Untersuchungen zur Phantastik in den Kurzgeschichten von Adolfo Bioy Casares


Mémoire de Maîtrise, 2004

105 Pages, Note: 1,0


Extrait


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung

2. Forschungsstand zum Phantastischen und zur Phantastik

3. Definition der phantastischen Literatur
3.1 Begriffsabgrenzung
3.2 Das Problem der Referentialität und der Fiktionalisierungsprozess
3.3 Realismus versus Phantastik
3.4 Erkennungsmerkmale phantastischer Texte
3.5 Phantastik im 20. Jahrhundert
3.6 Phantastik im Argentinien des 20. Jahrhunderts und Bioy Casares´ Konzeption phantastischer Literatur

4. „De los reyes futuros“ - Entfesselte Evolution
4.1 Das Übertreten der Schwelle - Eine semantisch-syntaktische Analyse
4.2 Der Einfluss der rhetorischen Ebene auf das Phantastische

5. Das Phantastische in „Los milagros no se recuperan“ - Die Widerlegung von Materie, Raum und Zeit
5.1 Spiegel & Doppelgänger - Eine Untersuchung der semantisch-syntaktischen Ebene
5.2 Die Unterstützung des Phantastischen auf der rhetorischen Ebene

6. „El héroe de las mujeres“ - Die Überschneidung von Traum und Wachsein
6.1 Die Akkumulation des Phantastischen - Untersuchung des Syntax
6.2 Das semantische Netz des Phantastischen
6.3 Die Bedeutung der rhetorischen Ebene für das Phantastische

7. Eine phantastische Weihnachtsgeschichte - „Encuentro en Rauch“
7.1 Semantik und Syntax - Die Destabilisierung der Realität
7.2 Die rhetorische Unterstützung des phantastischen Konflikts

8. Zusammenfassende Bewertung der Ergebnisse und Ausblick

9. Literaturverzeichnis

10. Anhang

1. EINLEITUNG

In den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist zur Phantastik in den Romanen des Argentiniers Adolfo Bioy Casares viel geforscht worden. Dabei lag das Interesse in erster Linie bei den ersten berühmten Werken wie La invención de Morel (1940), Plan de evasión (1945), El sueño de los héroes (1954) oder den in Zusammenarbeit mit Borges entstandenen Werken. Suárez Coallas Arbeit Lo fantástico en la obra de Adolfo Bioy Casares (1994) stellt die einzige ausführliche Untersuchung des Phantastischen auch in neueren Romanen des Autors dar. Die Autorin setzt sich darin mit der Entwicklung seines Romanwerks auseinander. Zu Bioys Kurzgeschichten liegen meist nur Analysen einzelner Erzählungen vor, die keine diachrone Untersuchung der narrativen Struktur seines Werkes beinhalten. Die dazu bisher umfassendste und sehr ergiebige Untersuchung ist Curias La concepción del cuento en Adolfo Bioy Casares (1986, 1986a).

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, anhand der Analyse von vier Kurzgeschichten das Funktionieren des Phantastischen und dessen Entwicklung repräsentativ für alle Kurzerzählungen Bioys innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu erarbeiten. Dieser Zeitraum erstreckt sich vom Beginn seines Erfolgs, der mit der Veröffentlichung von La invención de Morel in den vierziger Jahren in Argentinien begann, bis zu seinem Spätwerk in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts.

Die Arbeit beginnt mit einem theoretischen Teil, der zunächst den relevanten Forschungsstand zur Definition des Phantastischen und zur Phantastik darstellt. Darin wird die für die argentinische phantastische Literatur des 20. Jahrhunderts bedeutende Forschungskontroverse diskutiert, in deren Zentrum die vielbeachtete, umfangreiche, aber auch umstrittene Untersuchung Todorovs (1972) steht. Die Theorie Barrenecheas (1972, 1979, 1991), die das Phantastische als konfliktäre Koexistenz des lo normal und des lo a-normal begreift, wird in Verbindung mit dem hermeneutischen Ansatz von Reisz de Rivarola (1979) und Mignolo (1986) als Grundlage für die vorliegende Arbeit herangezogen.

Für eine Definition der phantastischen Literatur wird zunächst die in der Forschung herrschende Konfusion über die Verwendung der Begriffe das Phantastische und Phantastik geklärt. Im Anschluss daran schlägt die Arbeit eine Lösung des Referentialitätsproblems fiktionaler Texte vor und erläutert das Funktionieren des Fiktionalisierungsprozesses, um der Gattungsdefinition eine literaturwissenschaftliche

Basis zu geben. Schließlich wird die Phantastik in Opposition zum Realismus definiert, wobei der Bezugsgrad des Textes zur außertextuellen Wirklichkeit das Definitionskriterium bildet. Damit diese abstrakte Form der Definition fassbarer wird, behandelt die Arbeit auch konkrete Erkennungsmerkmale phantastischer Literatur. Dabei wird der bereits im Forschungsstand deutlich gewordene Kontrast zwischen der Phantastik des 19. Jahrhunderts und des 20. Jahrhunderts hervorgehoben. Abschließend stellt die Arbeit den Entstehungshintergrund der argentinischen Phantastik des 20. Jahrhunderts und inbesondere die Einflüsse auf die Literaturkonzeption Bioy Casares´ dar.

Der praktische Teil wendet die erarbeiteten theoretischen Grundlagen auf eine Auswahl von Kurzgeschichten des Autors an. Diese sind in der Reihenfolge ihres ersten Erscheinungsjahres „De los reyes futuros“ aus dem Band La trama celeste (1948), „Los milagros no se recuperan“ aus El gran serafín (1962), die im gleichnamigen Band erschienene Erzählung „El héroe de las mujeres“ (1978) und die in Una muñeca rusa (1991) enthaltene Kurzgeschichte „Encuentro en Rauch“. Die ausgewählten Kurzerzählungen decken zusammen eine Veröffentlichungsspanne von dreiundvierzig Jahren ab und wurden mit einem Abstand von jeweils dreizehn bis sechzehn Jahren publiziert. So erfasst die vorliegende Arbeit einerseits einen möglichst breiten und damit repräsentativen Untersuchungszeitraum und kann andererseits durch die gleichmäßige Verteilung der „Stichproben“ ein besonders aussagekräftiges Bild über die Entwicklung des Phantastischen in Bioy Casares Kurzgeschichten vermitteln. Die einzelnen Texte werden auf die für das Phantastische maßgeblichen Elemente und Strukturen der syntaktischen, semantischen und rhetorischen Ebene hin analysiert. Die syntaktische Analyse der Kurzgeschichten beinhaltet in erster Linie die Verwendung der noch zu definierenden „Leerstellen“ und deren Auflösungen nach Campra (1985, 1991). Die semantisch-räumliche Struktur wird anhand der Theorie Lotmans (41993) untersucht. Diese erfasst modellhaft die Sinnstruktur narrativer Texte, in denen das Ereignis der „Grenzüberschreitung“ eines Helden (oder Antihelden) im Kontext zweier semantisch oppositiv besetzter Räume erfolgt. Die Untersuchung der Erzählebene orientiert sich vor allem an Genette (1972, 1972a) und beinhaltet die Analyse der Erzählinstanz und des Erzähltempos, welche durch eine besondere Betrachtung des Humors ergänzt wird. Aufgrund der engen Verflechtung der Ebenen ergeben sich für die Analyse der Kurzgeschichten unterschiedlich starke Überschneidungen. Je nach Komplexität werden die Ebenen in den einzelnen Kurzgeschichten zusammen oder differenziert behandelt.

Das letzte Kapitel der vorliegenden Arbeit fasst die Ergebnisse der vorangegangenen Untersuchung zusammen und bewertet diese vergleichend. Es werden Konstanten und Schwerpunktverschiebungen in der narrativen Struktur der untersuchten Kurzerzählungen aufgezeigt, die für das Phantastische maßgeblich sind. Die Arbeit endet mit einem Ausblick auf die aktuelle und zukünftige Bedeutung der oft als „hedonistisch“ und „eskapistisch“ kritisierten Literaturgattung der Phantastik.

