Das Drama im Expressionismus und Sturm und Drang

Zeitkritik, Antibürgerlichkeit und Generationenkonflikt


Tesis (Bachelor), 2015

44 Páginas, Calificación: 2,1


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Fragestellung und Vorgehen
1.2 Methode und Problematik
1.2.1 Epochenbegriffe
1.2.1.1 ,Expressionismus‘
1.2.1.2 ,Sturm und Drang‘
1.2.2 Der Forschungsstand zum Expressionismus
1.2.3 Zur Gemeinsamkeit literarischer Jugendbewegungen: Die Rezeption des Sturm und Drang im Expressionismus

2 Problemkonstellation: die Diskurse
2.1 Zeitkritik und Antiburgerlichkeit
2.1.1 Zeitkritik und Antiburgerlichkeit im Expressionismus
2.1.2 Zeitkritik und Antiburgerlichkeit im Sturm und Drang
2.2 Generationenkonflikt
2.2.1 Generationenkonflikt im Expressionismus
2.2.2 Generationenkonflikt im Sturm und Drang

3 Zeitkritik, Antiburgerlichkeit und Generationenkonflikt im Drama des Expressionismus
3.1 Gesellschaftliche Bedingungen der Literaturproduktion
3.1.1 Gesellschaftliche Bedingungen der antiburgerlichen Haltung
3.1.2 Situation der Schriftsteller im Expressionismus
3.1.2.1 Biografische Einordnung Walter Hasenclevers
3.2 Geistesgeschichtliche Grundlagen und Formen der expressionistischen Gesellschaftskritik
3.2.1 Hasenclevers Positionierung zur den geistigen Stromungen seiner Zeit
3.3 Walter Hasenclevers Der Sohn
3.3.1 Inhaltlicher Uberblick und formale Analyse
3.3.2 Inhaltliche Analyse
3.3.2.1 Zeitkritik und Antiburgerlichkeit
3.3.2.2 Generationenkonflikt

4 Ausblick: Zum Entwurf einer idealen Vaterschaft

5 Literaturverzeichnis
5.1 Textausgabe
5.2 Sekundarliteratur

1 Einleitung

1.1 Fragestellung und Vorgehen

In der vorliegenden Arbeit untersuche ich die dramatische Umsetzung der drei zeitgenossischen Prob- lemfelder ,Zeitkritik‘, ,Antiburgerlichkeit‘ und ,Generationenkonflikt‘ im expressionistischen Drama sowie dessen Bezuge zum Sturm und Drang. Jene Themenfelder werden - als charakteristische Merk- male beider Literaturperioden[1] - auch den MaBstab dieses Vergleichs bilden.

Als ersten Schwerpunkt meiner Arbeit setze ich die Fragestellung, welche gemeinsamen Merkmale die dramatische Umsetzung obiger Diskurse im Expressionismus und Sturm und Drang aufweist, ob sich direkte Einflusse auffinden lassen, aber auch, welche Unterschiede sich in der expressionistischen In­halts- und Formgebung finden lassen. Im Hintergrund soll dabei die Frage stehen, inwieweit es in diesem Fall uberhaupt moglich ist, eine Art ,Epochenvergleich‘ durchzufuhren und welche Grenzen dabei zu berucksichtigen sind.

In einem zweiten Teil widme ich mich den gesellschaftlichen und geistigen Grundlagen jener drei Dis- kurse im Drama des Expressionismus und werde anschlieBend meine zur expressionistischen Dramatik gefassten Thesen anhand der formalen und inhaltlichen Analyse von Walter Hasenclevers Drama Der Sohn erproben, welches als Prototyp des expressionistischen Wandlungsdramas beispielhaft den Kon- flikt eines Individuums mit seiner burgerlichen Umwelt und der vaterlichen Autoritat verhandelt.[2]

1.2 Methode und Problematik

1.2.1 Epochenbegriffe

Spreche ich im Folgenden von dem Expressionismus oder Sturm und Drang als ,Epoche‘, so verwende ich einen Begriff zur Periodisierung, welcher besonders im Fall des Sturm und Drang kontrovers dis- kutiert wird, da - je nach Definition - gewisse Kriterien nicht erfullt sind.

Als Ordnungs- und Kategorisierungsprinzip innerhalb des kontinuierlich verlaufenden Kommunika- tionsprozesses der Literaturgeschichte bleibt eine Epoche stets ein kunstliches Konstrukt, welches durch Fremdzuschreibung oder Selbstthematisierung zustande gekommen ist. Schon Definitionsversuche der Epoche als „Oberbegriff fur die literarischen Phanomene eines relativ groBen Zeitraums, der durch ein Initialereignis markiert wird und kein definiertes Ende braucht, aber unterschiedliche Stiltendenzen subsumieren kann“[3] zeigen die sich daraus ergebenden Probleme auf: Eine unklare Abgrenzung und Uberschneidungen zu anderen Erscheinungen der Zeit, die Typisierung gegenuber individuellen

Spezifika oder alleinige Hervorhebung einer sich durchsetzenden Stromung. Dies soil nicht Thema meiner Arbeit sein. Anzumerken sei lediglich, dass ich zwar den Begriff des Epochenvergleichs ver- wende, da dieser vom Expressionismus ausgehend erfolgt, mich bei dem Sturm und Drang jedoch der Bezeichnung als Literaturperiode anschlieBen werde (dazu siehe I.2.I.2.).

