. Gleichwohl haben sie den Unversalisierungs- und Wahrheitsanspruch nicht vollständig aufgegeben. Beide sowohl die naiven Empiristen als auch die Neopositivisten präferieren den induktiven Erkenntnisprozess.
In Gegensatz zum materialistischen und idealistischen Empirismus räumt der Kritische Rationalismus der Theorie den forschungssystematischen Vorrang ein. Der kritische Rationalismus ist dem Ansatz positivistischer Wissenschaftstheorien verpflichtet, kritisiert aber den Universalisierungsanspruch von Theorien. Demnach impliziert Wissenschaft nicht, Theorien und Hypothesen zu belegen (Verifikationsprinzip), sondern wissenschaftliches Handeln intendiert, Theorien mittels Falsifikationsversuchen kontinuierlich zu überprüfen. Wird eine Theorie häufiger einer "Bewährungsprobe", also einem Falsifikationsversuch (Widerlegungsversuch) unterworfen und scheitern diese Falsifikationsversuche, könne sie als bewährt betrachtet werden. Die Falsifikation einer Theorie hat aber prinzipiell nichts mit absoluter Wahrheit zu tun, sondern bedeutet, dass eine Theorie bzw. eine Hypothese bei wiederholter Prüfung der Bewährungsprobe nicht standhalten bzw. standhalten konnte. Theorien können die Realität nur approximativ (Annäherung an die Wahrheit), aber niemals universell erfassen.
Wissenschaftstheorie beschäftigt sich generell mit Erkenntnis, d.h. wie und auf welche Weise angeblich objektives bzw. wahres Wissen über die Realität erlangt werden kann. Wissenschaftliche Erkenntnis wäre dann ein Prozess, der Natur und die soziale Lebensbedingungen zu erklären versucht, damit wir die Welt verstehen und beeinflussen können. Das Idealbild der Wissenschaft besteht in dem Anspruch, die Welt auf rationale und logische Aspekte zu reduzieren, indem durch Beobachtungen (durch eine reglementierte Vorgehensweise) Wissen angehäuft wird, dass allen Falsifikationsversuchen widerstanden hat bzw. das verifiziert worden ist. Diese Art der wissenschaftlichen Erkenntnis entspricht der Denkweise der sogenannten abendländischen Kultur, Erkenntnismodelle nicht abendländischer Kulturen spielen in diesem logisch-rationalen System keine Rolle – sie werden ausgeblendet.
Der nomologisch-analytische Erkenntnisprozess, der jeden Forschungsbereich durch formale Parameter und Kausalzusammenhänge zu objektivieren vorgibt, nennt man, weil hier primär quantitative Verfahren eingesetzt werden, Empirismus/Positivismus. Die Regeln des Erkenntnisprozesses wurden maßgeblich von Popper formuliert und haben bis heute nicht an Validität verloren. Dabei wird zunächst von einem Problem ausgegangen – von einer Forschungsidee -, das Problem wird als Hypothese (als ein formal logischer Satz) formuliert und mit Hilfe spezifischer Merkmale operationalisiert, d.h. eine allgemeine abstrakte Hypothese wird durch Einzelmerkmalen in messbare Kriterien transformiert. Mit Hilfe dieser Kriterien wird der zu untersuchende Objektbereich beobachtet (Datenerhebung). Die Datenerhebung (Festlegung einer spezifischen Methode wie etwa Befragung, Beobachtung oder Experiment) erfolgt an Individuen bzw. durch Einzelversuche, die bei repräsentativer Anzahl mittels differenzierter Auswertungsverfahren generalisiert werden. Um die Hypothese zu prüfen, sind statistische Verfahren notwendig, die aber vor der Untersuchung festgelegt werden müssen.
Durch eine repräsentative Quantifizierung von Einzeldaten kann die allgemeine Hypothese falsifiziert bzw. verifiziert werden, wobei eine Einzelhypothese (keine Theorie) oder ein Satz von Hypothesen (Theorie) präsupponiert wird. Eine Hypothese dient dazu, in der Realität zu prüfen, ob das, was man denkt, den realen Bedingungen des Untersuchungsbereiches korrespondiert. Vor diesem Hintergrund wird der Ansatz von Popper verständlich, dann, wenn es um ein neues Problem geht, dann ist ‚trial and error‘ eine Vorgehensweise, die durch die Transparenz der Methodik nachvollziehbar und wiederholbar ist. Gemäß Popper soll diese Hypothese aber nicht verifiziert (bewiesen) werden, sondern der Ansatz von Popper unterstellt eine Vorgehensweise, die besagt, dass die Hypothese falsch ist. Wird diese falsche Hypothese widerlegt, dann ist die Hypothese bestätigt, d.h. dass, was ich denke, wird durch die Beobachtung der Realität bestätigt und hat sich als objektives (d.h. die Idee des Forschers wird durch Beobachtung in der Realität bestätigt) Wissen bewährt, und zwar solange, bis es durch eine andere Untersuchung widerlegt wird. Insofern existiert kein universelles Wissen, sondern nur eine wahrscheinliches Wissen, d.h. ein relatives Wissen, dass immer auch eine Irrtumswahrscheinlichkeit impliziert.
Der formalisierten Vorgehensweise der Empiristen – wobei unstreitig ist, dass Forschung durch ex ante explizierte Regeln legitimiert werden muss -, ist entgegenzuhalten, dass Forschung, insbesondere im sozialen, ökonomischen, ökologischen und psychologischen Bereich, intervenierende Variablen nicht hinreichend kontrollieren kann, teilweise unterschlägt man einfach die das Ergebnis beeinflussenden Variablen, die nicht kontrolliert werden oder man impliziert durch eine entsprechende Auswahl von Probanden (zumeist Zufallsstichproben), dass die intervenierenden Variablen bei allen Probanden gleich sind und damit kontrolliert werden. Gleichwohl kann das Individuum, das als Datenlieferant dient, nicht auf logische und formalisierte Parameter reduziert werden.
Eine quantitative Aussage ist – solange man sich nicht auf vollständige Daten berufen kann – immer eine Wahrscheinlichkeitsaussage, die mithin eine Irrtumswahrscheinlichkeit unterstellt, wobei einschränkend gilt: je größer die Stichprobe, desto kleiner die Irrtumswahrscheinlichkeit, was aber wiederum nichts mit Wahrheit oder Realität zu tun hat, sondern mit den kritischen Werten, die ein Signifikanzniveau bestimmen; denn je größer die Stichprobe, desto kleiner der kritische Wert zur Bestätigung bzw. Falsifizierung der Hypothese (s. weiter Konstruktivismus).
Generell hat die quantitative Forschung der Empiristen selbstverständlich ihre Berechtigung und solange Forscher diese Regeln bezeichnen, begründen, akzeptieren und einhalten, sie gleichsam Ergebnisse als Wahrscheinlichkeitsaussagen kommunizieren, die nur für einen bestimmten Zeitraum Validität beanspruchen können und Prognosen als Hypothesen und nicht als Wahrheit verkaufen, kann Wissenschaftlichkeit als gewährleistet betrachtet werden.
