Probleme des Marxismus-Leninismus. Weltrevolution und Widersprüchlichkeit


Etude Scientifique, 2015

75 Pages


Extrait


Es ist vor dem Haupttext zu bemerken, dass diese Schrift für das politische Tagesgeschäft wenig taugt, dieses verlangt nach Lösungen. Aber noch nie hat Politik Probleme wirklich gelöst; sie verschleppt sie nur und bietet unter Verdrehung der Fragestellungen Pseudolösungen an, die die Politikkonsumenten einstweilen zufriedenstellen sollen. Angesichts der Probleme, die ich im folgenden Text aufwerfe, mag ein Leser, der nur konsumieren will, enttäuscht werden; es ist aber gegen diesen Lesertyp zu behaupten, dass Problemlösungen den Geist zwar befriedigen, interessante Fragestellungen ihn aber auf- bzw. anregen. Es ist also kein Text, den ein Staatssekretär für einen Minister geschrieben hat; er setzt vielmehr einen Leser voraus, dessen Geist wesentlich aktiv und produzierend ist. Ohnehin ist zwischen „politisieren“ und der „Idee der Politik“ zu unterscheiden, die selbst unter den beamteten Politikwissenschaftlern, die wie die Politiker Politik zu einem vulgären Beruf (letztere mit Zeitvertrag) gemacht haben, nur sehr wenigen großen Geschäftsmännern der Politik geläufig ist. Der großen und plumpen Masse der Politikaster und der Politikwissenschaftler als Brotgelehrte hingegen geht es nicht um die Idee der Wissenschaft von der Politik, dass sie mit dem Erlöschen des Klassenkampfes in der Geschichte eine vergehende wissenschaftliche Disziplin ist. Sie pochen auf den Schein gegen das Gesetz der Erscheinung, eine Unzulänglichkeit, auf die Marx schon an den Vulgärökonomen seiner Zeit verächtlich hinwies. In den Gesellschaftswissenschaften waren wissenschaftlich-materialistische Begründungen gesellschaftlicher Prozesse immer schwieriger als materialistische Erklärungen von Naturprozessen in den Naturwissenschaften. Es ist die Crux besonders der Gesellschaftswissenschaften, dass in ihnen sofort „vernünftelt“ wird, ohne sich vorher über die „Idee der Wissenschaft“ überhaupt Gedanken gemacht zu haben. Die Wissenschaft steht damit aber auf sandigem Boden. Die Zuordnung des Islam zu Deutschland (eine Art Kapitulation der Aufklärung vor dem Mittelalter) zeigt an, dass die Zeit des Fundamentalen nicht die gegenwärtige ist. So bringen die Universitäten heute Lehrer hervor, die ihre Schulpferdchen dressieren, um in ihrer Jugend in der Prüfung einmal zu glänzen – um dann nie wieder etwas zu sein. Die Auflösung des Fundamentalen bis hin zur verschwimmenden Kontur aber öffnet der Perversion Tür und Tor. Das dem Kapitalismus innewohnende destruktive Potential steigert sich in seiner Dekadenzphase selbstredend. In ein Volk im Süden Europas wird soviel Geld hineingepumpt, dass es am Rande des Existenzminimus dahinvegetieren muss. Wer die Weltgeschichte als die Offenbarung Gottes oder Allahs ausgibt, der betrachtet den Menschen nicht als Menschen. Die menschlichen Verhältnisse machen nur die Menschen sich selber und schlechthin keine außer ihnen befindliche Macht. (Vergleiche Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, Leipzig, 1945,286f.). Sklaverei und Religion verweisen aufeinander. Aber es sind die Sklavenhalter, die religiöse Völker bevorzugen und atheistische fürchten. Der Islam gehört zu Deutschland wie zu Saudi-Arabien, weil er eine Opiumwaffe in der Hand der bürgerlichen und feudalen Kapitalisten gegen die Lohnsklaven ist. Wer den Kotau gen Mekka macht, macht ihn auch vor dem Kapital. Jean Paul Marat hatte in seinen „Ketten der Sklaverei“ auf die schädliche Neigung der weltlichen Mächte hingewiesen, mit Hilfe der Religion Völker zu verdummen. Die brennenden sozialen Probleme Deutschlands können ebenso wenig durch die Errichtung von Lehrstühlen für die islamische Religion gelöst werden wie der Bau von Moscheen an der Not und dem Elend seiner 850 000 Obdachlosen etwas lindert. Als Deutschland am Ende des zweiten Weltkrieges von Millionen Flüchtlingen überschwemmt wurde, griff man zur „Bequartierung“ jeglichen ungenutzten Wohnraums. Sie waren vor dem Kommunismus geflohen, ein glücklicher Umstand, den die Obdachlosen in Deutschland nach 1989 nicht vorweisen können. Es gibt Zeitgenossen, die ihre Fortschrittlichkeit und Toleranz dadurch unter Beweis stellen möchten, dass sie einen muslimischen Ziegenbauern in der Äußeren Mongolei mehr lieben als ihren Wohnungsnachbarn, der durch Schichtarbeit bei VW seine Gesundheit ruiniert, Brot und Wohnung verliert. In seiner im Mai 1909 geschriebenen Studie „Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion“ kommt Lenin zu dem Schluss, dass der Kapitalismus dem einfachen arbeitenden Menschen “täglich und stündlich tausendmal mehr entsetzlichste Leiden und unmenschlichste Qualen bereitet als irgendwelche außergewöhnlichen Ereignisse wie Kriege oder Erdbeben“. (Lenin, Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion, Werke Band 15, Dietz Verlag Berlin, 1960,408). Es braucht nur der muslimische Ziegenbauer in der Äußeren Mongolei durch ein Erdbeben obdachlos werden, und schon werden immense Spendenkampagnen breitgetreten, für die arbeitende Klasse im eigenen Land aber wird kein Finger gerührt. Auf die Klasse der Proletarier wird heute gespuckt, auf die Klasse also, die im Gegensatz zum alten Rom, wo sie auf Kosten der Gesellschaft lebte, unser aller Leben aufrechterhält. Es war Sismondi, der auf diesen Unterschied hingewiesen hatte, den Marx immer für sehr wichtig hielt. Die Klasse der Proletarier muss also ihre Finger um so mehr zu einer Faust ballen, zu einer Faust, immer bereit, sich zu öffnen, um ein Gewehr zu ergreifen. Die Feinde der Arbeiterklasse prahlen, der Marxismus-Leninismus sei widerlegt. Sie haben Recht nach ihrem bürgerlichen Geschichtsbild, nach der sprossenhistorischen Vernunftleiter Condorcets, auf der man gleichmäßig nach oben steigt und der einmal Gefallene am Boden bleibt. Das dialektische Geschichtsbild hält den Klassenkampf und das letzte Gefecht dagegen offen. Der junge Engels hielt die kapitalistische Ausbeutung für bestialischer als die der feudalen Leibeigenschaft. Der Mensch ist von einem Sklaven des Menschen zu einem Sklaven der Sache degeneriert. (Vergleiche Friedrich Engels, Die Lage Englands, Werke Band 1, Dietz Verlag Berlin, 1957,557). Es ist diese Vorbemerkung daher zu beenden mit dem wichtigen Gedanken Lenins: „ … zu glauben, die Weltgeschichte ginge glatt und gleichmäßig vorwärts, ohne manchmal Riesensprünge rückwärts (kursiv von H. A.) zu machen, ist undialektisch, unwissenschaftlich, theoretisch unrichtig“. (Lenin, Über die Junius-Broschüre, Werke Band 22, Dietz Verlag Berlin, 1960,315).