2. FORSCHUNGSSTAND ZUM PHANTASTISCHEN UND ZUR PHANTASTIK

Die Phantastik ist oft aus einem literarhistorischen Kontext heraus definiert worden. Die betreffenden Forscher kommen dabei zu ähnlichen Ergebnissen. So grenzt Castex in seinem Werk Le conte fantastique en France de Nodier à Maupassant (1951/71987) die Phantastik von den Mythen und Märchen ab: „Le fantastique, en effet, ne se confond pas avec l´affabulation conventionelle des récits mythologiques ou des feérries“ (8). Er datiert die Entstehung der französischen Phantastik zwischen 1830 und 1890, welche ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert besitze (10) und beendet seinen Untersuchungszeitraum Anfang des 20. Jahrhunderts mit Kafka (406). Das Phantastische wird als Einbruch des Mysteriums in den Bereich des realen Lebens verstanden, dass in der Regel mit Angst verbunden ist:

Il [le fantastique] au contraire se caracterise par une intrusion brutale du mystère dans le cadre de la vie réelle; il est lié généralement aux états morbides de la conscience qui, dans les phénomènes de cauchemar ou de délire, projette devant elle des images des ses angoisses ou de ses terreurs (8).

Ähnlich formuliert auch Vax in L´art et la littérature fantastiques (1960/31970) das Phantastische in Opposition zum Wunderbaren des Märchens als „l´irruption inexplicable du surnaturel dans la nature“ (5-6). Entsprechend gestalte sich auch die Absicht phantastischer Literatur: „Le récit fantastique [...] aime nous présenter, habitant le monde réel où nous sommes, des hommes comme nous, placés soudainement en présence de l´inexplicable“ (6). Vax kommt außerdem zu dem Schluss, dass im 20. Jahrhundert die angelsächsische Science-fiction im Begriff ist, die Phantastik abzulösen, deren Ursprung er in der Aufklärung im Übergang zur Romantik des 18. Jahrhunderts und deren Höhepunkt er Anfang des 20. Jahrhunderts situiert (73).

Caillois definiert das Phantastische in Au cœr du fantastique (1965) als einen „Riss“ in der anerkannten Ordnung der alltäglichen Welt: „Tout le fantastique est rupture de l´ordre reconnu, irruption de l´inadmissible au sein de l´inaltérable légalité quotidienne“ (161). Das Bild dieser realen Welt in Images, images... (1966) bleibt jedoch durch ihre bloße Charakterisierung als Welt des Vertrauten (21) und der Banalität (22) unscharf. Als Indiz des Phantastischen könne man die Angst betrachten, die beim Leser während der Lektüre ausgelöst wird (19). Caillois sieht das Phantastische ebenfalls in einer linearen historischen Tradition, die das Märchen bereits abgelöst habe:

Le féerique est un univers merveilleux qui s´ajoute au monde réel sans lui porter atteinte ni en détruire la cohérence. Le fantastique, au contraire, manifeste un scandale, une déchirure, une irruption insolite, presque insupportable dans le monde réel (14-15).

Die Voraussetzung der Phantastik als literarische Gattung ist nach Caillois „le triomphe de la conception scientifique d´un ordre rationnel et nécessaire de phénomènes“ (17). Durch die Anerkennung einer rationalen Verkettung von Ursachen und Wirkung („reconnaissance d´un déterminisme strict dans l´enchaînement des causes et des effets“, 17) sei der Mensch nahezu von der Unmöglichkeit von Wundern - also auch von Märchen - überzeugt (17). Der Höhepunkt phantastischer Literatur befinde sich im 19. Jahrhundert und werde im 20. Jahrhundert von der Science-fiction verdrängt (33).

In seiner Untersuchung Einführung in die fantastische Literatur1 erarbeitet Todorov (1972) anhand eines strukturalistischen und immanenten Ansatzes eine erste systematische Definition des Phantastischen und kritisiert die sich gegenseitig „paraphrasierenden“ Definitionen von Castex, Vax und Caillois (27). Beispielsweise Caillois´ Ansicht, „‚den unbestreitbaren Eindruck der Unheimlichkeit‘2 als ‚Prüfstein des Fantastischen‘ zu betrachten“, kann Todorov nicht teilen, räumt aber ein, dass Angst mit dem Phantastischen verbunden, „nicht aber eine seiner notwendigen Bedingungen“ (35) sei. Vielmehr sieht Todorov in seiner Analyse der verbalen, syntaktischen und semantischen Ebene die zentrale Eigenschaft des Phantastischen in der Unschlüssigkeit des implizierten Lesers sowie der handelnden Personen des Textes (31). Zudem dürfe keine Möglicheit der „allegorischen“ oder „poetischen“ Lesart des Textes bestehen, da der Text sonst seinen repräsentativen Charakter verliere und damit das Erzeugen von Unschlüssigkeit verhindere (32). Das Phantastische sei stets bedroht, denn es währe „nur so lange wie die Unschlüssigkeit“ (40). Löst sich diese Unschlüssigkeit auf, sei der Text einer anderen Gattung zuzuordnen. Das Phantastische besitzt also Grenzcharakter und bildet die Trennlinie zwischen zwei Kategorien (40).

Todorov gibt bei seinem Versuch einer Gattungsdefinition zu bedenken, dass sich das Phantastische „eher an der Grenze zwischen zwei Gattungen“ befindet, „als daß es eine selbstständige Gattung wäre“ (40) und fragt sich folglich, „inwieweit eine Gattungsdefinition überhaupt zulässig“ (41) sei, wenn durch die plötzliche Auflösung der Unschlüssigkeit das betrachtete Werk augenblicklich das Genre wechselt. Aufgrund dieser Feststellung betrachtet er phantastische Literatur stets als eine „verschwimmende Gattung“ (41) und versucht zunächst jene Gattungen zu definieren, „mit denen es [das Phantastische] sich überschneidet“ (42), nämlich mit der des Unheimlichen und der des Wunderbaren. In der Gattung des Unheimlichen „wird von Begebenheiten berichtet, die sich gänzlich aus den Gesetzen der Vernunft erklären lassen, die jedoch [...] unglaublich, außergewöhnlich, schockierend, einzigartig, beunruhigend oder unerhört sind, und [...] in der Person und dem Leser eine Reaktion hervorrufen, die uns von phantastischen Texten her vertraut ist“ (44-45). Das Hauptmerkmal ist offensichtlich der Tabubruch. Das Unheimliche stellt für Todorov lediglich ein zur Phantastik abgegrenztes Genre dar und verliert sich auf der anderen Seite „ins allgemeine Feld der Literatur“ (45). Ähnlich verhält es sich mit dem Wunderbaren, bei dem die rational unerklärlichen Elemente weder beim Leser noch bei den Personen der Textebene eine besondere Reaktion hervorrufen, denn nicht die Haltung gegenüber den berichteten Ereignissen ist durch das Wunderbare charakterisiert, sondern die Beschaffenheit der Ereignisse selbst. Als typischer Vertreter wunderbarer Literatur wird das Märchen angeführt, bei dem der Leser bei Lesebeginn wie auch die Personen des Textes keine rational erklärbaren Ereignisse erwarten und eine Unschlüssigkeit gar nicht enstehen könne (51). Zudem verbindet Todorov die Kategorien des Unheimlichen und des Wunderbaren mit dem Fantastischen anhand der Untergattungen des Fantastisch- Unheimlichen und des Fantastisch-Wunderbaren. Das Fantastisch-Unheimliche bezeichnet phantastische Texte, die zu einer Auflösung der Unschlüssigkeit durch eine rationale Erklärung kommen, und das Fantastisch-Wunderbare solche, die eine Auflösung der Unschlüssigkeit durch die Anerkennung einer übernatürlichen Erklärung herbeiführen. Das unvermischt Fantastische befindet sich zwischen jenen Untergattungen und bezeichnet solche Werke, die auch am Ende des Textes weder eine rationale noch „wunderbare“ Erklärung für die beschriebenen Ereignisse zulassen (42- 43)3.

