Mehrsprachigkeit als Bildungsziel im Deutschunterricht

Eine Unterrichtsreihe mit dem Thema Satzglieder


Thèse de Master, 2015

153 Pages, Note: 1.3


Extrait


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung

2. Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit
2.1. Mehrsprachigkeit
2.1.1. Der Zweitspracherwerb
2.1.2. Herausforderungen und Chancen einer mehrsprachigen Entwicklung
2.2. Migrationshintergrund
2.2.1. Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland
2.3. Mehrsprachigkeit als Folge von Migration

3. Mehrsprachigkeit an Schulen in Deutschland
3.1. Das deutsche Schulsystem
3.2. Die Bildungsbeteiligung von Migranten
3.3. Die Bedeutung von Sprache im schulischen Kontext
3.3.1. Gefährdungspotenziale mehrsprachiger Entwicklung in der Schule
3.3.2. Möglichkeiten durch Mehrsprachigkeit in der Schule
3.3. Förderung in Deutsch als Zweitsprache
3.4. Förderung in der Herkunftssprache
3.5. Unterrichtsmodelle im Hinblick auf Mehrsprachigkeit
3.5.1. Einsprachige Unterrichtsmodelle
3.5.2. Zweisprachige Unterrichtsmodelle
3.5.3. Unterrichtsmodelle im deutschen Bildungssystem
3.6. Lehrerbildung

4. Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht
4.1. Grammatikunterricht in mehrsprachigen Lerngruppen
4.2. Aktuelle Konzepte
4.2.1. Language Awareness
4.2.2. Durchgängige Sprachbildung
4.2. Widersprüche und Chancen eines mehrsprachigen Deutschunterrichts

5. Unterrichtsreihe zu Sprachbetrachtung und Grammatik im mehrsprachigen Klassenzimmer
5.1. Vorbemerkung
5.2. Unterrichtsreihe mit dem Thema Die Satzglieder in einer 5.Klasse eines Gymnasiums
5.2.1. Reihenplanung im Überblick
5.2.2. Bedingungsanalyse: Voraussetzung der Klasse
5.2.3. Einbettung des Themas in den rheinland-pfälzischen Lehrplan
5.2.4. Sachanalyse
5.3. Unterrichtsentwurf zur 3. Stunde der Unterrichtsreihe: Satzglieder I - Der Tanz der Wörter im Satz
5.3.1. Einbettung der Stunde in die Unterrichtsreihe
5.3.2. Verlaufplan
5.3.3. Didaktische Analyse
5.3.4. Methodische Analyse
5.4. Unterrichtsentwurf zur 9. Stunde der Unterrichtsreihe: Sprachvergleich Wort für Wort - Vergleich des Satzbaus im Deutschen und im Englischen
5.4.1. Einbettung der Stunde in die Unterrichtsreihe
5.4.2. Verlaufplan
5.4.3. Didaktische Analyse
5.4.4. Methodische Analyse
5.5 Reflexion der Unterrichtsreihe

6. Fazit & Ausblick

7. Literaturverzeichnis

8. Anhang

Verlaufspläne mit Lernzielen, Folien und Arbeitsblättern

Aus urheberrechtlichen Gründen können nicht selbsterstellte Arbeitsblätter und Abbildungen nicht mitveröffentlicht werden und wurden daher entfernt

Abbildung 1: Das FÖRMIG Schnittstellenmodell

Abbildung 2: Die Qualitätsmerkmale der Durchgängigen Sprachbildung im Überblick

1. EINLEITUNG

„Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“

(Johann Wolfgang von Goethe 1833)

Dieses Zitat von Goethe verdeutlicht die besondere Bedeutung von Sprachenlernen und der damit verbundenen Mehrsprachigkeit. Die Verfügbarkeit von Kompetenzen in mehreren Sprachen wird als Ressource und nicht als Defizit betrachtet. Die KMK [Kulturministerkonferenz] hat bereits 2003 in ihren Bildungsstandards für den Sprachunterricht „die positive, produktive Rolle der Mehrsprachigkeit sowie der Mehrsprachigen beim interkulturellen Lernen in allen Kompetenzbereichen“ (OOMENWELKE 2014, 79) hervorgehoben. Man erwähnt hier, dass Schüler1 mit „divergenten Spracherfahrungen wichtige, eigenständige Beiträge“ (ebd.) einbringen, welche zu einer vertiefenden Sprachkompetenz und Sprachbewusstheit führt.

Auch Mehrsprachigkeit, die durch Migration entsteht, ist nicht nur ein Teil der Persönlichkeit der Migranten, sondern auch eine bedeutende Ressource. Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit sollte daher Bedeutung zugewiesen und vor allem in der Institution Schule dementsprechend gefördert werden. Dies scheint jedoch nicht der Realität zu entsprechen, denn „[f΁ür Schülerinnen und Schüler aus Minderheiten war und ist lebensweltliche Mehrsprachigkeit im deutschen Bildungssystem ein Risikofaktor“ (FÜRSTENAU 2011, 40). Obwohl es sich bei dieser Thematik nicht um eine neuartige Herausforderung handelt, wurde sie erst in den letzten Jahren zur Aufgabe der Bildungspolitik. Spätestens seit dem PISA[2] -Schock im Jahr 2000 steht fest, dass Handlungsbedarf in Bezug auf migrationsbedingte Mehrsprachigkeit in der Schule besteht (vgl. HERWARTZ-EMDEN 2007, 13).

Bei der Bundesrepublik Deutschland handelt es sich schon jahrzehntelang um ein Einwanderungsland, welches durch Migration geprägt ist. Diese gesellschaftliche Situation wirkt sich auch auf das Bildungssystem aus, in dem Schüler mit Migrationshintergrund längst keine Ausnahme mehr darstellen (vgl. FÜRSTENAU 2011, 8). Da die Herkunftssprache der Einwanderer vital ist, d.h. über mehrere Generation weitergeführt wird und so erhalten bleibt, ist in Zukunft mit einer steigenden Anzahl mehrsprachig aufwachsender Kinder und Jugendlicher zu rechnen (vgl. GOGOLIN 2008a, 15). Diese Gruppe stellt somit einen beachtlichen Teil der Schülerschaft dar, auf die im Schulalltag in besonderer Weise eingegangen werden muss. Daher ist jede Lehrkraft herausgefordert, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen, um migrationsbedingte Mehrsprachigkeit im Unterricht und im Schulalltag angemessen zu berücksichtigen.

Momentan scheint die durch Migration entstehende Mehrsprachigkeit im deutschen Bildungssystem noch einen geringen Stellenwert einzunehmen, wodurch für mehrsprachige Kinder und Jugendliche Gefährdungspotenziale entstehen. Bei Menschen mit Migrationshintergrund handelt es sich um eine heterogene Gruppe. „Diese Vielfalt an unterschiedlichen Lebensschicksalen hat Einfluss auf alle Lebensbereiche, u. a. auch auf das deutsche Schulsystem, das sich einer großen Herausforderung gegenüber sieht“ (NORRENBROCK 2008, 21). Im Hinblick darauf ergibt sich die Fragestellung, welche Bedeutung dem Bildungsziel Mehrsprachigkeit, nicht nur im Unterricht allgemein, sondern auch speziell im Deutschunterricht zukommen sollte.