Aus dem In-eins-Setzen von revolutionärer Dialektik theoretischerseits und technisch-industrieller Revolution und ihrer Ökonomie praktischerseits entwickelte sich über die Enthüllung der ökonomischen Bewegungsgesetze der modernen Gesellschaft der marxistische Sozialismus. Durch dessen Theorie sei der Sozialismus aus einer Utopie zur Wissenschaft geworden. Karl Marx war jedoch keineswegs der erste, der beanspruchte, Bewegungsgesetze der modernen Gesellschaft freigelegt zu haben. Auch der utopische Sozialist Charles Fourier hatte Bewegungsgesetze der Gesellschaft entdeckt, die mit denen der bürgerlichen Aufklärung und ihrem naiven Fortschrittsoptimismus, wie ihn zum Beispiel Condorcet in seinem „Esquisse d' un tableau historique des progrès de l' esprit humain“ 1794 vertrat, nicht mehr in Einklang zu bringen waren, die Fourier im Gegenteil zu dem Schluss kommen ließen, die bestehende Gesellschaft nicht zu verbessern, sondern eine neue zu gründen. Sah der utopische Sozialist und Industrielle Robert Owen die industrielle Tätigkeit noch als Anhängsel der landwirtschaftlichen 1., so sprach Fourier bereits von den „Wunderwerken der Industrie“ und erkannte, dass die sich rasant entwickelnde neuzeitliche Industrie die Elemente des Glücks erzeuge, nicht aber das Glück selbst. Der 24jährige Friedrich Engels rief 1844 begeistert aus: „Die der Menschheit zu Gebote stehende Produktivkraft ist unermeßlich“. 2. Zum ersten Mal in der Weltgeschichte konnten entgegen der damaligen Behauptung des Pfaffen Malthus alle Menschen satt werden. Noch der französische Aufklärer Condorcet sah die Möglichkeit einer neuen zivilisierten Barbarei aus einer Überbevölkerung kommen und empfahl als Gegenmittel eine Geburtenkontrolle. Nach marxistischer Lesart ist die industrielle Revolution im weltrevolutionären Kontext wichtiger als die politische französische Revolution. James Watt, der die von Papin ab 1695 entwickelte Dampfmaschine bis zu ihrer industriellen Nutzanwendung steigerte, und Richard Robert, der 1825 die automatische Spinnmaschine (self-acting mule) erfunden hatte, waren größere Revolutionäre als Danton und Robespierre. Den Kommunisten Marx und Engels hatte die industrielle Revolution die Weltrevolution vorgemacht; sie war irreversibel und bot zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Möglichkeit, die Produktion ins Unendliche zu vermehren. 3. Man brauche nur ihrer Entfaltung zu folgen, da sie in sich im Stillen und im Hintergrund die Lösungsmittel vorbereite zur Überwindung des fundamentalen Gegensatzes der bürgerlichen Gesellschaft, der darin besteht, dass diejenigen, die am meisten arbeiten auch am meisten hungern. Die Praxis des Klassenkampfes wurde die große Lehrmeisterin, der man das Konstruieren einer Idealgesellschaft am Schreibtisch zu opfern hatte. Im politischen Geschehen sehen wir nur Triebkräfte an der Oberfläche, hinter denen noch tiefere wirken; der Marxismus behauptet also, dass in der Weltgeschichte hinter den vordergründigen sichtbaren Triebkräften der Geschichte noch tiefere Kräfte am Werk sind, die es aufzufinden und primär zu erforschen gilt. Inwiefern dahinter das hegelsche Konzept einer "List der Vernunft" in der Weltgeschichte steht, ist hier nur als Frage aufzuwerfen. In seiner Studie über den Philosophen Feuerbach gibt uns Engels ein Beispiel: "Die Philosophen wurden aber in dieser langen Periode von Descartes bis Hegel und von Hobbes bis Feuerbach keineswegs, wie sie glaubten, allein durch die Kraft des reinen Gedankens vorangetrieben. Im Gegenteil. Was sie in Wahrheit vorantrieb, das war namentlich der gewaltige und immer schneller voranstürmende Fortschritt der Naturwissenschaft und der Industrie". 4. Große Philosophen fehlten also bei der Idee ihrer Wissenschaft. Die französischen Aufklärer hatten die französische Revolution eher unbewusst vorbereitet; an eine blutige Revolution hatten sie gar nicht gedacht, der Schwerpunkt dieser ideologischen Bewegung lag auf der Erziehung besonders qualifizierter Führungskräfte. Und doch ist die Selbsttäuschung der Philosophen nicht nur negativ zu bewerten. In der „Deutschen Ideologie“ wird es als ein Vorzug englischer und französischer Theoretiker ausgegeben, dass sie im Gegensatz zu den deutschen versucht hätten, der Geschichtsschreibung eine materialistische Basis zu geben. Aber im ideologielastigen Deutschland konnte die Theorie nicht sofort in Praxis umschlagen - und gerade ein Deutscher war es, in dessen Denken sich die Hochblüte der Dialektik hervortrieb. Wenn Lenin in seinem Konspekt zur Hegelschen Seinslogik den Satz: „Die Logik ist die reine Wissenschaft, d.i. Das reine Wissen in dem GANZEN Umfange seiner ENTWICKELUNG ...“ kommentiert: „erste Zeile Unsinn; zweite genial“ 5., so erscheint hier der den deutschen Idealismus durchwaltende Widerspruch zu sich kombiniert: nicht genialer Unsinn, sondern Genialität trotz Unsinn. Für Lenin hat Hegel im Wechsel, in der gegenseitigen Abhängigkeit aller Begriffe, in der Identität ihrer Gegensätze, in den Übergängen des einen Begriffs in den anderen, in dem ewigen Wechsel, in der Bewegung der Begriffe die Dialektik „genial erraten“.

Die mittelalterliche Abgeschlossenheit der Kontinente war durch eben diesen Fortschritt aus ökonomischem Bedürfnis, den die Philosophen so sehr marginalisierten, an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert aufgebrochen und dieser Aufbruch im doppelten Sinne ging von Europa aus, nicht zufällig ist "Englisch" durch die "christliche Seefahrt" heute die führende Welt- und Handelssprache. Columbus berichtet von den Eingeborenen, die er für Inder hielt, dass sie Großes (Gold) für Kleines (Nägel und Löffel) geben und die Europäer für Wesen hielten, die vom Himmel herabgestiegen seien. 6. Cromwell erließ 1651 die hauptsächlich gegen den holländischen Zwischenhandel gerichteten Navigationsgesetze, die die englische Kolonialmacht festigten. Der Begriff "Weltgeschichte" war im Bezugsfeld des kapitalistischen Weltmarktes von Europa aus emporgekommen, von Europa aus gelang der Durchbruch zu den anderen Kontinenten, und dem Kommunismus als Erbe des industriellen Fortschritts ging und geht es um die Verwandlung von Geschichte in Weltgeschichte 7. eben im Bezugsfeld des kapitalistischen Weltmarktes, der alle feudalen Lokalmärkte aufgesogen hatte. Im Begriff des Kapitals ist schon die Tendenz angelegt, einen Weltmarkt durch Unterwerfung der Produktion unter den Austausch zu schaffen. Der politisch werdende Handel geht von vornherein in die Produktion ein. Francis Bacon entwarf 1623, drei Jahre vor seinem Tod, die Utopie „Neu-Atlantis“, in der die Wissenschaften vom „Haus Salomon“ geleitet werden. Dessen zwölf Mitglieder, die Bacon handelskapitalistisch die Aufklärung andeutend „Händler des Lichts“ 8. nannte, fahren in fremde Länder und bringen Bücher, Kataloge und Muster von Experimenten mit. Die bürgerliche Aufklärung als Ideologie einer Übergangsgesellschaft vom Ackerbau zur Industrie war nicht frei von kolonialer Überheblichkeit. Californier und Feuerländer seien nur im niedrigsten Grade aufgeklärt. 9. An die Stelle der Händler des Lichts traten später bewaffnete Missionare des Christentums und des Kolonialismus. Der Imperialismus hat das Gesicht der Welt vollends verändert. Am Beginn der imperialistischen Periode schilderte der englische Sozialliberale Hobson 1902 die Zukunft Westeuropas als die einer Idylle wie an der Riviera, in der die Reichen wohnen und ihre Dividenden und Pensionen aus dem Fernen Osten beziehen, während zugleich die Lebensmittel und Industriefabrikate für den Massenkonsum aus Afrika und Asien kommen. Das ist zum Teil eingetroffen. Heute hat sich der Begriff „Globalisierung“ an die Stelle der Weltgeschichte gesetzt, die in der emanzipatorischen Phase der Bourgeoisie noch einen Gehalt von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ hatte. Die Globalisierung ist frei davon, sie hat keine humanistische Kultur mehr. Der Weltmarkt ist heute Ausdruck höchstmöglicher Entfremdung.