1.2.1.1 Expressionismus'

Der Begriff „Expressionismus“ findet Verwendung fur eine Stilepoche der Musik, Literatur und Bil- denden Kunst. Die Benennung erfolgte erstmalig 1901 in einem Pariser Kunstausstellungskatalog als Abgrenzung zu den Impressionisten. 1911 ubernahm sowohl ein Berliner Ausstellungskatalog, als auch Kurt Hiller in seinem Aufsatz Die Jungst-Berliner den Begriff, letzterer, um die literarische Avantgarde zu bezeichnen.[4]

In der expressionistischen Literatur finden sich jedoch sehr vielfaltige Formen der asthetischen Wirk- lichkeitsbewaltigung und - anders als in der Bildenden Kunst - keine klare Einheit bei den Texten und dem literarischen Programm. Spricht Gerhard Knapp also vom Expressionismus als „Begriffszusam- menhang“[5] aufgrund einer historischen Kontinuitat, welche bis in die fruhen zwanziger Jahre hinein andauerte und sich als Gemeinsamkeiten von Wirklichkeitserfahrungen und literarischer Produktion auBerte, beruhrt er auch hier die Diskussion um einen - wie auch immer gelagerten - Epochenbegriff.[6]

1.2.1.2 ,Sturm und Drang'

Ich ubernehme die Bezeichnung des Sturm und Drang als Literaturperiode, da es sich hierbei um eine regional auf Deutschland begrenzte Bewegung handelt, welche sich lediglich literarisch und weltan- schaulich, aufgrund ihrer antihofischen Einstellung jedoch nicht in Malerei, Architektur und Musik au- Berte.[7] Der Begriff wurde von den Autoren nicht verwendet, da sie sich selbst nicht als eigene Epoche wahrnahmen.[8] Er entstand im 19. Jahrhundert als Fremdzuschreibung aus dem Titel Sturm und Drang von Klingers Drama, als dessen ursprunglicher Titel einst Wirrwarr vorgesehen war. Zusatzlich fand er Verwendung als allgemeine Bezeichnung fur jugendliche Unreife[9], als deren AuBerungen die bur- gerliche Literaturgeschichte die Werke dieser Periode bis in das 20. Jahrhundert hinein abwertete.[10] Generell handelt es sich bei der auf etwa 1770-1778 einzugrenzenden (Jugend-)Bewegung rein mann- licher Autoren zwischen zwanzig und dreiBig Jahren[11] eher um eine zeitlich begrenzte Binnenbewegung der Aufklarung, unter deren Epochenbegriff der Sturm und Drang auch meist eingeordnet wird.[12]

1.2.2 Der Forschungsstand zum Expressionismus

Der Forschungsbeginn zur expressionistischen Literatur ist auf Georg Lukacs zuruckzufuhren. In seiner ideologiekritischen Schrift Grofie und Verfall des Expressionismus bewertet er den Expressionismus anhand marxistisch-leninistischer MaBstabe als „Fluchtideologie der burgerlichen Intelligenz“[13], welche sich unter scheinbarem Protest mit dem herrschenden Kapitalismus arrangierte.[14] Wie auch die ihm folgende marxistische Forschung vereinfacht und verallgemeinert er die expressionistische Subjektivitat als verfalschte literarische Darstellung und Symptom einer verfallenden burgerlichen Welt. Seine ideologisch gefarbte Kritik an der Stagnation der Autoren in burgerlichen Verhaltnissen und ihrem feh- lenden Klassenbewusstsein zeigt die Schwierigkeit, innerhalb der marxistischen Ideologie wissen- schaftlich zu arbeiten.[15]

Ernst Bloch tritt 1937 in eine intensive Kontroverse mit Lukacs. Einig ist er sich mit Lukacs lediglich in der Feststellung, dass es sich bei dem Expressionismus um eine Oppositionsbewegung zur Bourgeoi­sie handelt,[16] sein Ziel ist jedoch, diese als revolutionare Stromung zu rechtfertigen, welche den Kapi­talismus mit kunstlerischen Mitteln bekampfte. Die kunstlerische Subjektivitat ist fur Bloch dabei ein notwendiges Instrument gegen das ubermachtige gesellschaftliche System.[17]

In der folgenden burgerlichen Literaturwissenschaft gewinnt neben dem Konsens uber eine gegen alle Auspragungen von Tradition gerichtete Gesellschafts- und Zivilisationskritik insbesondere die Frage nach dem Realitatsgehalt der Dichtung an Bedeutung. Klaus Ziegler betrachtet die reale Welt und Dich- tungswelt noch als getrennte Spharen[18] und entwirft eine widerspruchliche Argumentation, welche die Gesellschaftskritik als wahr befindet und auf die krisenhafte Gegenwart zuruckfuhrt, ihre Subjektivitat, Abstraktion und Verzerrung jedoch kritisiert.[19]

Fritz Martini dagegen spricht sich fur einen Einfluss der sozialen Ereignisse auf die Form der Dich­tung aus, indem er den dramatischen Formwandel durch gesellschaftliche Konflikte bedingt sieht.[20] In seiner Theorie des modernen Dramas untersucht Peter Szondi die Grunde fur die Krise der klassi- schen Dramatik und findet diese in einer seit dem Naturalismus bestehenden Spannung zwischen der alten Form und den sozialen Konflikten einer modernen Welt. Die Entfremdung zwischen Welt und Subjekt auBert sich nach Szondi in der Veranderung zum Ich-Theater und epischen Theater.[21] Wilhelm Emrich entwickelt Blochs Stellungnahme zur kunstlerischen Subjektivitat der Expressionis- ten weiter, indem er sie als einziges Mittel zur Wirklichkeitswiedergabe legitimiert. Er begrundet dies

mit der gesellschaftlichen AuBenseiterstellung des Kunstlers, welcher im Gegensatz zum objektiven, verdinglichten Denken mithilfe der Fiktion die Wirklichkeit durchschaut.[22] Kurt Mautz zuletzt betrachtet Georg Heyms Lyrik als stellvertretend fur den Expressionismus und ubertragt ihren sozialen Gehalt nahezu vollstandig auf die gesellschaftliche Wirklichkeit, indem er die sprachlichen und formalen Verzerrungen als Ausdruck reeller Verzerrungen liest - was ihm Kritik an der Immanenz seiner Methodik einbrachte.[23]

