Leseprobe
Ne verba nos deficiant! – Wortschatzarbeit im zeitgemäßen Lateinunterricht aus fachdidaktischer und bildungswissenschaftlicher Sicht
Vorbemerkungen
a) Die Wortschatzarbeit im zeitgemäßen Fremdsprachen- und Lateinunterricht ist Gegenstand v.a. der Arbeiten von Bösch,[1] Dominick,[2] Haß,[3] Korn,[4] Kuhlmann,[5] Neveling,[6] Schirok[7], Störmer[8] und Utz.[9] Von grundlegender Bedeutung und in einigen Punkten nach wie vor (muster)gültig ist der Aufsatz von Steinthal von 1971.[10]
b) Wortschatzarbeit umfasst
- unterrichtliche Arbeit am Wortschatz (Ersteinführung, Erklärung, Wiederholung …) und
- außerunterrichtliche, d.h. überwiegend häusliche Arbeit am Wortschatz (Vokabellernen, Vokabelwiederholung …).
c) Dieser Vortrag will in sensibilisierender Weise einen Überblick über die komplexe Problemlage geben und dabei einige denkbare Lösungsansätze aufzeigen.
Auf der Grundlage der o.g. Arbeiten werden für die Wortschatzarbeit im Lateinunterricht derzeit folgende Prinzipien für grundsätzlich angesehen:
1) Wortschatzarbeit hat mehrere Stufen
a) Wortschatzarbeit ist ein mehrstufiger Lehr- und Lern prozess: 1) Einführen / Auf-nehmen, 2) Speichern Helfen / Einprägen, 3) Anwenden / Erhalten.
b) Die wesentlichen Gelingensbedingungen dieses Prozesses sind
- intra- und interlinguale Vernetzung beim Einführen / Aufnehmen,
- Regelmäßigkeit und Variabilität beim Speichern Helfen / Einprägen,
- ausreichende Umwälzung bei Anwenden / Erhalten.
c) Als vorrangige Herausforderungen zu begreifen sind
- didaktisch: Zusammensetzung und Umfang des Lernwortschatzes (= Herausforderung I <unten S. 3f.>),
- methodisch: Einführen / Aufnehmen des neuen Wortschatzes, v.a. im Spracherwerb (= Herausforderung II <vgl. unten S. 5>).
2) Wortschatzarbeit ist Unterrichtsarbeit
a) Unterrichtliche Wortschatzarbeit erstreckt sich auf alle o. g. Stufen: 1) Einführen / Auf-nehmen, 2) Speichern Helfen / Einprägen, 3) Anwenden / Erhalten.
b) Diese umfasst auf der Stufe Einführen (= Semantisieren):
- in eigenständiger Unterrichtsphase neuen Wortschatz unter Anwendung nonverbaler und verbaler Semantisierungstechniken einführen,
- dabei intra- und interlinguale Vernetzung nach lernpsychologisch relevanten Vernetzungskriterien vornehmen.
c) Diese umfasst auf der Stufe Speichern Helfen:
- Gewährleistung vielfältiger Übungsformen,
- Vermittlung von Lerntechniken,
- Gewährleistung von Lerngelegenheiten,
- Verknüpfung von Wortschatzarbeit und Grammatikunterricht,
- regelmäßige Lernerfolgsüberprüfung (Junkturen vor Einzelwörtern; Geschlecht und Genitiv; nix abkürzen etc.; variabel gestalten, d. h. unterschiedliche Lerntypen berücksichtigen),
d) Diese umfasst auf der Stufe Anwenden:
- Gewährleistung ausreichender Umwälzung, v.a. hinsichtlich des Lernwortschatzes,
- Verknüpfung der Unterrichtsarbeit mit der Nutzung des Wörterbuchs.
3) Wortschatzarbeit ist außerunterrichtliche Arbeit
a) Außerunterrichtliche Wortschatzarbeit ist in der Regel Lernarbeit auf den Stufen Einprägen und Erhalten mit dem Stellenwert von obligatorischen Hausaufgaben;
b) kontinuierliche individuelle Beratung zur Anwendung von Lernstrategien (auch: Förderpläne),
c) Koppelung mit unterrichtlicher Wortschatzarbeit (zum Beispiel durch regelmäßige Lernerfolgsüberprüfung).