Zu Todorov bleibt anzumerken, dass sich seine Analyse auf phantastische Literatur des 19. Jahrhunderts als dessen „schlechtes positivistisches Gewissen“ (150) bezieht und er selbst die Anwendbarkeit seiner Ergebnisse auf Werke des 20. Jahrhunderts in Frage stellt, da er zu Kafkas Erzählungen keine eindeutige Gattungsbestimmung vornehmen kann (153). Es sind viele kritische Arbeiten zu Todorov veröffentlicht worden, von denen die für das Ziel der vorliegenden Arbeit relevanten Untersuchungen behandelt werden. Diese nehmen entscheidende Modifikationen vor, um die strengen Begrenzungen der Todorov´schen Theorie zu lockern4 und somit die Anwendbarkeit auf die argentinische Phantastik des 20. Jahrhunderts zu ermöglichen. Die todorovkritischen Forscher legen ihrer Ansicht oft theoretische Überlegungen von Autoren wie Borges und Bioy Casares zu phantastischer Literatur zugrunde, die daher zunächst näher beleuchtet werden sollen.

Im 1932 erstmals erschienenen Essay „El arte narrativo y la magia“ (1957) sieht Borges nach seinem vorläufigen Grundverständnis die zentrale Bedeutung des Phantastischen in der Kausalität des Erzählten: Eine allumfassende „causalidad mágica“ (89) steht einer den Gesetzen der Wissenschaft entsprechenden „causalidad del mundo real“ (Rodríguez Monegal: 1976, 180) gegenüber, „que es el resultado incesante de incontrolables e infinitas operaciones“ (Borges: 1957, 91). Das „Übernatürliche“ noch einbeziehend, löst sich Borges im Prolog zu Bioy Casares´ La invención de Morel (1940/82002) von dieser Vorstellung: „Despliega [Bioy] una Odisea de prodigios que no parece admitir otra clave que la alucinación o que el símbolo, y plenamente los descifra mediante un solo postulado fantástico pero no sobrenatural“ (91). Mit dieser Feststellung markiert Borges das wesentliche Merkmal phantastischer Literatur des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika (Dehennin: 1996, 64-65).

Analog zu Borges5 datiert Bioy Casares im berühmten „Prolog“ zur Antología de la literatura fantástica (1940/31991) die Wurzeln phantastischer Fiktionen außerhalb der Literatur (5) und hebt in seinem „Postskriptum“ aus dem Jahre 1965 ihre Bedeutung für den Menschen bereits in der Erzähltradition hervor (15). Als mehr oder weniger definierte literarische Gattung erscheint die Phantastik seiner Ansicht nach erst im 19. Jahrhundert in englischer Sprache (5). Die Notwendigkeit von Richtlinien zwar anerkennend, setzt Bioy sich für einen weit gefassten Gattungsbereich ein: „Pedimos leyes para el cuento fantástico; pero ya veremos que no hay un tipo, sino muchos, de cuentos fantásticos. Habrá que indagar las leyes generales para cada tipo de cuento y las leyes especiales para cada cuento“ (6). Diese Richtlinien spiegeln sich in Empfehlungen gattungsunspezifischer narrativer Vorgehensweisen (6), der Auflistung eines Themenkatalogs (8) sowie einer Einordnung anhand verschiedener Auflösungsmöglichkeiten der rational unerklärbaren innertextuellen Vorkommnisse wider (11-12). Louis (2001) bemerkt die unzureichende Anwendbarkeit der Aussagen Bioys auf die Textauswahl in der Antologie und erkennt, dass über die Auswahl der Texte selbst keine neue Definition einer literarischen Gattung intendiert wird, sondern der „Prolog“ sowie das „Postskriptum“ der Absicht folgen, eine neue Definition des Phantastischen zu postulieren: „Si toda antología convoca la noción de serie, lo que aquí se intenta es el reemplazo de una serie por otra: la voluntad de desplazar una definición de lo fantástico e imponer otra“ (416). Bioys Vorgehensweise ist, wie die Borges´ (Rodríguez Monegal: 1976, 178-179), an Beispielen orientiert und abiträr, es wird also kein gattungsspezifisches theoretisches Fundament zu Grunde gelegt. Borges wie Bioy Casares nehmen, wie später deutlich wird, eine besondere Rolle für die Forschung über die Phantastik des 20. Jahrhunderts ein.

In Analogie zu den Ausführungen Borges´ bezeichnet Bessière in Le récit fantastique (1974) Phantastik als ein Genre mit widersprüchlichem, logisch unmöglichem Charakter: „Le fantastique ne contredit pas les lois du réalisme littéraire, mais montre que ces lois deviennent celles d´un irréalisme lorsque l´actualité est tenue pour totalement problématique“ (12). Sie kritisiert eher formal als inhaltlich Todorovs

Definition des Phantastischen als Trennlinie zwischen dem Wunderbaren und dem Unheimlichen. Das Phantastische wird als Ort des Aufeinandertreffens der narration thétique (Roman der Realia) und der narration non-thétique (das Wunderbare, Märchen) dargestellt (37). Dennoch bezeichnet sie das Phantastische als Grenze: „Le récit fantastique se présente comme la transcription de l´expérience imaginaire des limites de la raison“ (62). Zudem wird Todorovs zentrales Definitionskriterium der Unschlüssigkeit abgelehnt und deutlich gemacht, dass vielmehr „leur contradiction et [...] leur récusation mutuelle et implicite“ gattungskonstituierend ist (57). Bessière bewertet Phantastik in ihrem soziologischen Ansatz als dasjenige Genre, das die ästhetische Form intellektueller Fragestellungen darstellt (11) und das über die Darstellung jenes konfliktären Zusammenkommens des thétique und non-thétique auf die Defizite der Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit in Abhängigkeit bestimmter soziokultureller Normen aufmerksam macht (215-216).

Auch Barrenechea sieht in ihrem Aufsatz „Ensayo de una tipología de la literatura fantástica“ (1972) den Hauptkritikpunkt in Todorovs Konzept der Unschlüssigkeit, das in seiner Rigidität nicht auf die zeitgenössische Literatur anwendbar ist (393)6. Vielmehr muss das Definitionskriterium die Problematisierung ihrer Koexistenz und nicht die Unschlüssigkeit sein: „[...] la problematización de su convivencia (in absentia o in praesentia) y no la duda acerca de su naturaleza, como era la base de Todorov“ (392-393). Folglich definiert Barrenechea phantastische Literatur als diejenige, die in impliziter oder expliziter Form das konfliktäre Aufeinandertreffen des lo normal (weltliche, „natürliche“ und logische Ordnung) und des lo a-normal (irreale, anomale und unnatürliche Ordnung) darstellt (393). Erscheint dieses Aufeinandertreffen nicht konfliktär, ist der Text dem Wunderbaren (lo maravilloso) zuzuordnen. Präsentiert der Text nur normale Vorkommnisse, befindet er sich im Bereich des Möglichen7 (lo posible)8.

Außerdem ist Barrenechea im Gegensatz zu Todorov der Ansicht, dass eine allegorische Lesart die verbale Ebene des Phantastischen stärkt anstatt sie zu schwächen, da der allegorische Inhalt der zeitgenössischen Literatur oft die Sinnlosigkeit der Welt ist, die problematisch, chaotisch oder irreal wirkt (395). Zudem löst Barrenechea sich von der Vorstellung, der phantastische Text müsse eine Auflösung der innertextuellen Geschehnisse verweigern, auch wenn sie den verstärkenden Effekt auf die Fokussierung des genrekonstituierenden Konflikts anerkennt (396). Im Artikel „La literatura fantástica: Función de los códigos socioculturales en la constitución de un género“ (1979) ergänzt sie ihre Theorie durch den Einbezug der Bedeutung soziokultureller Normen. Es hängt demnach auch von der Realitätsvorstellung des Lesers auf Basis außertextueller Normen ab, was lo normal und lo a-normal als Problem darstellt (12). Sie präzisiert diesen Ansatz in „El género fantástico entre los códigos y los contextos“ (1991) in Anlehnung an Mignolo und Reisz de Rivarola und adaptiert deren hermeneutischen Ansatz, nach dem literarische Werke demjenigen Konzept zugeordnet werden, das eine „hermeneutische Gesellschaft“9 ihnen zuweist (Mignolo: 1986, 115). Reisz de Rivarola betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung der „variables de las condiciones de creación y de recepción de los textos“ (1979, 144). Durch die Verbindung des hermeneutischen Ansatzes zur Bestimmung und Entwicklung des phantastischen Diskurses mit einer danach variierenden Opposition lo normal / lo a-normal als theoretische Grundlage präsentiert Barrenechea eine Basis zur Definition und Analyse phantastischer Literatur des 20. Jahrhunderts, die die theoretische Grundlage der vorliegenden Arbeit bilden soll.