Zu dem Gedanken einer Gesellschaft im Überfluss, nachdem die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen revolutionär überwunden worden sei, kam im Marxismus der der Kollektivität. Marx deutete die "Große Industrie" im "Kapital" so aus, dass sie die Arbeitsmittel in nur noch gemeinsam verwendbare verwandele. 10. Das Verschwinden der einzelnen Arbeit durch gesellschaftliche sollte ineinander verwobene internationale und nationale Auswirkungen haben. Die Gleichförmigkeit der industriellen Produktion ließe mehr und mehr die nationalen Gegensätze verschwinden, und die bisher durch die (niedrige) Entwicklungshöhe der Produktivkräfte bedingten Gegensätze von Hand- und Kopfarbeit, Mann und Frau, Stadt und Land, öffentlicher und privater Sphäre würden sich nach und nach aufheben. Lenin sah in der für den Imperialismus typischen Verwandlung der Konkurrenz zum Monopol einen gigantischen Fortschritt in der Vergesellschaftung der Produktion. 11. Von der unvermeidbaren Kombination "Überfluss und Kollektivität" rührt die Siegeszuversicht der Kommunisten her, wenn man akzeptiert, dass die "Große Industrie" von ihrer Anlage her sich weltweit letztendlich unaufhaltsam durchsetzen müsse. Schematisch und gradatim betrachtet wäre der Kommunismus ein additives Produkt der "Großen Industrie", er käme ohne Krise, ohne Krisenperiodizität, also ohne Krisennotwendigkeit, ohne Theorie, besonders ohne Zusammenbruchstheorie und ohne revolutionäre Kriegspartei aus. Eine "Dialektik" der Natur in einer "Dialektik" der Geschichte und umgekehrt könnten es schon richten. In diesem Kontext wäre es allerdings richtiger, statt von Dialektik von Evolution zu sprechen, und man käme automatisch auf Benthams "größtes Glück für die größte Zahl". Die Verlockung, so falsch zu denken, lag darin, dass es ja zunächst tatsächlich galt, die kapitalistische Gesellschaft in der Richtung der eigenen Entwicklung dieser Gesellschaft zu verändern. 12. Aber eben zu verändern und nicht: sich verändern zu lassen. Das Proletariat kann sich nur befreien, nachdem es die seine gesellschaftliche Lohnsklavenposition bedingenden Entwicklungsgesetze der modernen, krisenbeladenen Gesellschaft begriffen hat. Die mehr oder weniger regelmäßig stattfindenden Lohnerhöhungen verdecken, dass mit dem Wachstum des produktiven Kapitals der Lohn "mit der Fatalität eines Naturprozesses" (Rosa Luxemburg) abnehmen muss. Wer glaubt, durch Lohnerhöhungen die Lohnsklaven zu befreien, hält die Sonne für so groß, wie das bloße Auge des Menschen ihren Umfang sieht. Stiege mit dem Wohlstand der kapitalistischen Schmarotzer der der produktiven Klasse gleichermaßen, so läge kein antagonistischer Klassenwiderspruch in der bürgerlichen Gesellschaft vor. Man sieht nicht sofort, dass das "eigentliche Resultat ihrer Kämpfe nicht der unmittelbare Erfolg ist, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter". 13. Man erfasst nicht sofort, dass die Charakterisierung der spätbürgerlichen Gesellschaft als eine Wegwerfgesellschaft primär nicht auf Sachen zu beziehen ist. Dialektisches Denken hintertreibt die Befangenheit in der Unmittelbarkeit, der zum Beispiel die Jahreszeiten auf der Nord- und Südhalbkugel auf der Scheibe Erde parallel verlaufen, bis in die Unendlichkeit hinein. Dass Unmittelbarkeit nicht sie selbst bleibt, indiziert dem Berufsrevolutionär die Notwendigkeit lebenslanger Lernbereitschaft, zu der eigentlich jeder Irrtum den Menschen anhalten müsste. Im Lernen erweist sich, dass das Reale nur als Nichtreales ist: Die Erde ist rund. Die Erkenntnis dieser Unendlichkeit vollzieht sich nicht primär als abstrakt philosophischer Prozess, sondern konkret in einer politischen Praxis. Für den sich emanzipierenden Berufsrevolutionär ist die Politik eine unendliche Kette von Gliedern, und die Kunst des Politikers besteht darin, jenes kleine Kettenglied zu packen, das ihm a) den Besitz der ganzen Kette sichert und das man ihm b) am schwersten aus der Hand schlagen kann. 14. So vereinigt der Berufsrevolutionär lebenslange Lernbereitschaft mit permanenter politischer Tätigkeit. Lenin erwartete von seinem Parteikonzept das Hervorkommen vieler russischer Bebels. Die avantgardistischen Berufsrevolutionäre und die unaufgeklärten Lohnsklaven müssen sich ineinander zunächst jeder als das Verkehrte der Wahrheit ansehen. Damit aber ist die Wahrheit schon vorhanden, denn diese ist das Ineinander gegen sich, hier konkret: Der Lohnsklave hat einen Doppelsprung zu vollziehen, den er ohne Berufsrevolutionär nicht schaffen kann; er muss aus der Unzufriedenheit mit seiner Arbeitsstelle, an der er zunächst unmittelbar nur Lohnsklave an sich ist, dem die von ihm selbst mitproduzierte, ihn noch beherrschende und für ihn zunächst unabwendbare Gesellschaftsformation nicht bewusst ist, auf die von Marx zum ersten Mal 1844 formulierte weltgeschichtliche Mission des Proletariats, zum Lohnsklaven für sich, der mit allen bürgerlichen Traditionen, auch den bürgerlich-demokratischen bricht, kommen, ein Fürsich, das nicht subjektiv, sondern objektiv ist. Eine Mission enthält Subjektives als Objektives. 15. Das "Ineinander gegen sich" vollzieht sich emanziptiv so, dass der Arbeiter Berufrevolutionär wird, das Gegeneinander wird eins, und zwar doppelt: Der Berufsrevolutionär wird im Kommunismus wieder Arbeiter. Erst im doppelten "Gegen-sich-einswerden" erschöpft sich der Sozialismus; und der Kommunismus ist die Postion als Negation der Negation. Die Revolution des Lohnsklaven ist über die Vermittlung seiner knechtischen Position im kapitalistischen Produktionsprozess ein sich mit Bewusstsein auf der Ebene der Wissenschaft vollziehender, über die alte Gesellschaft hinausführender Sprung, dessen richtigen Zeitpunkt er als unaufgeklärter nicht bestimmen könnte. Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ etwa, ein durchaus respektables Buch, wurde sehr viel häufiger gelesen als der „Anti-Dühring“, den Lenin als ein Buch bezeichnete, das in die Hand jedes klassenbewussten Arbeiters gehöre. Revolutionäre Ungeduld steigt auf aus der Diskrepanz, dass sich der Gedanke leicht zur Wirklichkeit drängt, die Wirklichkeit aber nur sehr schwer zum Gedanken. Es ist ein Signum der Gewerkschaft, die Beziehung der Werkbank des Lohnsklaven zur befreiten Menschheit nicht aufzeigen zu können. Also doch mit Bewusstsein, also doch Theorie bzw. Revolutionswissenschaft und aparte Kriegspartei des Klassenkampfes. Die Gewerkschaft kommt nur mit politischem Bewusstsein nicht aus der Naturwüchsigkeit der alten Arbeit heraus. Durch eine Revolution wird zwar keine neue Arbeit begonnen, die alte aber mit Bewusstsein ausgeführt. Die proletarische Revolution als letzte in der Geschichte der Menschheit geht einher mit dem wissenschaftlichen Innewerden ihrer eigenen Bedeutung im weltgeschichtlichen Gattungszusammenhang, der Kommunismus als begriffene und gewusste Bewegung seines Werdens, wie es der 26jährige Marx 1844 in den sog. Pariser Manuskripten formulierte. Engels war 24 Jahre alt, als er der arbeitenden Menschheit zurief: "Produziert mit Bewußtsein, als Menschen, nicht als zersplitterte Atome ohne Gattungsbewußtsein ...". 16. Das sich gegen die Zersplitterung in Atome wendende Revolutionsbewusstsein ist ein Bewusstsein über die Zusammenhänge der gesellschaftlichen Bewegungen und ihrer historischen Kontinuitäten, ein Bewußtsein, das sich im Kommunismus erübrigt. Der Marxismus als Anleitung zum revolutionären Handeln wird obsolet, da eine Theorie der Gesellschaft noch eine Klassenspaltung in ihr indizieren würde. Was soll eine Soziologie, eine Jurisprudenz, eine Wissenschaft von der Politik in einem klassenlosen Volk schließlich auch ohne kommunistische Partei? Wilhelm Weitling sah im Kommunismus eine große Zukunft der Humanmedizin. Dem Absterben der kommunistischen Partei geht die Liquidierung der konterrevolutionären Parteien durch jene voraus. Der Verlauf der Oktoberrevolution hat uns gezeigt, dass zum Beispiel die rechten Sozialrevolutionäre schon durch den roten Oktober konterrevolutionär wurden, die linken erst durch den Brester Frieden. Das Schicksal, das Marx in seiner Dissertation für die Philosophie vorsah, ihre Verwirklichung in der Welt(geschichte) ist zugleich ihr Verlust, wird auch auf die Lehre von Marx selbst übergreifen. Es gehört zum Antihumanismus der Konterrevolution, nicht in Verlusten ihrer selbst denken zu können, denn für den Pfennigfuchser soll der Lohnsklave für immer als Lohnsklave festgeschrieben werden. Dieser wird immer sich verloren haben, wenn er auf eine nichtautonome Befreiung wartet. Die höchste Reife, die der Marxismus erreichen wird, ist die, in der sein Untergang beginnt wie schon der Idealismus im objektiven Hegels seine höchste Reife und sein Ende zugleich fand. Mit der Industrialisierung etwa in Form der Elektrifizierung allein ist der Kommunismus nicht getan und auch die Hinzufügung des Sowjet reicht nicht hin. Während Lenin die Kombination beider zu einem gefügelten Wort gemacht hatte 17., ist heute so gut wie unbekannt, was denn Lenin als den entscheidenden Schritt zum Kommunismus zu seinen Lebzeiten ausgemacht hatte. Es waren dies die seltenen kommunistischen Subbotniks, die er als den "faktischen Beginn des Kommunismus" 18. wertete, weil in ihnen mit Gattungsbewusstsein gearbeitet wurde. Wer heute in Moskau auf dem Roten Platz eine versammelte Menschenmenge zum Subbotnik aufriefe, würde nur einen Lacherfolg ernten, aber die Menge würde zum Teil nur über sich selbst lachen. Wer auch nur einen kleinen Bruchtteil der Werke Lenins gelesen hat, dem muss aufgegangen sein, dass Kommunismus keineswegs bedeutet, dem inneren Schweinehund freien Lauf zu lassen - im Gegenteil. Aber Lenin ging eben davon aus, dass man eines Tages dieses Problem ohne Staat wird lösen können, wie man schon heute "Raufende auseinander bringt oder eine Frau vor Gewalt schützt". 19. Noch Hegel vertrat mit einer eigentümlichen Halsstarrigkeit die Auffassung, dass die Weltgeschichte nicht der Boden des Glücks sei, und er tat gegen den ideologischen Gehalt der Parole „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ gut daran, denn für die Periode der Klassenkämpfe gilt sein Satz allemal. Diese Beharrlichkeit Hegels hatte unbewusst etwas Beschützendes, denn die Lehre, dass die Geschichte eine Abfolge von Klassenkämpfe sei, war noch viel zu jung und fragil und hatte sich in den Gesellschaftswissenschaften noch nicht (durch)gesetzt. Saint-Simon hatte 1802 in den „Genfer Briefen“ die französische Revolution endlich als einen Klassenkampf zwischen Adel, Bourgeoisie und Besitzlosen aufgefasst. Hegel feierte einerseits die französische Revolution als einen herrlichen Sonnenaufgang, den alle denkenden Wesen mitgefeiert hatten, sah aber zugleich die permanente Gefahr einer Sonnenfinsternis: Bei allem Reichtum, den die bürgerliche Gesellschaft produziere, sei die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug, die Armut des Pöbels zu steuern. 20. Der Klassenbegriff „Proletariat“ bleibt noch außen vor, aber zu diesem wird sich der Pöbel emanzipieren. (Ich verweise hier auf das Buch von Werner Conze: Vom „Pöbel“ zum „Proletariat“. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland). Als dann der Marxismus den Klassenkampf als die dominierende Kategorie der Geschichte aufstellte, behauptete er zugleich auch ihren Abgesang. Die Formel der Dialektik: „Die Einheit ist relativ, der Kampf ist absolut“ gilt zwar mit Vehemenz in der Klassenkampfgeschichte, sie ist aber in dieser Einseitigkeit, ohne ihre Umkehrung auch falsch: Im Kommunismus gilt, dass die Einheit absolut, der Kampf aber relativ ist bis zum nicht-antagonistischen Widerspruch, bis zum Auseinanderbringen von Raufenden. Der Kommunismus ist keine Utopie, ein ganz konfliktfreies Leben kann es nicht geben.

