Migration in Großbritannien 1960 bis 1990. Analyse von Prosatexten afro-karibischer Einwanderer, den „Black British“


Masterarbeit, 2014

67 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Forschungsüberblick
2.1 Forschungsgeschichte
2.2 Aktueller Stand

3. Migration in Großbritannien – politische und gesellschaftliche Rahmen­bedingungen

4. Präsentation und Repräsentation von Migration in kulturellen Erzeugnissen – Literarische Erzeugnisse
4.1 Migration als literarisches Thema
4.2 Erzählmuster und Strukturen in novels der ‚Black British literature‘
4.2.1 The Lonely Londoners (1956)
4.2.2 Moses Ascending (1975)
4.2.3 The final passage (1985)
4.2.4 The Unbelonging (1985)
4.3 Synthese

5. Fazit

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Sekundärliteratur

1. Einleitung

„Geschichten schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen.“ – Johann Wolfgang von Goethe

Der Themenkomplex „Migration und Integration“, wie er in dieser Arbeit dargestellt werden soll, bietet aufgrund seiner Vielschichtigkeit gleich mehrere Möglichkeiten sich ihm inhaltlich anzunähern. Da es ein Ziel dieser Arbeit ist, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen und Migration und Integration nicht als bloße politische Prozesse zu verstehen, die hauptsächlich von einem sogenannten „Empfängerland“ bestimmt werden, soll einleitend anhand zweier kurzer Beispiele deutlich gemacht werden, welche perspektivischen Chancen und auch Probleme Migration und Integration mit sich bringen.

Zunächst einmal muss die Zeitlosigkeit des Themas „Migration und Integration“ konstatiert werden. Die Geschichte der Menschheit ist eng verknüpft mit dem Prinzip geographischer und territorialer Flexibilität und Bewegung. Völkerwanderungen, Urbanisierung und Arbeitsmigration sind nur einige Etappen, die es in diesem Kontext zu nennen gilt. Seit jeher waren mit diesen Verschiebungen und Wanderungsprozessen auch Konflikte verbunden, die es auf die eine oder andere Weise zu lösen galt. Auf ein neues Fundament wurde die politische Diskussion um Migration und Integration im Rahmen der Nationalstaatsbildung in Europa im 19. Jahrhundert gestellt. Seither gibt es mehr oder minder willkürlich gewählte, feste Definitionen der eigenen Volksnation, deren Kulturkonzept, wie später gezeigt werden wird, zumeist auch als Abgrenzung gegen fremde Nationen und Kulturen verstanden werden kann. Mit diesem Prinzip der Nationalstaatlichkeit geht auch eine Verschiebung der Perspektive auf Migrationsprozesse einher. Es bildet sich eine klare Dichotomie zwischen „Sender“- und „Empfängerland“, die gerne auch als Mittel politischer Meinungsmache genutzt wird. Die Fokussierung auf die eigenen politischen und ökonomischen Interessen lässt darüber hinaus oft die individuellen oder kollektiven Beweggründe der „Aufzunehmenden“ in Vergessenheit geraten.

Dieses Perspektivproblem zeigt sich auch gegenwärtig, beispielsweise in den Migrations- und Flüchtlingsbewegungen des Mittelmeerraumes. Die politische Debatte auf supranationaler Ebene scheint sich dabei darauf zu versteifen, wie mit den Flüchtlingen und Migrationswilligen umzugehen sei, ohne jedoch die Frage aufzuwerfen welche Schritte man in den „Senderländer“ unternehmen könne, um solche lebensgefährlichen „Reisen“ unter menschenunwürdigen Bedingungen auf humanitärer, politischer und ökonomischer Ebene überflüssig werden zu lassen.

Die Konsequenzen, die sich aus diesen beiden kurzen Beispielen für den Fortlauf der Arbeit ergeben, bestehen darin, dass sich darum bemüht werden soll den Fokus auf die individuellen und kollektiven Erfahrungen der Migranten während ihres Migrationsprozesses und in Auseinandersetzung mit ihrem neuen politischen und gesellschaftlichen Umfeld zu legen. Untersucht werden diese Erfahrungen und deren Verarbeitung im Bereich der klassischen Kulturdisziplin der Literatur. Diese ist seit jeher mehr als nur das Ergebnis eines künstlerischen Schaffensprozesses, sie ist auch Mittel und Resultat der Auseinandersetzung des Autors mit seiner Um- und Mitwelt und Spiegelbild gesellschaftlicher Verhältnisse. Als Untersuchungsort wird Großbritannien gewählt. Das Vereinigte Königreich bietet sich, aufgrund seiner kolonialen Vergangenheit und seiner, zumindest anfänglich, großzügigen Auslegung der britischen Staatsbürgerschaft im Rahmen des Empires, an. Allerdings ist eine erneute Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes unabdingbar. Diese Fokussierung betrifft dabei sowohl die Produzentenseite als auch das Produkt an sich. Im Fokus der Arbeit werden die literarischen Erzeugnisse der afro-karibischen Einwanderer Großbritanniens stehen, die unter dem Sammelbegriff ‚Black British‘ zusammengefasst werden. Die afro-karibischen Einwanderer stellen einerseits, neben den asiatischen, die größte Migrantengruppe dar und betätigten sich andererseits bereits sehr früh als Kulturschaffende.