Für das Verständnis dieser Arbeit sollen zuerst grundlegende Begriffe geklärt werden. Dazu wird im ersten Kapitel zunächst auf die beiden Aspekte Mehrsprachigkeit und Migrationshintergrund im Einzelnen eingegangen. Es wird aufgezeigt wie Mehrsprachigkeit entsteht, indem genauer auf den Spracherwerb im Allgemeinen eingegangen wird. Anschließend wird beschrieben, was es bedeutet einen Migrationshintergrund zu besitzen und wie sich die Situation von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland gestaltet. Zudem wird Mehrsprachigkeit als Folge von Migration ebenfalls genauer betrachtet.

Im nachfolgenden Kapitel wird eine Beschreibung der aktuellen Situation von Schülern mit Migrationshintergrund in Deutschland vorgenommen. Hierzu wird genauer auf das Bildungssystem und seine Schülerschaft, sowie die Bedeutung von Sprache in diesem Kontext eingegangen. Zudem werden die Förderung von Migrantenkindern, die verschiedenen Unterrichtsmodelle und die Lehrerbildung näher betrachtet. Danach wird im folgenden Kapitel die Bedeutung von Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht untersucht. Daher wird zunächst die Bedeutsamkeit von Grammatikunterricht für Schüler mit Migrationserfahrung herausgestellt. Anschließend werden zwei Ansätze genannt, die sich damit befassen, wie Mehrsprachigkeit in den Unterricht integriert werden kann. Abschließend werden die Widersprüche und Chancen eines mehrsprachigen Deutschunterrichts diskutiert.

Im Anschluss an den theoretischen Teil dieser Arbeit, welcher auf Literaturrecherche basiert, folgt ein praktischer Teil. Es wurde eine Unterrichtsreihe geplant, die versucht die Erkenntnisse dieser Arbeit aufzugreifen und Möglichkeiten aufzeigt, wie Sprachenvielfalt in den Deutschunterricht im mehrsprachigen Klassenzimmer integriert werden kann. Hierfür wurde aus dem Themenbereich Sprachbetrachtung und Grammatik das Thema Satzglieder ausgewählt. Die Unterrichtsreihe wurde in einer 5.Klasse an einem Gymnasium gehalten und in dieser Arbeit reflektiert.

Abschließend werden die Ergebnisse des Theorie- und Praxisteils der Arbeit zusammengefasst und dadurch die der Arbeit zugrunde liegende Fragestellung beantwortet.

2. MIGRATIONSBEDINGTE MEHRSPRACHIGKEIT

2.1. MEHRSPRACHIGKEIT

Bisher wurde für das Phänomen Mehrsprachigkeit aus wissenschaftlicher Perspektive keine allgemein gültige Definition gefunden (vgl. DÖLL 2012, 20). In der Linguistik sprach man Mitte des 20. Jahrhunderts erst dann von Mehrsprachigkeit, wenn ein Mensch in der zweiten Sprache vergleichbare Kompetenzen wie in der Erstsprache besaß (vgl. RIEHL 2006, 1). Heute wird diese Auffassung nicht mehr vertreten, „da eine mehrsprachige Person selten alle Situationen des Lebens in beiden (oder mehreren) Sprachen meistern muss“ (ebd.). Daher bezeichnet RIEHL (ebd.) Menschen dann als mehrsprachig, wenn sie in der Lage sind, in gegebener Situation, problemlos zwischen den Sprachen umschalten zu können.

Für ROTHWEILER (2007, 103f.) sind nicht nur diejenigen mehrsprachig, die sich in einer Fremdsprache ausdrücken und in ihr kommunizieren können, sondern auch solche, die einen Dialekt und die Hochsprache sprechen. Die meisten Menschen erreichen in der Zweitsprache keine mit der ersten Sprache vergleichbaren Kompetenzen (vgl. ebd. 111).

„Für diesen zentralen Unterschied zwischen Erst- und Zweitsprachkompetenz wird unter anderem eine Veränderung der Spracherwerbsfähigkeit während der frühen Kindheit verantwortlich gemacht“ (ebd.). Wenn eine zweite Sprache ungesteuert, parallel zur ersten Sprache und innerhalb des frühen Kleinkindalters erworben wird, besteht jedoch die Chance eines sogenannten „simultanen Spracherwerbs“ (vgl. ebd. 115). Der simultane Erwerb wird auch als bilingualer- oder doppelter Erstspracherwerb bezeichnet und beschreibt den Erwerb von zwei (oder mehreren) Sprachen in der Erstsprachkompetenz (vgl. ebd.). „Bis zu welchem Lebensalter eines Kindes von Simultanität gesprochen werden kann, ist nicht eindeutig bestimmt“ (DÖLL 2012, 20). ROTHWEILER (2007, 122) geht zum Beispiel davon aus, dass ein Zweitspracherwerb ab dem vierten Lebensjahr nicht mehr simultan erfolgt. Hier wird dann von einem sukzessiven Zweitspracherwerb gesprochen. Es ist anzunehmen, dass Kinder, je älter sie bei beginnendem Zweitspracherwerb sind, veränderte Erwerbsstrategien nutzen und sich der Prozess des Zweitspracherwerbs nur in den Grundzügen mit dem Erstspracherwerbsprozess vergleichen lässt (vgl. KRACHT 2012, 578).

2.1.1. DER ZWEITSPRACHERWERB

Der Erwerb einer Zweitsprache kann entweder gesteuert oder ungesteuert stattfinden. In der Regel lassen sich diese beiden Erwerbsarten nicht eindeutig voneinander trennen (vgl. RIEHL 2006, 2). Daher lässt es sich nicht genau definieren, ob eine weitere Sprache unbewusst oder bewusst erworben wurde. Ein vorwiegend gesteuerter Zweitspracherwerb findet meist im Fremdsprachenunterricht statt (vgl. DÖLL 2012, 21). Menschen mit Migrationshintergrund hingegen lernen die Sprache des Zuwanderungslandes hauptsächlich ungesteuert durch den Kontakt mit den Menschen dort. Vor allem bei Kindern und Jugendlichen wird die Sprache zusätzlich gesteuert erworben (z.B. in Sprachkursen oder in der Schule) (vgl. RIEHL 2006, 2).

Bei der Frage, wie lange sich der Erwerb einer Zweitsprache vollzieht, gehen die Meinungen in der Spracherwerbsforschung auseinander (vgl. KRACHT 2000, 150f.). ROTHWEILER (2007, 122) sagt, dass der sukzessive kindliche Zweitspracherwerb sich im Allgemeinen vom sukzessiven Zweitspracherwerb im Erwachsenenalter unterscheidet. Der kindliche Zweitspracherwerb ist meist erfolgreicher, denn Kinder profitieren noch von den Spracherwerbsfähigkeiten, die ihren Erstspracherwerb gesteuert haben oder noch steuern (vgl. ebd.). Das heißt, umso früher ein Zweitspracherwerb einsetzt, desto erfolgreicher und umso schneller kann er sich vollziehen. Der kontrovers diskutierte Zeitraum, in dem Kinder von ihren bestehenden Spracherwerbsfähigkeiten profitieren, wird als die kritische Phase bezeichnet (vgl. ebd.).