3. DEFINITION DER PHANTASTISCHEN LITERATUR

3.1 Begriffsabgrenzung

Obwohl über das Phantastische und die Phantastik gerade nach Erscheinung von Todorovs strukturalistischer Analyse viel geforscht und publiziert wurde, bemängelt Schröder, dass es bislang keinen Konsens über eine einheitliche Definition gibt (1994, 44). Vielmehr lassen sich eine Vielzahl inkompatibler Termini finden (Schmitz-Emans: 1995, 53), was die Forschung lähmt und „jede wissenschaftliche Verständigung unterbindet“ (Durst: 2001, 21). Oft werden das Phantastische und Phantastik bzw. phantastische Literatur als Synonyme verwendet. Eine Abgrenzung beider Begrifflichkeiten ist aber besonders sinnvoll und notwendig: „Die phantastische Literatur ist das Genre, in welchem die (noch zu bestimmende) Struktur des Phantastischen dominant ist“ (24). Dehennin10 zeigt zudem, dass gerade bei der Frage der Abrenzung des Genres der Phantastik von anderen literarischen Gattungen eine einheitlich gebrauchte Terminologie wichtig ist, um einen wissenschaftlichen Diskurs führen zu können:

En cuanto a la terminología hay una asimetría: si la lengua permite distinguir lo real (significado y referente) y el realismo (modalidad literaria), la palabra fantástico designa tanto lo irreal (significado sin referente seguro), [...], como la modalidad literaria (1996, 41).

Analog zu der den Realismus betreffenden Terminologie, schlägt Dehennin in inhaltlicher Übereinstimmung mit Durst eine Einteilung in el fantástico und lo fantástico vor (41). Die inhaltliche Verwendung der Begriffe wird aufgrund ihrer Plausibilität und ihres praktischen Nutzens für das noch Darzulegende übernommen.

3.2 Das Problem der Referentialität und der Fiktionalisierungsprozess

Um Phantastik zu definieren, ist es möglich, Abgrenzungen von vielen Genres vorzunehmen. Der Realismus erscheint jedoch als die am deutlichsten erkennbare Opposition zu ihr und wird im Folgenden zu diesem Zweck herangezogen11. Diese Opposition stellt zunächst das Problem der Fiktionalität, dessen Lösung fundamental für die Definition phantastischer Literatur sein soll. Um dieses Problem jedoch lösen zu können, sind zunächst einige Überlegungen zur Referentialität von Literatur generell vonnöten.

Frege betrachtet in seinem Artikel „Über Sinn und Bedeutung“ (1892/71994, 40- 65) das Problem der Referentialität unter der Maßgabe der Existenz eines realen Referenten. Der literarische Diskurs hat keinen empirisch belegbaren externen Referenten außerhalb des innertextlich Geäußerten und kann sich somit nicht auf etwas in der realen, aussertextuellen Welt beziehen. Das Problem der Referentialität wird hier also mit der Beantwortung der (außersprachlichen) „Seinsfrage“ zu lösen versucht.

Aus einer textimmanenten Perspektive sieht Todorov den literarischen Diskurs von der Realität losgelöst, denn dort geäußerte Behauptungen genügen nicht der wesentlichen Bedingung des Wahrheitsbeweises. Daher macht für ihn die Frage nach

„Wahrheit“ oder „Falschheit“ im literarischen Diskurs keinen Sinn (1972, 75).

Vielmehr ist „literarische Sprache [...] eine konventionelle Sprache, in der der

Wahrheitsbeweis nicht möglich ist: die Wahrheit ist eine Beziehung zwischen den Wörtern und den Dingen, die sie bezeichnen, und in der Literatur gibt es diese ‚Dinge‘ nicht“ (75). Er unterstreicht in seinem Ansatz die Forderung „nach Stimmigkeit und innerer Kohärenz“ der Literatur (75) und vermeidet damit eine Verbindung zwischen Literatur und Realität.

Barthes betont im Zusammenhang mit dem Realismus die fehlende „responsabilité“ (1970, 87) jeder Art des literarischen Diskurses gegenüber der Realität und kommt zu dem Schluss, dass selbst in der „realistischsten“ Erzählung der Referent nicht real sein kann und das Reale im Sinne einer literarischen Konvention des Realismus´ lediglich eine Repräsentationsnorm und keine Richtlinie des Ausführens oder Handelns ist: „Le réel romanesque n´est pas opérable“ (87).

Diesen Ansätzen ist die Ablehnung gegenüber der Ansicht gemein, das im Text Geäußerte habe eine Beziehung zur Realität. Eine genau gegenteilige Meinung ist hier jedoch ebensowenig brauchbar wie die gänzliche Ablehnung der Beziehung eines literarischen Textes zur Realität. Wie Stierle bemerkt, bedeutet die Autoreflexivität der Fiktion nicht ihre Autonomie zur realen Welt, da „die Welt als Horizont der Fiktion [erscheint und] die Fiktion [...] als Horizont der Welt (1997, 318). Auch Dehennin sieht Literatur in gewisser, indirekter Verbindung mit der realen Welt:

Por opaca que sea, la obra-signo tiene una transitividad desde y hacia la vida. Emite un mensaje siempre complejo, más o menos excepcional, de una instancia creadora que al ofrecernos una interpretación subjetiva del mundo, de su ser y estar en el mundo, nos interpela como receptor, también subjetivo (1996, 14-15).

Da dieser Ansatz für die Definition der phantastischen Literatur geeignet scheint, wird Stierles und Dehennins Ansicht im Folgenden übernommen. Es wird klar, dass die Diskussion der Referentialität von Literatur im Sinne eines Realitätsverweises unbrauchbar ist:

Puede anticiparse que la solución a la referencialidad en los discursos ficticios debe prescindir de toda discusión ontológica, en el sentido de ver la ‚realidad‘ como su referente inmediato, pues frusta la capacidad de verificación empírica que los enunciados del lenguaje ordinario permiten. [...] El punto de partida necesario es el que compara estas dos formas de comunicación: la comunicación de los textos literarios y la de los textos pragmáticos (Suárez Coalla: 1994, 58).

Diese Feststellung legt nahe, reale und innertextuelle Kommunikation getrennt voneinander zu betrachten und zu vergleichen. Reisz de Rivarola sieht die reale Kommunikation in Verbindung zur realen Welt und misst innertextueller Kommunikation einen imitatorischen Charakter bei, deren Referent keine reale Einheit darstellt, sondern eine „clase vacía“ (1979, 166). Es zeigt sich jedoch die Möglichkeit der Bezeichnung durch literarische Zeichen unabhängig von ihrer Verifizierungsfähigkeit außerhalb des Textes. Eco fasst dies treffend zusammen: „Funzione segnica significa possibilità di significare (e dunque di comunicare) qualcosa a cui non corrisponde alcuno stato reale di fatti“ (81984, 89). Es ist daher nicht sinnvoll, nach der „Wahrhaftigkeit“ oder „Falschheit“ der Aussagen literarischer Texte zu fragen. Um zu einer Lösung des Problems der Referentialität und schließlich bezüglich desjenigen der Fiktionalität zu gelangen, ist es notwendig, den Unterschied zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion adäquat zu verdeutlichen. Suárez Coalla hebt die Möglichkeit fiktionaler Texte hervor, sich im Gegensatz zu realen Sprechakten der „Seinsfrage“ zu entziehen. Sie können sich auf in der Realität Inexistentes, das entweder im Bereich des Möglichen oder Unmöglichen12 (beispielsweise Elfen) liegt oder aber auf real existierende Einheiten (beispielsweise real existierende Objekte wie das Kreuzfahrtschiff Titanic oder Personen wie die Korrektoren der vorliegenden Arbeit) verweisen. Sie begreift alles im fiktiven Diskurs Existierende als Einheiten, mit oder ohne Korrespondenz zur realen Welt, die schon durch ihr bloßes Erscheinen dort einem Prozess der Fiktionalisierung ausgesetzt sind. Folglich besitzen alle textkonstituierenden Elemente einen fiktionalen Status mit der Möglichkeit, auf reale Einheiten zu verweisen oder nicht (1994, 60). Damit kommt Suárez Coalla zur entscheidenen Erkenntnis für eine weitere Annäherung an die Definition der phantastischen Literatur:

Es en función de este diferente grado de relación de lo textual con lo extratextual que definiremos la literatura fantástica, por oposición a la realista, pero sin considerar en ningún momento que una sea falsa y la otra verdadera, o una más real que la otra (60-61).