Die marxistische Theorie geht von der Einheit der Welt aus, die in ihrer Materialität besteht. Aber eins teilt sich in zwei, zum Beispiel in eine industrielle und politische Revolution, die in ihrer Reziprozität auseinanderfallen. Ihre klassische Form erreichte erstere in England, wo die ursprüngliche Akkumulation in ihrer klassischen Form verlief und wo die Verwandlung von Arbeit in Lohnarbeit und die von Produktionsmitteln in Kapital also zuerst einsetzte; ihre klassische Form erreichte letztere in Frankreich und nicht in England, das schon längst zum Mutterland der großen Industrie geworden war. Engels sagt selbst, dass die Franzosen die große Industrie erst nach 1848 kennengelernt hatten 21., also sechzig Jahre nach dem Ausbruch ihrer bürgerlichen Revolution!! Im Vorwort zur zweiten Auflage der „Lage der arbeitenden Klasse in England“ aus dem Jahr 1892 bezeichnet Engels 1848 als das Jahr, mit dem in England bereits erste Anzeichen einer opportunistischen, vom Kolonialismus profitierenden Strömung in der Arbeiterbewegung – die einer Arbeiteraristokratie bzw. die einer bürgerlichen Arbeiterpartei - zu verzeichnen sind. Für Trotzki war England das konservativste Land der Welt. Noch mehr verrückt wird der Sachverhalt, wenn die Aussage von Rosa Luxemburg richtig ist, dass die französische Industrie noch beim Übergang zum 20. Jahrhundert "zum großen Teil kleingewerblich" 22. war. Und doch schaffte die französische bürgerliche Revolution die Feudalität in einer Nacht ab (11. August 1789), wie es klassischer nicht hätte gehen können, wohingegen die englische bürgerliche Revolution in einem Klassenkompromiss, in einem juste-milieu versiegte. Diese eben bezeichnete Widersprüchlichkeit kommt in einem Ereignis krass zum Vorschein, das sich an einem schwülen Frühnachmittag im Oktober 1749 zwischen Paris und Vincennes auf einem Spaziergang ereignet und in dem Form und Inhalt völlig disparat zueinander geraten. Gemeint ist die Metanoia Rousseaus, nachdem er im "Mercure de France" die Preisfrage der Akademie von Dijon gelesen hatte: "Haben Künste und Wissenschaften zum Fortschritt der menschlichen Kultur beigetragen ?" In dem bizarren Erleuchtungsanfall erkennt Rousseau blitzartig, dass die Institutionen die Menschen verderben. Das Kernstichwort der französischen Revolution war geboren, denn welche Institution auf der Welt steht zu den Prinzipien "Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit" in Harmonie? Das Stichwort war geboren, aber unter welcher Form? In der Tat ist Rousseau der letzte bestimmende Denker des Abendlandes, der den Spaziergang ausgesucht hat, um zu philosophieren. Seine letzte Schrift trägt den Titel: "Träumereien eines einsamen Spaziergängers", auf denen Rousseau herausfinden möchte, wer er ist. Dagegen schreibt der Göttinger Professor Lichtenberg in einem Brief vom 10. Januar 1775 an Ernst Gottfried Baldinger aus London: " ... niemand sieht aus, als wenn er spazieren ginge ...". Zwar schildert uns noch Baudelaire den Flaneur, aber die Lyrik gehört nicht zum bestimmenden Denken. Der Flaneur ist heute zum Passanten verkommen, der nicht mehr herausfinden will, wer man ist.