1.4 Die Kritische Theorie
Definition: „Die kritische Theorie stellt eine Art Metatheorie dar, die einmal in ideologiekritischer Absicht, andere theoretische Ansätze kritisiert, aber auch zugleich bestehende gesellschaftliche Verhältnisse verändern will. Sie ist also Metatheorie, weil sie die Gründe und Begründungen anderer Theorien in einem gesellschaftlich-historischen Kontext zu erklären versucht. Bei der Absicht zur Veränderung geht sie nicht von wissenschaftlichen Hypothesen aus, sondern von gesellschaftlichen Widersprüchen, will diese keineswegs aber nur erklären sondern auch verändern. Als Motor dieser Veränderung dient die Kraft der kritischen Analyse und Reflexion. Ansatzpunkt dieses Reflexionsprozesses stellt die Analyse des eigenen Tuns der Wissenschaft dar. Der Klärung der Frage z.B.: Warum Wissenschaft als Vermittlerin von Wissen nicht mehr Aufklärung und Befreiung bewirkt, sondern auch Abhängigkeit und Einengung des Menschen unter Sachzwang und Sachgesetzlichkeit.“
(http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/)
Die Entwicklung der kritischen Theorie in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts war eng assoziiert mit der Gründung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main - die sogenannte Frankfurter Schule (vgl. Horckheimer: Gesammelte Schriften Bd. 8: 337/38). Das Institut verstand sich als eine interdisziplinäre Einrichtung zur Erforschung von Gesellschaft und ihrer Entwicklung, in der Philosophen, Pädagogen, Psychologen und Ökonomen kooperierten. Die Kritische Theorie wurde in der ersten Generation maßgeblich von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Erich Fromm geprägt, in der zweiten Generation von Jürgen Habermas, Klaus Offe u.a. Horkheimer definiert die Kritische Theorie folgendermaßen: „Die kritische Theorie der Gesellschaft hat dagegen die Menschen als die Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand. Die Verhältnisse der Wirklichkeit, von denen die Wissenschaft ausgeht, erscheinen ihr nicht als Gegebenheiten, die bloß festzustellen und nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit vorauszuberechnen wären. Was jeweils gegeben ist, hängt nicht allein von der Natur ab, sondern auch davon, was der Mensch über sie vermag.“ (M.Horkheimer: Gesammelte Schriften Bd. 4:217; 1988, Frankfurt a/m Fischer Verlag)„ … sie ist nicht irgendeine Forschungshypothese, die im herrschenden Betrieb ihren Nutzen erweist, sondern ein unablösbares Moment der historischen Anstrengung, eine Welt zu schaffen, die den Bedürfnissen und Kräften des Menschen genügt.“ (S.219)
Die Ausgangsposition der KritischenTheorie besagt, Gesellschaft ist Realität, und zwar eine Realität, die die Interessen und Fähigkeiten des Individuums einschränkt, aber auch eine Realität, die konstruktive Elemente enthält. Grundsätzlich geht es um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, speziell um das Verhältnis individueller Selbstbestimmung in einer als abstrakt erlebten nicht mehr transparenten Gesellschaft. Aus dieser Hilflosigkeit bzw. Ohnmacht des Indivuums gegenüber Verhältnissen, die aus individueller Sicht als nicht beeinflussbar bzw. veränderbar wahrgenommen werden, entsteht ein Paradoxon, dass die Deprivierten sich nicht gegen die Gesellschaft auflehnen, sondern sich diesen Verhältnissen anpassen. Dabei ist sowohl die Angst vor diesem Moloch Gesellschaft zu berücksichtigen als auch die Angst nicht in diese Welt integriert zu sein sowie die Angst vor zukünftigen Entwicklungen, die durch den Einzelnen als nicht mehr beeinflussbar perzipiert werden, deren Modifikationen die individuellen Bedürfnisse überhaupt nicht mehr berücksichtigt. Hier greift die kritische Theorie ein, die diese unverständlichen und abstrakt erscheinenden Mechanismen transparent zu machen versucht, um das Individuum in Lage zu versetzen, seine Potenziale auszuschöpfen.
Dabei darf man nur nicht vergessen, dass Gesellschaft permanenten Modifikationen (technischer, ökonomischer ökologischer Fortschritt) unterworfen ist, die neben positiven Elementen auch neue Probleme schaffen. Insofern analysiert sie gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge kritisch, denn nur eine kritische Analyse deckt inhumane, unflexible und rigide Strukturen und Verhältnisse auf, aber eben auch flexible, konstruktive und bedürfnisorientierte. Davon ist die Wissenschaft nicht ausgenommen. Wissenschaft ist Teil der gesellschaftlichen Arbeit, ist selbst gesellschaftliches Geschehen. K ritische Theorie analysiert die Funktion der Wissenschaft in der Gesellschaft, mithin auch im Rahmen der Entwicklung wissenschaftlicher Tätigkeit und Erkenntnis, insbesondere die Verantwortung der Wissenschaft bzw. des Wissenschaftlers für die gesellschaftliche Entwicklung stehen im Mittelpunkt der Diskussionen, die den Sinn und Zweck von Wissenschaft überhaupt einschließt.
Wissenschaft und Forschung seien stets integraler Bestandteil der Gesellschaft und können sich nicht außerhalb oder über die Gesellschaft stellen. Forscher selbst müssen ihre Stellung zur und innerhalb der Gesellschaft, Forschung und Wissenschaft reflektieren. Gleiches gilt für wissenschaftliche Theorien, sie entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern sie sind abhängig von historischen und gesellschaftlichen Bedingungen. Theorie sei deshalb auch kein Produkt willkürlicher Konstruktion von Individuen, sondern "die Beziehung von Hypothesen auf Tatsachen vollzieht sich schließlich nicht im Kopf von Gelehrten, sondern in der Industrie" (Horkheimer 1988:170).
Die kritische Theorie beruft sich soziologisch und ökonomisch primär auf den Marxismus (der aber auch kritisiert wurde), wobei gleichsam philosophische (Horkheimer, Adormo), historische und psychoanalytische (Marcuse, Fromm) Interpretationen die kritische Analyse der Gesellschaft bestimmten. Der Einfluss der nationalsozialistischen Epoche hatte zur Folge, dass die Vertreter der kritischen Theorie emigrieren mussten und Kritk – in welcher Form auch immer – wurde im Nationalsozialismus restriktiv bzw. repressiv sanktioniert. Deshalb fand erst in den 60iger Jahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland eine intensive wissenschaftstheoretische Diskussion zwischen Vertretern der kritischen Theorie (Frankfurter Schule) und Vertretern des Kritischen Rationalismus/Neopositivismus statt, die im sogenannten Positivismusstreit ihren Höhepunkt hatte.
Die Vertreter der Frankfurter Schule vertraten die Auffassung, dass jeder Theoriebildung immer schon ein Erkenntnisinteresse vorausgeht, d.h. Theorien rekurrieren immer auf fachspezifisches selektives Vorwissen, sind aber gleichwohl von Herrschaftsinteressen (im Sinne gesellschaftlicher Macht- und Einflussmöglichkeiten) geprägt.
Kritische Theorie unterscheidet sich nach Horkheimer von traditioneller Theorie grundsätzlich dadurch, dass sie den Entstehungs- und Begründungskontext von wissenschaftlichen Entwicklungen und Ergebnissen reflektiert. „Die kritische Theorie der Gesellschaft beginnt also mit einer durch relativ allgemeine Begriffe bestimmten Idee des einfachen Warentausch, unter Voraussetzung des gesamten verfügbaren Wissens, der Aufnahme des aus fremden und eigenen Forschung angeeigneten Stoffes wird dann gezeigt, wie die Tauschwirtschaft bei der gegebenen und sich freilich unter ihrem Einfluss verändernden Beschaffenheit von Menschen und Dingen, ohne daß ihre eigenen, von der fachlichen Nationalökonomie dargestellten Prinzipien durchbrochen, notwendig zur Verschärfung der gesellschaftlichen Gegensätze führen muss, die in der gegenwärtigen geschichtlichen Epoche zu Kriegen und Revolutionen trieb. “ (Horkheimer 1992:243 Gesammelte Schriften).
Im Unterschied zur traditionellen Theorie, fordert die Kritische Theorie gleichwohl die Partizipation und Antizipation des Verwertungskontextes, d.h. eine Theorie, die Verwertungsaspekte einschließt, impliziert eine pragmatische Intention, nämlich durch Aufklärung über den gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang von Lebensbedingungen zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse beizutragen. Ziel dieser Aufklärung ist die Emanzipation, die Befreiung des Menschen von überflüssigen gesellschaftlichen Zwängen und Partizipation an gesellschaftspolitischer Entwicklung und Veränderung, die Selbstbestimmungsrechte der Mitglieder einer Gesellschaft sollen gestärkt werden.