Nach Martínez Bonati vollzieht sich der Prozess der Fiktionalisierung auf folgende Weise: Reale Objekte und Tatsachen, die in einer Fiktion erscheinen, erhalten eine „existencia doble“. Einerseits bleibt beim Leseakt der Eindruck ihrer Realität bestehen, andererseits werden sie durch ihre Eingliederung in den Text funktional modifiziert und „son parte integrante del mundo ficcional“ (in Reisz de Rivarola: 1979, 109). Der literarische Diskurs setzt sich nicht aus der realen Sprache des Autors, sondern aus der fiktiven Sprache eines erdachten Erzählers zusammen. Somit ist alles sich im Text befindende fiktional, seien es nicht-reale oder in der realen Welt existierende Einheiten. Beide durchlaufen so den Prozess der Fiktionalisierung (Martínez Bonati: 1978, 142).

Das Einfügen solcher „realen“ Elemente dient der Erhöhung der Glaubwürdigkeit fiktionaler Diskurse. Reisz de Rivarola bringt klar die Rolle dieser Funktion in Verbindung mit dem hermeneutischen Ansatz zum Ausdruck:

Si por creíble, convincente o verosímil entendemos lo que está en conformidad con los criterios de realidad válidos para una determinada comunidad cultural en un determinado momento histórico, puede decirse que las referencias, dentro de un texto ficcional, a hechos u objetos de cuya existencia no-ficcional se tiene concienca [...] colaboran a verosimilizar la ficción (1979, 110).

Die „Wahrheit“ des fiktionalen Diskurses ist also eine interne und befindet sich im Erzähler der Fiktion. Der Status der Fiktion verändert sich daher nicht durch das Einfügen realer Elemente und es spielt keine Rolle, ob das Erzählte in diesem Falle auch tatsächlich der realen Welt entspricht. Mignolo erkennt die Unabhängigkeit des Verweises auf Referenten von deren Existenz oder Nichtexistenz. Er hebt in diesem Zusammenhang die Möglichkeit hervor, inexistente Referenten nicht nur benennen, sondern auch detalliert beschreiben zu können (in Suárez Coalla: 1994, 63). Auch Martínez Bonati macht den Unterschied zwischen pragmatischer und fiktionaler Kommunikation deutlich: „[...] las frases ficcionales no difieren de las reales en la naturaleza y estructura del ‚speech act‘ a que pertenecen, ni en su función lógica, sino en su status óntico“ (1978, 139).

Aus den vorangegangen Überlegungen ist festzuhalten, dass der literarische Diskurs keine realen Referenten hat und sich der „Seinsfrage“ entzieht. Es gibt jedoch je nach Bezugsgrad zur „realen Welt“ zu unterscheidende Typen fiktionalisierter Referenten. Dazu gehören zunächst solche, die faktisch Teil der außertextuellen Welt sind. Weiterhin gibt es nicht real existierende Referenten, die jedoch von einer hermeneutischen Gesellschaft als möglich anerkannt werden, und jene, die als möglich, aber sehr unwahrscheinlich betrachetet werden. Zudem können fiktionalisierte

Referenten im Text existieren, die es nicht gibt und unmöglich sind. In Übernahme der Terminologie von Suárez Coalla werden die auf real existierende Einheiten verweisenden Referenten als extrareferentiell (extrareferencial) und diejenigen, sich auf umögliche Referenten beziehende, als autoreferentiell (autoreferencial) bezeichnet (1994, 67). Die weitere Untersuchung zur Defintion der phantastischen Literatur wird sich im wesentlichen anhand ihrer jeweiligen „Beziehung zur realen Welt“ bzw. der Position zwischen den Polen Autoreferentialität bzw. der Extrareferentialität orientieren.

3.3 Realismus versus Phantastik

Um das Verhältnis zwischen Realismus und phantastischer Literatur zu verdeutlichen, ist es notwendig, zunächst die Beziehung des literarischen Diskurses zur realen Welt zu beleuchten. Obwohl sich Literatur und reale Welt durch ihren „Seinsstatus“ unterscheiden, gibt es eine Beziehung zwischen beiden. Pezzoni hebt dazu die Aufgabe von Autoren hervor, im Text nicht ein dem Leben möglichst ähnliches Abbild zu erzeugen, „pero sí una suerte de metáfora que la [das Leben] descifre“ (1969, 112). Er sieht es als „Sünde“ an, die Instrumente zur Erkundung der Realität mit der Realität selbst zu verwechseln (112). Es muss ein gewisses Maß an Extrareferentialität vorhanden sein, damit die durch den Prozess der Fiktionalisierung erzeugte „Metapher“ für den Leser fassbar wird: „De hecho ninguna realidad es concebible en el vacío, el poema más abstracto, la narración más delirante o más fantástica, no alcanzan transcendencia si no tienen una correlación objetiva con la realidad [...]“ (Cortázar: 1970, 50). Das Bild dieser Realität setzt sich vor allem aus dem soziokulturellen Kontext zusammen, dem sich der Autor des literarischen Werkes zuordnen lässt (50). In diesem Zusammenhang erklärt auch Stierle:

Wäre alles in der Fiktion prinzipiell anders als in unserer Erfahrung von der Wirklichkeit, wäre also die Fiktion einem Wirklichkeitsbegriff gar nicht mehr zuzuordnen, so wäre sie weder sprachlich artikulierbar noch in der Rezeption konstituierbar (1997, 318).

Analog zu Stierle macht auch Reisz de Rivarola diesen Gedanken deutlich: „Debe quedar en claro que por mucho que el mundo ficcional pueda apartarse de la experiencia colectiva de la realidad, nunca se independiza por completo de ella en la medida en que lo absolutamente diferente resultaría inexpresable“ (1979, 131).

Der Text muss also eine erzählte Welt darstellen, die sich im Bereich des Möglichen befindet. Dieser Bereich wiederum basiert auf einem bestimmten Erfahrungshorizont des Autors und des Lesers. Um nun einen Vergleich verschiedener möglicher Welten ziehen zu können, ist ein allen möglichen Welten gemeinsamer Bezugspunkt vonnöten, den Doležel als „basic narrative world“ bezeichnet. Diese korrespondiert mit der aktuellen, empirischen Welt. Alle dazu alternativen Welten „are constructed by redistributing the modalities of possibility and impossibility, or, to put it simply, by making possible what is impossible in the basic world and viceversa“ (1976, 10).