Die französische Revolution, von Paris ausgehend, war aber primär eine Bauernrevolution und fand in einem im Vergleich mit England rückständigen Land statt, in dem man noch spazieren gehen konnte. Der prozentuale Anteil der Bourgeoisie an der Gesamtbevölkerung war viel zu gering, um ohne Bauernmobilisierung die alte Feudalmacht zu bezwingen, und ein französisches Proletariat war nur in größeren Städten in Keimformen vorhanden. Auch die Bolschewiki und die Maoisten werden in ihren Revolutionen nicht auf Bauernmobilisierungen verzichten können. Die marxistische Geschichtsschreibung über die französische Revolution darf nicht der zentralistischen Tendenz des Jakobinismus folgen. Man vertieft die Forschung, wenn man von Paris aus "aufs Land" geht. In einer bäuerlichen Revolution, zudem unter bürgerlicher Führung, vermischen sich revolutionäre und reaktionäre Motive, so dass der radikalen Jakobinerdiktatur nur eine kurze Lebensdauer beschieden war und die kommunistisch-anarchistische Strömung peripher bleiben musste. Gewichtiger als diese war die Bewegung der armen Pfaffen auf dem Lande, die eine Stütze der Revolution bildete. Im weltrevolutionären Kontext kam achtzig Jahre später nur die Pariser Kommune an das Ideal einer Diktatur des Proletariats heran, die in demokratischer Hinsicht zwei Vermächtnisse hinterlassen hatte: die der Demokratie Verantwortlichen waren gesetzgebend und ausführend in einem und jederzeit absetzbar durch ihre Wähler. Damit hat sie uns nicht nur zwei Maßstäbe hinterlassen, mit denen wir ablesen können, dass es heute weltweit keine Demokratie gibt, sondern auch das schwere Vermächtnis, demokratische Maximen, wo auch immer, politisch durchzusetzen. Der aus einer Süffisanz der Überlegenheit hervorgebrachten Frage, wo denn heute ein Kommunismus existiere, ist zu erwidern, man solle zunächst einmal zeigen, wo denn heute Demokratie „herrsche“. Ich mache in diesem Kontext kurz auf etwas aufmerksam, was eine Bagatelle zu sein scheint: In der akademischen Parlamentarismuskritik wird regelmäßig übersehen, dass sich die bürgerlichen Parlamente sogenannte Saaldienerinnen und Saaldiener halten. Die Bezeichnung eines Menschen als Saaldiener ist ehrenrührig und stellt eine Menschenrechtsverletzung dar. Sie zeigt vor allem auch die Unselbständigkeit, ja blöde Unbeholfenheit der Parlamentarier an. Selbst der bürgerlichen „Die Linke“ im deutschen Bundestag stößt nicht auf, dass es sich bei dieser „Institution“ um ein Relikt aus der Feudalzeit handelt, deren Prinzip nach Karl Marx die Menschenverachtung ist. 23. Die Kommune hatte rein urbane Wurzeln in der Welthauptstadt der Revolution. 24. Aber gerade der urbane Vorteil der Kommune war ihr politischer Nachtteil, Paris blieb isoliert und die Provinzen kippten zur Konterrevolution in Versailles. Obwohl Marx das Pariser Proletariat vor einem bewaffneten Aufstand gewarnt hatte (er sei eine verzweifelte Torheit), sah er dann in der Kommune doch den Keim des Kommunismus, der für kurze Zeit Weltgeschichte geworden war. Die Sonne schien noch nicht "ohn' Unterlaß", sondern nur für 72 Tage. Es hat sich ein Mythos der Kommune herausgebildet, dessen Entstehen man begreifen muss, bevor man ihn kritisiert. Die Warnung von Marx war angesichts der durch den deutsch-französischen Krieg bedingten Truppenkonstellationen durchaus berechtigt, eine bewaffnete Erhebung war in der Tat eine verzweifelte Tat. Wider Erwarten sprühte dann die sich spontan und überraschend bildende Kommune doch mehr Lebenskraft aus als erwartet, und Marx nahm ihr Beispiel dann doch als Praxisbeleg seiner Geschichtstheorie; seitdem hängt das Wohl der marxistischen Welt an Paris. Für den Ungarn Leo Frankel, Mitglied der IAA, der in Paris die Kommission für Arbeit und Handel leitete, war die Kommune eine Revolution der Arbeiterklasse: Wenn wir für diese Klasse nichts tun, dann sehe ich keinen Grund mehr für das Bestehen der Kommune. 25. Ein Praxisbeleg für die Marx'sche Theorie war zwingend geboten, ja überfällig: Die wohl schwerste Erschütterung seines Lebens als Revolutionswissenschaftler erlebte Karl Marx beim Besuch der ersten Weltausstellung der Industrie 1851 in London. Die Eindrücke, die er durch sie über die kolossalen Produktivkräfte der Gegenwart gewann, ließen seine Erwartungen auf eine in wenigen Monaten ausbrechende Revolution auf dem Kontinent als romantische Träumerei zerplatzen. Die hektische Erwartung von Kaskaden der Revolution wich einem Reifegedanken der Produktivkräfte, dass, wie es im Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie von 1859 heißt, eine Gesellschaftsordnung nie untergeht, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist. Nicht jede Wirtschaftskrise bedeutet gleich den Beginn einer Revolution, die das Ende des Kapitalismus bedeutet, wie es Marx noch 1850 in der „Revue“ vertrat, sondern ist zunächst eine ihm immanente Normalität. Aus diesen Gedanken heraus wurde dann die Trennungslinie zum Blanquismus mit Nachdruck gezogen. Marxens Kenntnis der Ökonomie war noch zu oberflächlich gewesen, um aus ihrer kapitalistischen Entfaltung kommunistische Kollektivität durch die Figur der Negation der Negation aus (und in) der Produktion zu begründen, so dass sich die programmatische Forderung des 25jährigen, der Mensch müsse seine "forces propres" (eigenen Kräfte) als gesellschaftliche Kräfte erkennen und organisieren 26. in weltgeschichtlich unabwendbare Realität verwandele. Seine Kritik am Linkshegelianismus hatte bisher nur ergeben, dass der Schlüssel zur Erklärung gesellschaftlicher Prozesse nicht in der Philosophie, sondern in der Ökonomie zu suchen sei. Und zwischen der Philosophie und der Ökonomie lag zunächst als eine Schlüsseldisziplin die Geschichte. Denn wer die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern will, um eine neue Welt zu gewinnen, eine alte Gesellschaft durch eine neue zu ersetzen, der muss sich für die Entwicklung der alten interessieren. In der Vergangenheit liegt die Gegenwart und in der Vergangenheit und Gegenwart zusammen findet sich die Zukunft in Umrissen angedeutet. Deshalb diese ungeheure Vehemenz für das Studium der Geschichte beim jungen Engels: „ … die Geschichte ist unser Eins und Alles und wird von uns höher gehalten selbst als von Hegel, dem sie am Ende auch nur als Probe auf sein logisches Rechenexempel dienen sollte“. 27. Marx und Engels haben im Feuerbachkapitel der „Deutschen Ideologie“ einen ganz neuen Begriff von Geschichte kreiert: Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologien haben keine Geschichte. Marx und Engels strebten in der „Deutschen Ideologie“ nach wirklichem Wissen ohne philosophische Brille. Was in der offiziellen Geschichtswissenschaft bisher die Hauptsache war, die politischen Haupt- und Staatsaktionen, wurde zur Nebensache und die bisherige Nebensache, die materielle Produktion des Lebens, zur Hauptsache.

