Neurowissenschaftliche Grundlagen des Lernens und ihre Bedeutung für die Bildungspraxis

Ein innovatives Fortbildungskonzept für pädagogische Fachkräfte


Mémoire (de fin d'études), 2008

102 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Begriffsbestimmung
2.1 Lernen und Gedächtnis, Wissen und Können
2.2 Lernformen
2.2.1 Nicht-assoziatives Lernen
2.2.2 Assoziatives Lernen
2.2.3 Kognitives Lernen
2.2.4 Sozial-kognitives Lernen
2.2.5 Exkurs: Modelllernen am Beispiel „Lernen von Gewalt“

3 Die Neurowissenschaftlichen Grundlagen
3.1 Aufbau und Funktion des Gehirns
3.1.1 Das Gehirn
3.1.2 Neuronen
3.1.3 Kommunikation im Gehirn – Synapsen und Neurotransmitter
3.2 Gedächtnis und Lernen
3.2.1 Lernen
3.2.2 Lokalisation und Funktionsweise des Gedächtnisses
3.2.3 Landkarten im Kortex
3.2.4 Gedächtnismodelle
3.2.5 Lernen im Schlaf
3.2.6 Vergessen
3.2.7 Neuroplastizität
3.3 Aufmerksamkeit
3.4 Motivation
3.5 Emotionen
3.5.1 Emotionen und Lernen
3.5.2 Angst und Stress

4 Die Bedeutung für die Bildungspraxis
4.1 Gehirngerechtes Lernen
4.1.1 Transfer der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse
4.1.2 Lernschwächen
4.1.3 Lerntypen und Metakognition
4.2 Konsequenzen für die Allgemeine Didaktik
4.2.1 Rahmenbedingungen für guten Unterricht
4.2.2 Unterrichtsformen
4.2.3 „Ein guter Lehrer“
4.2.4 Gibt es eine Neurodidaktik?

5 Fortbildungskonzept für pädagogische Fachkräfte
5.1 Konzeptentwicklung
5.1.1 Zielsetzung
5.1.2 Zielgruppe
5.1.3 Zeit- und Ressourcenplanung
5.1.4 Schwierigkeiten
5.2 Das Konzept
5.2.1 Ablaufplan
5.2.2 Seminargestaltung
5.2.3 Handout
5.3 Durchführung
5.3.1 Teilnehmende Schulen
5.3.2 Seminare
5.3.3 Schwierigkeiten
5.4 Evaluation
5.4.1 Evaluationsbogen
5.4.2 Statistische Auswertung
5.4.3 Interpretation der Ergebnisse
5.5 Fazit

6 Ausblick

7 Literaturverzeichnis

8 Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

9 Anhang

1 Einleitung

„Wenn diese Buchstaben durch unser Auge vom Gehirn aufgenommen werden, wenn unsere Gedanken ihnen folgen, gesteuert von dem, was wir lesen, was spielt sich dann hinter unserer Stirn ab?“ (Vester, 2007, S. 9). Mit dieser Frage beginnt Frederic Vester seinen Bestseller „Denken, Lernen, Vergessen“, der mittlerweile schon in der 32. Auflage erschienen ist. Er leitet damit ein Thema ein, das heute noch so aktuell ist wie 1973, als Vesters gleichnamige Fernsehreihe das erste Mal ausgestrahlt wurde: Wie lernen wir?

Lernen ist etwas, das jeder täglich macht, ein ganzes Leben lang, auch wenn man sich dessen nicht immer bewusst ist, denn „Unser Gehirn lernt immer“ (Spitzer, 2007, S. 11), sogar im Schlaf. „Wenn man irgendeine Aktivität nennen sollte, für die der Mensch optimiert ist, so wie der Albatros zum Fliegen oder der Gepard zum Rennen, dann ist es beim Menschen das Lernen“ (a.a.O., S. 10).

Diese Diplomarbeit setzt sich mit den neurowissenschaftlichen Grundlagen des Lernens und ihrer Bedeutung für die Bildungspraxis auseinander und ist dabei in drei Teile gegliedert. Zunächst werden die theoretischen Grundlagen, wie der Aufbau des Gehirns, die Funktionsweise des Gedächtnisses und die neurobiologischen Ursachen und Wirkungen von Emotionen, erläutert. Der zweite Teil der Arbeit leistet einen Transfer in die Praxis: Welche Bedeutung haben die Erkenntnisse für das Bildungswesen, was ist unter „gehirngerechtem“ Lernen zu verstehen und welche Konsequenzen ergeben sich daraus.

Obwohl viele dieser Konsequenzen alte pädagogische Weisheiten und bereits Bestandteil der Ausbildung von Pädagogen und Lehrkräften[1] sind, werden sie in der alltäglichen Arbeit nur allzu oft von strikten Lehrplänen oder anderen Leistungsansprüchen in den Hintergrund gedrängt. Aus diesem Grund wurde ein Fortbildungskonzept für pädagogische Fachkräfte entwickelt, welches im letzten Drittel der Arbeit vorgestellt und evaluiert wird. Ziel dieses Konzeptes ist es die Forschungsresultate zu vermitteln und einen Transfer in die Bildungspraxis anzuregen.

Ein abschließender Ausblick weist auf aktuelle Diskussionspunkte hin und bietet einen Überblick über offene Fragen für die Lehr-Lern-Forschung.