Doch auch im klassischen Kulturfeld der Literatur ist eine weitere Differenzierung notwendig. Aus diesem Grund sollen primär Kurzprosa-Texte (novels) als Untersuchungsgegenstand dienen.[1] Die Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes auf Kurzprosa-Texte lässt sich vor allem mit ihrer meist einsträngigen Erzählstruktur begründen. So ist in einem relativ überschaubaren Umfang mit einer thematisch dichten Behandlung des Themas Migration zu rechnen. Die Analyse soll zudem weniger literaturtheoretische Aspekte behandeln als vielmehr die Literatur in ihrer Funktion als gestaltendes Medium für Identität erfassen. Die ‚Black British literature‘ begrenzt sich nämlich nicht, wie später zu zeigen sein wird, auf die Abbildung und Repräsentation von Identitätskonzepten in Zeiten kultureller Diskontinuität, sie gestaltet die sich transformierenden Identitäten auch aktiv mit. Der Frage, welche Rolle Literatur in solchen identitären Ausbildungsprozessen einnimmt, soll exemplarisch anhand von vier ‚novels‘ nachgegangen werden. Im Einzelnen sollen Sam Selvons „The Lonely Londoners“ (1956) und „Moses Ascending“ (1975) sowie Caryl Phillips „The final passage” (1985) und Joan Rileys „The Unbelonging” (1985) untersucht werden. „The Lonely Londoners“ fällt mit seinem Erscheinungsdatum zwar aus dem primären Untersuchungsrahmen, ist aufgrund seiner starken wissenschaftlichen Beachtung als auch in seiner Vorreiterfunktion für die ‚Black British literature‘ unbedingt zu berücksichtigen. „Moses Ascending“, ebenfalls von Sam Selvon, ist gerade aufgrund seiner Funktion als Fortsetzung zu „The Lonely Londoners“ und dem zeitlichen Abstand von fast 20 Jahren zwischen beiden Werken als Untersuchungsgegenstand besonders interessant. Hier kann untersucht werden, wie ein einzelner Autor die Veränderungen der Lebensumstände für Migranten in einer recht großen Zeitspanne bewertet. „The final passage“ und „The Unbelonging” stellen hingegen andere Fragen an den Untersuchungsgegenstand, da sie ihn um die Bedeutung der Geschlechterrollen im Migrationsprozess erweitern. Mit Joan Riley und Caryl Phillips stehen hierbei sowohl ein männlicher Autor als auch eine weibliche Autorin zur Verfügung, was vor allem für die Aspekte der Fremd- und Eigenwahrnehmung bedeutsam sein könnte.

Bevor jedoch auf die genannten literarischen Erzeugnisse der afro-karibischen Einwanderer eingegangen werden soll, gilt es einige entscheidende und einflussnehmende Rahmenbedingungen zu erläutern, in denen die genannten kulturellen Produktionsprozesse ablaufen. Zunächst einmal wird zu diesem Zweck der Forschungsstand dargestellt, der sich primär auf die wissenschaftlichen Felder der ‚Postcolonial‘ sowie ‚Cultural Studies‘ bezieht, und diese auch vor dem Hintergrund des Forschungsgegenstandes kontextualisieren soll. Daraufhin soll ein kurzer Überblick über die Geschichte der Migration in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgen. Unumgänglich ist hierbei die Rekurrenz auf den Rassismus-Diskurs und die ‚Riot‘-Bewegung der 1980er Jahre.

2. Forschungsüberblick

2.1 Forschungsgeschichte

Wie einleitend bereits erwähnt, soll die Ermittlung des aktuellen Forschungsstands anhand der beiden integrativen Wissenschaftsfelder der ‚Cultural‘ und ‚Postcolonial Studies‘ erfolgen. Die Herausforderung besteht darin, die interdisziplinären Bestandteile zu erfassen und in diesem Kapitel zu synthetisieren. Dazu ist es notwendig die ‚Cultural‘ und ‚Postcolonial Studies‘ auch ihrer historischen Genese zu erfassen, die sich eng verzahnt mit gesellschaftlichen Umwälzungen gestaltet.

‚Cultural‘ und ‚Postcolonial Studies‘ sind aus forschungsgeschichtlicher Perspektive noch junge Untersuchungsfelder. Beide sind in ihren basalen Strukturen das Ergebnis einer wissenschaftlichen Perspektiverweiterung im Nachfeld des Zweiten Weltkriegs. Die britischen ‚Cultural Studies‘ sind dabei untrennbar mit der Entstehung des ‚Centre for Contemporary Cultural Studies‘ (CCCS) in Birmingham im Jahr 1964 verbunden. Betrachtet man die Geschichte des CCCS und der ‚Cultural Studies‘ in Großbritannien, so weist diese zahlreiche Bezugspunkte zur Bewegung der „Neuen Linken“/ ‚New Left‘ auf. Diese Verwurzelung bietet aber mehr als nur einen gemeinsamen Sammelpunkt für spätere Akteure der ‚Cultural Studies‘, sie ist auch ausschlaggebend für das Verständnis und die Auslegungen der wissenschaftlichen Disziplin. Die ‚New Left‘-Bewegung hatte ihre Ursprünge in den politischen Organisationen an den britischen Universitäten und etablierte sich im Jahr 1956 als Reaktion auf die Zerschlagung des Ungarischen Volksaufstands durch die Sowjetunion und die Besetzung des Suez-Kanals durch die Briten.[2] Beide Ereignisse symbolisierten kommunistische, bzw. koloniale Politik, die die ‚New Left‘ entschieden ablehnte. Zudem war die ‚New Left‘ der Versuch einer Antwort auf die Krise der Labour-Partei, die eng mit der Prosperität der Nachkriegsjahre einherging.[3] Da man beispielsweise in der Suez-Frage oder im Bereich der nuklearen Abrüstung ähnliche Standpunkte vertrat, erhoffte man sich einen aktiven politischen Austausch mit der Labour Party.[4] Als mediales Organ diente die „New Left Review“. Gesellschaftlich-kulturelle Entwicklungen standen im Fokus der Veröffentlichungen der ‚New Left‘-Bewegung. „One of the main aims and contributions of the New Left was to demonstrate that popular culture is itself political […].”[5] In einem seiner Artikel liefert Stuart Hall, aktives Mitglied der ‚New Left‘ und späterer Leiter des CCCS, selbst eine Erklärung für diese Annahme:

First, because it was in the cultural and ideological domain that social change appeared to be making itself most dramatically visible. Second, because the cultural dimension seemed to us not a secondary, but a constitutive dimension of society. (This reflects part of the New Left’s long-standing quarrel with the reductionism and economism of the base–superstructure metaphor.) Third, because the discourse of culture seemed to us fundamentally necessary to any language in which socialism could be redescribed. The New Left therefore took the first faltering steps of putting questions of cultural analysis and cultural politics at the centre of its politics.[6]

An dieser Stelle zeichnet sich bereits der Ansatz ab, der später zum bestimmenden Element der ‚Cultural Studies‘ werden sollte: die wissenschaftliche Analyse gesellschaftlich-kultureller Trends, die darüber hinaus auch als politisches Statement gesehen werden. Neben Hall entstammten auch der walisische Literaturkritiker E.P. Thompson und der marxistische Historiker Raymond Williams der ‚New Left‘-Bewegung. Ihre Arbeiten bildeten zusammen mit den Veröffentlichungen Richard Hoggarts, dem Gründungsdirektor des CCCS, die Grundsteine für die Entwicklung der ‚Cultural Studies‘ in Großbritannien.[7] Sie definieren sich selbst als eine, stetig im Konflikt und in Auseinandersetzung mit vorhandenen und entstehenden Forschungsansichten und wissenschaftlichen Konstrukten, befindliche Disziplin.[8] Sinnbildlich dafür steht die Auseinandersetzung mit dem Marxismus.