Ziel Kritischer Theorie ist es, durch Aufklärung über gesellschaftliche Entwicklungskontexte soziale Tatsachen und gesellschaftliche Verhältnisse transparent zu machen und zu modifizieren. Im Unterschied zur traditionellen Theorie, die soziale Realität lediglich in der Regelhaftigkeit ihres Auftretens (Positivismus) erfasst, geht es in der kritischen Theorie darum, soziale Tatsachen aus ihrem gesellschaftlich historischen Kontext heraus kritisch zu reflektieren, zu erklären und zu verändern, um eine gerechte Verteilung der Ressourcen und menschenwürdige Verhältnisse zu etablieren. Dazu sind Regeln, Prozesse, Mechanismen und historische Bewegungen zu untersuchen, durch die in einer Gesellschaft soziale Realität konstitutiert wird. Gesellschaft ist nicht einfach gegeben, wie bei den Positivisten und man bräuchte nur gegenwärtige Probleme erforschen, sondern Gesellschaft unterliegt einer historischen Entwicklung, durch die gegenwärtige Probleme beeinflusst worden sind. Somit ist Wissenschaft verpflichtet, den historischen Entdeckungskontext zu explizieren, um gegenwärtige Probleme begründen zu können. Der Wissenschaft obliegt es, gesellschaftliche Verhältnisse transparent zu machen und zum Nutzen der Menschen zu verändern, Wissenschaft ist kein Selbstzweck oder narzistisches Reputationssprungbrett, aber sie muss sich vor Instrumentalsierungsintentionen schützen, obwohl häufig das Gegenteil konstatierbar ist. Einerseits wird das in der Wissenschaft geltende Rationalitätsprinzip instrumentalisiert, indem es als einzig wahre Art des Denkens und Handelns kommuniziert wird und andererseits wird Wissenschaft selbst instrumenlisiert, indem Erkenntnisse für die jeweils geltende Ideologie ausgenutzt bzw. nur solche Erkenntnisinteressen gefördert werden, die die jeweils geltende Ideologie stützen. Wissenschaft trägt somit einen ambivalenten Charakter. Sie hat eine partielle Unabhängigkeit des Menschen von der Natur ermöglicht, aber gleichsam auchTechnologien entwickelt, die einen arbeitsteiligen Produktionsprozess forcierten und mithin neue Abhängigkeiten etablierten. Adorno und Horkheimer nennen diesen doppeldeutigen Prozess "Dialektik der Aufklärung" und meinen damit die grundsätzliche Interdependenz von Emanzipationsprozessen in Abhängigkeitsverhältnisse. So schlägt z.B. Emanzipation um in Abhängigkeit und Partzipation in Ausgrenzung.
1.4.1 Methodische Konsequenzen
Methodologische Grundlage der Kritischen Theorie ist "objektives Sinnverstehen". Objektive Hermeneutik ist darauf ausgerichtet, soziale Tatsachen von ihrem gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang her zu verstehen. Objektives Verstehen meint in diesem Sinne, die sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Hintergründe zu erfassen, die das Subjekt selbst teilweise nicht erfassen oder verstehen kann. Im Unterschied zum Verstehen im Sinne von Dilthey (s. weiter unten) geht es also nicht darum, die Subjekte so zu verstehen, wie sie sich selbst verstehen, sondern die Regeln und Strukturen zu eruieren, durch die ihre je spezifischen Deutungsmuster und Handlungsweisen konstituiert werden, d.h. die kritische Theorie geht im Rahmen ihrer Analysen noch einen Schritt hinter die Hermeneutik Dilthey‘s zurück, sie intendiert nicht nur die bewußtseinsfähigen Interpretationen zu verstehen, sondern fragt vielmehr nach den gesellschaftsspezifischen Mechnismen, die diese Deutungsmuster von Individuen konstitutieren, und dies sind Regeln und Strukturen, insbesondere Herrschaftsstrukturen.
Horkheimer und Adorno scheinen der Auffassung zu sein, dass quasi die Wissenschaft die Denkarbeit für die unterdrückte Bevölkerung übernehmen muss und in der Dialektik sehen sie die Methode, die die Entwicklung einer humanen, sozialen und gerechten Gesellschaft ermöglicht.
Die positivistische Vorstellung von Sozialforschung impliziert Theorie bzw. Hypothese, Operationalisierung der Hypothese und durch Messung begründete Falisifizierung bzw. Verifizierung. Habermas betrachtet beispielsweise den Vorgang der Operationalisierung als einen relativ willkürlichen Zuordnungsprozess, der nicht einfach nur deduktiv abgeleitet werden kann, sondern der entsprechende Begründungszusammenhang erst kann eine – wenn man so will – Adäquatheit zwischen Sätzen und Methode herstellen. Die abgestuften sprachlichen Transformationen müssen mit dem Untersuchungsgegenstand koinzidieren und dies sei nicht möglich, ohne entsprechende Vorkenntnisse des Untersuchungsbereiches, d.h. „… nur in Anknüpfung an die natürliche Hermeneutik der sozialen Lebenswelten ..“ (Habermas in Adorno e.al.1979:158)
Die dialektische Theorie der Gesellschaft verzichtet auf Hypothesenbildung: „anstelle des hypothetisch-deduktiven Zusammenhanges von Sätzen tritt die hermeneutische Explikation von Sinn“, weil sie Zusammenhänge aus einer gesellschaftlich-historischen Perspektive analysiert. Eine dialektische Theorie der Gesellschaft (kritische Theorie ist Gesellschaftstheorie, keine Teil- oder Individualtheorie) ist hermeneutisch, für sie ist das Sinnverständnis kostitutiv. „Sie gewinnt ja ihre Kategorien zunächst aus dem Situationsbewusstsein der handelnden Individuen selber, im objektiven Geist einer sozialen Lebenswelt artikuliert sich der Sinn, an den die soziologische Deutung anknüpft, und zwar identifizierend und kritisch zugleich. Dialektisches Denken scheidet die Dogmatik der gelebten Situation nicht einfach durch Formalisierung aus, freilich überholt es den subjektiv vermeinten Sinn gleichsam im Gang durch die geltenden Traditionen hindurch und bricht ihn auf. Denn die Abhängigkeit dieser Idee und Interpretation von den Interessenanlagen eines objektiven Zusammenhanges der gesellschaftlichen Reproduktion, verbietet es, bei einer subjektiv sinnverstehenden Hermeneutik zu verharren; eine objektiv sinnverstehende Theorie muss auch von jenem Moment der Verdinglichung Rechenschaft geben, das die objektivierenden Verfahren ausschließlich im Auge haben.“ (Habermas in Adorno et.al.1979: 164)
Simplifizierend ausgedrückt wird eine Methodik konzipiert, die nicht Hypothesen oder individuelle Merkmalen als Ausgangspunkt von Forschung supponiert, sondern es geht um eine interpretative Dialektik, die durch kritische Reflexion nach dem Sinn und dem Ziel von Funktionen, Regeln, Mechnanismen, Interdependenzen und Strukturen fragt, die das Leben innerhalb einer Gesellschaft determinieren, d.h. die Individualität beeinflussen. Wenn man unterstellt, dass gesellschaftliches Leben immer auch Restriktion der individellen Freiheit bedeutet, dann benötigt man eine Methodik, die den gesamtgesellschaftlichen Kontext im Blick hat, die quasi die Grenzlienie zwischen indvideller Freiheit und sozialer Anpassung gewährleistet, die den Gleichgewichtszustand zwischen Förderung der individuellen Potenziale und gesellschaftlich notwendigen Anforderungen herzustellen versucht.
1.5 Der hermeneutische Ansatz der Erkenntnis
Definition:
Lehre von der Auslegung von Texten sowie nicht-sprachlicher Kulturäußerungen. Unter vielen Spielarten der H. lassen sich zwei Gruppen bilden: H. als Kunstlehre, als Auslegungsmethode in den Geisteswissenschaften und andererseits die philosophische H. In unterschiedlichem Maße werden dabei u.a. die folgenden Punkte als Aufgabe von H. gesehen:
a) interpretative Klärung von Grundbegriffen;
b) Verstehen eines Textes und seiner Bedeutung aus seiner Zeit heraus, unter Berücksichtigung von Situation, Motivation und Intension seines Verfassers ...
c) Offenlegung des Sinns, den ein Text für den Interpreten und seine Zeit hat. (Lexikon der Soziologie).
1.5.1 Einleitung
Innerhalb der hermeneutischen Begründung der Sozialwissenschaft lassen sich verschiedene Ansätze unterscheiden:
- Der Weber‘sche Ansatz der verstehenden Soziologie
- die Begründung der Hermeneutik durch Wilhelm Dilthey zu Ende des 19. bzw. zu Beginn des 20.Jahrhunderts,
- die Kritische Theorie, die sich selbst in Gegensatz zur geisteswissenschaftlichen Soziologie sah, aber in ihrem forschungsmethodischen Kern eine hermeneutische Disziplin bleibt, (vgl. Horckheimer, Adorno, Habermas 1973,1980, Lorenzer 1975, Marcuse 1955, Fromm 1960)
- Die Ethnomethodologie, die danach fragt, wie soziale Wirklichkeit konstituiert wird, wie wir Verstehen herstellen, wie wir in unseren Interaktionen unsere Handlungen als geordnete, vernünftig geplante und damit verstehbare wechselseitig verfügbar machen (Weingarten 1985, Garfinkel 1976, Cicourel1975)
- die Hermeneutik in der Soziologie (Schütz 1975, Lorenzer 1975, Öevermann 1979, Söffner 1988, Mayring 2001, Reichertz 2001)
- und schließlich die Phase der Qualitativen Forschung, wie sie sich seit den 80er Jahren etabliert hat (Glaser/Strauss 1979, Jüttemann 1985, Söffner 1988, Meinefeld 1995, Reichertz 1991, Mayring 1985 usw.)