Wichtig ist, dass es in dieser Arbeit nicht um einen Kampf der Disziplinen Neurowissenschaft und Didaktik geht, sondern darum einen interdisziplinären Dialog herzustellen. Es „geht darum, dass Hirnforscher und Pädagogen gemeinsam darüber nachdenken, wie man den Unterricht „gehirngerecht“ strukturiert“ (Caspary, 2006, S. 9).

2 Begriffsbestimmung

Einige wesentliche Begriffe werden zum Teil mit unterschiedlichen Bedeutungen besetzt, daher ist es wichtig sie zunächst zu bestimmen. Neben einer Definition der wichtigsten Begriffe bietet dieses Kapitel einen Überblick über die wichtigsten Formen des Lernens, welche in der Lernpsychologie unterschieden werden.

2.1 Lernen und Gedächtnis, Wissen und Können

Winkel und Kollegen definieren Lernen und Gedächtnis wie folgt: „Lernen bedeutet den Prozess der Aneignung von Wissen oder Fertigkeiten“ (Winkel et al., 2006, S. 30f.). Lernen bedeutet zudem eine Veränderung des Verhaltens, der Einstellungen, Gewohnheiten und Gefühle, die durch die Interaktion mit der Umwelt entstehen. Diese Veränderungen entstehen auf der Grundlage von Erfahrungen und weisen eine relative Dauerhaftigkeit auf. „Der Nachweis einer Veränderung des Verhaltens als entscheidendes Kriterium ist sämtlichen Lerntheorien gemeinsam“ (Reich, 2005, S. 20).

Das Gedächtnis hingegen „stellt die Struktur dar, die der Speicherung und dem Abruf von Informationen dient“ (Winkel et al., 2006, S. 30f.). Eberhard Reich stellt eine Verbindung zwischen den zwei Bereichen her: „Beim Lernen wird der Gebrauch des Gedächtnisses vorausgesetzt“ (Reich, 2005, S. 20), es ist die zum Lernen nötige Speicherstruktur. Genauer sind seine Aufgaben „Aufnahme, Enkodierung, Speicherung, Modifikation und (…) Abruf von Informationen“ (Winkel et al., 2006, S. 31).

Eine weitere wichtige Unterscheidung ist die zwischen Wissen und Können. Sie stellen beide die Ergebnisse des Lernens und erfolgreichen Speicherns dar und sind damit Gedächtnisinhalte. „Wissen bezieht sich auf Fakten, Können auf Fähigkeiten“ (ebd.). Manfred Spitzer meint dazu im Fazit seines Kapitels „Wissen und Können“: „Wir können viel und wissen wenig“ (Spitzer, 2007, S. 77).

Die Begriffe Hirnforschung und Neurobiologie werden häufig, so auch im Folgenden, synonym verwendet. In der Hirnforschung wird untersucht, welche neurophysiologischen und neuropsychologischen Vorgänge dem Lernen zugrunde liegen. Hirnforscher können unterschiedlichen Berufsgruppen angehören – diese reichen von Ärzten über Biologen und Biochemikern bis hin zu anderen Fachdisziplinen, sofern sie sich mit dem Gehirn beschäftigen.

2.2 Lernformen

Lernen ist nicht gleich lernen und die Lerntheoretiker unterscheiden eine Reihe verschiedener Lernformen. Hier ein kurzer Überblick über die wichtigsten Formen: Das nicht-assoziative, das assoziative, das kognitive und das sozial-kognitive Lernen.

2.2.1 Nicht-assoziatives Lernen

Beim nicht-assoziativen Lernen handelt es sich um eine sehr ursprüngliche Form des Lernens, die auch bei niederen Tieren zu finden ist. Es findet überwiegend auf einer nicht bewussten Ebene statt. Dabei werden Sinneseindrücke und Wahrnehmungen ohne eine Verknüpfung zwischen einzelnen Reizen oder zwischen Reizen und Verhaltensweisen verarbeitet.

In diesen Bereich des Lernens fallen die Habituation, also das Nachlassen einer Reaktion auf einen wiederholten Reiz, die Sensitivierung, welche eine Zunahme der Reaktionsbereitschaft bedeutet und das Priming. Priming ist eine Beeinflussung der Wahrnehmungsleistung. Die einmalige Präsentation eines Reizes erleichtert unterschwellig die nachfolgende Verarbeitung desselben oder eines assoziierten Reizes (vgl. Winkel et al., 2006, S. 15).

2.2.2 Assoziatives Lernen

„Beim assoziativen Lernen werden Zusammenhänge gelernt“ (Winkel et al., 2006, S. 15). Zusammenhänge sind in diesem Falle entweder Assoziationen zwischen Reizen, wie im klassischen Konditionieren oder Assoziationen zwischen Verhaltensweisen und Konsequenzen, welches operantes Konditionieren ist. Assoziatives Lernen findet sowohl beim Menschen als auch bei Tieren statt.

Ziel des operanten Konditionierens ist die Veränderung der Auftretenshäufigkeit von Verhalten, entweder durch verstärkende oder auch bestrafende Verhaltenskonsequenzen. In der Schule findet operantes Konditionieren täglich durch verschiedene Verstärkersysteme statt, wie zum Beispiel die Notenvergabe, Fleißstempel oder ein Lob des Lehrers. Durch solche Verhaltenskonsequenzen werden aus vormals neutralen Reizen konditionierte. So können auch zum Beispiel Schulbücher, die Person des Lehrers oder ein Unterrichtsfach emotionale Reaktionen wie Angst oder Freude auslösen (vgl. Mietzel, 2001, S. 130).