Wenn es darum geht, wie sich der Erwerb einer zweiten Sprache gestaltet, gibt es ebenfalls verschiedene Ansichten. In den letzten Jahren gab es vier dominierende Erwerbshypothesen: die Kontrastivhypothese, die Identitätshypothese, die Interlanguagehypothese und die Interdependenzhypothese. „Ein gemeinsamer Schwerpunkt der Hypothesen ist die Beschreibung und Erklärung von Abweichungen von der Zielsprache.“ (DÖLL 2012, 24). Einige dieser klassischen Hypothesen wurden in den letzten Jahren zwar widerlegt, haben aber die Entwicklung der Untersuchung der Zweitsprachenaneignung entscheidend beeinflusst (vgl. ebd.) und sollen daher im Folgenden näher erläutert werden.

Der Kontrastivhypothese liegt ein behavioristischer Ansatz zugrunde. Der Erwerbsprozess wird daher als einfaches ‚input-output‘-Verhalten ohne kognitive Steuerung gesehen. Die Hypothese betrachtet den Kontrast zwischen den grammatischen Strukturen der Erst- und Zweitsprache. Sind die Strukturen identisch, kann die Zweitsprache leicht erlernt werden, sind diese verschieden, erschwert es den Prozess des Zweitspracherwerbs (vgl. ebd. 24f.). Je mehr Gemeinsamkeiten die Strukturen der beiden Sprachen besitzen,

„desto mehr positive Übertragungen seien aus der Erst- und Zweitsprache möglich“ (ebd. 25). Umgekehrt steigen mit weniger Gemeinsamkeiten die negativen Übertragungen. Durch den Vergleich von Erst- und Zweitsprache kann daher bestimmt werden, ob beim Fremdspracherwerb ein positiver oder ein negativer Transfer zu erwarten ist (vgl. ebd.). Die fehlende Beachtung der kognitiven Steuerung des Spracherwerbsprozesses und der nicht empirisch belegte prognostische Anspruch werden als Kritikpunkte für diese Hypothese gesehen. Ein weiteres Gegenargument ist zudem, dass dem Erwerbskontext sowie den individuellen und soziokulturellen Einflüssen keine Beachtung geschenkt wird (vgl. ebd. 24f.). „ b dem Ende der 1950er gerieten behavioristische nsätze zunehmend in Kritik und es vollzog sich ein Paradigmenwechsel hin zu nativistischen Positionen.“ (ebd. 25).

Die Identitätshypothese stützt sich auf die generative Grammatiktheorie und besagt, dass die Aneignung der Zielsprache hauptsächlich durch ihre eigenen Strukturen beeinflusst wird. Die Hypothese geht davon aus, dass Eigenschaften der Grammatik in großem Umfang vorstrukturiert sind. Strukturelle Eigenschaften sind daher angeboren, erblich und universal. Durch den Kontakt mit der zu erwerbenden Sprache erstellt der Lerner Hypothesen zu den Strukturen dieser Sprache, welche nicht universal sind. Es kommt zu einer ständigen Überprüfung und Modifizierung dieser Hypothesen. Die angeeignete Übergangskompetenz zeigt einen kreativen Umgang mit Sprache in Form von Simplifizierungen, Reduktionen und Übergeneralisierungen (vgl. KLEIN 1992, 18f). Kritik an dieser Hypothese ist zum einen die fehlende Berücksichtigung des Erwerbskontextes, zum anderen die Ablehnung des Transfers von Erst- zu Zweitsprache als beeinflussender Faktor für den Zweitspracherwerb. (vgl. DÖLL 2012, 26) Die Interlanguagehypothese nimmt die Annahme der Übergangskompetenzen auf und geht davon aus, dass sich der Lerner beim Zweitspracherwerb ein spezifisches Sprachsystem konstruiert (vgl. KRACHT 2000, 165f.) Dieses System beinhaltet sowohl Züge der Erst- und der Zweitsprache, als auch Merkmale, die nichts mit beiden Sprachen gemein haben (vgl. ebd.). Während des fortschreitenden Zweitspracherwerbs werden diese Merkmale immer wieder ersetzt und auf den Entwicklungsstand des Lerners abgestimmt. Das heißt es entstehen während dem Zweitspracherwerb viele variable Zwischensprachen. Von diesem Standpunkt aus können Abweichungen von der Zielsprache als individueller Sprachaneignungsprozess gesehen werden. (vgl. DÖLL 2012, 26f.)

Die Interdependenzhypothese erklärt die unterschiedlichen Ergebnisse der Bildungsprogramme Immersion und Submersion. Bei den Immersionsmodellen werden die Zweitsprachenlernenden auch in der Zweitsprache unterrichtet, der Sprachstand orientiert sich am jeweiligen Sprachstand des Lernenden. Im Rahmen von Submersionsmodellen werden Zweitsprachenlernende ohne Berücksichtigung ihrer Sprachkenntnisse in Regelklassen integriert. Diesem Modell liegt die Auffassung zugrunde, dass sich die Lernenden, durch den alltäglichen Umgang, die Zweitsprache selbst aneignen. (vgl. KNIFFKA/ SIEBERT-OTT 2012, 139f.)

KRACHT (2000, 171f.) bezieht sich in ihrer Beschreibung der Interdependenzhypothese auf CUMMINS. Dieser geht zum einen im Rahmen der Immersion „von der Interdependenz der Entwicklung von Erst- uns Zweitsprache aus“ (ebd. 172). Die Fähigkeiten der ersten Sprache wirken sich auf den Zweitspracherwerb aus und bilden die Grundlage für jeden weiteren Spracherwerb. (vgl. ebd.) Das heißt, eine gute Erstsprachkompetenz wirkt sich positiv auf den Zweitspracherwerb aus. Zum anderen spricht CUMMINS im Kontext von Submersion von der Schwellenniveauhypothese (vgl. ebd.). Er geht von der Annahme aus, dass Sprache und Kognition in einer engen Beziehung stehen. Daher würden sich geringe Kompetenzen in beiden Sprachen auf die kognitiven Fähigkeiten negativ auswirken (vgl. ebd. 173). „ uf diesem hypothetischen Hintergrund steht das sprachliche Niveau in einem ursächlichen Zusammenhang zur kognitiven Entwicklung und dem schulischen Erfolg“ (ebd.). Kritisiert wird die Interdependenzhypothese aufgrund der Vorstellung über das Verhältnis zu Kognition und Sprache und weil die sozialen Einflussfaktoren vernachlässigt werden (vgl. ebd. 171f.).

Die drei erstgenannten Hypothesen gehen vorrangig auf die sprachstrukturellen, Gesichtspunkte des Zweitspracherwerbs ein (vgl. ebd. 151). Die vierte Hypothese hingegen bezieht sich auf „den Entwicklungszusammenhang von Erst- und Zweitsprache in seiner Bedeutung für die kognitive Entwicklung“ (ebd.). Auf diesem Hintergrund folgt auch die bildungspolitische Schlussfolgerung nach der vorrangigen Förderung der Erstsprache beim Zweitspracherwerb. Dank der Interdependenzhypothese werden zum ersten Mal verschiedene Bildungsprogramme als Einflussfaktoren des Zweispracherwerbs in Betracht gezogen (vgl. ebd. 174). Die Beachtung der Interdependenzhypothese in der Schule könnte sich daher positiv auf den sukzessiven Zweitspracherwerb von Kindern mit Migrationshintergrund auswirken.