1.2.3 Zur Gemeinsamkeit literarischer Jugendbewegungen: Die Rezeption des Sturm und Drang im Expressionismus

Wahrend die europaische Germanistik eine Diskussion um den Wahrheitsgehalt der expressionistischen Literatur fuhrt und sie als unwahr bzw. ideologisch ablehnt - weil sie die Wirklichkeit nicht durchdringe - oder als wahr wertet - weil ihre subjektive Spiegelung die Wirklichkeit zwar nicht abbilde, aber verschlusselt wiedergebe - sucht der Amerikanische Empirismus nach den Entstehungsbedingungen der expressionistischen Kunst, in denen er vor allem einen subjektiven Ausdruck sieht.[24] Sein Vertreter Sokel parallelisiert den Expressionismus mit dem Sturm und Drang, welchen er als vereinfachten Vorlaufer betrachtet. Er konstruiert aus Gemeinsamkeiten wie der sozialen Desintegration der Kunstler und ihrem Uberwindungsversuch, den intellektuellen Protagonisten der Bewegung sowie ihrer Gruppenbildung und Sehnsucht nach Gemeinschaft und Menschlichkeit eine historische Kontinuitat beider Literaturperioden und unterliegt dabei dem Fehler, formale Parallelen uberzubewerten und die sehr verschiedenen sozialen Umstande nicht zu berucksichtigen.[25]

Auch Autoren der spateren deutschen Literaturwissenschaft wie Gerhard Knapp erstellen ahnliche Verbindungen: „Sprachlich und formal reichen die Wurzeln der expressionistischen Buhne zuruck zum Sturm und Drang, insbesondere zu Jakob Michael Reinhold Lenz“[26] oder bezeichnen wie Bernhard Reiter in seiner Biografie Hasenclevers sogar dessen Werk Der Sohn als „sturmer-und-drangerische[s] ,Junglings‘-Drama“[27].

Festzustellen ist tatsachlich ein neu erwachtes Interesse der expressionistischen Autoren, aber auch Literaturwissenschaftler am Sturm und Drang.[28] Die historische Neubewertung dieser Literaturperiode Drang zeigt sich an der zunehmenden Anzahl wissenschaftlicher Abhandlungen, kritischer Editionen oder Neuveroffentlichungen von Sturm und Drang-Autoren wie Lenz‘ Gesammelte Schriften im Paul Cassirer Verlag, welcher zugleich auch zeitgenossische Autoren verlegte.[29]

Auch am Theater der Weimarer Republik sah man Parallelen zwischen dem literarischen Zeitgeist und den Werken des Sturm und Drang. Carl Zeiss eroffnete 1917 seine Intendanz am Frankfurter Schau- spielhaus mit der Urauffuhrung des Urfaust, betitelt als „Der junge Goethe und die Jungen Dichter“[30] und begrundete diese Entscheidung in seiner Eroffnungsrede wie folgt:

„Die Dramen der Frankfurter Sturm- und Drangzeit unseres groBten Dichters stimmen in besonderer Weise zu dem Geist und dem Wollen der jungen sturmischen Dichtergeneration unserer Tage.“[31]

Nach der Auffuhrung schrieb der Theaterkritiker Bernhard Diebold uber den Urfaust:

„Die Zeit haucht den gleichen heiBen Atem, Georg Kaiseres Kassierer in ,Von Morgens bis Mitternachts‘, Hasenclevers ,Sohn‘ verlangen nach jungfaustischen Erfullungen [...] Der Urfaust schwingt im Rhythmus unserer Zeitepoche.“[32]

Zu den Autoren des Sturm und Drang stand die expressionistische Avantgarde in einem ambivalenten Verhaltnis. Die groBte Popularity besaB Goethe, von welchem jedoch nur das Fruhwerk verehrt, aufge- wertet und als Identifikationsschablone bis Vorbild verwendet wurde. Den ,alte Goethe‘ beziehungs- weise seine Werke der Weimarer Klassik dagegen werten die Autoren mittels scharfer verbaler Attacken ab, was der Rebellion gegen jegliche anerkannten Autoritaten zuzuordnen ist und ein sehr typisches Merkmal literarischer Jugendbewegungen darstellt.[33] Lenz dagegen, welcher neben Goethe die starkste Rezeption genoss, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewissermaBen erst wiederentdeckt - bis dahin ubernahm selbst die Forschung Goethes abfalliges Urteil aus Dichtung und Wahrheit, ohne darin einen Distanzierungsversuch Goethes zu seiner eigenen literarischen Jugendzeit zu erkennen.[34] Eine erste wissenschaftliche positive Neubewertung erfolgte 1925 durch Heinz Kindermann[35], als die Lekture von Lenz in Autorenkreisen bereits so verbreitet war, dass sich in Tagebuchern bedeutender ex- pressionistischer Autoren Vermerke zu ihm finden. 1909 erschienen gleich zwei Ausgaben seiner Wer­ke, das Vorwort des einen Herausgebers Franz Blei lasst sich dabei wie ein expressionistisches Manifest lesen:

„Diese Jugend aus dem Burgertum fuhlte eine neue Welt in sich und muBte als Lehrer und Hofmeister, Schreiber und Elenderes noch in eine andere, alte Welt sich schicken, deren Brauch und Regel sie als schweren Zwang empfand [.] Das Pathos dieser Junglinge einer noch rechtlosen Klasse [.] vom Leben dieser Gesellschaft ausgeschlossen [.] verwarf [.] mit diesem Leben leidenschaftlich nicht nur auch dessen Formen, sondern die Form uberhaupt [.] und die Formlosigkeit schien ihnen, die ein Chaos in der Seele trugen, gerade die rechte Form zu sein [...]: die Entfesselung des Gefuhlsausdrucks“[36]

Im Gegensatz zu Goethe bot Lenz den Expressionisten ein ungebrochenes Identifikationspotential: psy- chisch erkrankt, gesellschaftlich ausgegrenzt und im Schatten des erfolgreichen Goethe stehend verstarb der Dichter fruh und konnte so keinen Stilwandel erfahren - fur seine Rezipienten blieb er ewig jugendlich.[37]

Bedeutsam ist dies insofern, da auch der Expressionismus als (literarische) Jugendbewegung bezeichnet werden kann. Seine Avantgarde wurde um 1890 geboren und war bei ihrer ersten Publikation etwa zwanzig Jahre alt, sie vertrat jugendliche Einstellungen bezuglich kultureller und kunstlerischer Inno- vationen, forderte eine Kulturrevolution.[38] Ihre Aufwertung des Jugendbegriffs folgte alteren Bewegun- gen und Stilen wie dem Wandervogel oder dem Jugendstil, grenzte sich jedoch von diesen schon gesellschaftlich integrierten Bewegungen ab, indem sie eine klare Opposition zu den Reprasentations- figuren der alten Gesellschaftsordnung bezog. Lehrpersonen, Geistliche, Juristen und Vater vertraten aus dieser jugendlichen Sichtweise lediglich einschrankende, hemmende Institutionen, die es zu bekam- pfen galt.[39]