It [die Begnung zwischen „Cultural Studies“ und Marxismus] begins, and develops through the critique of a certain reductionism and economism, which I think is not extrinsic but intrinsic to marxism; a contestation with the model of base and superstructure, through which sophisticated and vulgar marxism alike had tried to think the relationships between society, economy, and culture.[9]

Die ‚Cultural Studies‘ verneinen die Annahme Marx’ in der Weise, dass sie Kultur als konstitutives Element der Gesellschaftsstruktur ansehen, und nicht als Resultat okönomisch-gesellschaftlicher Bedingungen.

Aus dieser Tatsache lässt sich die These ableiten, dass kulturelle Veränderungen und Umwälzungen sich sowohl gesellschaftlich als auch wissenschaftlich auswirken. Belegt werden kann diese Annahme anhand eines Vortrags von Stuart Hall über das theoretische Vermächtnis der ‚Cultural Studies‘. In diesem weist er auf die außergewöhnliche Wirkkraft der gesellschaftspolitischen Themen Feminismus und „Rasse“ hin. In beiden sieht er Momente der Unterbrechung und der Neuordnung innerhalb der ‚Cultural Studies‘.[10] Hier erreichen gesellschaftlich-kulturelle Phänomene eine solche Relevanz, dass sie in eine direkte Wechselwirkung mit dem progressiven Wissenschaftsansatz der ‚Cultural Studies‘ treten. „New interventions reflect events outside a discipline but have effects within it.”[11] Die Bildung von neuen Forschungsgruppen, wie sie in den späten 1970er Jahren stattfand, ist dabei wohl die offensichtlichste Form der beschriebenen Wechselwirkung.[12] Feminismus und der „Rassen“-Diskurs wurden also keineswegs nur als neue Forschungsfelder angesehen, sondern durch Internalisierung und Absorption von Personal und Forschungsperspektiven direkt in den wissenschaftlichen Ablauf integriert. Die Einwirkung externer Faktoren war aber keinesfalls auf soziale Entwicklungstrends begrenzt. Der Ausbruch des Vietnam-Kriegs, „the first televised war“[13], rückte auch die Rolle der Medien im Prozess kultureller Expressivität in den Fokus des CCCS. „Theory was more than an abstract issue at the Centre then. It was conjunctural; articulated in relation to wider historical and political shifts in contemporary society.”[14]

Trotz der immanenten Dynamik der ‚Cultural Studies‘ lassen sich für die leitende Fragestellung dieser Arbeit an dieser Stelle bereits erste Schlüsse ziehen. Zum einen sind die Ansätze der Cultural Studies als Versuch der Demokratisierung und Öffnung von Wissenschaft zu verstehen. Im Rahmen der Verwissenschaftlichung von populärer Kultur findet eine antielitäre Wissenschaftsausrichtung statt. Kultur und die Erforschung von Kultur basieren hier auf der Annahme, dass diese nicht ausschließlich durch klassische Felder der Hochkultur wie Kunst oder Literatur artikuliert werden, sondern vielmehr durch gesellschaftliche Trends und alltägliche Verhaltensweisen.[15] Zum anderen erweisen sich die ‚Cultural Studies‘ in ihrer Ausrichtung flexibel genug, um auf gesellschaftliche Trends reagieren und wissenschaftlich agieren zu können. Diese beiden Aspekte bilden die Grundlage zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dynamischen subkulturellen Phänomenen, zu denen zumindest in ihrer Frühphase auch die ‚Black British literature‘ zu zählen ist.

Die Demokratisierung und Öffnung der wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstände ist auch als eins der Hauptanliegen der ‚Postcolonial Studies‘ anzusehen. Ihre Ursprünge haben die ‚Postcolonial Studies‘ in den antikolonialen, nationalen Befreiungsbewegungen und in der marxistischen Imperialismuskritik.[16] Was sich im Bereich der Unabhängigkeitsbewegungen zunächst noch auf nicht-europäische Intellektuelle stützte, etablierte sich in den 1970ern und 1980ern unter Bezugnahme auf die Analyse der Kultur des Kolonialismus durch französische Poststrukturalisten wie Michel Foucault oder Jacques Darrida auch im europäischen Wissenschaftsdiskurs.[17] ‚Postkolonial‘ wurde fortan nicht mehr ausschließlich als chronologischer Marker angesehen, sondern auch als theoretische Grundposition in Literatur- und Kulturwissenschaften.[18]

It [Postkolonialismus] attacks the status quo of hegemonic economic imperialism, and the history of colonialism and imperialism, but also signals an activist engagement with positive political positions and new forms of political identity in the same way as Marxism or feminism.[19]