2.2.3 Kognitives Lernen

Kognitives Lernen beschreibt den Erwerb von explizitem, repräsentativem Wissen. „Unter Kognition versteht man jene Vorgänge, durch die ein Organismus Kenntnis von seiner Umwelt erlangt. Im menschlichen Bereich sind dies besonders: Wahrnehmung, Vorstellung, Denken, Urteilen, Sprache. (…) Durch Kognitionen wird Wissen erworben“ (Edelmann, 2000, S. 114).

Der Wissenserwerb ist ein Vorgang aktiver Auseinandersetzung des Lernenden mit seiner Umwelt. Auf diese Art erfolgt eine neuronale Repräsentation im Gehirn. Dieser Prozess ist durch verschiedene Variablen, wie Motivation, Erwartung und Emotionen bestimmt.

2.2.4 Sozial-kognitives Lernen

Schulisches Lernen besteht zu einem Großteil aus kognitivem Lernen. Aber auch das sozial-kognitive Lernen spielt eine wichtige Rolle. „Der positive Kontakt und Austausch mit anderen im Rahmen einer produktiven Tätigkeit schafft Freude und Befriedigung. Zugleich werden wichtige soziale Kompetenzen erworben“ (Winkel et al., 2006, S. 62f.). Die soziale Seite des Lernens kann im schulischen Unterricht vor allem als Motivationsquelle genutzt werden, z.B. durch kooperatives Lernen in Form von Gruppenarbeit.

Beeinflusst wird das sozial-kognitive Lernen durch behaviorale, kognitive und soziale Faktoren. Es handelt sich um Lernvorgänge im Kontext einer sozialen Umwelt. Wahrnehmung und Erwartung sind hier wichtige Variablen. Beim sozialen Lernen steht die Entwicklung von individuellen, emotionalen, demokratischen und praktischen Kompetenzen im Vordergrund. Die Bedeutung sozialer Gruppen (Familie, Peers, Kollegen usw.) für die Entwicklung wird deutlich und sollte auch in der Schule nicht vernachlässigt werden (vgl. Neuß in Becker et al., 2006, S. 13).

So wie man die Spielregeln am besten lernt während man spielt, wird auch die Kooperation spielerisch gelernt, „aber das Spiel heißt nicht Mensch ärgere dich nicht und auch nicht Monopoly. Es heißt Miteinander leben ! Und es ist kein Spiel“ (Spitzer, 2007, S. 314). Kinder und Jugendliche sollten bereits früh einen kleinen Teil Verantwortung tragen dürfen, vor allem für andere und in kleinen Gruppen, sagt Spitzer, „sodass sie lernen, was es heißt, Ansprüche auszugleichen, gemeinsam zu entscheiden und die Entscheidung als Gemeinschaft selbst dann mitzutragen, wenn man selbst eigentlich dagegen war etc“ (ebd.).

2.2.5 Exkurs: Modelllernen am Beispiel „Lernen von Gewalt“

Eine Form des Lernens ist das Lernen am Modell und durch Imitation. Durch Beobachtung kann der Mensch nicht nur ein neues Verhalten lernen, sondern auch, ob und wann das jeweilige Verhalten angemessen ist und welche Konsequenzen es haben kann. Voraussetzung ist eine Ähnlichkeit zwischen Modell und Beobachter, wodurch eine Identifikation und Anregung zur Nachahmung zustande kommt.

Ein Beispiel für Modelllernen ist das Lernen von Gewalt durch Filme oder Serien im TV, wie Bandura bereits in den 60er Jahren durch Experimente zeigte (vgl. Spitzer, 2007, S. 366). Es gibt eine Reihe von Studien, die die Auswirkungen von gewaltdominiertem Fernsehen auf die Entwicklung der Verbrechensrate und die Gewalttätigkeit von Kindern und Jugendlichen untersucht haben. Dabei ist für die kindliche Entwicklung nicht nur eine gewalttätige Filmszene gefährdend, sondern auch der Kontext: In 73% aller Gewaltszenen kommt der Täter ungestraft davon und mehr als die Hälfte aller Gewaltakte wurden ohne jegliche negative Konsequenz dargestellt, wie eine Analyse von 2.500 Stunden Fernsehprogramm ergab, die Wilson 1997 mit seinen Kollegen durchgeführt hat (vgl. a.a.O. S. 362). Wenden wir das Konzept des Modelllernens an, so lernen Kinder, dass Probleme am schnellsten mit Gewalt gelöst werden können und eine solche Lösungsstrategie zudem keinerlei negative Konsequenzen hat.

3 Die Neurowissenschaftlichen Grundlagen

Dieses Kapitel zu den neurowissenschaftlichen Grundlagen des Lernens ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil befasst sich mit dem Aufbau und der Struktur des Gehirns und erklärt, wie Denken aus medizinischer Sicht funktioniert. Die Arbeitsweise des menschlichen Gedächtnisses, wo es im Gehirn lokalisiert wird und wie wir lernen, ist Inhalt des zweiten Teils. Dabei werden verschiedene Gedächtnismodelle, die wichtige Rolle des gesunden Schlafs für langfristiges Lernen und das Phänomen der Neuroplastizität betrachtet. Der dritte Teil dieses Kapitels geht auf die besondere Funktion von Aufmerksamkeit, Motivation und Emotionen im Zusammenhang mit Lernen ein.