Als erste Zwischenbilanz lasst sich feststellen, dass zwischen dem Expressionismus und dem Sturm und Drang eine Vielzahl an Bezugen, jedoch nur eine eingeschrankte Vergleichbarkeit besteht. Wie bereits erwahnt soll es im ersten Teil dieser Arbeit - anders als bei Sokel - nicht darum gehen, eine historische beziehungsweise lineare Entwicklung zu konstruieren, selbst wenn gewisse Gemeinsamkeiten in der gesellschaftlichen Situationen oder einem Fundus der antiburgerlichen Haltung der Autoren dazu Anlass geben mogen.

Ich schlieBe mich jedoch Thomas Anz an, welcher in seinem Vergleich dieser beiden Literaturperioden eine Grundstruktur an gemeinsamen Merkmalen literarischer Jugendbewegungen erstellt hat: Es erfolgt eine Gruppenbildung meist junger Mitglieder, welche sich uberzeitlicher Begriffe wie ,neu‘ oder ,jugendlich‘ bedienen, um ihren Widerstand gegen Traditionen und Konventionen zu benennen. Die Trager der Bewegung besitzen sowohl gemeinsame asthetische und ethische Ideale und Vorbilder, als auch einen gemeinsamen auBeren Feindstereotyp, welcher in irgendeiner Form das zu uberwindende ,Alte‘ verkorpert. Es gibt jedoch auch Konkurrenzverhaltnisse innerhalb oder zwischen den Gruppie- rungen, welche einerseits die literarische Produktion fordern, andererseits auch zu Abspaltungen und neuen Gruppenbildungen treten.[40]

Die gesellschaftlichen Bedingungen fur solche jugendlichen Protestbewegungen finden sich nicht in jeder Zeit, Gesellschaft, Klasse und Kultur - sie entspringen ganz konkreten Ursachen: einer hochzivi- lisierten, modernen Gesellschaft mit patriarchalischer Struktur und einer akademischen mannlichen Stadtbevolkerung, welche zum Trager des Widerstandes wird.[41] Beides trifft sowohl fur den Sturm und Drang als auch fur den Expressionismus zu.

2 Problemkonstellation: die Diskurse

2.1 Zeitkritik und Antiburgerlichkeit

2.1.1 Zeitkritik und Antiburgerlichkeit im Expressionismus

Vor dem Hintergrund einer unvollendeten burgerlichen Revolution, einer antidemokratischen innenpo- litischen und aggressiven auBenpolitischen Lage sowie der schnellen kapitalistischen Entwicklung, wel- che eine Vielzahl an technischen Innovationen, Verkehrs- und Kommunikationsmitteln begunstigte, zugleich aber auch die Arbeitsprozesse zur Massenproduktion hin veranderte[42], auBerte sich der Expres­sionismus als eine Art „literarische GeseUschaftskritik“[43].

Die Forschung ist sich weitestgehend darin einig, die expressionistische Literatur als Reaktion auf das Zeitgeschehen zu lesen, welche ihre Motive und Themen den gesellschaftlichen Vorgangen entnimmt und in ihren Bruchen die widerspruchlichen sozialen Stromungen der Zeit widerspiegelt.[44] Als Aus- drucksmittel bieten sich hierfur die Lyrik und Dramatik in besonderem MaBe an, wahrend anderen lite- rarischen Gattungen wie etwa dem Roman keine Bedeutung zukommt. In der Dichtung theatralisieren und kritisieren die Autoren jene im Alltag verdeckte gesellschaftliche Probleme mit sprachlichen Mit- teln wie Bildlichkeit und Metaphorik. Der allgegenwartige Begriff der Jugend fungiert dabei als eine Art „Codewort des Andersseins“[45], hinter welchem sich weniger eine spezielle Aussage, als vielmehr ein Abgrenzungsversuch verbirgt. Im Verlauf der Bewegung entfernen sich diese Begriffe zunehmend von der praktischen Politik und beziehen sich immer starker auf die ganz individuelle burgerliche Existenz.[46]

Den von den Expressionisten kritisierten Zeitgeist fasst Klaus Siebenhaar treffend als „Widerspruch zwischen offentlich zur Schau getragener Idealitat und praktiziertem Materialismus“[47] zusammen, welche bei den Autoren zu einem Gefuhl der Bedrohung ihrer burgerlichen Existenz fuhrte. In ihren literarischen AuBerungen verarbeiteten sie dabei zwei vorausgehende gegensatzliche Stromungen: In der expressionistischen Gesellschaftskritik findet sich die naturalistisch gepragte Zeichnung der sozialen Wirklichkeit mit ihrem groBstadtischen Lebensumfeld und teils sozialistisch gepragten Milieustudien. Gleichzeitig tritt sie in eine Art asthetische Opposition zu dessen Darstellungsweise, indem sie gegen- uber der empirischen Wirklichkeit dem subjektiven Empfinden einen Absolutheitsanspruch verleiht und damit die „kunstlerische[n] Subjektivitat als Erkenntnistrager“[48] festlegt. Auch verschiedene Arten von Fluchtbewegungen, wie die Beschaftigung mit Exotik und Esoterik oder der Ruckzug in

Kunstlerkolonien sind diesem Subjektivismus hinzuzurechnen und ein Ausdruck der Sehnsucht nach intakten und begrenzten Gemeinschaftsformen anstelle der unuberschaubaren Wirklichkeit.[49]