2.1.2. HERAUSFORDERUNGEN UND CHANCEN EINER MEHRSPRACHIGEN ENTWICKLUNG

In den „Kontexten gesellschaftlicher, sozialer, kultureller, lebensweltlicher und sprachstruktureller rt“ (KRACHT 2006, 363) kann es zu Problemen im Zweitspracherwerb kommen - muss es aber nicht. Mehrsprachig aufwachsende Kinder müssen sich in den einzelnen Sprachen komplexes Sprachwissen aneignen, welches einerseits lebensweltliche und andererseits standardisierte Sprachfähigkeiten beinhalten muss. Zusätzlich sollten sie angemessen entscheiden können, wann welche Sprache eingesetzt werden muss. Darüber hinaus sind mehrsprachige Kinder Beurteilungen und Anforderungen ausgesetzt, die sich an einsprachigen Normen orientieren. (vgl. ebd. 359) Die Entwicklung von Mehrsprachigkeit und deren Gefährdungspotenzial soll hier, im Rahmen zweier sprachimmanenter Perspektiven, betrachtet werden. Aus der Sichtweise der Kontrastivhypothese kann davon ausgegangen werden, dass der Zweitspracherwerb durch einen Transfer erfolgt, welcher sich auf bekannte Strukturen der Erstsprache bezieht. Demnach kann eine Zweitsprache leichter erlernt werden, wenn ihre Strukturen der Erstsprache ähneln und ein sogenannter positiver Transfer der Strukturen erfolgen kann. Von Kindern, die eine mehrsprachige Entwicklung durchlaufen, wird ein vorübergehender sprachlicher Transfer erwartet. Nach einer bestimmten Erwerbszeit sollte das Kind die Strukturen beider Sprachen unterscheiden können. Die Ausdifferenzierung beider Sprachen kann allerdings stagnieren. Der Sprachkontakt zu Muttersprachlern ist für die Orientierung an den Strukturen der zu erwerbenden Zweitsprache förderlich. Zudem kann durch diesen Kontakt einer Stagnation der Sprachentwicklung vorgebeugt werden. (vgl. ebd. 362)

Eine weitere sprachimmanente Perspektive zeigt die Betrachtung der Strukturen der deutschen Sprache. Die Struktureigenschaften des Deutschen können zu Problemen beim Erwerb von Deutsch als Zweitsprache führen. „Wie jede natürliche Sprache weist die deutsche Sprache eine Reihe von strukturellen Entwicklungsanforderungen auf, die das mehrsprachige Kind vor besondere Herausforderungen stellt“ (ebd.). Daher ist es hilfreich, wenn Lehrer über die besonderen Strukturen der deutschen Sprache, im Vergleich mit den verschiedenen Herkunftssprachen ihrer mehrsprachigen Schüler, informiert sind. Denn so können Schüler mit Migrationshintergrund auf bestehende Unterschiede und besondere strukturelle Anforderungen aufmerksam gemacht werden. Eine weitere Herausforderung und somit auch ein mögliches Gefährdungspotenzial ist der Semilingualismus oder auch Doppelte bzw. Doppelseitige Halbsprachigkeit genannt. Hier wird eine problematische Sprachentwicklung von Kindern mit Migrationshintergrund beschrieben. Da Familien mit Migrationshintergrund im Zuwanderungsland in der Regel zu einer sprachlichen Minderheit gehören, sind sie den Menschen des Zuwanderungslandes, und demnach den Menschen, die die Mehrheitssprache beherrschen, sprachlich unterlegen. Hinzu kommt, dass im Zuwanderungsland eine Minderheitensprache häufig keine Bildungsrelevanz besitzt. Bildungseinrichtungen fühlen sich daher nur für den Zweitspracherwerb in der deutschen Sprache verantwortlich und sind monolinguistisch ausgerichtet. Die Zuständigkeit für die erstsprachliche Erziehung von Kindern mit Migrationshintergrund sehen die Bildungseinrichtungen bei deren Familie (siehe Einleitung). Bei vielen Kindern mit Migrationshintergrund lässt sich daher beobachten, dass sie ihre Muttersprache schneller verlernen als sie die Zweitsprache erlernen. (vgl. KRACHT 2007, 443).

„Beide Sprachen werden in der Folge nicht in dem Ausmaß erworben und gebraucht, wie es gemäß den gesellschaftlichen Anforderungen erwartet wird und für das Gleichgewicht zwischen dem muttersprachlichen und dem zweitsprachlichen Kontext förderlich wäre“ (ebd.). In solchen Fällen wird von Semilingualismus oder Doppelter Halbsprachigkeit gesprochen. Diese Begriffe lassen sich aus Sicht der Interdependenzhypothese spracherwerbstheoretisch fundieren, denn es wird davon ausgegangen, dass vorhandene Erstsprachkompetenzen den Zweitspracherwerb stark beeinflussen und sich somit weniger stark ausgeprägte erstsprachliche Fähigkeiten negativ auf den Erwerb einer zweiten Sprache auswirken (vgl. ebd. 443f.). KRACHT (2007, 446) betont, dass eine mehrsprachige Entwicklung sich nur auf dem Hintergrund mehrsprachiger Entwicklungsprozesse bewerten lässt. Wenn diese in Orientierung an einsprachige Entwicklungsprozesse beurteilt werden, liegt der Erwartungshorizont meist über den Entwicklungsmöglichkeiten betroffener Kinder. Unter der Beachtung von mehrsprachlichen Entwicklungsprozessen würden „[d΁ie sprachlichen Phänomene der so genannten doppelten Halbsprachigkeit [...] sich dann nicht mehr als ein sprachliches Defizit darstellen, sondern als Lernervarietät, die förderlicher Entwicklungsbedingungen bedarf, damit das Kind seine Kompetenzen in beiden Sprachen weiter ausdifferenzieren kann“ (ebd.). Doppelte Halbsprachigkeit sollte daher nicht als Charakteristikum mehrsprachiger Kinder, sondern als ein bildungspolitischer Faktor gesehen werden (vgl. KRACHT 2000, 136). Diese Sichtweise kann dazu beitragen „die Unzulänglichkeiten des Bildungssystems zu verändern“ (ebd.), indem die Erstsprache von Kindern mit Migrationshintergrund Einbezug in das Bildungssystem erfährt. Allerdings betont KRACHT (2007, 447) auch, dass auch diese Sichtweise in Deutschland noch nicht zu angemessenen Konsequenzen in der Bildungspolitik geführt hat.