3.1 Aufbau und Funktion des Gehirns

„Das Gehirn ist ein aus Eiweiß, Wasser, Kohlenhydrat und Fett bestehender Körperteil, der unter anderem kognitive Leistungen erbringt“ (Scheunpflug, 2001, S. 75). Wie aber kommen diese Leistungen zustande?

Gerhard Roth nutzt die Metapher der Schrift, um die Funktionsweise des Gehirns zu verdeutlichen: „Einzelne Nervenaktivitäten kann man sich als die Buchstaben eines Textes vorstellen. Buchstaben haben als solche keine Bedeutung. Sie erhalten erst dann einen Sinn, wenn sie sich über Silben, Wörter und Sätzen schließlich zu einem Text zusammenfügen“ (Roth in ebd.). Die Nervenzellen arbeiten in unserem Gehirn als Netzwerk, einzeln machen sie ebenso wenig Sinn wie vereinzelte Buchstaben. Die Funktionsweise des Neuronennetzwerkes wird in den Kapiteln 3.1.2 und 3.1.3 genauer beschrieben.

3.1.1 Das Gehirn

Das Zentrale Nervensystem (kurz: ZNS) des Menschen besteht aus dem Rückenmark (lat. medulla spinalis) und dem Gehirn (encephalon). Es besteht aus geschätzten 100 Milliarden Nervenzellen und steuert damit alle organischen Funktionen und unser Verhalten. Das Rückenmark ist für die Reizleitung und einfache Reflexe zuständig (vgl. Winkel et al., 2006, S. 45f.). Da es für den Lernprozess keine große Rolle spielt wird es hier nicht genauer betrachtet.

Das menschliche Gehirn wiegt etwa 1400 Gramm, das sind durchschnittlich 2 Prozent des Gewichts eines Erwachsenen. Der Energieverbrauch des Gehirns ist vergleichsweise hoch, er beträgt etwa ein Fünftel der dem Körper zur Verfügung stehenden Energie (vgl. Spitzer, 2007, S. 13f.). Physiologisch lässt es sich in folgende Strukturen gliedern:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Gliederung des Gehirns in seine Hauptabschnitte. (Trepel, 2004, S. 101)

Direkt über dem Rückenmark befindet sich das verlängerte Rückenmark oder auch medulla oblongata genannt (vgl. Abb. 1, 1). Hier findet die erste Verarbeitung von Sinnesinformationen, zum Beispiel Hören und Gleichgewicht, statt. Zudem werden hier Verdauung, Atmung, Kreislauf und Wärmehaushalt kontrolliert (vgl. Reich, 2005, S. 32).

Darüber (vgl. Abb. 1, 2) liegt die Brücke (pons). Sie übermittelt Informationen zwischen Klein- und Großhirn und koordiniert die Bewegungssteuerung des Körpers.

Hinter der Brücke ist das Kleinhirn (cerebellum) (vgl. Abb. 1, 5), welches für die Muskelkoordination des Körpers zuständig und beim Erlernen motorischer Fähigkeiten wichtig ist. Zurzeit wird seine Rolle bei kognitiven Lernleistungen im Bereich der Sprache erforscht. Die im Kleinhirn gesteuerten Vorgänge sind sämtlich unbewusst.

Das Mittelhirn (mesencephalon) (vgl. Abb. 1, 3) befindet sich neben der Brücke und kontrolliert die sensorischen und motorischen Funktionen. Es besteht zum einen aus dem Tegmentum, welches Teil der retrikulären Formation ist und Bewusstsein und Aufmerksamkeit kontrolliert, und zum anderem aus dem Tectum. Im Tectum befinden sich die visuellen, auditorischen und somatosensorischen Zentren. Zusammen mit Pons und verlängertem Rückenmark bildet das Mesencephalon den Hirnstamm (vgl. ebd.).

Das Zwischenhirn (diencephalon) (vgl. Abb. 1, 4) enthält Thalamus, Hypothalamus und Epithalamus. Es kommuniziert über den Thalamus mit der Großhirnrinde und steuert über den Hypothalamus Atmung, Wach-Schlaf-Rhythmus, Kreislauf, Wasserhaushalt und Fluchtverhalten (vgl. Kasten, 2007, S. 30). Der Hypothalamus ist zudem mit der Hypophyse (Hirnanhangdrüse) verbunden, der wichtigsten Hormondrüse des Menschen, wodurch er die Koordination des gesamten Hormonsystems übernimmt (vgl. Winkel et al., 2006, S. 46).

Den größten Teil des Gehirns bildet das Großhirn (telencephalon) (vgl. Abb. 1, 6). Es besteht aus den zwei Hemisphären, die durch den Balken (corpus callosum) verbunden sind. Jede der Hemisphären besitzt eine Hirnrinde, auch Kortex genannt, und subkortikale Zentren. Der Kortex ist 2-5 mm dünn und ist für die kognitiven Leistungen, wie Denken, Sprechen, Lernen, unser Gedächtnis und die konkrete Handlungsplanung zuständig. Zu den subkortikalen Zentren zählen die Basalganglien, die das menschliche Verhalten steuern und für langsame Bewegungen verantwortlich sind, die Amygdala (Mandelkern) und der Hippocampus. (vgl. Winkel et al., 2006, S. 46).