Interessanterweise, sofern die verstehende Soziologie im Mittelpunkt der Betrachtung steht, wird eine Grundlegung der Prinzipien eher mit Max Weber in Verbindung gebracht, Dilthey beispielsweise spielt eine untergeordnete Rolle, obwohl er die wissenschaftstheoretischen Gundprinzipien der Hermeutik im Rahmen seiner Differenzierung von Natur- und Geisteswissenschaften formuliert hat. Für die verstehende Soziologie mag die marginale Diskussion um Dilthey deshalb eine Rolle spielen, weil er die Soziologie nicht als eigenständige Wissenschaft anerkannt und insbesondere die Ansätze der englischen und französischen Schulen kritisiert hat (vgl. Dilthey, Band I, 1959:420ff.). Sein Bezugspunkt ist die grundsätzlich vorherrschende Präferierung der Naturwissenschaften, die aber nicht die historisch-gesellschaftlichen Veränderungen erfassen können. „Die Wissenschaften, welche die geschichtlich gesellschaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstand haben, suchen angestrengter als je zuvor ihren Zusammenhang untereinander und ihre Begründung. Ursachen, die in dem Zustande der einzelnen positiven Wissenschaften liegen, wirken in dieser Richtung zusammen mit dem mächtigen Antrieben, die aus den Erschütterungen der Gesellschaft sei der französichen Revolution entspringen. Die Erkenntnis der Kräfte, die in einer Gesellschaft walten, der Ursache, welche ihre Erschütterung hervorgebracht haben, der Hilfsmittel eines gesunden Fortschritts, die in ihr vorhanden sind, ist zu einer Lebensfrage für unsere Zivilisation geworden. Daher wächst die Bedeutung der Wissenschaft der Gesellschaft gegenüber denen der Natur; …“ (Dilthey, Band I, 1959: 4). Die Wissenschaft, die diese Leistung vollbringen kann, fasst er unter dem Begriff der Geisteswissenschaften zusammen, obwohl die Betonung - im Gegensatz zu Diltey’s weiteren Ausführungen - eher auf soziologische denn auf geisteswissenschaftliche Aspekte gerichtet ist.
Dass in diesem Kontext die Erkenntnisquelle das Individuum (im Sinne von Textgrundlagen, Erleben, Denken, Verstehen usw.) ist, dessen geistige Welt viele Aspekte der historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit enthält, ist eine Annahme, die auch nicht durch Argumente allein an Validität gewinnt, für die Dilthey’sche Hermeneutik aber entscheidend. „Das Material dieser Wissenschaften bildet die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit, soweit sie als geschichtliche Kunde im Bewußtsein der Menschheit sich erhalten hat, als gesellschaftliche, über den gegenwärtigen Zustand sich erstreckende Kunde der Wissenschaft zugänglich gemacht worden ist. So unermesslich dieses Material ist, so ist doch seine Unvollkommenheit augenscheinlich.“ (Dilthey, Band I, 1959:24) Daraus schließt er aber nicht, dass familiale, gruppen- und Organisationsstrukturen unabhängig vom subjektiven Sinn analysiert werden können, sondern sein Schluss lautet: “Die Analysis findet in den Lebenseinheiten, den pyschophysischen Individuis die Elemente, aus welchen Gesellschaft und Geschichte sich aufbauen, und das Studium dieser Lebenseinheiten bildet die am meisten fundamentale Gruppe des Geistes.“ (Dilthey, Band I, 1959:28)
Der Psychologismus Dilthey’s ist aber evident für die Entwicklung der Hermeneutik in der empirischen Sozialforschung – auch wenn mancher Soziologe das vielleicht nicht akzeptieren will - . Um den Sinn, die Bedeutungen von Lebenswelten, Lebensereignissen, Lebensbedingungen und Lebenszusammenhängen erfassen und interpretieren zu können, ist es notwendig, die Individuen in ihrem spezifischen Interaktionskontext zu analysieren sowie die Interpretationen der betroffenen Subjekte zu erfassen, ob das nun ein historischer Kontext ist, der als historischer Text vorliegt, oder ob es ein gegenwärtiger Kontext ist, der durch aktuelle Interviews, Beobachtungen oder Texte analysierbar ist oder ob es sich um Kunstwerke handelt, die als Bild oder Skulptur interpretiert werden können, ist dabei ziemlich belanglos, wichtig ist ein Rückgriff auf eine relativ sichere Erkenntnisquelle wie Individuen bzw. Bewußtseinsinhalte von Individuen, da – im Sinne Dilthey’s – ohne Individuen, die Basis für eine Gesellschaft wegfallen würde.
Vor diesem Hintergrund ist Dilthey mehr Soziologe als er vielleicht wahrhaben wollte, und für die neuere Soziologie geht es im Rahmen der Methoden der empirischen Sozialforschung vielmehr darum, die Argumentation Dilthey‘s für die qualitative Sozialforschung fruchtbar zu machen und eher bei Dilthey als bei Weber die grundsätzlichen hermeneutischen Positionen zu suchen. Die Position Dilthey‘s zur Hermeneutik ist dabei wesentlich eindeutiger als die Position Webers.
Abweichend von den oben genannten Ansätzen des sinndeutenden, verstehenden und interpretativen Paradigmas, das primär in der Sinnhaftigkeit von Handeln seine methodologischen Grundlagen findet, weicht die Ethnomethodologie insofern ab, als sie nicht den Sinn von Phänomenen, Gegenständen bzw. Sachverhalten zu ergründen sucht, sondern die Intention der Etnomethodologie geht dahin, nur das tatsächliche beobachtbare Handeln und Verhalten der Akteure, den tatsächlichen Handlungsvollzug zu analysieren: “…, was Handelnde tun, der tatsächliche Handlungsvollzug, (wird) als die der Analyse einzig zugängliche Erscheinungsweise der Interpretation begriffen: das (beobachtbare) Handeln selbst ist die Interpretation.“ (Keller 2012: 244) Es geht schlicht darum, das Handeln und Verhalten von Individuen in spezifischen Situationen zu beschreiben, d.h. was tun Individuen wirklich, wenn sie spezifischen Situationen ausgesetzt sind. Es geht nicht um die Frage, warum sie etwas tun oder ob die Handlung sinnvoll oder weniger sinnvoll sind, sondern darum, wie sie etwas tun, die faktisch beobachtbare Handlung bzw. das faktisch beobachtbare Verhalten, z.B in Gerichtsverhandlungen, ob Geschworene rein nach der Beweislage bzw. Indizienlage ihr Urteil verkünden oder ob Meinungen und Ressentiments für die Beurteilung ausschlaggebend sind oder Beobachtung des Verhaltens von Lehrern: existieren vergleichbare Kriterien bei der Beurteilung eines Aufsatzes und werden diese auch angewendet oder beeinflussen Sympathie und Antipathie die Bewertung. Mit anderen Worten, der Interpretationsspielraum der Ethnomethologen ist erheblich eingeschränkt oder besser, es existiert kein Interpretationsspielraum, die Beschreibungen der Handlungen sind die Interpretationen.
Andererseits ist bei jeder Auswertung eines qualitativen Verfahrens eine Beschreibung der faktisch vorliegenden Daten notwendig, um eine sinn- bzw. verstehensorientierte Interpretation durchführen zu können, d.h. wenn beispielsweise Copingstrategien untersucht werden, dann muss man, um den Sinn dieser Copingstrategien interpretieren zu können, wissen, welche Strategien überhaupt angewendet werden und in welchen Situationen welche Strategie präferiert wird, die Sinninterpretation wäre der Zweite Schritt der Analyse (s. Kap. 10). Damit bleibt die Ethnomethologie im Rahmen der Auswertung einen Schritt hinter der verstehenden Sozialforschung zurück.
1.5.2 Begründung der Hermeneutik (Dilthey)
Während die bislang diskutierten Erkenntnisansätze sich mit formaler Logik, Kausalität, Vernunft usw. beschäftigen, geht es Dilthey um eine geisteswissenschaftliche Erkenntnis, um einen Erkenntnisprozess, der ... “objektive Erkenntnis der Verkettung menschlicher Erlebnisse in der menschlich-geschichtlichen-gesellschaftlichen Welt zu gewinnen strebt.“ (Dilthey 1960: Gesammelte Schriften Band VII:3) Die reale Welt bzw. die gegenständliche Welt ist nicht in Form eines Abbildes der Realität im Geist repräsentiert, sondern das Erkennen bleibt an seine Mittel des Beobachtens, Verstehens und begrifflichen Denkens gebunden. Die Geisteswissenschaft intendiert Entdeckung von Einmaligkeiten, Zufälligem und Gegenwärtigem im geschichtlichen und gesellschaftlichem Erleben der Akteure, der Sinnzusammenhang des Erlebens im sozialen Interaktionskontext wird als primäres Erkenntnisziel formuliert.