Nachdem das Problem der Fiktionalität und der Beziehung zwischen realer Welt und fiktiver Welten erläutert wurde, bleibt zu klären, worin der Unterschied zwischen Realismus und Phantastik liegt und nach welchen Kriterien beide funktionieren. Sowohl die „basic narrative world“ im Sinne Doležels als auch alle alternativen Welten sind dem Fiktionalisierungsprozess ausgesetzt. Anhand des Beziehungsgrades des jeweiligen Diskurses zur außertextuellen Welt wird nun versucht, die Opposition zwischen Realismus und Phantastik zu begründen. Suárez Coalla hebt in Anlehnung an Mignolo, Reisz de Rivarola und Barrenechea insbesondere die Bedeutung der Veränderlichkeit gesellschaftlicher Normen und des kulturellen Kontexts hervor, die Einfluss auf das Konzept von „Realität“ und die Genrebestimmung nehmen (1994, 73). Der literarische Diskurs ist also nach den Kriterien der „Glaubwürdigkeit“ (verosimilitud) einzuordnen, die ihm die zugehörigen soziokulturellen Normen diktieren und von einer bestimmten „hermeneutischen Gesellschaft“ anerkannt werden13. Daher ist ein wesentlicher Unterschied zwischen dem el fantástico des 19. Jahrhunderts und des 20. Jahrhunderts anzunehmen. Analog dazu bestehen auch Differenzen räumlicher Art, so dass die Repräsentationsform des Realismus der gleichen Epoche in verschiedenen Ländern variiert. Phantastik wie Realismus sind also nach dem Kriterium der verosimilitud einzuordnen. Reisz de Rivarola unterscheidet inhaltlich nach Gottsched, die aristotelische Poetik kommentierend, zwei Arten der verosimilitud: eine verosimilitud absoluta und eine verosimilitud genérica. Während die erste der bisherigen Definiton von verosimilitud entspricht, ist die zweite eine der jeweiligen Literaturgattung eigene verosimilitud, die eine bestimmte Lesart14 des Textes verlangt. Zwischen beiden Arten besteht eine Beziehung, die je nach Gattung zwischen Übereinstimmung und Konflikt variieren kann (1979, 128-129). Der Grad der Übereinstimmung zwischen der verosimilitud absoluta und der verosimilitud genérica soll nun das Kriterium zur Bestimmung des Diskurstyps sein (Suárez Colla: 1994, 76).

Der Realismus orientiert sich dabei an Doležels „basic narrative world“, deren verosimilitud einer realen Welt entspricht. Sein Orientierungspunkt ist dann all das, was in der außertextuellen Welt als möglich betrachtet wird. Damit gibt es keinen Unterschied zwischen verosimilitud absoluta und verosimilitud genérica. In Barrenecheas (1972/1979/1991) Theorie, die sich diese Arbeit zur Grundlage macht, ist dies all jenes, was gemäß des Normverständnisses und des soziokulturellen Kontexts in Abhängigkeit von Zeit und Raum in den Bereich des lo normal fällt. Damit fiktionalisiert realistische Literatur real existierende Referenten oder solche, die von der hermeneutischen Gesellschaft als möglich eingestuft werden. Realismus ist dann ein extrareferentieller Diskurs, dessen Erfindungsgrad durch eine Poetik begrenzt ist, die das Anliegen der Darstellung glaubhafter Tatsachen respektieren muss (Suárez Colla: 1994, 77)15.

Die Phantastik problematisiert das Verhältnis der zusammenkommenden Realitäten des lo normal und des lo a-normal und beinhaltet das, was in der empirischen Welt möglich ist, möglich sein könnte und unmöglich ist. Es können in phantastischer Literatur also fiktionalisierte Referenten existieren, die entweder real existieren, möglicherweise existieren oder für die hermeneutische Gesellschaft gänzlich unvorstellbar sind. In der Terminologie Doležels würde letztere eine der alternativen narrativen Welten zur „basic narrative world“ darstellen, die sich über die Umverteilung der „modalities of possibility and impossibility“ (1976, 10) definieren. Das Zusammenkommen beider Welten im phantastischen Diskurs erweist sich als konfliktär, weil die soziokulturellen Normen des Lesers nur mit den Regeln der „basic narrative world“ übereinstimmen und nicht mit denen einer alternativen fiktionalen Welt. Es muss jedoch eine teilweise Übereinstimmung der verosimilitud absoluta mit der verosimilitud genérica bestehen, damit dieses konfliktäre Verhältnis beider Welten im Text zum Ausdruck kommen kann, d.h. es muss eine reale Welt abgelichtet werden, die eine alternative Welt ausschließt. El fantástico ist also nicht nur durch Extrareferentialität gekennzeichnet, sondern durch eine Vermengung von Extrareferentialität und Autoreferentialität: „[...] su mundo textual adquiere una máxima amplitud porque combina todas las posibilidades de la referencialidad ficticia [aunque] las leyes genéricas, son, de todas formas, una vía de restricción“ (Suárez Coalla: 1994, 79).

3.4 Erkennungsmerkmale phantastischer Texte

Nachdem eine Definition der Phantastik zugrunde gelegt wurde, bleibt noch zu zeigen, welche Techniken oder genrespezifischen Erkennungsmerkmale die phantastische Literatur kennzeichnen bzw. die konfliktäre Beziehung zwischen dem lo normal und lo a-normal ausdrücken. Bessière erkennt zwar strukturelle Eigenheiten des phantastischen Diskurses gegenüber dem Realismus an, negiert aber die Existenz einer speziellen „Sprache des Phantastischen“: „Il n´y a pas de langage fantastique en lui- même“ (1974, 13). Mit der Veränderlichkeit soziokultureller Normen zeigt sich ein epochenabhängiges, unterschiedliches Bild der Technik des Phantastischen.

Campra sieht den Konflikt des „Normalen“ und des „Anomalen“ in der phantastischen Literatur des 19. Jahrhunderts vor allem auf semantischem Niveau repräsentiert (1985, 97). Das „Übernatürliche“ bricht dabei in die vertraute Welt ein. Jene Ansichten finden sich bereits in den theoretischen Ansätzen von Caillois, Vax und Castex wieder. Diese Werke produzieren in der Regel eine bedrohliche Atmosphäre auf der Textebene wie z.B. durch die Darstellung alter, verlassener Schlösser inmitten von Unbilden. Der Konflikt wird oft durch das Einbrechen irrealer Wesen, wie Vampire, Monster, Gespenster und ähnlichen, einer „alternativen“ Welt zugehörigen Kreaturen erzeugt. Dazu sind von vielen Literaturforschern phantastikspezifische Themenkataloge erstellt worden, wie etwa die „motifs fantastiques“ von Vax (31970, 24-34) oder systematischere Versuche, wie von Todorov, der eine Einteilung in Du-Themen und Ich-Themen vornimmt (1972, 97-139)16. Die Effekte sind häufig im Text repräsentierte oder beim impliziten Leser ausgelöste Gefühle der Angst, des Schreckens oder der Ambiguität zwischen „sentimientos [...] de fascinación y rechazo“ (Suárez Coalla: 1994, 85), die sich auch auf den realen Leser übertragen können.

Barrenechea systematisiert die Semantik phantastischer Texte des 20. Jahrhunderts auf der Ebene der einzelnen Textkomponenten und des Gesamttextes überzeugend. Zur ersten gehören die „Existenz anderer Welten“ wie Götterwelten, das Reich der Toten, andere Planeten und solche unbestimmbarer Herkunft, sowie die Beziehungen der Elemente der Welten, die die Regeln des lo normal verletzen (1972, 400-401). Auf der Textebene ist dies die Existenz anderer, paralleler Welten zur „natürlichen Welt“, die zwar nicht an der realen Existenz derselben zweifeln lassen (401), sie aber zu zerstören drohen. Diese Welten offerieren eine alternative Realität, die die Menschen als imaginär betrachten und zeigen damit die Irrealität dessen, was die Menschen als real ansehen. Die Konsequenz daraus ist: „Por deducción lógica o por contagio del mundo del misterio se llega a dudar de nuestra propia existencia“ (401). Dementsprechend vollzieht sich das Phantastische nach González Salvador am Anfang des 20. Jahrhunderts eher im „Innern“ (1984, 220). Parallel zum Fortschritt der Wissenschaften wie der Psychologie und den Naturwissenschaften entwickelt sich phantastsiche Literatur beispielsweise als „punto de partida para explorar los desconocidos abismos psíquicos“ (Suárez Coalla: 1994, 86). Die psychischen Zustände der Protagonisten bilden hier den Konflikt, da sie sich außerhalb der Norm bewegen und die wachsende Bedeutung des rationalen Denkens problematisieren. Technische Errungenschaften, die die menschliche Wahrnehmung modifizieren wie beispielsweise Spiegel, Fotoapparate, Teleskope und Mikroskope sind gebräuchliche Methoden (Milner: 1982, 9-38), um alternative Realitäten in den Text zu integrieren, die in ein konfliktäres Verhältnis zu extrareferentiellen Fiktionen treten.