Die expressionistische Gesellschaftskritik zielt auf das gesamte Lebensumfeld ihrer Autoren ab. Da es sich bei jenen vornehmlich um junge Manner aus der burgerlichen Intelligenz handelt, positioniert sich diese Kritik stets zu der burgerlichen Herkunft und greift mit ihrer durchweg antiburgerlichen Haltung gesellschaftliche bis geistige Missstande der burgerlichen Lebenswelt auf. Die dabei aufgerufenen einzelnen Phanomene werden jedoch stets einer ubergeordneten, gesamtgesellschaftlichen Programma- tik zugeordnet, woraus sich die Tendenz der expressionistischen Literatur zur Abstraktion, Stilisierung und Verallgemeinerung bis hin zum allumfassenden ,Menschheitspathos‘ ergibt.[50] Mit grotesken, satirischen oder abstrakten Stilmitteln, Spannungen zwischen Emotion und Ethik oder feststehenden Entfremdungsmetaphern wie Kalte, Eis oder Stein fur die gesellschaftliche Gegenwart lasst die Kunst die Angste und Zerrissenheit einer fur die Autoren disparaten Gegenwart sichtbar werden.[51] Mit dem einschneidenden Erlebnis des Ersten Weltkrieges verlagerten sich die Schwerpunkte des Ex- pressionismus. Seine Zeitkritik anderte ihren Fokus von dem mikrokosmischen Schauplatz der Familie und individuellen Sozialisation zum Makrokosmos einer modernen Industriegesellschaft. Die kleinbur- gerliche, familiare Welt, deren Enge und vernunftorientiertes Nutzlichkeitsdenken einen Ausbruch des Individuums in ein neues Leben evoziert, wird zur groBen Welt der kapitalistischen Massengesellschaft. Deren bedrohliche, undurchschaubare Strukturen, Entfremdung und Vermassung drehen die Bewegung des Protagonisten um: er fluchtet vor seiner damonisierten Umgebung, zieht sich zuruck in ein Gefuhl des Unverstandnisses und Ausgeliefertseins.[52]

Aus der Kritik der sozialen, politischen und zwischenmenschlichen Ordnungen ergibt sich die expres­sionistische Wandlungsprogrammatik, eine Forderung nach einer radikalen, eigenverantwortlichen Ver- anderung der Welt. Im Idealfall gelingt diese Revolution durch Vorbildhaftigkeit: Auserwahlte schopferische Menschen leben die geforderte Menschlichkeit vor und uberwinden die negative Wirk- lichkeit, wodurch der zivilisationsverdorbene Mensch wieder seine eigene Menschlichkeit entdeckt und ihrem Beispiel folgt.[53] Die entworfenen menschlichen Ideale waren Gegenentwurfe zu der kritisierten Wirklichkeit: passive, politisch inaktive Massenmenschen sollten sich zu aktiven, handelnden Indi- viduen entwickeln und der Bedrohung durch moderne Entwicklungen sollte mit einer „Uberbetonung des Subjektiv-Individuellen“[54] beigekommen werden.[55] In ihrem Selbstverstandnis als eben diese Aus- erwahlten sahen sich die Literaten des Expressionismus als verantwortlich fur die Regeneration des

Individuums“[56]. Ihr Werkzeug wurde das Theater, dessen Auffuhrungen sie mit Taten gleichsetzten: dem Zuschauer wurden erwunschte Geisteshaltungen vorgefuhrt, die anschlieBenden Handlungsan- weisungen in Form von pathetischen Appellen sollten ihn zur Tat bewegen.[57] So setzte sich die expres- sionistische Kunst den Anspruch, die Menschen an ihr ureigenes revolutionares Potential zu erinnern, es zu aktivieren, und sich damit in den Dienst der Idee zu stellen. Obwohl sich hiermit eine Betonung des Inhalts vor der Form ergab, war die asthetische Wirkung von groBer Bedeutung. Die Vermittlung der gewunschten Inhalte legitimierte von Rhetorik und Pathetik bis hin zur suggestiven Rede oder Wortkunst alle sprachlichen Mittel.[58]

Aus obigen Erlauterungen erschlieBt sich sowohl die Wahl des Dramas als expressionistisches Aus- drucksmittel, als auch dessen Strukturveranderung zum Ich-Drama, dessen Protagonist eine individuelle Wandlung als Ausgangspunkt fur die Wandlung der Welt erfahrt. Die dramatische Form und Auf- fuhrungssituation erscheint fur die imperative Verkundung und beispielhafte Durchfuhrung der Wand- lungsprogrammatik als besonders geeignet,[59] selbst wenn sich die Auffuhrungspraxis erst spater - im Zuge der expressionistischen Buhnenreform - hin zu technischen Effekten und einer ausdrucksvollen, gestenreichen Spielweise der Darsteller veranderte.[60]

2.1.2 Zeitkritik und Antiburgerlichkeit im Sturm und Drang

Die Alleinstellung des Sturm und Drang in der europaischen Literaturgeschichte grundete in der Pro- blematik des deutschen Burgertums, die Ideale der Aufklarung nach der franzosischen Revolution praktisch nicht umsetzen zu konnen.[61] Im Gegensatz zu GroBbritannien gelang es ihm nicht, sich aus veralteten Produktions- und feudalistischen Abhangigkeitsverhaltnissen zu befreien, vielmehr war eine Starkung des deutschen Absolutismus seit 1720 zu verzeichnen. Das Fehlen einer okonomischen, poli- tischen und kulturellen Einheit - welche in Frankreich beispielsweise erst die Tragkraft fur die Revo­lution ausbilden konnte - und die Unbrauchbarkeit vieler durch den Adel ubernommener aufklarerischer Positionen lieB fur das Burgertum des ausgehenden 18. Jahrhunderts konkrete Veranderungen auf Vernunftbasis unmoglich erscheinen.[62]

Bei den burgerlichen Intellektuellen bliebt deren „vorrevolutionarer Erwartungshorizont“[63] faktisch oh- ne tatsachliche Entsprechungen. Die andauernde Inkongruenz zwischen (idealer) Denkweise und reeller Tatigkeit schuf einen Tatigkeitsdrang, fur welchen es keinen gesellschaftlichen Ausdruck gab.