„Das Leben selber, die Lebendigkeit, hinter die ich nicht zurückgehen kann, enthält Zuammenhänge, an welchen dann alles Erfahren und Denken expliziert. Und hier liegt nun der für die ganze Möglichkeit des Erkennens entscheidende Punkt. Nur weil im Leben und Erfahren der ganze Zusammenhang enthalten ist, der in den Formen, Prinzipien und Kategorien des Denkens auftritt, nur weil er im Leben und Erfahren analytisch aufgezeigt werden kann, gibt es ein Erkennen der Wirklichkeit.“ (Dilthey1964, Gesammelte Schriften, Band V: 83)
Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Auffassungen Dilthey’s ist die Differenzierung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, wobei die Geisteswissenschaften sehr weit gefasst sind – von der Psychologie über Geschichte und Ästethik bis hin zur Soziologie -.
„Das Ideal der naturwissenschaften Konstruktion ist die Begreiflichkeit, deren Prinzip die Äquivalenz von Ursache und Wirkung ist, diese muss auf die absolute Vergleichbarkeit von Größen eingeschränkt sein, und ihr vollkommenster Ausdruck ist das Begreifen in Gleichungen. Das Ideal der Geisteswissenschaften ist das Verständnis der ganzen menschlich-geschichtlichen Individuation aus dem Zuammenhang und der Gemeinsamkeit in allem Seelenleben. „ (Dilthey, Band V, 1964:265) Während die Bedeutung der Naturwissenschaften im Nachweis von Kausalzusammenhängen, Gesetzmäßigkeiten, Mechanismen, Funktionen, Messungen und mathematisch Berechnungen bestehen, die primär mittels Experimenten nachgewiesen werden können, liegt die Bedeutung der Geisteswissenschaften in der Erfassung und Interpretation von Erleben, Ausdruck und Verstehen. „Hier erreichen wir ein ganz klares Merkmal, durch welches die Abgrenzung der Geisteswissenschaften definitiv vollzogen werden kann. Eine Wissenschaft gehört nur dann zu den Geisteswissenschaften, wenn ihr Gegenstand uns durch das Verhalten zugänglich wird, das im Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen fundiert ist.“ (Dilthey, Band V, 1964:256) Erleben ist immer Realität und diese Realität ist beeinflusst von Historischem, Gegenwärtigem und Zukünftigem, Erleben ist keine Abstraktion der Realität oder Spiegelbild der Realität im Bewußtsein, sondern ist für das Individuum eine Realität, in der sich Traddition, Individualismus und Alltruismus widerspiegeln. Darüber hinaus ist Erleben immer mit Bewertungen und Wertungen behaftet, „…, weil Wertung und Zweckzusammenhang schon im Tatsachensystem enthalten ist. Denn dieses Tatsachensystem ist schließlich überall in der Struktur des Seelenlebens (Freud: Ich, Über-Ich, Ich-Ideal, Es) begründet, und diese enthält die Richtung auf Erzeugung der Lebenswerte in sich.“ (Dilthey, Band V, 1964 265)
Die Geisteswissenschaft, die Dilthey als Gegenpart bzw. als Ergänzung zu den Naturwissenschaften darstellt, ist eine Wissenschaft, die nicht auf Gesetzmäßigkeiten, sondern primär auf historische Einmaligkeit gerichtet ist. „ Das Ideal der Erklärung aller Erscheinungen durch den Inbegriff genereller Wahrheiten ist nicht erreichbar“ (Diltey, Band V, 1964: 272). Dilthey gibt den Universalisierungsanspruch der Wissenschaft auf. Die Geisteswissenschaften gehen von der Annahme aus, dass menschliche Handlungen nicht notwendigerweise in einem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang stehen und deshalb auch dem naturwissenschaftlichen Erklären nicht zugänglich sind, sondern nur dem geisteswissenschaftlichen Verstehen . Dilthey bezweifelte die tradierte Denkweise der Rationalisten und Positivisten.
„In den Adern des erkennenden Subjektes, das Kant, Locke und Hume konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als reiner Denktätigkeit. Eine Philosophie, die nur von der rationalen Erkenntnis allein ausgeht, übersieht den ganzen Menschen in der Fülle seiner Bezüge, den denkenden, wollenden, fühlenden und handelnden Menschen. Fühlen, Wollen und Handeln werden nicht nur aus der ratio gespeist. Der Grundsatz meiner Philosophie besteht darin, dass bisher noch niemals der ganze Mensch und das ganze Leben, mithin noch niemals die ganze und volle Erfahrung zum Ausgangspunkt des Philosophierens gemacht worden sind.“ (Dilthey, Band I, 1959: XVIII)
Nach Dilthey leben wir nicht mit oder in der Gesellschaft, sondern wir erleben Gesellschaft, Situationen oder Konflikte. Erkenntnis bedarf einer Abstraktion des Erlebens mit Hilfe sprachlicher Symbole, die Bezeichnung des Gegenständlich bzw. der Erlebnisse, und erst durch eine Verknüpfung von Begriffen in sinnvollen Sätzen, d.h. mit Hilfe syntaktischer, grammatikalischer, semantischer und pragmatischer Regeln, wird ein Sinnzusammenhang konstituiert und je detaillierter und präziser dieser Sinnzusammenhang formuliert werden kann, desto größer ist unsere Erkenntnis, desto größer unser Verstehen der subjektiven Lebenswelten bzw. Einmaligkeiten, das die Grundlage für das Verstehen von Interaktions- und gesamtgesellschaftlichen Kontexten bildet. Das Erleben selbst ist ein Alltagsphänomen, evident für die geisteswissenschaftliche Erkenntnis sei die subjektive Interpretation in einem geschichtlichen und gesellschaftlichen Interaktionskontext, und je präziser diese Sinnzusammenhänge erfasst werden können, desto eher Verstehen wir das Erleben, d.h. wir verfügen dadurch auf Dauer über immer mehr Wissen eines inneren Erlebnis- bzw. eines äußeren Gegenstandsbereiches und das beinhaltet Wissen über die Wirklichkeit, die Werteorientierung, die Zweckbestimmung und die Regeln, die im jeweiligen Erlebnisbereich angewendet und in einen Gesamtzusammenhang eingeordnet werden. Diesen Sinnkontext könnte man auch als Bewusstseinsstufen auffassen:
- das naive oder Alltagsbewusstsein repräsentiert nur ein oberflächliches oder unspezifisches Wissen der Erlebniswelten,
- während das wissenschaftliche Bewusstsein darüber hinausgeht und eine Beschreibung der Sinnkontexte zu konsentieren intendiert,
d.h. je mehr Wissen über einen bestimmten Erlebnisbereich analysierbar ist, desto präziser können die Sinnzusammenhänge formulieren und desto bewusster können Erlebnisse in einen Gesamtkontext eingeordnet werden, und das ist Erkenntnis.
„Hiernach entsteht das folgende Verhältnis zwischen psychologischer Deskription und Theorie des Wissens. Die Abstraktionen der Theorie des Wissens beziehen sich zurück auf die Erlebnisse, in denen das Wissen in zwiefacher Form durch verschiedene Stufen hindurch sich ausbildet. Sie setzen die Einsicht in die Prozesse voraus, durch welche der Grund der Wahrnehmungen Namen gegeben, Begriffe und Urteile gebildet werden, und so das Denken allmählich vom Einzelnen, Zufälligen, Subjektiven, Relativen und darum mit Irrtümer, versetzten zum objektiv Gültigem fortschreitet.“ (Dilthey, Band VII: 1960:9-10)
Anders ausdrückt, für Dilthey ist der Entdeckungs- und Begründungskontext von Theorien von entscheidender Bedeutung, erst die ausformulierte Entwicklung (Deskription: „Es wird in der Deskription nur ausgesprochen, was im Prozess der Hervorbringung von Wissen enthalten ist. Wie ohne diese Beziehung die Theorie, die doch aus diesen Erlebnissen und deren verhältniszueinander abstrahiert ist, gar nicht zu verstehen ist ….“ (Dilthey, Band VII, 1960:10) von Erleben (Erleben ist für das Subjekt immer Realität) kann letztlich durch weitere Abstraktionen zu einer Theorie führen, was im Gegensatz zum kritischen Rationalismus steht, der die Theorie als Forschungsbasis präferiert, ohne den Entdeckungs- und den Begründungskontext von Hypothesen oder Theorien zu problematisieren bzw. zu explizieren.