Für das Lernen von besonderer Bedeutung ist das limbische System (Abb. 2). Es besteht aus verschiedenen Teilen, wie Gebieten des Großhirns, des Mittelhirns und des Zwischenhirns, je nach Literaturquelle zählt auch der Hippocampus dazu (vgl. Reich, 2005, S. 33). Hier sind Instinkte und Gefühle, Sexualität, Aggressivität und Angst verortet: „Gemeinsam ist diesen Strukturen, dass sie einen starken Einfluss auf emotionale und vegetative Parameter haben und dass sie eine große Rolle für Motivation, Antrieb, Lernen und möglicherweise auch andere kognitive Leistungen spielen. Man darf sie jedoch nicht als alleinigen zerebralen Manifestationsort dieser Fähigkeiten missverstehen“ (Trepel, 2004, S. 209). Mehr über die Rolle des limbischen Systems und den Hippocampus in Kapitel 3.2.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Das limbische System. (Quelle: Internet)

3.1.2 Neuronen

Das Wort Neuron kommt aus dem griechischen „neuron (gr.) = Nerv“ (Trepel, 2004, S. 2) und wird in Fachbüchern, so wie auch hier, synonym mit „Nervenzelle“ gebraucht.

Unsere Neuroanatomie ist in Zahlen sehr beeindruckend: Die Anzahl der Neuronen, die der Mensch in seiner Großhirnrinde zur Verfügung hat schwankt zwischen 19,3 Milliarden Zellen bei Frauen und 22,8 Milliarden bei Männern. Die Differenz von etwa 16 Prozent ist durch den Unterschied der Kopfgröße zu erklären. Eine Leistungsdifferenz ergibt sich daraus jedoch nicht. Zu den rund 21 Milliarden Kortexneuronen kommen noch unzählige Nervenzellen der subkortikalen Bereichen hinzu sowie etwa 100 Milliarden des Kleinhirns (vgl. Spitzer, 2007, S. 51).

„Das Gefühl verliebt zu sein, die Lösung eines Problems zu finden, eine psychiatrische Störung wie die Schizophrenie, alles das beruht letztendlich auf der Funktion von Nervenzellen“ (Kasten, 2007, S. 14). Wie funktioniert das?

Neuronen erfüllen verschiedene Aufgaben, die von Informationsweiterleitung (afferent: in Richtung des Gehirns oder efferent: vom Gehirn weg), über Informationsspeicherung, Registrierung von Veränderungen der Umgebungsbedingungen bis hin zur Bereitstellung von Reflexen reichen (vgl. Baumann, 2007, S. 7). Um ihre Funktion besser verstehen zu können wird zunächst der Aufbau einer Nervenzelle erläutert.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Die vier häufigsten Neuronenarten. (Quelle: Internet)

Das menschliche Gehirn verfügt über etwa hundert verschiedene Typen von Neuronen, die sich morphologisch voneinander unterscheiden (einige davon zeigt Abbildung 3). Da alle aus den gleichen Bausteinen bestehen, wird hier lediglich die häufigste Art, das multipolare Neuron, beschrieben.

Jede Nervenzelle besteht aus einem Zellkern, der von einem Zellkörper (Soma) umschlossen ist (vgl. Abb. 4). Je nach Art des Neurons gehen vom Soma eine oder mehrere sehr feine Verästelungen, Dendriten genannt, ab. Diese „…machen das Neuron zur hochspezialisierten Empfangsstation z. B. für Druck, Hitze, Kälte, Licht, Verletzung oder Impulse von anderen Nervenzellen. Abhängig vom Widerstand auf der Zellmembran und der Zahl der gleichzeitig eintreffenden Informationen wird von einem Neuron „entschieden“, ob ein Impuls weitergeleitet wird oder nicht“ (Kasten, 2007, S.14).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4: Der Grundaufbau eines Neurons. (Überarb. Abb. Quelle: Internet)

Neben den Dendriten haben die meisten Neuronen einen oder nur sehr wenige lange Fortsätze, die Axone genannt werden. Durch diese Axone werden Impulse weitergeleitet an andere Neuronen, wo sie wiederum über deren Dendriten empfangen werden. „Das Axon endet in einem Endköpfchen, welches in der Regel an den Dendrit einer anderen Nervenzelle angrenzt, so dass der Impuls übertragen werden kann. Im Körper endet das Axon oft auf einer Muskelfaser und bewirkt, dass dieser sich kontraktiert“ (a.a.O., S. 15f.). Axone sind meist mit Neuronen in ihrer Nachbarschaft verbunden, können beim Menschen jedoch bis zu einem Meter oder länger werden (vgl. Baumann, 2007, S. 8).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 5: Elektronenmikroskopische Aufnahme von Gehirnzellen. Die großen Zellen mit langen, dünnen Verästelungen sind Neuronen. Sie sind umgeben von Gliazellen, die sie stützen und schützen. (Quelle: Internet)

Zwischen den Neuronen befinden sich Gliazellen, die auch Stützzellen genannt werden (siehe Abb. 5). Zu jedem Neuron zählen etwa zehn Gliazellen. Sie „…spielen eine Rolle bei der Immunabwehr, versorgen die Neurone mit Nährstoffen und sorgen für ein konstantes inneres Milieu im ZNS“ (Winkel et al., 2006, S. 46). Neueste Forschungen ergaben auch Hinweise darauf, dass sie zusätzlich zu ihrer stützenden Funktion auch einen Beitrag zur Informationsverarbeitung leisten (vgl. Spitzer, 2007, S. 52). Die Art dieses Beitrags ist noch nicht bekannt und wird zurzeit noch genauer erforscht.