Die Programmatik der ‚Postcolonial Studies‘ und des ‚Postcolonialism‘ soll im Folgenden anhand zweier Beispiele veranschaulicht werden. Zu diesem Zweck werden zwei zentrale Arbeiten der ‚Postcolonial Studies‘ vorgestellt, die einerseits die Kritik an der West-Rest-Dichotomie, wie sie Edward Said äußert, und andererseits die generelle Kritik am universalen Anspruch des Westens über die Geschichtsschreibung, wie sie Dipesh Chakrabarty formuliert, umfassen. Saids 1979 erschiene Studie ‚Orientalism‘ basiert auf der Annahme, dass die Orient-Okzident-Dichotomie das künstliche Produkt akademischer und außerakademischer Publikationen ist.[20] Diese zeichnen eine klar hierarchisch geprägte Sichtweise auf den Orient und attestieren ihm Rückständigkeit und fehlende Erneuerungsfähigkeit.[21] Die Kritik an der eurozentrierten Geschichtsschreibung und dem Anspruch der historischen Deutungshoheit verstärkt Edward Said in seinem 1993 erschienen Werk „Kultur und Imperialismus“. „Interaktionserfahrungen zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten, die in der Orientalismusstudie noch deutlich im Hintergrund standen, fokussiert Said in Kultur und Imperialismus nun explizit.“[22] Aus diesen Interaktionserfahrungen folgert Said, mit Blick auf die kulturellen, dekolonialen Widerstandsbewegungen, drei wesentliche Zielsetzungen: Das Recht auf die identitätsstiftende Rekonstruktion der eigenen Geschichte, die Überzeugung, dass Widerstand mehr als nur eine Reaktion auf imperiale Herrschaft, sondern auch der Entwurf einer alternativen Geschichtsschreibung sei, und schließlich die Abkehr vom „separatistischen Nationalismus hin zu einer ganzheitlicheren Sicht auf menschliche Kollektivität und Befreiung.“[23] Auch bei Dipesh Chakrabarty stehen Ganzheitlichkeit und die Abkehr vom Kulturrelativismus im Mittelpunkt der Überlegungen. In „Provincializing Europe“ aus dem Jahr 2000 problematisiert Chakrabarty die Anwendung europäischer Modernisierungs- und Entwicklungstheorien in globalen Kontexten.[24] Als zentral erweist sich dabei vor allem die Kritik an säkularen Interpretationskonzepten, die ihrerseits die Traditionen und religiösen Verwicklungen in außer­europäischen Kulturen im Voraus verkennen oder sie bestenfalls radikalen Gruppierungen zuordnen.[25] Auch hier zeigt sich, dass eine universale Geschichtsschreibung und -deutung nach westeuropäischen Maßstäben entschieden abgelehnt wird, und durch die Erweiterung um außereuropäische, kollektive Erfahrungswerte darüber hinaus in Frage gestellt werden soll. Sowohl der Ansatz Edward Saids als auch der Ansatz Dipesh Chakrabartys zeigen deutlich, dass auch die eigene Betroffenheit ein entscheidender Faktor für die Vehemenz der Kritik und der sich daraus ergebenen Forderung nach einem Umdenken und einem inklusiven Wissenschaftsansatz ist. Während sich Said, als Palästinenser, zunächst auf den Orient fokussiert, orientiert sich auch Chakrabarty vor allem auf sein Heimatland Indien. Hier zeigt sich auch die politische Ebene der ‚Postcolonial Studies‘, auf die auch Robert Young aufmerksam macht. Ihr Geltungsanspruch mag ein globaler sein, in ihren Ursprüngen ist sie jedoch eng verknüpft mit individuellen und kollektiven Erfahrungen von Missständen und postkolonialer Machtausübung.

Anti-colonialism was never just an idea, a theoretical position, a philosophical view of the world; its ideas were embedded as part of a dynamic input into material political and social organizational infrastructures. Tricontinentalism, like postcolonialism, was generated from a combination of diasporic and local contexts. Unlike some postcolonials, however, anti-colonial intellectuals were not preoccupied by worries about positions of detachment or specularity. They were organic intellectuals, who lived and fought for the political issues around which they organized their lives and with which they were involved at a practical level on a daily basis.[26]

Die ‚Postcolonial Studies’ sind somit neben ihrer wissenschaftlichen Ausrichtung auch als Zeitdokument zu sehen und als Ausdruck der Verarbeitung und der Auseinandersetzung mit der Imperialzeit. So stehen sie auch in direktem Zusammenhang mit dem Kernthema dieser Arbeit, nämlich der literarischen Produktion im postkolonialen Kontext. Ähnlich wie die Äußerungen Saids, Chakrabartys oder Youngs klingt daher auch die Einschätzung Susanne Cuevas bezüglich der Zusammenhänge zwischen ‚Postcolonial Studies‘ und Literaturwissenschaften: „‘Postcolonial‘ in the authors‘ understandings covers ‚all the culture affected by the imperial process from the moment of colonisation to the present day‘ […].“[27]

Nachdem nun die historische Genese und die wesentlichen Inhalte der ‚Cultural Studies‘ und ‚Postcolonial Studies‘ kurz skizziert wurden, soll der Blick darauf gerichtet werden, wie sich der gegenwärtige Forschungsstand der beiden Disziplinen im Bezug auf die ‚Black British Literature‘ gestaltet.