4) Von wesentlicher Bedeutung sind Zusammensetzung und Umfang des Lernwortschatzes (Herausforderung I)
a) Zusammensetzung und Umfang des Lernwortschatzes müssen reflektiert und auf die Lektürephase abgestimmt sein;[11]
b) Lernwortschatz muss repräsentativ für lateinische Literatur sein und gewisse Textabdeckung[12] ermöglichen; nachweislich[13] die höchste Textabdeckung für lateinische Texte aus Antike, Mittelalter und Neuzeit erzielt man mit den Lemmata des sogenannten Query-Corpus;[14]
c) Umwälzung: Kuhlmanns These (nur Wörter mit f>50 ► Langzeitgedächtnis) ist nicht haltbar; zutreffend offenbar Marzano u.a.:[15] Nach 24 kontextgebundenen Wiederholungen Anstieg der Behaltensleistung auf 80%, danach flacht Zuwachskurve extrem ab;
d) Pro Tag können maximal zwischen fünf und zehn Wörter neu gelernt werden.
e) Der minimale Lernwortschatz muss <400 sein, weil das tatsächliche lateinische Vokabelgedächtnis nach den Ergebnissen der quantitativen Untersuchung von Störmer durchschnittlich unter 400 Wörtern liegt.
f) Konsequenzen der Veränderungen von Zusammensetzung und Umfang des Lernwortschatzes:
- langfristig:
- Für den Spracherwerb ist im Prinzip ein ganz neuartiges Lehrbuch erforderlich. Wesentliche konzeptionelle Gesichtspunkte müssten mindestens sein:
- Lernwortschatz, der repräsentativ für lateinische Literatur aller Zeiten ist und dem tatsächlichen lateinischen Vokabelgedächtnis der Schüler entspricht,
- Gewährleistung der optimalen Umwälzung,
- im fundamentum praktikable Textumfänge in Entsprechung zur Berechnung B auf S. 6 dieses Arbeitspapiers;
- in Lektürephase Weiterarbeiten nach diesem Lernwortschatz zuzüglich kleiner frequenzbasierter Autoren-/Werkwortschätze.
- mittelfristig:
- Am ehesten zielführend erscheint die Verwendung der 500 häufigsten Wörter von adeo-NORM als Lernwortschatz vom Anfang der Spracherwerbsphase an. Für die Unterrichtsarbeit bedeutet dies u.a. folgende Vorschläge, die hiermit zur fachdidaktischen Diskussion gestellt werden:
- Abgleich des jeweiligen Lehrbuchvokabulars und der 500 häufigsten Wörter von adeo-NORM, Kennzeichnung dieser Wörter; gelernt werden in der Regel nur die gekennzeichneten Wörter.
- Damit aber im Bereich der ersten Phase des Spracherwerbs nicht zu wenig Wortschatz zur Verfügung steht, wird es – je nach Lehrbuch – unvermeidbar sein, den Lehrbuchwortschatz einiger Anfangslektionen (z. B. Prima Nova 1-4) vollständig zu lernen. Diese die 500 häufigsten Wörter von adeo-NORM überschreitenden Vokabeln („Lehrbuch-x“) sollten ab Mitte des ersten Lernjahrs aus der regelmäßigen Lernerfolgsüberprüfung herausgenommen werden.
- Lehrbuchtexte werden nicht vollständig monolingual lateinisch bearbeitet. Vor allem die Partien der Lehrbuchtexte, die überwiegend aus Nicht-Lernwortschatz bestehen, sollten gestrichen oder methodisch alternativ bearbeitet werden.
- Die Unterrichtsarbeit wird enger als bisher mit der Nutzung des Wörterbuchs verknüpft. In diesem Zusammenhang kommt der Verwendung von elektronischen Wörterbüchern, sofern eingeführt, besondere Bedeutung zu. In Klassenarbeiten, die aus der Rekodierung von Texten bestehen, werden alle über den aktuellen Arbeitsstand (gelernter Teil der 500 häufigsten Wörter von adeo-NORM + ggf. „Lehrbuch-x“) hinausgehenden Wörter angegeben.
- in der Lektürephase Weiterarbeiten nach diesem Lernwortschatz zuzüglich kleiner frequenzbasierter Autoren-/Werkwortschätzen.[16] Die Wortschatzquantität jenseits des Lernwortschatzes ist auf die jeweilige Lerngruppe und die jeweiligen Inhalte der Autoren-/Werklektüre abzustimmen.
[...]
[1] Bösch, Fabian: Methodische Überlegungen zur Wortschatzarbeit im Lateinunterricht. Mit praxisorientierten Übungen, Saarbrücken 2012. Den Hinweis auf diese Arbeit verdanke ich Peter Kuhlmann.