Der Verlauf des Lebens zeigt eine Entwicklung. Unterschiedliche Erlebnisse werden in den gesamten Lebenskontext des Individuums einbezogen, so dass die erworbenen Lebenskontexte jede weitere psychische Aktivität beeinflussen. Dieser erworbene Lebenskontext “…bedingt das Auftreten und die Richtung der Aufmerksamkeit, die Apperzeptionen hängen von ihm ab, und die Reproduktion der Vorstellungen ist bestimmt von ihm.“ (Dilthey, Band VII, 1960:14)
Wenn man diese Ausführungen ernst nimmt, dann ist auch der Wissenschaftler davon nicht ausgeschlossen, auch er ist abhängig von seinem erworbenen Lebenskontext, also nicht frei von Vorkenntnissen, Vorurteilen oder gesellschaftlichem Interaktionskontexten bzw. seinem Status. Der Einfluss seiner privaten und beruflichen Sozialisation bestimmen seine Denkweise und Forschungspräferenzen; er kann sich davon nicht befreien und – wie einige Vertreter der qualitativen Sozialforschung vermitteln möchten - unvoreingenommen und offen, ohne Rückgriff auf seine erworbenen Denk- und Handlungsmuster (Erlebniskontext) einen Objektbereich erforschen.
1.5.3 Methodische Konsequenzen (Hermeneutik)
Die wissenschaftliche Intention von Dilthey zielt auf eine Erkenntnis, die alle Facetten des Lebens zu erfassen in der Lage ist. Mit Begriffen und Definitionen, wie es die herkömmliche Philosophie versucht habe, können Probleme nicht gelöst werden - oder im Sinne Spinozas, mit jeder Definition werden Merkmale eines Objektbereiches bestimmt, aber gleichzeitig auch ausgeschlossen -, das Erleben in einem Lebenskontext nicht erfasst werden. Es bleibe immer wieder ein unauflösbarer Gegensatz zwischen Begriff und der mit dem Begriff gekennzeichneten Realität. Vor diesem Hintergrund strebte Dilthey eine methodologische Strategie an, die nicht die Erklärung von Phänomenen präferiert, sondern das Verstehen von Erleben bzw. von Phänomenen, und die Lösung dieses Problems glaubte er in einer hermeneutischen Methodologie gefunden zu haben. Diese wollte er zu einer wissenschaftlich fundierten Technik entwickeln, wobei er an Schleiermacher (1768-1834 – Hermeneutischer Zirkel) anknüpfte, der die Kunst der Hermeneutik bei der Textauslegung entwickelt hatte, als eine theologische bzw. philosophische Methode. Hermeneutik als Auslegung (Deutung, Verständnis, Interpretation) meint primär die Auslegung von geschriebenen Texten, im Weiteren die Interpretation menschlichen Erlebens im gesellschaftshistorischen Kontext, im weitesten Sinn Erleben in der gesellschaftlichen Totalität.
Für die Geisteswissenschaften sind die naturwissenschaftlichen Vorgehensweisen ungeeignet, sie bedürfen daher einer eigenen wissenschaftstheoretischen Grundlegung. Der Grund liegt für Dilthey darin, dass bei einer naturwissenschaftlichen Vorgehensweise verloren geht, was für menschliche Lebensäußerungen zentral ist: das menschliche Erleben, die Bedeutungshaftigkeit von Lebensäußerungen, die Sinnimmanenz menschlichen Handelns.
Während es Aufgabe der Naturwissenschaft ist, Phänomene zu erklären, geht es in den Geisteswissenschaften darum, innere Zustände in ihrer Bedeutung zu verstehen. Dies ist in der Tradition der hermeneutischen Wissenschaften die zentrale Unterscheidung: Während die Naturwissenschaften auf Basis von Gesetzmäßigkeiten Erklärungen liefern wollen, ist es Aufgabe von Geisteswissenschaften individuelles Erleben im gesellschaftlichen Gesamtkontext zu verstehen. In diesem Sinne ist es Aufgabe der Sozialwissenschaften soziale Verhältnisse, soziale Lebensbedingungen und soziale Systeme zu verstehen, die ein Regelsystem bzw. eine Struktur des Zusammenlebens unter Aspekten der Verteilung der Ressourcen transparent machen und somit auch Zukunftsperspektiven einschließen können. (vgl. Dilthey, Band V,1964: 318 ff.)
Die Eigenständigkeit der Geisteswissenschaften erfordert eigene, hermeneutische Methoden. Verstehen ist kein naturwissenschaftlicher Vorgang, sondern impliziert Interesse am realen Leben. Verstehen als Methode der Hermeneutik bildet jenen Vorgang, "in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen" (Dilthey, Band V, 1964: 318). Verstehen ist aber an Aufmerksamkeitsintensität gebunden, am Interesse, das den Erscheinungen entgegengebracht wird, so dass ein intensives wissenschaftliches Interesse dem Verstehen wollen subsumiert werden kann. Verstehen ist in diesem Sinne die Interpretation eines Ausdrucks, der die Bedeutung einer Interaktion oder eines Textes zu erfassen sucht und damit die Aneignung des im Sprachausdruck enthaltenen Inhalts.
Allerdings ist es als Bestandteil des eigentlichen Lebens häufig auch unzuverlässig: Man kann sich irren, wenn man die Bedeutung einer Handlung oder den Sinn eines Textes zu erfassen sucht. Hier beginnt die Aufgabe der Hermeneutik (als Lehre vom Verstehen). Sie ist für Dilthey die Methode der Geisteswissenschaften insgesamt; Hermeneutik ist die wissenschaftliche Methode zur Erfassung von Bedeutungen. Sie wird durch partielle Identifikation mit anderen aufgrund ähnlicher Erlebnisse möglich, der Text spiegelt quasi die eigene Erfahrung rsp. die eigene Lebenswelt wider. Diese Möglichkeit der Identifikation ergibt sich daraus, dass es bei aller Unterschiedlichkeit zwischen Menschen zumindest strukturelle Gemeinsamkeiten in der biologischen Ausstattung, in den Grunderfahrungen und –erlebnissen gibt, die es erlauben, mittels Empathie, Mit- und Nacherleben, Vermutungen darüber anzustellen (bzw. Analogien herzustellen), welche Bedeutungen durch bestimmte Situationen, Ereignisse und Handlungen konstitutiert werden. Die Bedeutung des Spiels für ein Kind erfassen wir deshalb, weil wir als Kinder selbst gespielt haben. Allgemein formuliert, sind Handlungen und soziale Tatsachen in ihrer Bedeutung erschließbar, weil wir uns in sie hineinversetzen (Empathie), sie nacherleben oder nachempfinden können, wenn auch möglicherweise mit differenzierten inhaltlichen Ausprägung, aber die strukturellen Konvergenzen sind nicht zu leugnen.
Problematisch an dieser Auffassung ist, dass die Interpretation eines Textes durch einen Interpreten eine genuin subjektive Kategorie ist, insofern wäre sie wie die Metaphysik ein reines Gedankenspiel, ohne Bezug zur Realität. Eine partielle Validität kann erst beansprucht werden, wenn ein interaktiver Konsens dieser Intepretation gewährleistet ist. In der sozialwissenschaften Forschung ist ein anderes Merkmal kennzeichnend, nämlich der intersubjektive Konsens bzw. die Rückkoppelung zum Textproduzenten (z.B. beim Interview), also die Rückversicherung, dass die Interpretation die Bedeutungen des Textproduzenten erfasst hat (s. objektive Hermeneutik und Validität qualitativer Sozialforschung). Vor diesem Hintergrund ist Hermeneutik nicht als „Kunst“ zu bewerten, sondern als wissenschaftliche Methode, die aufgrund regelgeleiteter Interpretationen, die Sinnzusammenhänge von Handlungen, Ereignissen, sozialen und gesellschaftlichen Interaktionskontexten erst ermöglicht.