2.2 Aktueller Stand

Der Terminus ‚Black British Literature‘ erweist sich schon in seiner Zusammensetzung als komplexes definitorisches Konstrukt. Ursprünglich entstammte der Begriff „Black British“ dem ‚Caribbean Artist Movement‘ der 1960er Jahren, wurde in seinem Geltungsanspruch aber schon bald ausgeweitet.[28] Die Attribuierungen ‚black‘ und ‚british‘ bilden aber unscharfe Kategorien, die unterschiedlich eng oder weit gefasst werden können.[29] Um sich dennoch eine genaue Vorstellung vom vorliegenden Untersuchungsgegenstand machen zu können, orientiert sich diese Arbeit an der von Stuart Hall in seinem Werk „New Ethnicities“ entworfenen Definition. Demnach handelt es sich nicht um eine Erscheinung, die fest an eine ethnische Gruppe oder eine Hautfarbe gebunden ist, vielmehr steht die kollektive Erfahrung der Akteure im Mittelpunkt. „‘The Black Experience‘ as a singular and unifying framework based on the building up of identity across ethnic and cultural difference between the different communities, became ‘hegemonic’ over other ethnic/racial identities – […].”[30] Dementsprechend kann konstatiert werden, dass sich die ‚Black British literature‘ durch die gemeinsame Erfahrung der Autoren von Marginalisierung und Randständigkeit definiert.[31] Hall leitet daraus ein Streben nach Einfluss und Repräsentation ab, dass sich vorherrschenden stereotypen Darstellungen entgegenstellt.[32] Die ‚Black British culture‘ allgemein versteht sich somit in den 1970ern und 1980er Jahren auch selbst als Subkultur, die einen gleichgestellten Status mit etablierten Kulturgütern und Anerkennung für ihr Wirken beansprucht.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ‚Black British literature‘ erhält ihre Legitimation unter anderem durch die Wissenschaftsinnovation im Rahmen der bereits eingeführten ‚Postcolonial Studies‘ und ‚Cultural Studies‘. Im Wesentlichen ist sie auf drei „Koordinaten“ zurück zu führen: die Aufhebung des europäischen Kulturmonopols, die Orientierung an der amerikanischen Mainstream-Kultur und die Sensibilisierung in Folge der Dekolonisierung der Dritten Welt.[33] Ergänzt werden diese drei Paradigmen, die im Grunde die Öffnung des Kulturbegriffes und die Abkehr vom Hochkultur-Gedanken beschreiben, um zwei weitere Aspekte. Einerseits die Erkenntnis um die eigene vielfältige Ethnizität innerhalb Europas und andererseits das moderne Interesse am Anderen. „[…] – there’s nothing that global postmodernism loves better than a certain kind of difference: a touch of ethnicity, a taste of the exotic, as we say in England, ‘a bit of the other’ […].”[34] Die konjunkturelle Dimension ist somit das entscheidende Kriterium, um subkulturelle Phänomene ins öffentliche und wissenschaftliche Bewusstsein zu rufen. Was die ‚Cultural Studies‘ bereits in den 70ern und 80ern zum Thema machten, drang in den 1990ern und vor allem zur Jahrtausendwende in breitere wissenschaftliche Gefilde vor. „A measure of its growing reputation is the number of literary prizes awarded in the last ten years or so to British writers with roots in the Caribbean and Africa, […].”[35] Hinzu kam eine verstärkte öffentliche Präsenz und Beschäftigung mit den kulturellen Expressionen der ehemaligen Einwanderer, unter anderem im Rahmen des „Windrush“-Jubiläums 1998.[36] Abermals waren es konjunkturelle Faktoren, die dazu führten, dass die ‚Black British culture‘ als Gegenstand der wissenschaftlichen Beschäftigung endgültig etabliert wurde. Ablesen lässt sich dieser Fakt vor allem an der zunehmenden Zahl der Publikationen. So entstanden – nach einigen Pionierwerken[37] – um die Jahrtausendwende erste ‚text reader‘ und ähnliche Sammelbände, die versuchten die ‚Black British literature‘ oder ‚Black British culture‘ ethnologisch, soziologisch, literatur- und medienwissenschaftlich zu erfassen.[38] Die Parallelen zum Ansatz des CCCS und den umfassenden Analysen der ‚Postcolonial Studies‘ sind frappierend. Dennoch ist der Prozess der wissenschaftlichen Auseinandersetzung auch heute noch in einer Findungsphase, wie Susanne Cuevas konstatiert:

‘Black British literature‘[3] is still in the process of establishing itself within the field of English Studies as part of the New Literatures in English and has been mainly the subject of postcolonial studies, although some research from a cultural studies perspective also exists.[39]

Die aktuellen Untersuchungen zur ‚Black British Literature‘ bieten folglich zahlreiche interdisziplinäre Ansätze und eröffnen verschiedene Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand. Das folgende Kapitel soll sich jedoch zunächst darauf beschränken, die sozialen und historischen Rahmenbedingungen der Migration und der Literaturproduktion in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg zu umreißen.

3. Migration in Großbritannien – politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Die Migrationsbewegungen der Nachkriegsjahre in Großbritannien stehen unter dem Zeichen kolonialer Tradition. Das britische Empire sicherte jedem seiner Untertanen die volle britische Staatsbürgerschaft und somit auch das Einreiserecht in das koloniale Mutterland zu. Der Arbeitskräftemangel in den ersten Jahren nach Ende des Krieges führte zudem dazu, dass sich in Großbritannien eine Anwerbe-Industrie für ausländische Arbeiter etablierte.[40] Vor allem in der Textil-Industrie und im Gesundheitssektors wurde dabei auf weibliche Arbeitskräfte aus den Kolonien zurückgegriffen. Die übrigen Bedarfsfelder wurden aufgrund politischer Bedenken primär mit europäischen Arbeitskräften aufgestockt.[41] Bereits im Jahr 1950 wurden erste politische Initiativen ins Leben gerufen, die sich mit kolonialer Immigration auseinandersetzten. Ihnen gemein war die Annahme, dass koloniale Immigration zu sozialen und innenpolitischen Problemen führen würde und sie deshalb bereits in ihren Ansätzen stark zu limitieren sei.[42] Bereits nach Ankunft der „Empire Windrush“ und der „SS Orbita“ im Jahr 1948, die erstmals karibische Einwanderer nach Großbritannien brachten, hatte es politische Diskussionen gegeben, die aber genau wie die Debatten zu Beginn der 50er Jahre aufgrund der geringen Zahl an kolonialen Einwanderern schnell wieder abebbten.[43] Allerdings zeigen diese politischen Bemühungen deutlich die unterschiedliche Einschätzung bezüglich kolonialer und europäischer Immigration.

It is extraordinary that, at a time when Irish immigration was estimated to be 60,000 per year, immigration controls should have been considered in order to prevent the entry of a mere 3,000 people who, as colonial and Commonwealth citizens, were British subjects.[44]