Die groBen raumlichen Distanzen zwischen zudem unter regionalspezifischen Einflussen stehenden Kulturzentren ermoglichte den Autoren nicht mehr als eine lockere Gruppenbildung zum gedanklichen

Austausch, welcher in keinem MaBstab zu den Moglichkeiten stand, welche die Vielzahl an Autoren und Gruppierungen des Expressionismus mit sich brachte. Eine Oppositionshaltung der Intellektuellen gegenuber den Verhaltnissen ihrer burgerlichen Herkunft findet sich jedoch auch bei den Protagonisten des Sturm und Drang, insbesondere da gesellschaftlich relevante Stellungen in Verwaltung und Staats- wesen fast ausschlieBlich durch den Adel besetzt wurden.[64] Die Folge war eine Abdrangung der burgerlichen Intelligenz in jenen kulturellen Bereich, welcher nicht als adliges Reprasentationsmedium vereinnahmt war: die Literatur. Die bevorzugten Gattungen waren die Lyrik und Dramatik - letztere jedoch aufgrund des geringen Buhnenerfolgs bei einem hofischen bis konservativen Publikum zumeist in Form von Lesedramen.[65] In dieser Gattungswahl zeigt sich schon hundertfunfzig Jahre vor der ex- pressionistischen Literatur sowohl die besondere Eignung dieser Formen fur den individuellen, emo- tionalen Ausdruck abseits poetologischer Regeln als auch das Potential zum Widerspruch gegen eben jene inhaltlichen und formalen Beschrankungen, welche den gesellschaftlich anerkannten Werken dieser Gattungen auflagen.

Einen zusatzlichen AnstoB zu dieser literarischen Bewegung gab die Hoffnung, im mit der steigenden Alphabetisierung anwachsenden literarischen Markt eine wirtschaftliche Alternative zu den repressiven kleinburgerlichen Stellungen zu finden - eine Fehleinschatzung, welche einer der Ursachen fur das spatere Verstummen vieler Sturm und Drang-Autoren darstellen konnte.[66]

Seine Zeitkritik richtet der Sturm und Drang mit einer dem Expressionismus ahnlichen Generalitat an alle totalitaren Strukturen. Als „Adels-, Gesellschafts- oder Zivilisationskritik“ rebelliert er gegen ge- sellschaftliche Macht- und Herrschaftstrager, wehrt sich aber ebenfalls gegen sexuelle Repressionen und Tabus, wissenschaftliche Diskurse oder poetologische Normen wie Prinzipien der Asthetik oder Dramentheorien.[67]

Als Gegenpol zu den alltaglichen Erfahrungen von Unrecht, Unterdruckung und Zwang entwerfen die Autoren eine neue Staatslehre, in welcher die individuelle Freiheit vor dem allgemeinen Staatswohl steht, sowie ein ideales Menschenbild, das Genie, welches sich in vollkommenen Einklang von Emotion und Ratio befindet.[68] Dieser Begriff birgt jedoch Widerspruche. Sein Ideal ist eine vollstandige, schopferisch tatige Personlichkeit, deren Potential theoretisch in allen Menschen vorhanden ist, und sich in einem kunstlerischen Leben im Einklang mit der Natur - entsprechend Rousseaus Naturbegriff - darstellt.[69] Die gesellschaftliche Realitat beschrankte den Wirkungshorizont des Genies jedoch auf den kunstlerischen Bereich, Individualitat und Selbsthelfertum fanden in ihr keine Entsprechungen, stattdessen herrschte „Obrigkeitsstaat und Untertanenmentalitat“[70] Das Paradoxon einer Forderung nach aktiven gesellschaftlichen Reformen und deren rein schriftstellerischer Umsetzung findet auch in der Dramatik seinen Ausdruck:[71] Sogenannte ,groBe‘, heldenhafte Figuren agieren entweder in einer raumlich und zeitlich entfernten Welt oder scheitern in der Gegenwart. Deren dramatische Darstellung zeigt - beispielsweise in Lenz‘ Drama Der Hofmeister - den kleinen Burger und sein Leiden an der Unterdruckung durch eine bornierte und arrogante Obrigkeit. Die Kluft zwischen der individuellen GroBe einer wie auch immer gestalteten Vergangenheit und der demutigenden Wirklichkeit schlagt sich in den zwei vorherrschenden Dramenformen nieder: dem realistischen Zeitstuck und dem Heldenstuck in zeitlich-geographischer Entfernung.[72]

Kennzeichnend fur beide Stucke ist haufig ein Visionsverlust: besteht fur die Gegenwart keine positive Zukunftsperspektive mehr, bleibt es demnach bei der Kritik des Bestehenden.[73] Das letztendliche Scheitern der Geniefiguren verdeutlicht hiermit ebenfalls die gesellschaftliche Ubermacht. Als gesell- schaftliche AuBenseiter, in unlosbare Konflikte mit einer ubermachtigen Umgebung und Konvention verwickelt, werden sie zu Spiegelfiguren der isolierten Avantgarde.[74] Utopische Entwurfe einer besseren Gesellschaft, wie sie der Expressionismus in groBem MaBstab entwickelt, finden sich im Sturm und Drang hochstens ansatzweise und werden, wie in Lenz‘ Hofmeister, durch die Widerspruchlichkeit von Taten und Forderungen der utopischen Gesellschaftskritiker karikiert.

Die Zivilisationskritik des Sturm und Drang auBert sich in der direkten Anprangerung der Missstande, im Scheitern der Figur, deren Selbstbehauptung trotz ihrer Einsicht in die Notwendigkeit des Falls be- rechtigt bleibt. Ihr Untergang ist eine gesellschaftliche Problematik anstelle von individueller Schuld und „legitimiert nicht die Gesellschaft, sondern verweist noch in der Katastrophe auf deren Legitima- tionsdefizit“[75].