1.6 Kritische Wissenschaftstheorie
1.6.1 Einleitung
Während die bislang dargestellten Ansätze der Wissenschaftstheorie sich generell mit Regeln des Erkenntnisprozesses (Methoden, Hypothesen, Theorien) beschäftigen oder eine spezifische Art und Weise des Denkens (Vernunft, Logik, Konstruktion) diskutieren, ändert sich das bei Paul Feyerabend (1924-1994. Er hat Philosophie, Astronomie und Physik studiert und war zu Beginn seiner Karriere kritischer Rationalist. Er betont in seinem Vorwort: „Nocheinmal betone ich, dass die im Buch vorgetragenen Auffassungen nicht neu sind – für Physiker wie Mach, Boltzmann, Einstein, Bohr waren sie eine Selbstverständlichkeit. Aber die Ideen dieser großen Denker wurde von den Nagetieren des Wiener Kreises und den sie benagenden kritisch-rationalistischen Nagetieren bis zur Unkenntlichkeit entstellt.“ (Feyerabend 1983) Feyerabend bezeichnet sich als erkenntnistheoretischen Anarchisten, aber nicht mit einer negativen Konnotation, sondern im wahren Sinne des Wortes, sich mit Regeln, Dogmen, Ideologien oder aufgezwungenen Normen oder Ettiketten kritisch auseinanderzusetzen – er vertritt eher die Auffassung von der freien Entfaltung des Individuums (des Wissenschaftlers), aber mit der Einschränkung, dass Wissenschaft gesellschaftlich moralischen Regeln verpflichtet sei.
1.6.2 Begründung
Feyerabend ist der erste Wissenschaftstheoretiker, der zunächst die wissenschaftliche Ausbildung zur Basis seiner Argumentation macht, d.h. die akademische Sozialisation bzw. die Professionalisierung des Denkens. Seiner Auffassung nach simplifiziert die Ausbildung Wissenschaft und ihre Akteure durch Spezialisierung der Fachgebiete und der aus ihr folgenden jeweils eigenen Logik und Methodik. Die Ausbildung führt zur Vereinheitlichung von Handlungen, etabliert rigide Vorgehensweisen und erhält somit ein System aufrecht, dass nur von Insidern verstanden wird. „Jemandes Religion etwa, oder seine Metaphysik, oder sein Humor dürfen mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit nicht das geringste zu tun haben. Die Einbildungskraft wird eingeschränkt, selbst die Sprache eines Menschen ist nicht mehr seine eigene. Das wiederum spiegelt sich in der Eigenart, daß wissenschaftliche Tatsachen als unabhängig von Meinung, Glauben und kulturellen Bedingungen empfunden werden.“ (Feyerabend 1983:16)
Die akademische Sozialisation verhindert aufgrund ihrer Rigidität jede Art von kreativer Entfaltung der Wissenschaftler. Der Wissenschaftler kann nur dann Wissenschaft betreiben, wenn er sich den Regeln und der Sprache der Institution Wissenschaft unterordnet. Nach Feyerabend zeigt aber die Geschichte der Wissenschaft, dass diese sogenannten allgemeingültigen Regeln und Denkvariationen im Laufe der Geschichte verletzt wurden und das teilweise gerade diese Verletzung von Regeln zu neuen Erkenntnissen führte, deshalb plädiert er für einen theoretischen Anarchismus. „Es ist also klar, daß der Gedanke einer festgelegten Methode oder einer feststehenden Theorie der Vernünftigkeit auf einer allzu naiven Anschauung vom Menschen und seinen sozialen Verhältnissen beruht. Wer sich dem reichen, von der Geschichte gelieferten Material zuwendet und es nicht darauf abgesehen hat, es zu verdünnen, um seine niedrigen Instinkte zu befriedigen, nämlich die Sucht nach geistiger Sicherheit inform von Klarheit, Präzision, Objektivität, Wahrheit, der wird einsehen, daß es nur einen Grundsatz gibt, der sich unter allen Umständen und in allen Stadien der menschlichen Entwicklung vertreten läßt. Es ist der Grundsatz: Anything goes.“ (Feyerabend 1983: 32)
Der von Feyerabend benutzte Begriff der theoretischen Anarchie scheint angesichts seiner dezidierten und kenntnisreichen Darstellung sowie entsprechender Beispiele aus der Physik, Astromie, Poilitik, Medizin eher einen ironischen Zug zum modernen Wissenschaftsbetrieb zu vermitteln als eine Anarchie der Wissenschaft. Sein Anliegen geht eher in Richtung alternative Vorstellungen, Argumente und Theorien bei der wissenschaftlichen Arbeit zu berücksichtigen, um nicht in das Dilemma zu geraten, Ideologie statt Wissenschaft zu diskutieren.
Wissenschaftliche Regeln und Theorien müssen immer mal wieder durch Gegensätze (z. B. Kontrainduktion) in Frage gestellt werden, um einen Fortschritt an Erkenntnissen zu ermöglichen und dabei ist es vollkommen gleichgültig, ob diese Gegensätze oder neuen Ansätze auf der Basis historischen Wissens, Dialektik, Naturalismus, Rationalismus oder Konstruktivismus entwickelt werden. Die Geschichte der Wissenschaft zeigt teilweise eine einseitige, an Dogmen, orientierte Forschung. Er argumentiert, man könne sich des Eindrucks nicht erwehren, „… daß empirische Theorien in ihren späteren Entwicklungsstadien nicht mehr von zweitrangigen Mythen zu unterscheiden sind“ (Feyerabend, 1983: 51) und um das zu verhindern, ist es notwendig anzuerkennen: „kein Gedanke ist so alt oder absurd, daß er nicht unser Wissen verbessern könnte. Die gesamte Geisteswissenschaft wird in die Wissenschaft einbezogen und zur Verbesserung jeder einzelnen Theorie verwendet. Auch politische Einflüsse werden nicht abgelehnt. Sie sind notwendig, um den wissenschaftlichen Chauvinismus zu überwinden, der sich oft der Einführung von Alternativen, zum Status quo widersetzt. Den Alternativen muß es erlaubt sein, sich zu vollständigen Subkulturen zu entwickeln, die nicht mehr auf Wissenschaft und Rationalismus beruhen.“( Feyerabend 1985: 55)
Um diese Thesen zu stützen, greift Feyerabend auf das Beispiel China zurück, insbesondere auf die chinesische Medizin, die durch den Glauben an die abendländisch bürgerlich geprägte Wissenschaft und deren angebliche intellektuelle Überlegenheit diskrediert und jahrelang verdrängt wurde. Erst Ende der 50iger Jahre des letzten Jahrhunderts konnte die traditionelle chinesische Medizin (Kräuter, Akupunktur usw.) wieder ohne Ressentiments, sogar durch Entwicklung von Lehrstühlen an den Universitäten, praktiziert werden. Zwischenzeitlich ist es soweit, dass die Akupunktur und Kräuterkunde auch in der abendländischen Medizin ihren Platz gefunden hat, wenn auch einen Nischenplatz.
Die naturwissenschaftlich orientierte Schulmedizin grenzt diese Ansätze weiterhin aus. Sie wehrt sich bis heute, die Wirksamkeit dieser sogenannten Alternativmedizin anzuerkennen. Im Sinne Feyerabends deshalb, weil sie über keine Messmethoden verfügt bzw. die Zusammenhänge der Diagnoseverfahren und die Wirkung von Therapien nicht erklären kann. Die naturwissenschaftlich orientierte Medizin bleibt ihrer tradierten Ideologie treu, weil der naturwissenschaftliche Ansatz allein Gültigkeitsanspruch besitzt und alle anderen Methoden, die dem naturwissenschaftlichen Dogma nicht subsumiert werden können, d.h. nach ihren Regeln nicht überprüfbar sind, werden aus dem Erkenntnisprozess und der Forschung ausgeblendet. (vgl. Feyerabend 1983: 65ff.)
Kreativität, Spontaneität oder Intuition haben keinen Platz in einer elitären Wissenschaftsinstitution, die glaubt, unabhängig von gesellschaftlichen Verhältnissen, der restlichen Welt vorschreiben zu dürfen, was Wissen oder Wissenschaft ist. Wissenschaft ist Bestandteil einer Gesellschaft, ist selbst (wie Luhmann es ausdrückt) gesellschaftliches Geschehen, insofern ist sie kein geschlossenes System, sondern ist in hohem Maße abhängig von gesellschaftlichen Verhältnissen und zeitgemäßen Forschungsprioritäten, d.h. sie ist auch abhängig von ökonomischen Bedingungen und technischem Fortschritt, denn finanzielle Mittel für Forschung müssen bereitgestellt werden, aber begrenzte Mittel dürfen nicht zur Folge haben, dass nur noch Forschungen gefördert werden, die ökonomische Verwertbarkeit implizieren.