Wenig überraschend ist daher auch das erneute Einsetzen der Diskussionen um Immigrationsbegrenzungen für britische Staatsbürger des Commonwealths oder der Kolonien im Anschluss an den ‚McCarran-Walter Immigration Act‘ der USA aus dem Jahr 1952, der die Einwanderung karibischer Migranten stark reglementierte und begrenzte.[45] Die anhaltend schlechte Wirtschaftslage in der Karibik, hauptsächlich auf Jamaika, führte in Folge dessen zu einer vermehrten Migration nach Großbritannien.[46] Auf politischer Ebene wurde abermals versucht dieser Tatsache durch ein Gesetz zur Kontrolle der Immigration zu begegnen. Der Entwurf wurde am 27.Oktober 1955 vorgelegt, aufgrund der klar diskriminierenden Ausrichtung aber nicht vom Kabinett verabschiedet.[47] Stattdessen wurde eine Kommission eingerichtet, deren Aufgabe darin bestand, den aktuellen Stand der Immigration aus den Kolonien zu erfassen und daraus politische Handlungsempfehlungen abzuleiten. Das Ergebnis, das im Juni 1956 vorgelegt wurde, zeigte zwar einen deutlichen Anstieg an kolonialer Immigration, die erwarteten innenpolitischen und sozialen Probleme und Spannungen blieben jedoch – bis auf kleinere Vorfälle im Bereich der Wohnungssuche – laut Bericht aus.[48] Vielmehr zeigte sich, dass die karibischen und asiatischen Einwanderer den Arbeitsbedarf im Niedriglohnsektor und im Bereich der ungelernten Arbeitskräfte bedienten.[49] Dass sich die gesellschaftliche Reaktion auf Immigration sehr viel diffiziler gestaltete als es der Kommissionsbericht nahelegt, lässt sich bereits anhand der ersten ‚anti-black riots‘ in den Jahren 1948/49 nachweisen.[50] Wurde zunächst nur von lokalen Einzelvorkommnissen gesprochen, so änderte sich diese Sachlage im Anschluss an die ‚riots‘ 1958 in Notting Hill und Nottingham.[51] Die Dimensionen und die Brutalität der Unruhen rückte das Thema Immigration in den Fokus der Öffentlichkeit.[52] Zwar wurde die Gewalt, mit der vorgegangen wurde, strikt verurteilt, parallel setzte jedoch eine erneute politische Diskussion um die Begrenzung „farbiger“ Zuwanderung aus den Kolonien ein, die rassistische Ausprägungen aufwies.[53] George Rogers, Labour-Abgeordneter, äußerte beispielsweise gegenüber der „Daily Sketch“:

The government must introduce legislation quickly to end the tremendous influx of coloured people from the Commonwealth … overcrowding has fostered vice, drugs, prostitution and the use of knives. For years the white people have been tolerant. Now their tempers are up.[54]

Die Forderung nach Einwanderungskontrollen überschattete bald die Kritik an der Gewalt und den Motiven der ‚anti-black riots‘. Die Labour-Partei positionierte sich zwar als Gegner von Immigrationsbeschränkungen, verschiedene Meinungsumfragen zeigten aber deutlich die ablehnende Haltung der Bevölkerung gegenüber „farbigen“ Immigranten auf und machten die politische Auseinandersetzung zu einer öffentlichen Debatte, die fortan in den Medien ausgetragen wurde.[55] Während sich die konservative Fraktion des britischen Kabinetts in Kooperation mit einigen Labour-Abgeordneten, zu denen auch bereits genannter George Rogers zuzuordnen war, auf eine Kampagne zur Kontrolle kolonialer Immigration einigte, erfolgte in der Presse eine umfassende Debatte über die soziale Lage der „farbigen“ Migranten, die von seriösen Bestandsaufnahmen bis hin zu rechtspopulistischer Meinungsmache reichte.[56]

Die Repolitisierung der Migrationsgesetzgebung erfolgte im Lauf der zweiten Hälfte des Jahres 1959. Steigende Arbeitslosenzahlen unter Migranten sowie technische Innovationen, geburtenstarke Jahrgänge, die Abschaffung der Wehrpflicht und die anhaltende Migration irischer Arbeiter waren die Argumente des ‚Ministry of Labour‘ für die Einführung von Einwanderungskontrollen aus Kolonialgebieten.[57] Der politische Restriktionismus, der sich im Bezug auf koloniale Einwanderung schon seit 1948 angedeutet hatte, fand 1962 im ‚Commonwealth Immigrants Act‘ (CIA) seine Umsetzung. Das Einreise- und Staatsbürgerschaftsrecht wurde derart reformiert, dass koloniale Staatsbürger zukünftig nur noch unter Nachweis einer Arbeitsstelle in Großbritannien (Kategorie A), einer Ausbildung in einem Bedarfsfeld (Kategorie B) oder über eine jährliche Quote von ungelernten Arbeitskräften (Kategorie C) einreisen konnten.[58] Zu diesem Zweck wurde auch die Staatsbürgerschaft als solche reformiert. Der ‚Commonwealth Immigrants Act‘ schafft eine Zwei-Klassen-Staatsbürgerschaft, die sich am Kriterium der pass-ausstellenden Behörde ausrichtet. Wurde der britische Pass von einer Kolonialregierung oder kolonialen Verwaltungsorganisationen erteilt, so fiel er künftig dennoch unter die bereits genannten Bestimmungen. Lediglich die Bürger der unabhängigen Commonwealth-Staaten sowie irische Staatsbürger waren von dieser Regelung ausgenommen.[59] Die künstliche Schaffung zweier klassifizierender Staatsbürgerschaften war die politische Antwort auf die Bedenken gegenüber „farbiger“ Einwanderung aus den Kolonialgebieten und dem sich daraus ergebenden sozialen und innenpolitischen Konfliktpotenzial. Formal war damit die Politisierung des „Rassen“-Diskurses erreicht. Wie sehr sich dieser politisch missbrauchen ließ, zeigte die Abgeordneten-Wahl in Smethwick zwischen Patrick Gordon Walker und Peter Griffiths im Jahr 1964. Griffiths bediente sich offen rassistischer Slogans, die er als Spiegelbild der öffentlichen Meinung rechtfertigte, und entschied die Wahl für sich.[60] Hatte sich die Labour-Partei im Nachfeld der ‚riots‘ von 1958 noch als entschiedener Gegner von Einwanderungskontrollen positioniert, so geriet diese Position nun ins Wanken. Als Harold Wilson 1964 Premier Minister wurde, entschied sich Labour für die Beibehaltung des ‚Immigrants Act‘. Stattdessen formulierte man im Folgejahr den ersten ‚Race Relations Act‘ (RRA), der gesprochene, geschriebene oder öffentliche Diskriminierung untersagte, sie aber nicht kriminalisierte.[61] Der ‚Race Relations Act‘ war der Versuch der Einhaltung eines Versprechens, das man mit der Beibehaltung des ‚CIA‘ 1962 bereits gebrochen hatte.[62] „The origins of the first Race Relations Act and its weakness can be explained by the internal and external pressures on Labour government that introduced and passed the legislation.”[63]