Kinder mit Migrationshintergrund müssen ihre personale Entwicklung meist unter gering wertschätzenden gesellschaftlichen Bedingungen vollziehen, denn die Kompetenz der Mehrsprachigkeit wird meist von der Mehrheitsgesellschaft als etwas Negatives gesehen. Diese Sichtweise kann die sprachliche Identitätsentwicklung von Kindern mit Migrationshintergrund negativ beeinflussen. Doch ist es für Kinder, ob mehrsprachig oder einsprachig, bedeutsam, dass sie ein positives Verhältnis zur eigenen Person aufbauen und damit verbunden eine eigene sprachliche Identität entwickeln. Die unter dem Aspekt der Herausforderung genannten Bedingungen mehrsprachiger Entwicklung können Gefährdungspotenziale für Migranten darstellen, da sie die kindliche Entwicklung belasten und zu einer Bildungsbenachteiligung oder gar einer Entwicklungsstörung führen können. Aus diesem Grund sollten die genannten Bedingungen pädagogisch berücksichtigt werden und es sollte bildungspolitisch versucht werden, Gefährdungspotenziale so gut wie möglich einzudämmen und Mehrsprachigkeit als Chance wahrzunehmen. (vgl. KRACHT 2006, 358f.)

Aus entwicklungspsychologischer Sicht haben Kinder bis vier Jahre optimale Voraussetzungen für das Erlernen von zwei oder mehr Sprachen. Diejenigen, die, noch während sie sich in der kritischen Phase befinden, zwei Sprachen lernen, bauen ein neuronales Netzwerk auf, in welches sie eine dritte Sprache integrieren können. Wird die zweite Sprache erst nach dieser kritischen Phase erlernt, muss ein eigenes Netzwerk gebaut werden, was schwieriger ist. Mehrsprachigen gelingt es besser die Aufmerksamkeit auf mehrere Dinge gleichzeitig zu richten und bestimmte Hirnaktivitäten zu unterdrücken, was die Konzentration positiv beeinflusst. Aus gesellschaftspolitischer Sicht fördert Mehrsprachigkeit die Erhaltung, Pflege und Weiterentwicklung der verschiedenen Sprachen. Ein Umdenken an den Schulen in Richtung Mehrsprachigkeit kann dazu beitragen den wirtschaftlichen Wert von mehrsprachigen Kompetenzen zu nutzen. (vgl. Gombos 2008, 13f.)

2.2. MIGRATIONSHINTERGRUND

Zunächst muss man den Begriff Migration klären, um dann zu beschreiben was es bedeutet einen Migrationshintergrund zu besitzen. Migration steht nach dem DUDEN für die „Bewegung von Individuen od. Gruppen im geographischen od. sozialen Raum, die mit einem Wechsel des Wohnsitzes verbunden ist“ (SCHOLZE-STUBENRECHT et al. 2001, 632). TREIBEL (2003, 12) benutzt den Begriff der Migration gleichbedeutend mit dem Begriff Wanderung. Die räumliche und soziale Veränderung im Kontext von Migration beschreibt sie als etwas Dauerhaftes. Motive, die zu einer Migration führen, bewegen sich im Rahmen von finanziellen, familiären, politischen und/oder biographischen Gründen (vgl. ebd. 21). Das statistische Bundesamt gibt folgende Definition für die Bezeichnung Migrant: „Als Person mit Migrationshintergrund gilt, wer eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt, oder im Ausland geboren wurde und nach 1949 zugewandert ist. Oder auch wer in

Deutschland geboren ist und eingebürgert wurde, oder ein Elternteil hat, das

zugewandert ist, eingebürgert wurde oder eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt“ (STATISTISCHES BUNDESAMT 2014a).

Diese Arbeit beschäftigt sich demnach nicht nur mit Kindern und Jugendlichen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, sondern mit all denjenigen, die nach Deutschland eingewandert sind und daher einen sogenannten Migrationshintergrund im Sinne von eigenen Zuwanderungserfahrungen oder durch die Zuwanderung der Eltern bzw. eines Elternteils, besitzen.

2.2.1. MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND IN DEUTSCHLAND

Deutschland liegt geographisch in der Mitte Europas und war daher schon vor Jahrhunderten ein Einwanderungsland. Um die aktuelle Einwanderungssituation genauer betrachten zu können, wird im Folgenden auf die Migrationsbewegung nach 1945 eingegangen. Aus heutiger Sicht werden die Einwanderer in drei verschiedene Gruppen eingeteilt: Arbeitsmigranten, Flüchtlinge und Aussiedler.

In den 1950er Jahren kamen viele Einwanderer nach Deutschland, da die BRD ausländische Arbeitskräfte anwarb, denn der Arbeitskräftebedarf des wirtschaftlichen Aufschwungs konnte nicht alleine von deutschen Arbeitern abgedeckt werden. Daher warb man Arbeitskräfte aus Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Portugal, Tunesien, Marokko und Jugoslawien an. Viele der Arbeitsmigranten brachten nach und nach ihre Familien nach Deutschland und leben heute in der dritten (teilweise schon in der vierten) Generation in der Bundesrepublik. Sie bilden heute einen großen Teil der in Deutschland lebenden ausländischen Staatsangehörigen. (vgl. BUTTERWEGGE 2005)

Die Zahl der ausländischen Flüchtlinge, welche in Deutschland leben, ist ebenfalls hoch, da Deutschland als Zufluchtsort von Flüchtlingen aus der ganzen Welt eine bedeutende Stellung innerhalb Europas eingenommen hat. Zu den Flüchtlingen zählen Asylbewerber und Menschen, denen kein Asyl gewährt wird, die aber aufgrund des internationalen Flüchtlingsabkommens für einen begrenzten Zeitraum in Deutschland geduldet werden. Diese Gruppe ist gekennzeichnet durch eine unsichere Aufenthaltsperspektive, die dazu führt, dass der Schulbesuch von Flüchtlingskindern und -jugendlichen sich meist problematisch gestaltet. (vgl. SCHNEIDER 2005a)

Der Begriff Aussiedler beschreibt eine Gruppe von Menschen, die aus ihrem Heimatland emigriert sind und Generationen später wieder in ihr Heimatland zurückkehren. Besonders in den letzten 20 Jahren kamen viele osteuropäische Aussiedler zurück nach Deutschland. (vgl. SCHNEIDER 2005b) Eine aktuelle Untersuchung der OECD benennt Deutschland als das zweitbeliebteste Einwanderungsland nach den Vereinigten Staaten (Stand: 2014). Der stabile Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Stärke, die in Deutschland herrschen machen das Land für Auswanderer attraktiv (vgl. ASTHEIMER 2014).

Laut dem STATISTISCHEN BUNDESAMT leben in Deutschland ca. 16,5 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, was 20,5 % der deutschen Gesamtbevölkerung entspricht (Stand: 2013) (vgl. ST TISTISCHES BUNDES MT 2014b). „Mit 9,7 Millionen hatte der Großteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund einen deutschen Pass, gut 6,8 Millionen waren Ausländerinnen und Ausländer.“ (ebd.). Die mit Abstand meisten Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland stammen aus der Türkei (12,8 %), gefolgt von Polen (11,4 %) und der Russische Föderation (9,0 %). Anschließend werden Kasachstan (6,9 %) und Rumänien (4,4 %) genannt. Die früheren Gastarbeiterländer Italien (4,0 %) und Griechenland (2,1 %) belegen die Plätze sechs und sieben. Dementsprechend bringen die Menschen, die nach Deutschland einwandern viele verschiedene Sprachen mit, so unter anderem Türkisch, Polnisch, Serbisch, Montenegrinisch, Albanisch, Griechisch, Rumänisch und Russisch. Daher kommt es zu einer Sprachen- und einer Kulturenvielfalt in Deutschland. (vgl. ebd.)