Neuronen, die nicht genutzt werden, sterben ab. „Neurobiologen gehen davon aus, dass bei jedem von uns täglich ca. 6000 nicht benötigte Neuronen absterben“ (Schirp, 2006, S. 104). Jedoch handelt es sich hier selbst nach 100 Lebensjahren nur um wenige Prozent. Die Anzahl der Neuronen nimmt zwar im Laufe unseres Lebens ab, dafür wird jedoch unser Netzwerk strukturierter und somit auch funktionaler.

3.1.3 Kommunikation im Gehirn – Synapsen und Neurotransmitter

Unser neuronales Netzwerk ist nicht gerade klein. Jedes einzelne Neuron ist mit ungefähr 10.000 anderen Neuronen verbunden, was alleine für die Großhirnrinde eine Anzahl von 1014 (ausgeschrieben = 100.000.000.000.000) Verbindungen bedeutet. Die Zellen im Gehirn sind vor allem untereinander verbunden. Nur eine von 107 Zellen im Gehirn dient der Kommunikation mit dem Rest des Körpers. Außerhalb des zentralen Nervensystems sind Neuronenansammlungen um Eingeweide herum oder in Muskeln zu finden.

Die Weiterleitung einer Information von einem Neuron zum anderen, die Kommunikation der Neuronen untereinander und mit der Umwelt, geschieht an winzigen Verbindungsstellen. Diese Verbindungsstellen zwischen zwei Neuronen nennt man Synapsen (siehe Abb. 6). An dieser Stelle findet die Signalübermittlung durch elektrische Potenziale und chemische Vorgänge statt: „Alle Neuronen ‚sprechen’ dieselbe Sprache: ein elektrisches Signal der Stärke von einem zehntel Volt (100 mV) und der Dauer von einer tausendstel Sekunde (1 ms)…“ (Friedrich & Preiß, 2003, S. 183). Dieses Signal wird Aktionspotential genannt. Es wird vom Axon zur Synapse geleitet, um dort mittels chemischer Prozesse an das nächste Neuron weitergegeben zu werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Abb. 6: Schematische Darstellung einer Synapse. (Überarb. Abb. Quelle: Internet)

Eine Synapse besteht aus dem Endköpfchen des Axons, den Rezeptoren des Dendriten und dem synaptischen Spalt dazwischen, denn „Tatsächlich haften die beiden Zellen (…) nicht direkt aneinander, sondern sind durch einen kleinen Spalt getrennt“ (Jahn, 2002, S. 24). Die Signalübertragung erfolgt hier nur in eine Richtung: „die Senderzelle redet und die Empfängerzelle hört zu“ (ebd.).

Die Endköpfchen enthalten Vesikel. Diese Vesikel sind kleine Bläschen, gefüllt mit Botenstoffen, die auch Transmitter genannt werden. Wenn ein Impuls aus der Nervenzelle im Endköpfchen ankommt, öffnen sich einige Vesikel und setzen die Transmitter frei. „Der Dendrit auf der anderen Seite der Synapse besitzt Empfangsstationen (Rezeptoren), die in der Lage sind, wieder einen elektrischen Impuls auszubilden, sobald der Transmitter sich dort einlagert“ (Kasten, 2007, S. 16f.). Nur wenn genügend Transmitter am Dendriten angekommen sind bildet er ein eigenes elektrisches Aktionspotential aus, das an den Zellkern geschickt und über das Axon der Empfängerzelle weitergeleitet wird.

Die für das Lernen wichtigsten Neurotransmitter sind Noradrenalin, Serotonin, Dopamin und Azetylcholin. Nerven, die auf denselben Botenstoff reagieren sind meist nah bei einander verortet, so dass sie Systeme bilden und von dort aus in verschiedene Bereiche laufen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Vgl. Kasten, 2007, S. 27.

Neben den aktivierenden gibt es auch hemmende (inhibitorische) Synapsen, welche die Ausbreitung eines Impulses reduzieren. Diese hemmenden Mechanismen sind Voraussetzung für das Funktionieren unseres Netzwerkes, denn ohne sie würde die kleinste Erregung das gesamte Netzwerk in kürzester Zeit aktivieren. Nur durch das Zusammenwirken von Erregung und Hemmung ist das Gehirn so leistungsfähig. Die hemmende Wirkung geht ebenso wie die aktivierende von Transmittern aus. Der wichtigste hemmende Botenstoff ist Gamma-Amino-Buttersäure (GABA) (vgl. Kasten, 2007, S. 19).

Dank einer Myelinschicht, die die meisten Axone umgibt, ist die Signalübertragung sehr schnell. Das Myelin isoliert die Nervenfasern und durch Unterbrechungen in kurzen Abständen (Ranvier-Schnürring), wird „eine „springende“ (saltatorische) Erregungsleitung von Schnürring zu Schnürring“ ermöglicht. So „wird der Informationsfluss im Vergleich zur kontinuierlichen Erregungsleitung um ein Vielfaches beschleunigt“ (Winkel et al., 2006, S. 42).

Fehlte diese Schicht, würden die Aktionspotentiale mit gerade einmal drei Metern pro Sekunde weitergeleitet. Diese Geschwindigkeit erweist sich spätestens dann als langsam, wenn man bedenkt, dass der dicke Zeh eines zwei Meter großen Menschen sich erst mit einer Verzögerung von fast 1 Sekunde bewegen würde. „Die Isolierung von Nervenfasern mit Myelin (und damit deren Dickenzunahme) führt zur Zunahme der Geschwindigkeit der Nervenleitung auf bis zu 110 Meter pro Sekunde“ (Spitzer, 2007, S. 230).