Der ‘RRA’ war somit bestenfalls eine Wohlwollensbekundung und ein Versuch enttäuschte Wähler zu beschwichtigen. Die wesentlichen Problemfelder, denen sich Migranten in Großbritannien ausgesetzt sahen, behandelt der ‚Act‘ jedoch nicht. Diese lagen immer noch schwerpunktmäßig im Bereich des Wohnraums und am Arbeitsplatz. Die Rassismus-Studie des Forschungsinstituts für ‚Political and Economic Planning‘ (PEP) aus dem Jahr 1967 lieferte eine erste Bestandsaufnahme zu diesem Thema. Ihr ist zu entnehmen, dass sich Diskriminierung primär an der Hautfarbe orientierte. Während 34 bis 44 Prozent der befragten „farbigen“ Immigranten angaben, mit Diskriminierung konfrontiert zu sein, waren es unter den Zyprioten lediglich sechs Prozent.[64] Im Bezug auf die beiden genannten Problemfelder Beruf und Wohnraum konstatiert der Bericht ebenfalls massive Benachteiligungen. Die Diskriminierung am Arbeitsplatz wurde seitens der Arbeitgeber oder Arbeitskollegen mit mangelnden Sprachkompetenzen oder mangelndem Fachwissen begründet. De facto existierten aber, ähnlich wie im Bereich der Wohnraumsuche, entweder direkte Diskriminierung, die „farbige“ Migranten bereits von vorne herein als Arbeitnehmer oder Mieter ausschloss, oder indirekte Diskriminierung, die in zwei Drittel aller untersuchten Fälle festgestellt wurde.[65] Gerade im Bereich des Wohnraums hatte die Benachteiligung „farbiger“ Migranten schwerwiegende soziale Folgen. Durch die großen Probleme, die bei der Wohnungssuche auftraten, waren viele Immigranten dazu gezwungen sich in günstigem Wohnraum in den Innenstädten einzumieten.[66] Der soziale Sprengstoff, der dieser enklavenartigen Ansiedlung innewohnte, sollte sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten deutlich zeigen. Der gesellschaftliche Trend der Exklusion der kolonialen Immigranten fand in der Politik sein Pendant. Die im ‚CIA‘ benannten Einwanderungsquoten für die Kategorien A bis C[67], die über ein Voucher-System funktionierten, wurden bereits 1965 auf Basis des ‚White Papers‘ ‚Immigration from the Commonwealth‘ drastisch reduziert. Im Fall der Kategorie C, welche die Einwanderung ungelernter Arbeitskräfte regelte, erfolgte schon seit September 1964 keine Erteilung einer Einreiseerlaubnis mehr.[68] Dass diese Verschärfungen der Einwanderungsquoten aber keinesfalls das Ende „farbiger“ Migration nach Großbritannien bedeutete, zeigte sich in den Jahren 1967/68 in der so genannten „Kenia-Krise“. Die kenianische Regierung forcierte die Ausreise asiatischer Siedler durch politische Diskriminierung im Arbeitssektor.[69] Da diese Siedler Inhaber britischer Pässe waren, hieß ihre nächste Anlaufstelle Großbritannien. Sofort wurden medial als auch politisch die ersten Stimmen vernommen, die erneute Kontrollen und Gesetzesänderungen forderten. Die Wirkung dieser Bestrebungen bestand zunächst aber nur darin, dass die Zahl der Einwanderer aus Kenia anstieg.[70] Der britischen Öffentlichkeit und auch der Politik war die nächste Lücke aufgezeigt worden, die es „farbigen“ Einwanderern ermöglichte, legal einzureisen. Die repressive Antwort der Regierung ließ nicht lange auf sich warten.

The second Commonwealth Immigrants Act, which became law on 1 March 1968, proposed that any citizen of the UK or colonies, who was the holder of a passport issued by the UK government, would be subject to immigration control unless they, or at least one parent or grandparent, had been born, adopted or naturalized in the UK, or registered as a citizen of the UK and colonies.[71]

Labour hatte sich erneut dem politischen Druck der Kontrollbefürworter, vornehmlich der Konservativen, und der Angst vor Stimmverlusten gebeugt. Kurz vor der Verabschiedung des zweiten ‚CIA‘ hatte sich auf der Seite der Konservativen Enoch Powell mit seiner „River of Blood“-Rede als Wortführer gegen „farbige“ Immigration hervorgetan. Unter Bezugnahme auf Schilderungen von Bürgerinnen und Bürgern aus seinem Regierungsbezirk schürte Powell in der Bevölkerung die Angst vor Einwanderung, indem er eine apokalyptische Zukunftsvision für Großbritannien zeichnete, die nur durch restriktive politische Maßnahmen zu verhindern sei.[72]

[...]


[1] Da für die literarische Gattung ‚novel‘ kein exakt entsprechendes deutsches Pendant existiert, werden die Begriffe Kurzprosa und novel im Kontext dieser Arbeit synonym verwendet.

[2] Vgl. Procter, James, Stuart Hall, London 2004, S.15 / Bamford, Caroline, The Politics of Commitment. The early New Left in Britain 1956-62, Edinburgh 1983, S.167.

[3] Vgl. Procter, Stuart Hall, S.14.

[4] Vgl. Bamford, Politics of Commitment, S.311.

[5] Vgl. Procter, Stuart Hall, S.14.

[6] Hall, Stuart, Life and Time of the First New Left, In: New Left Review 61, 2010, S.177-196, hier: S.187.

[7] Vgl. Procter, Stuart Hall, S.37.

[8] Vgl. Hall, Stuart, Cultural studies and its theoretical legacies, In: David Morley/ Kuan-Hsing Chen (Hrsg.), Stuart Hall. Critical Dialogues in Cultural Studies, London 1996, S.262-275, hier: S.266.

[9] Ebd., S.265.

[10] Vgl. Hall, Theoretical legacies, S.268.

[11] Hall, Stuart, Cultural Studies and the Centre. Some problematic and problems, In: Stuart Hall et al. (Hrsg.), Culture, Media, Language. Working Papers in Cultural Studies 1972-79, Birmingham 1980, S.15-47, hier: S.16.

[12] Vgl. Procter, Stuart Hall, S.52.