Die Teilnahme an der 48er Revolution und der Besuch der ersten Weltausstellung der Industrie in London waren für Marx einschneidende Erlebnisse innerhalb einer kurzen Zeitspanne. Vom jungen Engels hatte Marx den wichtigen Hinweis auf die fundamentale Bedeutung der Ökonomie für die Gesellschaftswissenschaften erhalten; der alte Engels bekannte, dass beider Kenntnisse auf dem Gebiet der Ökonomie vor 1850 noch recht dürftig war. Die Wende in der Mitte des Jahrhunderts war auch für Marx eine Wende auf seinem intellektuellen Entwicklungsweg, die Erlebnisse innerhalb von drei Jahren erwiesen sich als äußerst fruchtbar für seinen geistigen Fortschritt. War er es, der Dialektik und Ökonomie in eins dachte und damit seinen programmatischen Gedanken aus seiner Dissertation, das Philosophischwerden der Welt sei ein Weltlichwerden der Philosophie obsolet werden ließ, so erfolgte durch die reziproke Vertiefung beider ein Sprung, der zu seiner intellektuellen Überlegenheit führte. Von einem zunächst propagierten Empirismus in dem, fast möchte man sagen, im Tenor Bacons geschriebenen Feuerbachkapitel der „Deutschen Ideologie“ - die Voraussetzungen der Gesellschaftswissenschaft seien auf rein empirischem Weg konstatierbar 28. – erfolgte aus dem im Feuerbachkapitel angeschnittenen Phänomen der „camera obscura“ (der notwendigen Herausbildung von Ideologie 29.) der Sprung zur Erkenntnis der Gedoppeltheit der Welt als einer perversen, in sich verkehrten im Kapitel über den Fetischcharakter der Ware im „Kapital“. Es erfordert vom Leser die Fähigkeit, Verkehrungen zu durchdenken, also auch richtig verkehrt und richtig-verkehrt zu denken. Ohne diesen Sprung und der Verweisung sowohl der Philosophie als auch der Politik in Sekundanzfunktionen, hätte Marx ein Kardinalproblem seiner Theorie nicht lösen können: Wie ist es möglich, sie außerhalb einer alles bestimmenden Fetischverblendung zur Aufdeckung dieser zu entwickeln, um über die Menschen wie in der Bibel zu sagen, sie wissen nicht, was sie tun ? Auf eine höhere göttliche Instanz durfte sich Marx ebenso wenig berufen wie auf Hegels Gedanken Gottes vor der Schöpfung der Welt und eines endlichen Wesens. An ihre Stellen war die materialistische Dialektik getreten, ohne die man – als materialistische – das Ausgeliefertsein an die Befangenheit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Totalität nicht transzendieren kann. Dieser Durchbruch aber war notwendig, um den produktiven Klassen die Notwendigkeit des Durchbrechens der kapitalistischen Schranke aufzuzeigen. Der Mangel der Ökonomen und der ökonomischen Schulen zu seinen Lebzeiten und nach ihm war, dass sie es nicht verstanden, die Hegelsche Dialektik durch einen Bruch und einen Sprung zu einer materialistischen zu vertiefen, von einer Vertiefung der materialistischen Dialektik von Marx schon gar nicht zu reden. So gaben sie der Geschichte einige starke Ohrfeigen. Von ihnen liegen keine Exzerpte zur Hegelschen Logik vor wie von Lenin. Er erst war es, der in der Mitte des ersten Weltkrieges diese wieder kritisch studierte, die Marx' sche Dialektik vertiefte und sie fruchtbringend für seine Imperialismusanalyse anwandte: Die Konkurrenz des klassischen Kapitalismus war mittlerweile in ihr Gegenteil, ins Monopol umgeschlagen. Deshalb sprechen wir auch vom Marxismus-Leninismus. Nach Lenin wiederum gab es keine weitere Vertiefung der Marx' schen materialistischen Dialektik. Trotzki hat uns ohne Zweifel Lesenswertes zu dieser Thematik hinterlassen, und ein wissenschaftliches Fundamentalwerk über 'Trotzki und die Dialektik' steht im deutschen Sprachraum noch aus - eine doch schmerzliche Lücke, auch wenn von einer nennenswerten Vertiefung der Leninschen Dialektik bei aller Vorsicht vor voreiligen Abqualifizierungen angesichts der gigantischen Größe Lenins (für Trotzki die größte Gestalt der russischen Geschichte) wohl nicht auszugehen ist. Aber vielleicht gibt es ja manche Überraschung. Stalins Beitrag zur materialistischen Dialektik in der „Geschichte der KPdSU (Bolschewiki)“ stellte den Anspruch einer Vertiefung im Gegensatz zum eitlen Trotzki von vornherein nicht; er hat sein Verhältnis zu Lenin realistisch immer als das eines Schülers gesehen und wissenschaftliche Arbeiten über Stalin, die auch Beurteilungen enthalten müssen, gleiten ab, wenn sie von dieser nun einmal gegebenen Konstante abweichen. Maos Unterfangen, durch seine Studie „Über den Widerspruch“ zur „Sonne aller roten Sonnen“ aufzusteigen, ist als gescheitert zu betrachten. Er hat nicht verstanden, dass Basis und Überbau nicht zwei gleichwertige Potenzen sind. Die bürgerlichen Ökonomen vor Marx setzten immer eine Theorie des Gleichgewichts voraus (Ricardo etwa sieht in der Werttheorie einen Maßstab für die Preise). Indem ein Arbeitsvertrag zwischen Arbeiter und Kapitalist ausgegeben wird als einer zwischen juristisch gleichen Personen, hat die Ausbeutung und die sie verdeckende Ideologie ihren ineinander verschränkten Höhepunkt erreicht. Die ganze Arbeit gilt als bezahlt, das Wirkliche (die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft) erscheint als sein Gegenteil (die ganze Arbeit ist bezahlt) wie in der Warenproduktion das Verhältnis der Produzenten zueinander durch den Wert verdeckt wird. In der Ideologie triumphiert das Falsche im Namen einer ausgleichenden Gerechtigkeit, durch die sie den Schein der Wissenschaftlichkeit annimmt. Der Carey-Schüler Eugen Dühring kam auf die famose Idee, Kapitalisten und Arbeiter in einer Wirtschaftskommune zu vereinen. Es ist Subjektivismus, der Weltgeschichte ein Hinwirken auf ausgleichende Gerechtigkeit zu unterstellen, wie es Proudhon tat. Ein solches Hineinwirken gibt dem Antisemitismus der Christen eine Begründung, sie nahmen im Mittelalter keine Zinsen. Heute nehmen sie zwar Zinsen, versuchen aber, die „atheistische“ Lehre vom Mehrwert zu widerlegen. Arme gebeutelte Christenheit! Dialektik als Erforschung des Widerspruchs im Wesen der Dinge selbst expliziert, dass die Gleichheit Sklaverei an ihr selbst ist und dass die antike Sklaverei sogar progressiv war. Die Entfaltung aus dem Widerspruch der Ware bis zum Weltmarkt ist für Karl Korsch ein „unübertroffenes Virtuosenkunststück einer dialektischen Begriffsentwicklung“. 30. Dass nach Mao auch der Überbau gegenüber der Basis eine ihn bestimmende Postion einnehmen kann, verleitete ihn zu dem Irrtum, eine Kulturrevolution machen zu können. In der russischen Revolution von 1905 zum Beispiel war es letztendlich nicht gelungen, die ökonomische Basis zu sprengen, eine essentielle Änderung in den Beziehungen unter den Menschen erfolgte deshalb nicht. Obwohl der Überbau in starke Bewegung geraten war, ist diese wie auch Maos Revolution in den 60er Jahren als gescheitert zu beurteilen. Die zu wenig beachteten, von manchen gar abgetanen Spätbriefe von Engels nach 1890, sind in dieser Beziehung aufschlussreich. Im Brief an Joseph Bloch vom 21. September 1890 führt er aus, dass sich aus der Wechselwirkung zwischen den Formen der Basis und denen des Überbaus „als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt“. 31. Im Brief an Conrad Schmidt vom 27. Oktober 1890 lesen wir von der „Wechselwirkung zweier ungleicher (kursiv von H. A.) Kräfte“. 32. Und der Revolutionär, der sich nach Lenin hüten muss, Revolution mit großen Buchstaben zu schreiben, der Revolutionen reifen lassen muss, kann höchstens für die Revolution arbeiten. Mit Bitterkeit wird sich Mao Tse tung nach dem gescheiterten 'Großen Sprung nach vorn' an die Worte Hegels in seiner Vorrede zur Rechtsphilosophie erinnert haben, dass ein Individuum nicht über Rhodos hinausspringen könne. Der SDS vertrat während der 68er Bewegung den Slogan: „Es ist die Pflicht der Revolutionäre, Revolution zu machen !“ Eine Teil der studentischen Linken hatte für diesen Irrtum Blutopfer gebracht.