Das Phantastische realisiert sich in fiktionaler, innertextueller Sprache, da der literarische Diskurs von der außertextuellen Realität losgelöst ist. Todorov hebt die

Bedeutung der Ich-Erzählweise in der phantastischen Erzählung hervor, um den Leser in hohem Maß in die Fiktion zu involvieren (1972, 33). Obwohl Todorovs damit verfolgtes Ziel der Verstärkung von „Unschlüssigkeit“ hier als alleiniges Definitionskriterium abgelehnt wird17, dient diese Technik ebenfalls der Unterstützung des Konfliktes zwischen lo normal und lo a-normal. Finné fordert zusätzlich die Unterstellung des Lesers gegenüber dem Erzähler bezüglich seiner Informiertheit (1980, 131-141), so dass der Erzähler je nach Bedarf auf den Konflikt vorbereiten kann. Diese Eigenschaften sind zwar keine genrespezifischen Merkmale, jedoch in der Mehrzahl phantastischer Texte anzutreffen18.

Obwohl auf der Syntax-Ebene viele Ähnlichkeiten mit dem Kriminalroman zu erkennen sind, macht Suárez Coalla auf dessen weitaus strengere Struktur aufmerksam: „No obstante, el esquema de la novela policíaca es más rígido, porque debe respetar una serie de leyes que el relato fantástico modifica, gracias a un planteamiento mucho más amplio y flexible“ (1994, 92). Während in phantastischen Erzählungen des 19. Jahrhunderts oft eine Auflösung der suspense erfolgt, werden in denen des 20. Jahrhunderts oft keine oder mehrere Auflösungsmöglichkeiten gegeben, wie bei Borges und auch Bioy Casares zu sehen ist (92-93)19.

3.5 Phantastik im 20. Jahrhundert

Wie zu Beginn dieser Arbeit dargelegt, sehen Forscher wie Castex, Vax, Caillois und Todorov das Ende der phantastischen Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts, entweder als ein von der Science-fiction abgelöstes oder von literarischen Entwicklungen wie Kafkas Die Verwandlung soweit verändertes Genre, dass sie sich nicht mehr in ihre literaturtheoretischen Vorstellungen von Phantastik einfügen. Ebenso macht Bellemin-Noël darauf aufmerksam: „Après les âge d´or du Merveilleux et du Fantastique, la SF [Science-fiction] fonctionne aujourd´hui comme ce genre peut-être toujours présent et absent à la fois, connu et méconnu, où ce trouve par excellence assureé l´institutionnalisation littéraire de l´onirique“ (1971, 118). Viele Kritiker betrachten die Phantastik als existentes Genre, wenn sich seine Struktur auch verändert hat. Wie mit Mignolo (1986) bereits festgehalten wurde, sind es die hermeneutischen Gesellschaften, die gewissen Werken ein literarisches Konzept zuschreiben. Wenn sich eine solche Gesellschaft, und somit auch ihre Werte und soziokulturellen Normen, verändert, modifizieren sich die Vorstellungen von Realität. Auch Bioy Casares erkennt dies und macht in Bezug auf seinen Roman La invención de Morel darauf aufmerksam: „Si esto es así, para los lectores de mañana o pasado, la historia que cuento en mi libro, probablemente sea menos misteriosa de lo que fue para sus primeros lectores“ (in Martino: 1991, 77-78). Das nouveau fantastique, wie Baronian (1977, 17) diese Phantastik nennt, operiert daher anders als die des 19. Jahrhunderts. González Salvador argumentiert mit Satre und postuliert, dass das Phantastische nicht mehr dem Übernatürlichen entspringt, sondern dem normalen Menschen. Damit bildet das Phantastische nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel (1984, 224). Er sieht dafür folgenden Grund: „La fantasía ya no necesita de lo extraordinario para relatar el peligro de una vida cotidiana donde no pasa nada pero donde hay una espera de que pase algo: el peligro no se manifiesta pero está aquí latente en nuestro presente“ (225). Auch Cortázar kennt und praktiziert die „Alltäglichkeit“ des nouveau fantastique:

[...] es algo muy simple que puede suceder en la realidad cotidiana, en este mediodía de sol, ahora entre usted y yo, o en el Metro, mientras usted venía a este rendez-vous. [...]. Lo fantástico puede darse sin que haya una modificación espectacular de las cosas (1978, 42).

Ausschlaggebend für diese Veränderung ist der rasante Fortschritt der Wissenschaften wie der Psychologie und der Naturwissenschaften mit ihren technischen Errungenschaften, deren Erkenntnisse die bisherigen Normen in Frage stellen. Unter solchen Voraussetzungen ist es allerdings schwierig, eine klare Definition des lo normal und des lo a-normal zu treffen, so dass man festhalten kann: Nicht bloß die fehlende Kompatibilität dieser beiden Pole ist für das nouveau fantastique die bezeichnende Charaktereigenschaft, sondern jeweils zwei „Normalitäten“ und „Anomalitäten“, eine alte und eine neue, als Form des „reconocimiento del relativismo de nuestra época“ (Suárez Coalla: 1994, 103). Die fehlende Klarheit über die realitätsbildenden Pole hat einen literarischen Regelbruch zur Folge: „La ciencia ha demostrado que los territorios conquistados se derrumban, y la literatura fantástica interrumpe los órdenes artificiosos que la cultura había establecido“ (106) Die Undefiniertheit lässt eine Leere entstehen, was hier auf der literarischen Ebene im folgenden als „Leerstelle“20 bezeichnet wird. Oft werden keine Auflösungen oder gar mehrere Auflösungsmöglichkeiten der suspense gegeben. Jene Leerstellen bestehen also im Nichtgesagten:

Así, pues, en este tipo de literatura, y especialmente en la que corresponde al siglo XX, lo no-dicho se eleva significamente por encima de lo dicho y se convierte en característica fundamental de unas narraciones donde nada explica porqué todo sucede de modo que se trastueque el sentimiento común de la realidad (106-107).

3.6 Phantastik im Argentinien des 20. Jahrhunderts und Bioy Casares´ Konzeption phantastischer Literatur

Die größten Innovatoren phantastischer Literatur im 20. Jahrhundert - mit Ausnahme Kafkas - kommen aus Lateinamerika, viele von ihnen aus der Region La Plata in Argentinien. Cortázar betont die besondere Produktivität dieser Region:

¿Por qué la región del Río de la Plata ha sido y continúa siendo la tierra elegida de la literatura fantástica hispánica? Cierto es, por supuesto, que escritores de Méjico, Colombia y muchos otros países hispanoamericanos han escrito notables novelas y cuentos en los lo fantástico se encuentra presente, pero basta echar una mirada al panorama general de nuestro continente para darse cuenta que es en las orillas del Río de la Plata donde se encuentra la máxima concentración de este género (1983, 71).

[...]


1 Es wird im Folgenden aus der deutschen, 1972 in Frankfurt am Main erschienenen Ausgabe des französischen Originaltexts von 1970 zitiert.

2 Die Definition des sogenannten Unheimlichen wurde erstmals in Freuds Aufsatz „Das Unheimliche“ (1919/1968) erarbeitet, der sich in seinem psychoanalytischen Ansatz konkret auf die phantastische Kurzerzählung „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann bezieht. Darin versteht er das Unheimliche folgendermaßen: „Unheimlich sei alles, was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist“ (8) und zudem „eine Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht“ (7-8). Freud ist sich dabei jedoch des Vergleichbarkeitsproblems des Unheimlichen in Realität und Fiktion bewusst und hebt die weit höhere Reichhaltigkeit der letzteren hervor (18) Obwohl die thematische Übereinstimmung in Realität und Fiktion nicht zu bestreiten ist, lässt sich jedoch kein zwangsläufiger Zusammenhang herstellen.