[13] Ebd. S.51.

[14] Ebd.

[15] Vgl. Ebd., S.39.

[16] Vgl. Young, Robert J.C., Postcolonialism. An historical Introduction, Oxford 2001, S.6-10.

[17] Vgl. MacPhee, Graham, Postwar British Literature and Postcolonial Studies, Edinburgh 2011, S.71.

[18] Vgl. Ebd.

[19] Young, Postcolonialism, S.58.

[20] Vgl. Said, Edward, Orientalismus, Frankfurt a.M. 2009, S.180.

[21] Vgl. Ebd, S.340.

[22] Kerner, Ina, Postkoloniale Theorien zur Einführung, Hamburg 2012, S.73.

[23] Kerner, Postkoloniale Theorien, S.75.

[24] Vgl. Ebd., S.77.

[25] Vgl. Chakrabarty, Dipesh, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Oxfordshire 2000, S.31f..

[26] Young, Postcolonialism, S.427.

[27] Zit. n. Cuevas, Susanne, Babylon and Golden City. Representations of London in Black and Asian British Novels since the 1990s, Heidelberg 2008, S.16.

[28] Vgl. Reichl, Susanne, Cultures in the Contact Zone. Ethnic Semiosis in Black British Literature, Trier 2002, S.34.

[29] Vgl. Ebd., S.35.

[30] Hall, Stuart, New Ethnicities, in: Houston A. Baker, Jr./ Manthia Diawara/ Ruth H. Lindeborg, Black British Cultural Studies. A reader, Chicago 1996, S.163-172, hier: S.164.

[31] Vgl. Ebd.

[32] Vgl. Ebd; Eine genauere Einordnung der ‚Black British literature‘ und ‚Black British culture‘ erfolgt in Kapitel 4.1 dieser Arbeit.

[33] Vgl. Hall, Stuart, What is this ‚black’ in black popular culture?, In: David Morley/ Kuan-Hsing Chen (Hrsg.), Stuart Hall. Critical Dialogues in Cultural Studies, London 1996, S.465-475, hier: S.465.

[34] Ebd. S.467.

[35] Ledent, Bénédicte, Black British Literature, In: Dinah Birch (Hrsg.), The Oxford Companion to English Literature, Oxford 2009, S.16-22, hier: S.18.

[36] Vgl. Reichl, Contact Zone, S.37.

[37] David Dabydeen/ Nana Wilson-Tagoe, A Reader’s Guide to West Indian and Black British Literature, Mundelstrup 1987; Bill Ashcroft/ Gareth Griffiths/ Helen Tiffin, The Empire Writes Back. Theory and Practice in Postcolonial Literature, London 1989; Elleke Boehmer, Colonial and Postcolonial Literature, Oxford 1995.

[38] Zu nennen sind hier: James Procter, Dwelling Places. Postwar Black British Writing, Manchester 2003; Lyn Innes, A History of Black and Asian Writing in Britain. 1700-2000, Cambridge 2002; Mark Stein, Black British Literature. Novels of Transformation, Columbus 2004; R. Victoria Arana, ‘Black’ British Aesthetics Today, Newcastle upon Tyne 2007; Alison Donnell, Companion to Contemporary Black British Culture, London 2002.

[39] Vgl. Cuevas, Babylon and Golden City, S.16.

[40] Vgl. Layton-Henry, Zig, The Politics of Immigration. Immigration, ‘Race’ and ‘Race’ Relations in Post-war Britain, Oxford 1992, S.28f.

[41] Vgl. Ebd.

[42] Vgl. Ebd., S.30.

[43] Vgl. Ebd., S.30f.

[44] Ebd., S.33.

[45] Vgl. Ebd., S.31.

[46] Vgl. Hansen, Randall, Citizenship and Immigration in Post-war Britain. The Institutional Origins of a Multicultural Nation, Oxford 2000, S.64.

[47] Vgl. Layton-Henry, Immigration, S.34.

[48] Vgl. Layton-Henry, Immigration, S.35.

[49] Vgl. Ebd., S.45.

[50] Vgl. Ebd., S.37.

[51] Vgl. Ebd., S.38.

[52] Vgl. Ebd.

[53] Vgl. Solomos, John, Race and Racism in Britain, Basingstoke 1994, S.60.

[54] Zit. n. Layton-Henry, Immigration, S.39.

[55] Vgl. Ebd., S.40.

[56] Vgl. Solomos, Race and Racism, S.60f.

[57] Vgl. Hansen, Citizenship, S.93.

[58] Vgl. Ebd., S.110.

[59] Vgl. Ebd., S.109.

[60] Vgl. Solomos, Race and Racism, S.65.

[61] Vgl. Layton-Henry, Immigration, S.50.

[62] Vgl. Schönwälder, Karen, Die Politik der Labour-Regierung zwischen 1964 und 1970, In: Karen Schönwalder/ Imke Sturm-Martin (Hrsg.), Die britische Gesellschaft zwischen Offenheit und Abgrenzung. Einwanderung und Integration vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S.133-153, hier: S.145.

[63] Vgl. Layton-Henry, Immigration, S.49.

[64] Vgl. Ebd., S.47.

[65] Vgl. Ebd., S.48.

[66] Vgl. Ebd., S.48f.

[67] Vgl. Hansen, Citizenship, S.110.

[68] Vgl. Ebd., S.150.

[69] Vgl. Layton-Henry, Immigration, S.78f.

[70] Vgl. Ebd., S.79.

[71] Ebd.

[72] Vgl. Ebd., S.80.

Ende der Leseprobe aus 67 Seiten

Details

Titel
Migration in Großbritannien 1960 bis 1990. Analyse von Prosatexten afro-karibischer Einwanderer, den „Black British“
Hochschule
Universität Trier
Note
2,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
67
Katalognummer
V304622
ISBN (eBook)
9783668177178
ISBN (Buch)
9783946458470
Dateigröße
366 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
migration, großbritannien, analyse, prosatexten, einwanderer, black, british
Arbeit zitieren
Lukas Kroll (Autor:in), 2014, Migration in Großbritannien 1960 bis 1990. Analyse von Prosatexten afro-karibischer Einwanderer, den „Black British“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/304622

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