Die sozioökonomische Lage von Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland leben, unterscheidet sich deutlich von der Lage der Menschen ohne Migrationserfahrung. Das Risiko in Deutschland von Armut betroffen zu sein, ist für Menschen mit Migrationshintergrund mehr als doppelt so hoch als für die deutsche Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (vgl. BBFMFI 2014, 37).

2.3. MEHRSPRACHIGKEIT ALS FOLGE VON MIGRATION

GOGOLIN (2008a, 14f.) beschreibt die Sprache von zugewanderten Familien als vital, da die Familien versuchen ihre Erstsprache zu erhalten, indem auch Kinder, welche im Zuwanderungsland geboren werden, die Muttersprache der Eltern sprechen, schreiben und lesen lernen. Weil Eltern in der Sprache ihres Herkunftslandes Gefühle und elementare Verhaltensformen authentischer darstellen können, werden Kinder mit Migrationshintergrund meist in dieser Sprache erzogen. Dies geschieht oft über viele Generationen, sodass langfristig mit zweisprachig aufwachsenden Kindern gerechnet werden kann. (vgl. ebd.) „Zu den besonderen Bedingungen des ufwachsens und Lebens in Familien mit Migrationshintergrund gehört es, dass zwei oder mehr Sprachen im Lebensalltag eine Rolle spielen“ (ebd. 13).

Erst durch wachsende Mobilität können die Kinder die dominierende Umgebungssprache als bedeutsam erfahren. Dabei ist es unmöglich, dass Kinder sich dem Einfluss der Umgebungssprache entziehen und diese nicht in irgendeiner Form als Zweitsprache erwerben (vgl. ebd. 17f.). „Die genaue usprägung dieser [Erwerbs-]Form ist von der konkreten Lebenslage einer Familie abhängig: von ihren Sprachpraktiken, ihren sozialen Beziehungen, dem Medienkonsum und sonstigen Lebensumständen“ (ebd. 18). Die Zweisprachigkeit der Kinder mit Migrationshintergrund „und die mit ihr entwickelten Sprachformen und -kompetenzen sind damit untrennbar von der kindlichen Lebenswelt geprägt.“ (vgl. ebd.). Zweisprachigkeit ist somit für Kinder mit Migrationshintergrund eine selbstverständliche Bedingung ihres Aufwachsens und ihrer alltäglichen Kommunikation.

„Sie entwickeln ein intellektuelles sowie ein emotionales Sprachempfinden, das eine pragmatische und spontane Verwendung ihrer kommunikativen Fähigkeiten [...] ermöglicht“ (J MPERT 2004, 63). Kinder mit Migrationserfahrung gelten daher im Kreis ihrer Familie häufig als diejenigen mit den guten Deutschkenntnissen. In der Schule hingegen sind sie häufig diejenigen, die gefördert werden müssen und wegen ihren mangelnden Deutschkenntnissen nicht den Erwartungen gerecht werden können (vgl. ebd.).

Da die Erstsprache von Kindern mit Migrationshintergrund einen wichtigen Stellenwert im kindlichen Entwicklungsprozess einnimmt, sollte der Förderung der Muttersprache von Zuwanderungskindern eine größere Bedeutung zukommen, denn auch die institutionellen Rahmenbedingungen von Bildungseinrichtungen gehen nur selten auf die Mehrsprachigkeit von Kindern mit Migrationshintergrund ein. Dabei ist die emotionale Stabilität von Kindern mit nicht-deutscher Erstsprache gefährdet, wenn sie beim Eintritt ins deutsche Bildungssystem ihr bisheriges sprachliches Terrain verlassen. Die Erstsprache wird als Teil der Persönlichkeit empfunden und Kommunikationsbedürfnisse der Kinder können in der Zweitsprache nur unzureichend erfüllt werden. (vgl. ebd. 64f.)

Da „[d]ie demografische Perspektive [...] auf eine gesellschaftliche Entwicklung [verweist], in der es einen immer größeren Anteil von zwei- und mehrsprachig aufwachsenden Kindern geben wird“ (B INSKI 2008, 27), sollte die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit in Bildungseinrichtungen, wie der Schule, mehr Beachtung finden.

3. MEHRSPRACHIGKEIT AN SCHULEN IN DEUTSCHLAND

3.1. DAS DEUTSCHE SCHULSYSTEM

Das deutsche Schulsystem ist ein ausdifferenziertes System, welches in vier Stufen unterteilt ist. Am Anfang steht der Elementarbereich, dem der Kindergarten zuzuordnen ist. Danach folgt der Primarbereich, der die Grundschule beinhaltet, die sich in der Regel über vier Jahre erstreckt. Im Anschluss folgt die Sekundarstufe I, die stärker ausdifferenziert ist als die vorherigen Bereiche. Von Klasse fünf bis zehn gliedert sich die Sekundarstufe in den Hauptschulbildungsgang, den Realschulbildungsgang sowie den gymnasialen Bildungsgang. Zusätzlich gibt es, je nach Bundesland, Schularten mit mehreren Bildungsgängen, wie zum Beispiel die Realschule Plus in Rheinland-Pfalz oder die Integrierte Gesamtschule. Den höchsten schulischen Abschluss des deutschen Schulsystems kann man in der Sekundarstufe II, der gymnasiale Oberstufe, erreichen. Diese beinhaltet die Klassenstufen elf bis dreizehn oder zehn bis zwölf. (vgl. KMK 2014, 1) Das deutsche Schulsystem ist zudem noch weiter ausdifferenziert durch das Vorhandensein von beruflichen Schulen, Universitäten und Institutionen der Weiterbildung (vgl. KMK 2013, 27f.). Neben den allgemeinbildenden Schulen gibt es zusätzlich Förderschulen, welche von Schülern besucht werden, die in ihren Bildungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten beeinflusst sind, sodass sie ohne sonderpädagogischer Unterstützung in allgemeinen Schulen nicht ausreichend gefördert werden können (vgl. ebd. 234). Seit den 1990er Jahren gibt es zusätzlich integrative Regelangebote und im Zuge des Beschlusses der KMK von 2011 hat auch die inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung und zusätzlichem Förderbedarf an Bedeutung gewonnen (vgl. ebd. 288).

3.2. DIE BILDUNGSBETEILIGUNG VON MIGRANTEN

Wie bereits im vorherigen Kapitel erwähnt wurde, handelt es sich bei der Bundesrepublik Deutschland um ein Einwanderungsland. Diese Tatsache wird deutlicher bei der Betrachtung der Zusammensetzung der Schülerschaft, denn „[d΁ass Gesellschaften sich durch Migration verändern, ist an kaum einem Ort so deutlich erkennbar wie in den Schulen“ (FÜRSTEN U 2011, 8).