[2] Dominick, Christin: Optimierung der Wortschatzeinführung im Lateinunterricht durch Adaption der Semantisierungstechniken des neusprachlichen Unterrichts (Englisch, Französisch und Spanisch) – Möglichkeiten und Grenzen, Masterarbeit Universität Leipzig 2012 (unveröffentlicht)
[3] Haß, Frank (Hrsg.): Fachdidaktik Englisch. Tradition – Innovation – Praxis, Stuttgart 2006, S. 114ff.
[4] Korn, Matthias: Das Handlungsfeld Sprachunterricht, in: Kipf, Stefan/Kuhlmann, Peter (Hg.): Perspektiven für den Lateinunterricht, Bamberg 2015, S. 27ff.
[5] Kuhlmann, Peter: Fachdidaktik Latein kompakt, Göttingen 2009, S. 54ff.
[6] Neveling, Christiane: Wörterlernen mit Wörternetzen. Eine Untersuchung zu Wörternetzen als Lernstrategie und als Forschungsverfahren, Tübingen 2004; Neveling, Christiane: Lernstrategie: Wörternetze, Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 90 (2007), S. 2ff.
[7] Schirok, Edith: Wortschatzarbeit; in: Keip, Marina – Doepner, Thomas (Hrsg.): Interaktive Fachdidaktik Latein, Göttingen 2010, S. 13ff.
[8] Störmer, Anna: Überlegungen zu Umfang, Inhalt und Aufbau eines Lernwortschatzes im Fach Latein auf der Grundlage der aktuellen Stände der Bildungswissenschaften, Fachwissenschaft und Fachdidaktik; Masterarbeit Universität Leipzig 2012 (unveröffentlicht)
[9] Utz, Clement: Mutter Latein und unsere Schüler – Überlegungen zu Umfang und Aufbau des Wortschatzes; in: Neukam, Peter: Antike Literatur – Mensch, Sprache, Welt, München 2000, S. 146-172
[10] Steinthal, Hermann: Zum Aufbau des Wortschatzes im Lateinunterricht, AU 14/2 (1971), S. 20ff.
[11] Dieses Prinzip (‚Wortschatz von oben‘) wurde erstmalig konsequent durchdacht von Steinthal und später präzisiert von Utz.
[12] Wieviel Wörter eines Textes minimal verstanden worden müssen, um ein Verständnis des Textes zu entwickeln, ist bislang nicht erforscht. Dabei hängt Textverständnis sicherlich auch noch von weiteren Faktoren ab wie z.B. sprachliche Dichte und Wortstellung. Es wird aber bezweifelt, dass die von Utz durch Lernwortschatz angestrebte Textabdeckung von 83% überhaupt erforderlich ist.
[13] Freund, Stefan – Schröttel, Wolfram: Non quot, sed qualia. Wortstatistische Überlegungen zum Ausgangscorpus einer lateinischen Wortkunde, Forum Classicum 46 (2003), S. 200ff.
[14] Zum Query-Corpus vgl. z.B. Bösch, S. 12. Eine Liste der 1000 häufigsten Wörter des Query-Corpus ist im Internet z.B. unter www.carolinum.net/materialien.html zu finden (letzter Zugriff: 10.06.2015).
[15] Marzano, R. J. – Pickering, D. J. – Pollock, J. E.: Classroom Instruction That Works: Research-Based Strategies for Increasing Student Achievement, New York 2003, S. 66ff.
[16] Quelle z.B. adeo-PLUS (693 W.): Autorenwortschätze zu Caesar, Catull, Cicero (Reden), Curtius, Gellius, Martial, Ovid, Nepos, Phaedrus, Plautus, Plinius d. J., Sallust, Terenz und Vergil. adeo-PLUS verspricht eine autorenbezogene Erhöhung der Textabdeckung von 83% <adeo-NORM> auf bis zu 90%. - Alternative zu adeo-PLUS als Quelle ist ‚adeo Wortkunde nach Wortfamilien‘: Sie ist etymologisch geordnet und umfasst die 500 häufigsten Wörter von adeo-NORM (blau), den Rest des Basisvokabulars (schwarz fett) <748 W.> sowie den Teil der Autorenwortschätze <adeo-PLUS>, der bei mindestens zwei der in der Sekundarstufe I gelesenen Autoren vorkommt (350 W.).