2.2 Generationenkonflikt

Hans Mommsen definiert eine Generation nach Karl Mannheim als „Gruppe, deren subjektive Identitat sich wesentlich aus dem Bewusstsein eines Gegensatzes zu den Alteren, zur Vatergeneration, kon- stituiert.“[76]. Ihre Mitglieder reagieren unterschiedlich auf die Erfahrungen ihres gemeinsamen sozialen Umfelds, stimmen aber in ihrer politischen und sozialen Grundhaltung weitestgehend uberein.[77] Wah- rend einer ,normalen‘ gesellschaftlichen Situation vollzieht sich der Generationswechsel unbemerkt und ist nur in individuellen Biografien auffindbar. „In Perioden eines beschleunigten sozialen und po­litischen Wandels, vor allem beim Auftreten revolutionarer Zasuren“[78], wie es beispielsweise nach der

Franzosischen Revolution im Sturm und Drang oder der gescheiterten Marzrevolution im Expressio­nismus der Fall war, weitet sich der personliche Generationskonflikt zu einer gesamtgesellschaftlichen Spannung aus.[79]

Die psychoanalytische Sichtweise auf den Generationenkonflikt moderner Gesellschaftsformen sieht in der zivilisatorischen Entwicklung der Modeme eine grundlegende Wandlung zu einer ,vaterlosen Gesellschaft‘. Das „Erloschen des Vaterbildes“[80] wird mit der Entwicklung zur Massengesellschaft und -produktion begrundet, deren arbeitsteilige Prozesse Selbststandige zu Angestellten werden lassen und eine raumliche Trennung von Wohnen und Arbeiten mit sich bringen. Die Berufsausubung des Vaters, auf welche sich dessen historisch begrundete Autoritat bezieht, wird fur das Kind mit zunehmender Technisierung und Verwaltung nicht mehr nachvollziehbar.[81] Durch die fehlende Unterweisung durch ein vaterliches Arbeitsvorbild wird die Identitatsfindung fur das Kind schwierig, es kann sich weder mit den Rollen und Berufen seiner (Vor-)Vater identifizieren[82], noch die latente Konkurrenz aus dem odipalen Konflikt uber eine gemeinsame Tatigkeit, wie sie beispielsweise ein bauerliches Lebensumfeld vorgibt, losen, bevor sie sich zum Streit entwickelt.[83] Auch auftretende Konflikte mit der Umgebung konnen nicht mehr durch die Nachahmung von Vorbildern oder deren Verinnerlichung bewaltigt werden, da der beschleunigte Wandel immer neue Losungen erfordert.[84]

Stattdessen spaltet sich die vaterliche Lehraufgabe auf eine Vielzahl von Personen bis zum Lehrer auf, dessen Beruf im Grunde jene Aspekte des fehlenden Vaters verkorpern.[85] Die Bewertung des leiblichen Vaters - aber auch seiner Stellvertreter - entwickelt sich dabei von der Verherrlichung (auch des Vaterlandes) zum Vaterhass, auBert sich in Entfremdung, Angst und Aggressivitat.[86]

In der (deutschen) Literatur besteht die Grundkonstellation von Vater-Sohn-Konflikten stets aus einer Kombination von Elementen wie Herrschaft, Kampf, Uberwindung und Vergeltung. Erst ab dem Ende des 19. Jahrhunderts leiden die Sohne nicht mehr an der Ubermacht der Vater, sondern deren Abwesen- heit und fehlenden Vorbildwirkung fur ihre Sozialisation.[87] Die Vaterfiguren des Fin-de-siecle bis zum Expressionismus herrschen durch Missachtung und Abwendung, womit sich eine vollig neue Wirkungs- dimension eroffnet: „Der Kampf mit den Vatern ist nicht zu gewinnen, wenn mit den Vatern nicht einmal zu kampfen ist."[88] Die Reaktion der Sohne ist je nach Literaturperiode verschieden: so sterben und scheitern die Sohne der Decadence als Opfer ihrer eigenen Handlungsunfahigkeit[89], negiert der

[...]


[1] Siehe 2/Problemkonstellation: die Diskurse

[2] Vgl. Denkler, Horst: Das Drama des Expressionismus. In: Rothe, Wolfgang (Hg.): Expressionismus als Literatur: Gesammelte Studien, Bern/Munchen, 1969, S. 143.

[3] Meier, Albert (Literaturwissenschaft-online): Einfuhrungsvorlesungen. Literaturgeschichtsschreibung / 'Epochen' - 'Gattungen', URL: http://www.literaturwissenschaft-online.uni- kiel.de/veranstaltungen/einfuehrungsvorlesungen/2002/Literaturgeschichtsschreibung.pdf, 14.01.2014, S.7.

[4] Vgl. Knapp, Gerhard: Die Literatur des deutschen Expressionismus: Einfuhrung, Bestandsaufnahme, Kritik, Munchen, 1979, S. 14.

[5] Ebenda.

[6] Vgl. Ebenda S. 13f.

[7] Vgl. Huyssen, Andreas: Drama des Sturm und Drang. Kommentar zu einer Epoche, Munchen, 1980, S. 13.

[8] Vgl. Ebenda, S, 48.

[9] Vgl. Ebenda, S. 14

[10] Vgl. Ebenda, S. 44.

[11] Vgl. Luserke, Matthias: Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister - Der neue Menoza - Die Soldaten, Munchen, 1993, S. 16f.

[12] Vgl. Huyssen, Andreas: Drama des Sturm und Drang, S. 21.

[13] Hohendahl, Peter: Das Bild der burgerlichen Welt im expressionistischen Drama. [Beck, Adolf/Schneider, Karl (Hg.): Probleme der Dichtung. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. Begrundet von Hans Pyritz. Band 10], Heidelberg, 1967, S. 18.

[14] Vgl. Ebenda, S. 19.

[15] Vgl. Ebenda, S. 22f sowie S. 27.

[16] Vgl. Ebenda, S. 20f.

[17] Vgl. Ebenda, S. 23.

[18] Vgl. Ebenda, S. 28.

[19] Vgl. Ebenda S. 30.

[20] Vgl. Ebenda S. 30f.

[21] Vgl. Ebenda S. 31f.

[22] Vgl. Ebenda S. 33.

[23] Vgl. Ebenda S. 34-36.

[24] Vgl. Ebenda S. 37.

[25] Vgl. Ebenda S. 38.

[26] Knapp, Gerhard: Die Literatur des deutschen Expressionismu, S. 20.

[27] Reiter, Bernhard: Walter Hasenclevers mystische Periode. Die Dramen der Jahre 1917-1925. [Europaische Hochschulschriften. Reihe I - Deutsche Sprache und Literatur. Band 1632], Frankfurt am Main, 1997, S. 20.