Marx warf sich also, wie oben bereits angedeutet, erneut auf das Studium der Ökonomie, das natürlich die Bindung der Notwendigkeit einer proletarischen Revolution an die Entwicklung der Produktivkräfte bestätigte. Eine Komplementierung der Entwicklungshöhe der Produktivkräfte und der wissenschaftlichen Theorie der proletarischen Revolution durch eine praktisch stattfindende war überfällig. Nur die Ursache-Wirkung-Relation war nicht ganz stimmig. Im Vorwort zur ersten Auflage des Kapitals schrieb Marx 1867, dass in England der Umwälzungsprozess mit Händen greifbar sei und dass er auf einem gewissen Höhepunkt auf den Kontinent rückschlagen müsse. Also hielt Marx auch kontinentale Länder als durchaus schon reif für die proletarische Umwälzung, sollte von England aus ein Anstoß kommen. Bei der Kommune griff Marx zu, obwohl ihr spontanes Entstehen quer zur Auffassung stand, Revolutionen aus der Gesetzmäßigkeit der Geschichte "ablesen" zu können. Deshalb finden wir bei ihm nach der Niederschlagung der Kommune den Verzicht auf eine Rechthaberei des Theoretikers, die er hätte leicht ausspielen können und in der Vergangenheit doch so oft gegen von ihm abweichende Revolutionäre, oft in verletzender Form, ausgespielt hatte. Nebenbei brachte ihm die Kommune die Genugtuung, dass in ihr der Proudhonismus endgültig untergegangen war. Nach der Kommune war es völlig abwegig, alle Stadtbewohner in Kleineigentümer und alle Dorfbewohner in Kleinbauern zu verwandeln. Vergleicht man den "18. Brumaire", Marxens Schrift zur 48er Revolution in Frankreich, mit dem "Bürgerkrieg in Frankreich", seiner Schrift zur Kommune, so enthält der letztere über mehrere Passagen reine Propaganda. War 1789 nur eine Bauernrevolution unter bürgerlicher Führung, so konnte von einer weltgeschichtlichen Rolle des Proletariats im Jahre 1848 in der Tat noch nicht die Rede sein; Marx nannte seine Zeitung "Die Neue Rheinische Zeitung" lediglich ein "Organ der Demokratie". Sie war mehr eine antifeudale als eine proproletarische Zeitung, von der Arbeiterbewegung ist in ihr, wie Franz Mehring richtig bemerkte und was oft übersehen wird, wenig zu finden.