Der Forscher selbst ist auch nicht unabhängig von seiner eigenen Geschichte, seinem Vorwissen und seinem gesellschaftlichen Status. In der Wissenschaft geht es um Vermehrung von Wissen. Dieser Wissenszuwachs wird konterkariert, wenn der Wissenschaftler nicht offen ist für andere Denkweisen und Theorien. Die Reflexion der eigenen Stellung im Wissenschaftsbetrieb und Gesellschaft ist genauso wichtig, wie die Reflexion über Theorie, Vernunft und Logik. Die Pluralität der Wissenschaft ist wichtiger als ein rigides Festhalten an tradierten Regeln, Theorien und Methoden (vgl. auch Kuhn Paradigmenwechsel). Wissenschaft muss flexibel sein, Ideen entstehen nicht aus dem Nichts, sondern aus der Betrachtung eines Problems aus unterschiedlichen Perspektiven, d.h. aus interdisziplinärem Wissen. Deshalb wendet sich Feyerabend gegen eine spezifische Fachausbildung, da sie Vereinheitlichung des Denkens fördert und starre Verhaltensmuster etabliert, die den Erkenntnisfortschritt behindern. Dabei befürwortet er auch die historische Perspektive, einen Rückgriff auf Theorien, die als überholt gelten; denn auch diese können Aspekte enthalten, die zu neuen Forschungen anregen.
„Eine einheitliche Meinung mag das Richtige sein für eine Kirche, für die eingeschüchterten oder gierigen Opfer eines (alten oder neuen) Mythos oder für die schwachen und willfährigen Untertanen eines Tyrannen. Für die objektive Erkenntnis brauchen wir viele Ideen. Und eine Methode, die die Vielfalt fördert, ist auch als einzige mit einer humanistischen Auffassung vereinbar.“(Feyerabend, 1983: 54)
Wissenschaft wird nach Feyerabend oftmals von Kirche und Politik und manchmal auch von der Wissenschaft selbst instrumentalisiert, d.h. die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse wird von Kirche, Wissenschaft und Politik verhindert, weil sie dem ideologischen Weltbild widersprechen oder wissenschaftliche Erkenntnisse werden so interpretiert, dass sie eine spezifische Ideologie zu stützen scheinen. (vgl. Feyerabend 1983: 215 ff.)
1.6.3 Zusammenfassung
Man kann Feyerabend als Skeptiker, als Anarchisten oder als Menschenfreund einstufen, gleichgültig wie, seine Thesen und Begründungen zur Wissenschaftstheorie entbehren gewiss nicht einer bedenkenswerten Plausibilität, und Jeder, der sich mit der Wissenschaftstheorie beschäftigt, sollte ihn einmal gelesen haben, er wird wahrscheinlich daran erinnert, dass seine Ausbildung gar nicht so weit von der Kritik Feyerabends entfernt ist. Die Verschulung des Studiums (insbesondere durch Bachelor und Masters) lässt keinen Raum für die Beschäftigung mit anderen Disziplinen, die Autorität des Professors ist unantastbar, das selektive Wissen, dass vermittelt wird, muss nur noch repetiert werden, Kreativität und Spontaneität, Humor und Kritik sind in dieser Konformismus fordernden Institution unerwünschte Verhaltensweisen, die den Lehrbetrieb stören und darum auch häufig negativ sanktioniert werden.
Für Feyerabend ist das Wissen entscheidend, die Pluralität von Theorien, Methoden und Modellen, die kognitive Flexibilität, die der „Induktion eine Kontrainduktion, der Vernunft eine Unvernunft oder dem Bewussten ein Unbewusstes“ entgegen setzen kann, die konkurrierenden wissenschaftlichen Schulen unterliegen der kritischen Reflexion, sowohl intern als auch extern. Die großen Erkenntnisse der Wissenschaft sind - aus seiner Sicht - nicht durch Konformismus entstanden, sondern weil sich diese Wissenschaftler nicht von den „… Gesetzen der Vernunft, Grundsätzen der Rationalität oder unveränderbarern Naturgesetzen“ haben bluffen lassen, sondern ihre eigenen Wege gegangen sind. (vgl. Feyerabend 1985: 249ff.)
Das bedeutet natürlich nicht, dass die gegenwärtig geltenden Ansichten nicht zu lernen sind, sondern vielmehr, das gerade durch die Kenntnis der tradierten Ansätze Probleme erkannt werden können, aber nur wenn eine Konkurrenz und eine offene Diskussion möglich ist. Wogegen sich Feyerabend anscheinend vehement wendet, ist eine einseitige Entwicklung, die Fixierung nur auf die Gegenwart, die Gleichmacherei, der Universalisierungsanspruch, die Unterordnung unter Prinzipien der formalen Logik und der absolute Wahrheitsanspruch. Diese starren Muster und Schemata möchte er aufgelöst sehen. Dass er die Wissenschaftssprache und die formale Logik beherrscht, zeigen seine historischen und aktuellen Beispiele aus Physik, Astronomie und Wissenschaftstheorie.
1.7 Konstruktivismus
Definition:
"In der gegenwärtigen Erkenntnistheorie behauptet der "Radikale Konstruktivismus", daß Kognitionen (Wahrnehmungen, Aufmerksamkeit, Erinnern, Urteilen, Vorstellen, Antizipieren, Planen, Entscheiden, Problemlösen, Ideen. usw.) die Wirklichkeit nicht abbilden. Das die Sinnesempfindungen verarbeitende Gehirn repräsentiere nicht die äußere Realität, vielmehr konstruiere sie" (Lexikon der Soziologie)
„Der so genannte Radikale Konstruktivismus ist eine philosophische Theorie der Wahrnehmung und der Erkenntnis. Er verabschiedet den Glauben an eine beobachterunabhängige, objektive Realität. Alle Erkenntnis sei zurückzuführen auf die Ordnung und Organisation von Erfahrungen in der Welt unseres Erlebens. Daraus ergibt sich die Unmöglichkeit eines Abbildes oder einer Beschreibung einer absoluten Wirklichkeit. Die Bezeichnung „Radikaler Konstruktivismus” und die explizite Formulierung als erkenntnistheoretisches Modell gehen auf von Glasersfeld zurück.
Radikal meint dabei, dass es keine Möglichkeit gibt, festzustellen, ob eine solche beobachterunabhängige, objektive Realität überhaupt existiert. Der (radikale) Konstruktivismus stellt keine streng einheitliche Theorie dar, sondern entspricht eher einem interdisziplinärem Diskurs einer Erkenntnistheorie zum Paradigma „selbst organisierender Prozesse”. Er möchte als eine Art Metadisziplin anderen wissenschaftlichen Disziplinen ein erkenntnistheoretisches Fundament liefern.“
(http://www.wu.ac.at/pmg/fs/ans/ansatz.pdf)
1.7.1 Einleitung
Der Konstruktivismus ist ein Erkenntnisansatz, der sich gegen tradierte Denk- und Erkenntnisansätze richtet. Er geht davon aus, dass Wahrheit und Objektivität Begriffe sind, die dem Erkenntnisprozess nicht hinreichend widerspiegeln. Die Vertreter des Konstruktivismus präferieren eine Erkenntnis, die im Gegensatz zu den Empirikern und kritischen Rationalisten von einer sogenannten selbstreferenziellen und autopoietischen Funktionalität des menschlichen Gehirns (sie berufen sich dabei auf biologische Erkenntnisse) ausgeht, was so viel heißt wie, das Gehirn organisiert und reproduziert sich selbst bzw. der Prozess der Reproduktion kann zwar durch äußere Reize angeregt werden, aber grundsätzlich ist der Mensch ein geschlossenes autopoietisches System. Luhmann unterscheidet beispielsweise zwischen System Körper und dem System Bewusstsein, der Körper besitzt eigene Regulationsmechanismen (chemische, physikalische) und die Psyche (Bewusstsein) ebenfalls (Denken, Fühlen). Die Offenheit der Systeme zeigt sich daran, dass Reize von innen bzw. von außen sich dem Bewusstsein aufdrängen, Systeme haben einen hochselektiven Kontakt zu anderen Systemen, der über Kommunikation vermittelt wird. Das Bewusstsein übernimmt dabei die Interpretation dieser Reize und vergleicht sie mit den internalisierten Erfahrungen, d.h. das Bewusstsein konstruiert selbständig die Bedeutung dieser Reize.
Der Radikale Konstruktivismus deutet Erkenntnis als einen Prozess der Wahrnehmungen, als Konstruktion unseres Gehirns, nicht mehr die Objektivität, sondern die Subjektivität wird in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Die sogenannte Objektivität ist nichts anderes als eine selbstkonstruierte Wirklichkeit des Individuums, insofern wird alle Erkenntnis als subjektive Konstruktion betrachtet, die durch konsensfähige rsp. konsensunfähige Kommunikation mit anderen Individuen anscheinend zur Realität wird.
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