[28] Vgl. Anz, Thomas: Expressionismus , Sturm und Drang. Zu Affinitat literarischer Jugendbewegungen. In: Koopmann, Helmut/Misch, Manfred (Hg.): Grenzgange. Studien zur Literatur der Moderne. Festschrift fur Hans-Jorg Knobloch. Paderborn, 2002, S. 106.

[29] Vgl. Ebenda, S. 107.

[30] Killy, Walter/Kuhlmann, Wilhelm (Hg.): Killy-Literaturlexikon: Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Band 7. [Kram - Marp]. 2. vollst. uberarb. Aufl., Berlin [u.a.], 2010, S. 101.

[31] Ebenda.

[32] Anz, Thomas: Expressionismus , Sturm und Drang, S. 102.

[33] Vgl. Ebenda, S. 102-104.

[34] Vgl. Huyssen, Andreas: Drama des Sturm und Drang, S. 157f.

[35] Vgl. Ebenda, S. 160.

[36] Anz, Thomas: Expressionismus , Sturm und Drang, S. 109.

[37] Vgl. Ebenda, S. 108.

[38] Vgl. Ebenda, S. 110.

[39] Vgl. Ebenda, S. 111.

[40] Vgl. Ebenda, S. 112.

[41] Vgl. Ebenda.

[42] Vgl. Siebenhaar, Klaus: Klange aus Utopia. Zeitkritik, Wandlung und Utopia im expressionistischen Drama. [Klussmann, Paul/Fechner, Jorg-Ulrich [u.a.] (Hg.): CANON. Literaturwissenschaftliche Schriften. Band 8], Diss., Freie Universitat Berlin, 1982, S. 30f.

[43] Trommler, Frank: Mission ohne Ziel. Uber den Kult der Jugend im modernen Deutschland. In: Koebner, Thomas/Janz, Rolf-Peter [u.a.] (Hg.): „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos Jugend, Frankfurt am Main, 1985, S. 36.

[44] Vgl. Siebenhaar, Klaus: Klange aus Utopia, S. 20.

[45] Trommler, Frank: Mission ohne Ziel, S. 36.

[46] Vgl. Ebenda S. 36f.

[47] Siebenhaar, Klaus: Klange aus Utopia, S. 30.

[48] Ebenda, S. 33.

[49] Vgl. Ebenda, S. 31f.

[50] Vgl. Ebenda, S. 34.

[51] Vgl. Ebenda, S. 140.

[52] Vgl. Hohendahl, Peter: Das Bild der burgerlichen Welt im expressionistischen Drama, S. 99.

[53] Vgl. Siebenhaar, Klaus: Klange aus Utopia, S. 143ff.

[54] Ebenda, S. 147.

[55] Vgl. Ebenda, S. 147.

[56] Ebenda, S. 145.

[57] Vgl. Ebenda, S. 147.

[58] Vgl. Denkler, Horst: Das Drama des Expressionismus, S. 128f.

[59] Vgl. Ebenda, S. 129.

[60] Vgl. Ebenda, S. 130ff.

[61] Vgl. Huyssen, Andreas: Drama des Sturm und Drang, S. 45.

[62] Vgl. Ebenda, S. 46f.

[63] Ebenda, S. 50.

[64] Vgl. Ebenda.

[65] Vgl. Killy, Walter (Hg.): Literaturlexikon: Autoren und Werke deutscher Sprache. Band 14. Begriffe, Realien, Methoden. [Les - Z]. Gutersloh [u.a.], 1993, S. 411.

[66] Vgl. Huyssen, Andreas: Drama des Sturm und Drang, S. 52.

[67] Vgl. Luserke, Matthias: Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister - Der neue Menoza - Die Soldaten, S. 18.

[68] Vgl. Huyssen, Andreas: Drama des Sturm und Drang, S. 56f.

[69] Vgl. Ebenda, S. 58.

[70] Ebenda, S. 60.

[71] Vgl. Ebenda, S. 59.

[72] Vgl. Ebenda, S. 79f.

[73] Vgl. Ebenda, S. 73.

[74] Vgl. Ebenda, S. 75f.

[75] Ebenda, S. 78.

[76] Mommsen, Hans: Generationskonflikt und Jugendrevolte in der Weimarer Republik. In: Koebner, Thomas/Janz, Rolf-Peter [u.a.] (Hg.): „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos Jugend, Frankfurt am Main, 1985, S. 52.

[77] Vgl. Ebenda, S. 51.

[78] Ebenda, S. 52.

[79] Vgl. Ebenda.

[80] Mitscherlich, Alexander: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, Munchen, 199610, S. 177.

[81] Vgl. Ebenda, S. 183 sowie Wais, Kurt: Das Vater-Sohn-Motiv in der Dichtung. Band 2. 1880 - 1930, Berlin, 1931, S. 188.

[82] Vgl. Mitscherlich, Alexander: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, S. 194.

[83] Vgl. Ebenda, S. 193f.

[84] Vgl. Ebenda, S. 182.

[85] Vgl. Ebenda, S. 175

[86] Vgl. Ebenda, S. 177.

[87] Vgl. Brittnacher, Hans: Welt ohne Vater: Sohne um 1900. Von der Revolte zum Opfer. In: Enzensberger, Hans/Michel, Karl: Kursbuch 140: Die Vater, Berlin, 2000, S. 55.

[88] Vgl. Ebenda, S. 56.

[89] Vgl. Ebenda, S. 61.

Final del extracto de 44 páginas

Detalles

Título
Das Drama im Expressionismus und Sturm und Drang
Subtítulo
Zeitkritik, Antibürgerlichkeit und Generationenkonflikt
Universidad
Humboldt-University of Berlin  (Institut für Deutsche Literatur)
Calificación
2,1
Autor
Año
2015
Páginas
44
No. de catálogo
V305315
ISBN (Ebook)
9783668047211
ISBN (Libro)
9783668047228
Tamaño de fichero
1661 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Zeitkritik, Antibürgerlichkeit, Generationenkonflikt, Vater-Sohn-Konflikt, Hasenclever, Expressionismus, Sturm und Drang, Gesellschaftskritik, Jugendbewegung, Lenz, Der Hofmeister, Drama
Citar trabajo
Vivien Lindner (Autor), 2015, Das Drama im Expressionismus und Sturm und Drang, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/305315

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