Ab den 1950er Jahren kamen Gastarbeiter mit ihren Familien in die Bundesrepublik. Man sah aber keine Notwendigkeit deren Kinder in die Schule zu integrieren, da man davon ausging, dass sie nach einiger Zeit in ihr Ursprungsland zurückkehren würden (vgl. HERWARTZ-EMDEN 2007, 12). „Dass diese mit ihren Familien langfristig in Deutschland bleiben würden und die Integration ihrer Kinder eine wichtige, dauerhafte Aufgabe der Schule werden würde, zeichnete sich erst im Laufe der Jahre ab“ (ebd.).

Daher hat sich die KMK erst 1963 diesem Problem angenommen und beschlossen die Schulpflicht auch auf Kindern und Jugendlichen mit Migrationserfahrung auszuweiten. Durch vorwiegend kompensatorische Maßnahmen sollte es ihnen ermöglicht werden am Regelunterricht mit teilzunehmen. (vgl. GOMOLLA 2009, 28).

Mittlerweile haben alle Bundesländer rechtliche Rahmenbedingungen für den Umgang mit diesen Kindern und Jugendlichen aus sprachlichen Minderheiten. Doch der Aufbau der schulischen und sprachlichen Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist Aufgabe jedes einzelnen Bundeslandes selbst (vgl. FÜRSTENAU 2011, 37). Eine Orientierung für den Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit in der Schule liefern jedoch Empfehlungen und Beschlüsse der KMK.

Mehrsprachige Schüler mit Migrationshintergrund stellen mittlerweile keine Minderheit im Schulalltag mehr dar, sondern bilden eine beachtliche Gruppe im deutschen Bildungssystem (vgl. HERWARTZ-EMDEN 2007, 8). Im Jahr 2012 weist ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren einen Migrationshintergrund auf (vgl. BBFMFI 2014, 89). „In dieser für frühkindliche und schulische Bildung relevanten Gruppe lag ihr Anteil an der Bevölkerung im Jahr 2010 bei 31,9 % und ist im Jahr 2012 auf 33,1 % weiter leicht angestiegen.“ (ebd.).

Die schulische Situation von Schülern mit Migrationshintergrund lässt keine Verallgemeinerung zu, da es sich hierbei um eine heterogene Gruppe handelt. Manche Kinder haben selbst Migrationserfahrungen, andere wiederum sind in Deutschland geboren und verfügen über einen Migrationshintergrund durch die Zuwanderung der Eltern bzw. eines Elternteils. Es ist daher Aufgabe der Schule, dieser Heterogenität gerecht zu werden. (vgl. HERWARTZ-EMDEN 2007, 13)

Da die Sprachen der zugewanderten Familien lebendig sind und somit meist über Generationen erhalten bleiben, ist zukünftig mit einer steigenden Anzahl mehrsprachig aufwachsender Kindern und Jugendlichen zu rechnen (vgl. GOGOLIN 2008a, 15). Aus diesem Grund entsteht für die Institution Schule eine bedeutende Zukunftsaufgabe. „Für die Schulen ergibt sich angesichts einer wachsenden Anzahl von Kindern mit unzureichenden Deutschkenntnissen (in erster Linie mit Migrationshintergrund, aber durchaus auch Kinder mit Deutsch als Erstsprache) dringender Handlungsbedarf und die Notwendigkeit, ergänzende Fördermaßnahmen anzubieten, um die Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen zu erhöhen“ (BFMF 2008, 15). uffallend ist, dass Lernende mit Migrationshintergrund, im Vergleich zu einsprachig deutschen Kindern, überrepräsentativ an Haupt- und Förderschulen vertreten sind (vgl. HERWARTZ-EMDEN 2007, 14). Außerdem fällt auf, dass es eine erhebliche Diskrepanz zwischen den Abschlüssen von Schülerinnen und Schülern mit deutscher und ausländischer Staatsangehörigkeit gibt (vgl. BEAUFRTAGTE DER BUNDESREGIERUNG FÜR MIGRATION, FLÜCHTLINGE, INTEGRATION [BBFMFI] 2014, 94f.).

„Im Jahr 2012 verließen 11,6 % der Ausländerinnen und Ausländer die Schule ohne Hauptschulabschluss, unter den deutschen Schülerinnen und Schülern betrug der Anteil nur 5,4 %. Beim Erreichen der allgemeinen Hochschulreife verhält es sich umgekehrt. Hier haben 44,3 % der deutschen Schülerinnen und Schüler die allgemeine Hochschulreife erlangt, während dies unter den ausländischen Schulabsolventinnen und -absolventen nur 16,2 % schafften. Die Anteile beim Erreichen eines Mittleren Abschlusses weisen die größte Annäherung auf: bei den deutschen Schülerinnen und Schülern sind es 55,2 % und bei den ausländischen Jugendlichen 49,6 %. Den Hauptschulabschluss haben mit 40,4 % etwa doppelt so viele ausländische bsolventinnen und bsolventen wie deutsche mit 22,0 %.“ (ebd.)

Wie deutlich wurde, stellt der Schulbesuch von Kindern und Jugendlichen mit einer anderen Herkunftssprache als Deutsch in der heutigen Zeit längst keine Ausnahme mehr dar. Durch ihren Schulbesuch entsteht eine Vielfalt an sprachlichen Voraussetzungen, Identitäten, Erfahrungen und Lebenshintergründen. Sie bringen eine Vielzahl an Eigenschaften mit, sowie auch einsprachig deutsche Schüler. (vgl. FÜRSTENAU 2011, 9) Doch „[s΁ie verfügen nicht über die gleichen Bildungschancen wie Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund.“ (ebd. 8)

3.3. DIE BEDEUTUNG VON SPRACHE IM SCHULISCHEN KONTEXT

Sprachliche Vielfalt entspricht in der heutigen Gesellschaft der Normalität, da Menschen unter verschiedenen sprachlichen Lebensumständen aufwachsen. So kann unterschieden werden zwischen hoher oder niedriger sozialer Schicht, einsprachig oder mehrsprachig aufwachsend sowie dem Gebrauch unterschiedlicher Soziolekte, Dialekte oder des Hochdeutschen. (vgl. GOGOLIN/ LANGE 2010, 5)

Das Medium der Sprache ist eine bedeutende Grundlage für das gegenseitige Verstehen (vgl. BFMF 2008, 10). „Schulisches Lernen stützt sich ganz entscheidend auf Sprache: in der Lehrer-Instruktion, der Klassenraum-Interaktion, den Lehrbuchtexten, den Schülerleistungen“ (STÖLTING 2009, 255). Die Schulen im deutschen Bildungssystem unterliegen jedoch einem „monolingualen Habitus“ (GOGOLIN 2008b, 117), was bedeutet, dass für die Vermittlung der Bildungsinhalte, die Kommunikation, das gegenseitige Verstehen usw. ausschließlich die Sprache Deutsch genutzt wird. Der Einbezug ausgewählter Sprachen, wie Englisch oder Französisch, in Form des Fremdsprachenunterrichts, gehört zwar zum regulären Fächerkanon dazu, doch für spezielle, durch Migration hinzukommende Sprachen wird häufig kein spezieller Unterricht vorgesehen (vgl. NORRENBROCK 2008, 31).