3 Zur Verdeutlichung der Genreabgrenzungen siehe das Diagramm im Anhang, Abb. 1.

4 Nach wie vor gibt es beispielsweise durch Marzin (1982) oder Wörtche (1987) Versuche immanenter Analysen, jedoch nur Durst (2001) versucht, sich in seiner Theorie der phantastischen Literatur auch auf Werke des 20. Jahrhunderts zu beziehen. Darin wird Todorovs Theorie dahingehend modifiziert, dass das „Nichtsystem“ (das Phantastische) als konfliktärer Zustand zwischen zwei textimmanenten „Realitätssystemen“ zu betrachten ist (101) und nicht, wie im Todorov´schen Sinne, als bloße „Unschlüssigkeit“ zwischen dem „Natürlichen“ und „Übernatürlichen“. Dennoch bleibt es auch für Durst dabei: „Entsprechend dem Todorov´schen Modell wird das Phantastische auch von mir als ein schmaler Grat definiert“ (101). Demnach dürfte ein Werk, das den Konklikt der „Realitätssysteme“ auflöst, nicht mehr als „phantastisch“ angesehen werden, was desweiteren zu diskutieren ist.

5 Vgl. dazu auch Borges (1952b): „Magias parciales del ‚Quijote‘“, in: Ders.: Otras Inquisiciones, Buenos Aires, 55-58.

6 Dehennin stimmt mit Todorovs Theorie im Allgemeinen überein, beschränkt aber wie Barrenechea deren Gültigkeit auf phantastische Literatur des 19. Jahrhunderts und betont die Unmöglickeit ihrer Anwendung beispielsweise auf Kafkas Die Verwandlung und Borges´ Kurzgeschichten wie „El sur“, „Las ruinas circulares“, „El aleph“ und „La casa de Asterión“ (1996, 65-66).

7 Barrenechea macht darauf aufmerksam, dass es bisher kein Genreäquivalent zu dem Terminus lo posible gibt. Der Terminus Realismus umfasst nicht alles, was hier unter lo posible zu verstehen ist, denn er schließt den idealistischen Roman, den Naturalismus, etc. aus.

8 Siehe zur Theorie Barrenecheas das Diagramm in Abb. 2 des Anhangs.

9 Die „hermeneutische Gesellschaft“ stellt eine bestimmte gesellschaftliche Einheit in Abhängigkeit von Raum und Zeit dar, der entsprechende soziokulturelle Normen zuzuordnen sind, auf deren Basis ein bestimmtes Vorverständnis gegenüber Literaturkonzeptionen entsteht.

10 Es handelt sich hier um die überarbeitete Fassung des in französischer Sprache veröffentlichten

Artikels: Dehennin, Elsa (1976): „Pour une systématique du noveau roman hispano-américain (ou de la problématique antinomie entre le réalisme et le fantastique)“, in: Les langues néo-latines, 218, 72-110.

11 Es wurde versucht, wie bereits im Forschungsstand gezeigt, eine Abgrenzung der Phantastik zum Märchen, der Science Fiction etc. vorzunehmen, die aber keinen starken Kontrast darstellt.

12 Das Bild von Realität, das sich über die Definition des dort Möglichen oder Unmöglichen herleitet, ist im Sinne Mignolos (1986) von der darüber entscheidenen „hermeneutischen Gesellschaft“ abhängig bzw. mit Barrenechea (1979, 1991) über den Einbezug des historischen Kontextes und den mit ihm korrespondierenden Kulturnormen zu betrachten.

13 Durst (2001) bestreitet in seinem immanenten Ansatz die Plausibilität von „fiktionsexterne[n] Auffassungen zur Bestimmung phantastischer Literatur“ (68) wie der hermeneutischen Betrachtungsweise und der daraus entstehenden Definition von Realität. Er versucht, entgegen der Meinung vieler Literaturforscher, nach der die westlichen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts eher von rationalem, den Regeln der Naturwissenschaften folgendem Denken geprägt sind, durch Anführen verschiedener empirischer Daten aus Umfragen diese Annahme zu widerlegen. Nach der Datenauswertung kommt er zu dem Schluss, dass viele Menschen an Teufel, Dämonen oder ähnliche „übernatürliche“ Dinge glauben oder deren Möglichkeit in Betracht ziehen und konstatiert mit dem Soziologen Greeley: „The paranormal is normal“ (68). Seine Interpretation der Ergebnisse ist jedoch fragwürdig, da er das Resultat in keine Beziehung stellt. Es wäre vielmehr aussagekräftig und interessant gewesen, vergleichend zu fragen, welche Glaubwürdigkeit (verosimilitud) eine Person einer irrationalen oder einer rationalen Erklärung eines zunächst unerklärlich scheinenden Phänomens beimisst. Die Vermutung liegt nahe, dass Durst zu einer entgegengesetzten Interpretation gekommen wäre.

14 Obwohl Todorov (1972) für die vorliegende Arbeit eine untergeordnete Rolle spielt und oft

Ausgangspunkt der Kritik ist, bleibt zu bemerken, dass auch er die Notwendigkeit der „richtigen Lesart“ als Vorraussetzung für die Existenz des Fantastischen in seinem immanten Ansatz bereits erkannte.

15 Bei dieser Definition handelt es sich um ein vereinfachtes Verständnis von Realismus, das im Rahmen der vorliegenden Arbeit ausreicht, um die Opposition Phantastik/Realismus zu verdeutlichen. Für eine weit ausführlichere Beleuchtung der Genregrenzen des Realismus und der Phantastik vgl. Dehennin, Elsa (1996): „En busca de una sistemática de la nueva novela hispanoamericana o de la problemática antinomia entre ‚realismo‘ y ‚fantástico‘“, in: Dies.: Del realismo español al fantástico hispanoamericano, Genf, 17-60.

16 Bioy Casares führt in seinem „Prolog“ zur Antología de la literatura fantástica (1940/31991) ebenfalls die wiederkehrenden Themen phantastischer Literatur an. Er macht implizit darauf aufmerksam, dass sich ein Wandel bezüglich der Technik und damit auch der phantastischen Themen vollzogen hat, da er Kafkas Erzählungen als eigene Form phantastischer Literatur ansieht (10-11). Für eine besonders detaillierte Untersuchung der Themen der Phantastik vor allem des 19. Jahrhunderts vgl. Lachmann, Renate (2002): Erzählte Phantastik: Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, Frankfurt am Main.

17 siehe oben.

18 Für eine ausführliche Darstellung narrativer Strategien phantastischer Literatur siehe Dehennin, Elsa (1984a): „Acercamiento a una narrativa de lo imposible“, in: Schwartz Lerner (Hg.), Lía: Homenaje a Ana María Barrenechea, Madrid, 385-396.

19 Zur genaueren Beleuchtung der Syntax der Erzählweise phantastischer Texte im 19. und 20. Jahrhunderts im Vergleich zum Kriminalroman vgl. Campra, Rosalba (1985): „Fantástico y sintaxis narrativa“, in: Río de la Plata - Culturas, 1, 95-111.

20 Zur ausführlichen Betrachtung der „Leerstellen“ vgl. Campra (1991): „Los silencios del texto en la literatura fantástica“, in: Morillas Ventura, Enriqueta (Hg.): El relato fantástico en España e Hispanoamérica, Madrid, 49-73. Dort befasst sie sich mit den „silencios del texto“ auf ganz verschiedenen Ebenen der phantastischen Literatur.

Fin de l'extrait de 105 pages

Résumé des informations

Titre
Untersuchungen zur Phantastik in den Kurzgeschichten von Adolfo Bioy Casares
Université
University of Bonn
Note
1,0
Auteur
Année
2004
Pages
105
N° de catalogue
V30489
ISBN (ebook)
9783638317412
ISBN (Livre)
9783640612239
Taille d'un fichier
868 KB
Langue
allemand
Mots clés
Untersuchungen, Phantastik, Kurzgeschichten, Adolfo, Bioy, Casares
Citation du texte
Heiko Wessels (Auteur), 2004, Untersuchungen zur Phantastik in den Kurzgeschichten von Adolfo Bioy Casares, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/30489

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