„In und mit diesen Verbindungen findet im Gehirn Informationsverarbeitung in Form von Wahrnehmen, Lernen und Denken statt. Wir merken davon nichts!“ (a.a.O., S. 54).

3.2 Gedächtnis und Lernen

Das Gehirn eines Neugeborenen verfügt bereits über alle Neuronen, dennoch sind nur „die zum Überleben unbedingt erforderlichen Verschaltungen und Netzwerke in den älteren Regionen (…) zum Zeitpunkt der Geburt bereits gut ausgebildet“ (Hüther, 2006, S. 73). Kinder lernen bereits im Alter von wenigen Monaten Krabbeln, Sitzen, Stehen und Laufen. Sie erkennen die wichtigen Personen in ihrem Umfeld und lernen schließlich auch ihre Muttersprache, was zu den größten Lernleistungen gehört. Wie sie das schaffen und wie Lernen und das Speichern von Wissen funktioniert, ist Thema dieses Kapitels.

3.2.1 Lernen

Die Frage „Was ist Lernen neurobiologisch gesehen?“ beantwortet Erich Kasten mit nur einem einzigen Satz: „Lernen bedeutet, dass sich neue Synapsen bilden“ (Kasten, 2007, S. 18). Wird eine Verbindung zwischen zwei Neuronen wiederholt genutzt, also zum Beispiel ein Gedanke mehrfach gedacht, so nimmt die Stärke dieser Verbindung zu. „Wenn die synaptische Verbindung kräftig ist, wird das nachfolgende Neuron stark erregt (…) Je häufiger eine Synapse aktiviert wird, umso dominanter wird sie: Dies bezeichnet man als long-term-potentiation (LTP). Nach der Hebb’schen Regel verbessern Nervenzellen ihre Verknüpfung; je häufiger sie gleichzeitig aktiviert sind. (…) Lernen und Verlernen sind neurobiologisch eine Veränderung der Stärke synaptischer Verbindungen“ (a.a.O., S. 19).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 7: Synapsenstärke bei einem Neugeborenen, einem drei Monate alten Baby, einem einjährigen und einem sechsjährigen Kind (von links nach rechts). (Quelle: Internet)

Das Gehirn von Babys ist etwa halb so groß wie das eines erwachsenen Menschen, enthält jedoch genauso viele Neuronen – oder sogar mehr, wenn man den täglichen Verlust von inaktiven Nervenzellen in Betracht zieht. Warum verdoppelt das Gehirn sein Volumen? Die Größenzunahme des Gehirns beruht vor allem auf der Zunahme der Dicke der Verbindungen zwischen den Neuronen. Diese Erkenntnis ist etwa 100 Jahre alt und wurde damals von dem Neurologen Paul Flechsig (1847-1929) entdeckt (vgl. Spitzer, 2007, S. 229). Abbildung 7 zeigt wie sehr die Synapsenstärke in den ersten Lebensmonaten zunimmt. Die Zahl der Verbindungen des sechsjährigen Kindes hat bereits etwas abgenommen. Hier wurden ungenutzte, nicht aktivierte und somit unwichtige Verbindungen bereits aussortiert und getrennt. Die Denkleistung wurde auf diese Weise optimiert (mehr dazu in Kap. 3.2.6).

3.2.2 Lokalisation und Funktionsweise des Gedächtnisses

Unser Gedächtnis lässt sich nicht genau in der Anatomie des Gehirns lokalisieren. Es hat „keinen festen Platz im Gehirn, sondern ist das Ergebnis der Zusammenarbeit verschiedener neuronaler Strukturen“ (Winkel et al., 2006, S. 48). Im Grunde sind „nahezu alle Hirnregionen an einzelnen Gedächtniskomponenten oder Verarbeitungsschritten beteiligt“ (Brand & Markowitsch in Hermann, 2006, S. 66). Welche Teile des Gehirns für welche Gedächtnisleistungen zuständig sind ist Gegenstand der aktuellen Forschung.

Die Inhalte des Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnisses werden hauptsächlich im präfrontalen Kortex (Stirnregion) abgespeichert. Weitere wesentliche Areale befinden sich im Inneren des Temporallappens (Schläfenlappen). Diese Teile sind eng mit dem limbischen System vernetzt. Das limbische System vermittelt Affekte, Gefühle und Motivation und ist dadurch einer der Hauptkontrolleure des Lernerfolgs. „Insbesondere Amygdala und Hippocampus haben hier eine Katalysatorfunktion“ (Kasten, 2007, S. 148).

„Für die Einspeicherung und den Abruf von deklarativen Informationen ist der Hippocampus, eine bogenförmige Struktur im Temporallappen (Hirnregionen an beiden Seiten des Kopfes), von besonderer Bedeutung“ (Winkel et al., 2006, S. 48). Der linke Hippocampus ist für die Einspeicherung verbaler Informationen, der rechte für die bildlich/räumlichen zuständig. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass der Hippocampus „für die Konsolidierung und den Abruf von Gedächtnisinhalten zuständig ist, selbst aber nicht den Sitz des Langzeitgedächtnisses darstellt“ (ebd.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 8: Der Hippocampus: „Wenn man von der Seite auf die Innenseite des menschlichen Gehirns sieht, findet man die Amygdala (Mandelkern) tief im Temporallappen, direkt vor dem Hippocampus“ (Squire & Kandel, 1999, S. 181).