Aber auch für Lenin reichte die weltgeschichtlich marginale Zeit der Pariser Kommune aus, in seinem Revolutionskonzept, am konzentriertesten in der Schrift "Staat und Revolution", die Kommune als leuchtendes Vorbild hinzustellen. 33. Etwas Weiteres kam hinzu, und das war beileibe keine Marginale: 1917 kamen auf einen russischen Proletarier 7,7 Bauern, deren revolutionäre Bewegung auf eine bürgerlich-demokratische beschränkt blieb. Die Bolschewiki mussten vor dem Oktober mehr um die Köpfe der Bauernmassen kämpfen als um die Köpfe proletarischer Massen. Aus dem Jahr 1914 liegen folgende Daten vor: Nur 18,3 Prozent der russischen Bevölkerung lebten in der Stadt, die große Mehrheit (81,7 Prozent) auf dem Dorf. 34. Die Vorbereitung der sozialistischen Revolution war vor allem ein Kampf um die Aufklärung der Köpfe. Es kam darauf an, die werktätigen Massen besonders in den Sowjets von den kleinbürgerlichen Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki zu lösen. Politisch gelang es, aber nicht mental. Die Übernahme des Agrarprogramms der von Lenin verachteten Sozialrevolutionäre, das jedem Bauern seine kleine Scholle zusprach, war mehr als nur ein Schönheitsfehler; die Möglichkeit sozialistisch organisierter Kollektivität in großräumigen Wirtschaftsbetrieben lag am Anfang der Oktoberrevoltion im die Gesamtwirtschaft bestimmenden landwirtschaftlichen Sektor im Gegensatz zum industriellen kaum vor. Vor dem Weltkrieg hatte die Agrarreform Stolypins ab 1907 bis zirka 1915 dafür gesorgt, dass kommunaler Boden an 2 470 000 Einzelbewerber aufgelöst wurde. In der Sowjetunion ist es den Bolschewiki nie gelungen, die kleineigentümlerische Mentalität ganz zu überwinden, der kleine Kolchos-Garten war anders als in Kuba nie ganz verschwunden. Diese Tatsache belegt immerhin, dass das Bewusstsein hinter der objektiven Höhe einer Gesellschaftsformation, hier einer Kollektivgesellschaft, zurückbleiben kann. Der Theorie nach sollten große landwirtschaftliche Musterbetriebe (Bauernarbeiterassoziationen) den Kleinbauern als Beispiel dienen, deren Vorteile zu erkennen. Die Menschen verließen zwar nach der Oktoberrevolution in Massen die Städte, aber nicht, um den Gegensatz zwischen Stadt und Land aufzuheben, sondern um nicht vor Hunger zu sterben. Von 1917 bis 1920 nahm im europäischen Teil Russlands die Stadtbevölkerung um 35,2 Prozent ab. 35. Als es nach dem Matrosenaufstand von Kronstadt endgültig klar war, dass sich die Diktatur einer Kaderpartei gegen die der Räte durchgesetzt hatte, verblasste das Vorbild der Pariser Kommune mehr und mehr, zumal die Partei dazu überging, aus Gründen verwaltungstechnischer Effizienz Personal des alten zaristischen Verwaltungsapparates zu Rate zu ziehen. Es musste zum Beispiel das Kunststück vollbracht werden, durch Einstellung von zaristischen Offizieren in die Rote Armee, diese durch das Korrektiv durch Politkommissare als allgemeine Volksbewaffnung zu halten, die es nach Trotzki ohnehin nur auf dem Papier gab. Die Oktoberrevolution stand mehrmals am Abgrund und der Sozialismus-Kommunismus hing oft an einem seidenen Faden. Nach Kronstadt gab es die risikoreiche Hinwendung zur NEP in einer Situation, in der immer mehr Kaderkommunisten im Bürgerkrieg gefallen waren. Zudem gab es eine hohe Analphabetenquote; und die sowjetische Kulturrevolution beschränkte sich auf die Alphabetisierung. In einem so kleinbürgerlichen Land wie Russland, in dem die Sowjetapparate nach Lenins eigenen Worten „absolut nichts“ taugten, konnte jederzeit ein konterrevolutionärer Sturm individuell-anarchistischer Habgier losbrechen. In diesem weiten Ozean der Egoismen kam es Lenin 1921 vor allem darauf an, die Insel der revolutionären Partei zu sichern, die Lenin strengster Disziplin unterwarf. Auf dem X. Parteitag wurden die Weichen gestellt für die späteren blutigen Abrechnungen mit Abweichungen. In demokratischer Hinsicht hatte die Pariser Kommune zwei Vermächtnisse hinterlassen: Die ihr Verantwortlichen waren gesetzgebend und vollziehend in einem und jederzeit absetzbar durch ihre Wähler. Marx und Lenin mussten also die Wahrheit eines Nietzsche Wortes als bittere Pille schlucken, dass es in der Wirklichkeit nichts gibt, was der - hier marxistischen - Logik streng entspräche. Die Logik der Dinge ist immer triftiger als die Logik der Worte. Immerhin kann diese Tatsache die Sensibilität für die Einsicht steigern, dass dialektische Beziehungen sich anders, komplexer gestalten als es die Schulbuchweisheit vorsieht. Dass die erste proletarische Revolution in einem im Vergleich mit England ökonomisch rückständigen Land, dass die zweite in einem im Vergleich mit den industriell fortgeschrittenen Ländern Westeuropas ausbrach - ist dieser Umstand nicht ein Beleg dafür, dass auch der Überbau eine relativ essentielle Bedeutung bekommen kann ? Dass die Tradition - ja! die Tradition - der großen französischen Revolution mit für den Ausbruch der Pariser Kommune verantwortlich ist und dass die Tradition - ja! die Tradition - der russischen Revolution von 1905 mit für den Ausbruch der Oktoberrevolution es ist? 36. Die Revolution von 1905 brachte die Abkehr Russlands von Asien, die im Oktober 1917 seine Hinwendung zu dem erwachenden Riesen. Das Korrespondenzverhältnis zwischen 1905 und 1917 ist recht merkwürdig, merkwürdiger, als es auf den ersten Blick scheint, der nur sieht, dass die Keime der Revolution von 1905, aus der die Bourgeoisie gestärkt hervorging, das Proletariat zwar unterlag, aber bewusstseinsmäßig den größten Sprung nach vorn gemacht hatte und in der Trotzkis Theorie der permanenten Revolution geboren wurde, im Jahr 1917 einfach zur Blüte gegen diese Bourgeoisie gekommen waren. Schrieb Lenin im Jahr 1905 noch: „Nur ganz unwissende Leute können den bürgerlichen Charakter der vor sich gehenden demokratischen Umwälzung ignorieren; nur ganz naive Optimisten können vergessen, wie wenig die Masse der Arbeiter bisher von den Zielen des Sozialismus und den Mitteln seiner Verwirklichung weiß“ 37., so klang das zwölf Jahre später in den berühmten „Aprilthesen“ bereits ganz anders: Jetzt war das halbbarische, rückständigste Land Europas mit der höchsten Analphabetenquote, die besonders unter den Bauern hoch war, auf einmal reif für die sozialistische Umwälzung. Aber sind zwölf Jahre für die Entfaltung von Produktivkräften in eine Höhe ausreichend, die einen Sprung in eine höhere geschichtliche Epoche, die des Sozialismus-Kommunismus gelingen lässt? Die einen Sprung vom bolschewistischen Minimalprogramm (von 1905) auf das Maximalprogramm zulässt? Die verfehlte Prognose von Marx und Engels über eine rasche Sukzession von bürgerlicher und proletarischer Revolution aus dem Manifest, dass die bürgerliche Revolution in Deutschland nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen sein kann, bewahrheitete sich zirka siebzig Jahre später in Russland. Auf dem zehnten Parteitag der KPR (B), der im März 1921 (nach dem missglückten kommunistischen Märzaufstand in Deutschland) die Einheit der Partei zum höchsten Gut erklärte, fiel in einem Bericht Lenins ein aufschlussreicher Satz: „Wie hätte auch in einem solchen Lande (gemeint ist Russland/H.A.) ohne Phantasten die sozialistische Revolution begonnen werden können?“ 38. Und die Revolution verlief dann auch „ganz phantastisch“: In der NEP sollte eine wiederbelebte Ware-Geld-Beziehung die Sowjetmacht über einen staatskapitalistischen Weg retten. 39. Lenin hatte nach der Oktoberrevolution noch verkündet, dass Geld der Welt von gestern angehöre; jetzt war die auch von Rosa Luxemburg in ihrer Kritik an der Oktoberrevolution bemerkte Diskrepanz zwischen Wort und Tat da, die für die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Politikaster so charakteristisch ist. Auf dem XI. Parteitag im April 1922 gesteht Lenin ein, dass das Aufkommen des Staatskapitalismus eine Überraschung für alle war. Es war natürlich ein eigenartiger Staatskapitalismus, denn der Grund und Boden gehörte dem Staat. Auch Marxisten, die eine wissenschaftlich erfassbare Gesetzmäßigkeit der Geschichte vertreten und laut Trotzki die Entwicklung der Revolution prognostizieren können, sind also dann doch nicht in der Lage, den kommenden Lauf der Klassenkämpfe vorauszusehen. Auf dem IV. Kongress der Kommunistischen Internationale klagte dann Lenin auch am 13. November 1922, dass Russland ein zurückgebliebenes Land war und sei, eine minimale Bildung aufweise und dass alle zivilisierten Staaten gegen die Sowjetunion arbeiten würden. Weder halfen die zivilisierten Staaten noch das fortschrittliche Proletariat durch einen revolutionären Befreiungsschlag. So fand eine eigentümliche Zeitversetzung statt, die Vergangenheit hatte die Oktoberrevolution wieder eingeholt, als sie ihr Überleben durch die ihrem Genie ganz entgegengesetzte kleine Warenproduktion, ja vom ausländischen Kapital über Konzessionen, große Fabriken aufzubauen, abzusichern versuchte. Das Ausbleiben einer proletarischen Revolution im Westen hatte nun dazu geführt, dass die Bolschewiki jetzt beim Privatkapitalisten in die Lehre gehen wollten. In der Theorie war das Gegenteil gedacht worden, das rückständige russische Proletariat sollte vom siegreichen Proletariat des Westens lernen. Auch folgte das ausländische Kapital dem Lockruf Lenins nicht, von 1921 bis 1938 erreichte der Außenhandel des Landes, das ein Sechstel der Erdoberfläche ausmacht, im Durchschnitt nur 1,5 Prozent des Welthandels. Lenin sah in der NEP eine langwierige Belagerung des Kapitalismus mit einer ganzen Reihe von Rückzügen. Materiell ging es den Menschen schlechter als vor dem ersten Weltkrieg. Die Anbaufläche für Getreide betrug 1913 94,4 Millionen Hektar, 1922 aber nur noch 66,2 Millionen. Das Wort von der „NEP-Restauration“ kam auf, der NEP-Mann stolzierte durch die großen Städte zu seinem Büro, um Spekulationsgeschäfte zu tätigen. Auch in bürgerlichen Revolutionen gab es grässliche Rückfälle, aber man kann die Revolution der Bolschewiki schlecht mit den bürgerlichen Revolutionen in Westeuropa vergleichen. Es liegen substanziell entgegengesetzte Qualitäten vor: Befreiung der arbeitenden Menschheit vom Joch des Kapitals und Etablierung der Herrschaft des Kapitals zur Blutsaugung der arbeitenden Volksmassen unter zeitweiliger Verwendung dieser zum Sturz der Feudalmächte. Die Eigentümlichkeit der russischen Revolution bestand darin, dass sie ihr Überleben mit einer nichtsozialistischen Form (Staatskapitalismus) erreichen musste. Dieser Umweg kündigte sich 1918 in Lenins Schrift „Über 'linke' Kindereien und über Kleinbürgerlichkeit' nur erst als eine „vage Idee des Rückzugs“ an, um 1921 feste Konturen durch das NEP-Konzept anzunehmen. Die NEP steht außerhalb des kommunistischen Kontextes. Für Marx und Engels war der Kommunismus immer nur als Tat der Völker „auf einmal“ und gleichzeitig möglich. 40.

[...]

Fin de l'extrait de 75 pages

Résumé des informations

Titre
Probleme des Marxismus-Leninismus. Weltrevolution und Widersprüchlichkeit
Auteur
Année
2015
Pages
75
N° de catalogue
V304674
ISBN (ebook)
9783668031173
ISBN (Livre)
9783668031180
Taille d'un fichier
893 KB
Langue
allemand
Mots clés
marxismus, leninismus, probleme, weltrevolution, widersprüchlichkeit
Citation du texte
Heinz Ahlreip (Auteur), 2015, Probleme des Marxismus-Leninismus. Weltrevolution und Widersprüchlichkeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/304674

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