„Will man etwas über das Lernen lernen, dann ist der Hippocampus das ideale Studienobjekt“, denn er „ist zum Lernen einzelner Ereignisse unabdingbar“ (Spitzer, 2007, S. 23f.). Der Hippocampus erhält Informationen aus allen Sinnesmodalitäten, welche er über zahlreiche enge Verbindungen an die Großhirnrinde weiterleitet. Spitzer formuliert dessen bedeutende Rolle im Lernprozess wie folgt: „Der Hippocampus fungiert (…) als Trainer des Kortex“ (Spitzer, 2000, S. 221).

3.2.3 Landkarten im Kortex

Die Inhalte, die wir täglich lernen werden nicht willkürlich irgendwo auf unserer Großhirnrinde abgespeichert. Der Kortex lässt sich viel mehr in verschiedene „Zuständigkeitsbereiche“ einteilen.

Zum Beispiel sind die Empfindungen unserer Körperteile in einem Teil des Parietallappens (Scheitellappen) abgebildet, der sich somatosensorischer Kortex nennt (der purpurne Bereich in Abb. 10). Die Repräsentationen der Körperteile sind unterschiedlich stark ausgeprägt, je nachdem, wie empfindlich unser Tast- und Berührungssinn an den jeweiligen Stellen ist. Das Bild des „somatosensorische Homunculus zeigt, wie wir aussehen würden, wenn der Körper so groß wäre wie das entsprechende Areal im Gehirn“ (Kasten, 2007, S. 35) (vgl. Abb. 9).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 9: Eine Plastik des somatosensorischen Homunculus. (Überarb. Abb. Quelle: Internet)

Neurologen sprechen von einer landkartenförmigen Anordnung der neuronalen Repräsentationen im Kortex. „Häufige Eingangssignale nehmen einen größeren Raum ein als seltene. Ähnliche Signale liegen nah beieinander“ (Spitzer, 2005, S. 37). Die Ordnungsprinzipien in unserem Gehirn sind also Häufigkeit und Ähnlichkeit.

Abbildung 10 zeigt die verschiedenen Areale der Großhirnrinde farblich abgesetzt. Unsere Persönlichkeit wird im Übrigen im orbitalen Kortex verortet, der sich im präfrontalen Gebiet direkt über dem Riechzentrum befindet (vgl. Abb. 10).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 10: Farblich markierte Kortexareale des menschlichen Gehirns. (Lassen et al., 1988, S. 136).

Die Größe der repräsentativen Areale im Gehirn ist nicht festgelegt. So haben einer Untersuchung zu folge Londoner Taxifahrer beispielsweise einen größeren Hippocampus, als der Durchschnittsbürger. Der Hippocampus ist auch für die Speicherung von Orten und somit für die Orientierung zuständig. Allerdings ist der Zusammenhang hier ungeklärt: Können sie sich so gut orientieren, weil sie über einen größeren Hippocampus verfügen, oder ist ihr Hippocampus durch die häufige Beanspruchung gewachsen (vgl. Spitzer, 2007, S. 31)?

Eine Bahnbrechende Entdeckung in diesem Zusammenhang war die Tatsache, dass Neuronen, entgegen der bisherigen Ergebnisse der Wissenschaft, nachwachsen können. Im Jahre 1997 hat Kempermann in Experimenten mit Mäusen erstmals die Produktion von neuen Neuronen nachgewiesen. Im Jahr darauf erbrachte Ericksson den Beleg, dass dies auch für das menschliche Gehirn zutrifft (vgl. ebd.). 2001 wurde „…nachgewiesen, dass ganz normale Lernvorgänge nur dann ablaufen können, wenn neue Nervenzellen im Hippocampus gebildet werden“ (ebd.). Im Kortex wachsen keine Neuronen nach, wie ausgiebige Untersuchungen ergeben haben. Diese Ergebnisse sprechen für die These, dass der Hippocampus der Taxifahrer durch intensive Nutzung gewachsen ist – eine Antwort, die noch vor wenigen Jahren für unmöglich gehalten wurde.

[...]


[1] Aus stilistischen Gründen wird in der vorliegenden Arbeit die männliche Form (z.B. der Lehrer) verwendet. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass dies natürlich auch die weiblichen Fachkräfte einschließt.

Fin de l'extrait de 102 pages

Résumé des informations

Titre
Neurowissenschaftliche Grundlagen des Lernens und ihre Bedeutung für die Bildungspraxis
Sous-titre
Ein innovatives Fortbildungskonzept für pädagogische Fachkräfte
Université
University of Applied Sciences North Rhine-Westphalia Aachen
Note
1,0
Auteur
Année
2008
Pages
102
N° de catalogue
V303192
ISBN (ebook)
9783668142374
ISBN (Livre)
9783668142381
Taille d'un fichier
2785 KB
Langue
allemand
Mots clés
Didaktik, Neurodidaktik, Neurologie, Neurowissenschaften, Bildungspraxis, Seminar, Konzept, innovativ, Grundlagen, Lernen, Schule, Gehirn, Praxis, Lehrer, Diplomarbeit
Citation du texte
Susanne Wagner (Auteur), 2008, Neurowissenschaftliche Grundlagen des Lernens und ihre Bedeutung für die Bildungspraxis, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/303192

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