Es wird jedoch immer deutlicher, dass die Institution Schule vermehrt mit einer multilingualen und -kulturellen Schülerschaft konfrontiert wird (vgl. WOJNESITZ 2010, 87). Eine große Zahl von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund an deutschen Schulen verfügt zum Zeitpunkt der Einschulung über hohe Kompetenzen in der Herkunftssprache (GOGOLIN 2008b, 117). Häufig werden diese aber eher als Defizit wahrgenommen, da Vergleiche zu einsprachig deutschen Schülern gezogen werden.

Obwohl einige Schüler mit Migrationshintergrund bereits beim Eintritt in die Schule über Kompetenzen in der Zweitsprache Deutsch verfügen, reichen diese allerdings meist nicht aus, um sich im Unterricht, der für einsprachige Kinder und Jugendliche konzipiert ist, zu behaupten (vgl. JEUK 2010, 11). Daraus ergibt sich, dass die Beherrschung der Sprache Deutsch eine bedeutende Schlüsselkompetenz für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund darstellt (vgl. SCHMAHL 2004, 27).

Mangelhafte Kenntnisse in der deutschen Sprache stellen die größte Hürde in der Schullaufbahn dar (vgl. HERWARTZ-EMDEN 2007, 13). Um diese Schülerschaft erfolgreich integrieren zu können, gilt es demnach als primäres Ziel die Kompetenzen in der Sprache Deutsch zu stärken (vgl. SCHMAHL 2004, 28). Wenn man die sprachlichen Kontexte an deutschen Schulen jedoch genauer betrachtet, wird deutlich, dass nicht grundlegend die deutsche Sprache das Problem darstellt, sondern vielmehr die Beherrschung der Schulsprache Deutsch (vgl. GOGOLIN 2009, 38f.). Je fortgeschrittener der Bildungsprozess ist, desto komplexer wird das Schuldeutsch und entfernt sich mehr von der deutschen Alltagssprache.

Studien in Bezug auf die Erwerbsdauer der Zweitsprache zeigen auf, dass Kompetenzen in der Schulsprache in einem Zeitraum von etwa fünf bis acht Jahren erworben werden. Alltagssprachliche Kompetenzen haben hingegen eine Erwerbsdauer von ungefähr sechs Monaten bis zu zwei Jahren. (vgl. GOGOLIN/ LANGE 2011, 110f.)

GOGOLIN und LANGE (ebd. 12) grenzen die beiden Begriffe Bildungssprache und Alltagssprache deutlich voneinander ab. Sie bezeichnen die Alltagssprache auch als „Sprache der Nähe“, die in einem gemeinsamen sprachlichen Kontext Benutzung findet und sich auf das Hier und Jetzt bezieht. Die Äußerungen können in diesem Fall durch Mimik und Gestik erweitert werden und müssen dementsprechend nicht vollständig präzise formuliert werden. (vgl. ebd.)

Der Begriff Bildungssprache hingegen bezeichnet die Sprache, die in Bildungsinstitutionen verwendet wird, welche in der Bundesrepublik die Sprache Deutsch ist. Laut HABERMAS
„ist [sie΁ ein Sprachregister, das Schulwissen, bildungs- und fachsprachliches Wissen transportiert und auch Elemente wissenschaftlichen Sprechens bzw. Schreibens enthält für die Vermittlung komplexer Inhalte in anspruchsvollen Zusammenhängen. [͙΁“ (OOMEN-WELKE 2014, 84). Der Terminus bezieht sich also auf eine spezielle Ausprägung des Deutschen: Bildungssprache ist dabei nicht die sprachliche Form, die einen gemeinsamen Erlebniskontext bedingt, sondern ist wesentliches Medium, um komplexe Inhalte im Bildungsprozess aufzunehmen und auszudrücken (vgl. GOGOLIN/ LANGE 2010, 12). „Greifbar wird Bildungssprache in schultypischen Diskursen, wie Lehr-Lern-Dialogen, dem Lösen von Aufgaben, der Aufnahme von Verarbeitung von Inhalten oder bei der bfrage von Wissen“ (ebd. 9).

Mit Voranschreiten des Schulverlaufs sowie der zunehmenden Ausdifferenzierung des Unterrichts in unterschiedliche Fächer wird ein immer größeres Register der bildungssprachlichen Fähigkeiten verwendet und auch gefordert. Daher wird von den Schülern erwartet zum einen bildungssprachliche Äußerungen zu formulieren und zum anderen gleichzeitig auch bildungssprachliche Ausdrucksweisen zu verstehen. (vgl. GOGOLIN/LANGE 2011, 111)

Bei den spezifischen Merkmalen der Bildungssprache, welche von GOGOLIN und LANGE (2010, 13) auf unterschiedlichen Ebenen herausgearbeitet wurden, handelt es sich um Diskursive Merkmale, Lexikalisch-semantische Merkmale und Syntaktische und textuelle Merkmale. Die ersten Merkmale beziehen sich auf Rahmen und Formen der Sprache. Dies beinhaltet die klare Festlegung von Sprecherrolle und -wechsel, sowie einen großen Anteil an monologischen Sprachformen, wie es zum Beispiel ein Referat oder ein Aufsatz verlangt. Weiterhin werden unter diesen Merkmalen fachgruppentypische Textsorten, wie beispielsweise ein Protokoll, und stilistische Konventionen gefasst. Die zweiten Merkmale, die lexikalisch-semantischen, beschreiben die Eigenarten des Wortschatzes und die spezifische Bedeutungen. In Bezug auf diese Merkmale kennzeichnet sich die Bildungssprache durch differenzierende sowie abstrahierende Ausdrücke, Präfixverben mit einer hohen Anzahl von untrennbarem Präfix und Reflexivpronomen, nominale Zusammensetzungen und normierter Fachbegriffe. Bei den letzten Merkmalen, die syntaktisch und textuell sind, handelt es sich um bildungssprachliche Besonderheiten, die sich auf den Satzbau und den Aufbau von schriftlichen Texten beziehen. Diese beinhalten die Markierungen der Kohäsion sowie das Satzgefüge, welches in der Bildungssprache zum Beispiel in Form von Konjunktionalsätzen oder Relativsätzen in Erscheinung tritt. Ferner ist die Nutzung von unpersönlichen Konstruktionen, wie beispielsweise Passivsätzen, Funktionsverbgefügen und umfänglichen Attributen kennzeichnend für diese Form der Sprache. (vgl. ebd.)

Als Schulsprache wird die Sprache bezeichnet, die speziell im Kontext Schule Verwendung findet (vgl. GOGOLIN/ LANGE 2011, 110). Sie stellt einen Ausschnitt der Bildungssprache dar, da es sich hier um das sprachliche Repertoire handelt, welches sich ausschließlich auf den schulischen Bereich bezieht (vgl. ebd.). Als eine weitere Teilmenge der Bildungssprache gilt die „Fachsprache“. Hierbei handelt es sich um ein spezifisches sprachliches Repertoire, das der präzisen Kommunikation zwischen Fachleuten dient. (ebd. 112). „Bildungssprache enthält schul- und fachsprachliche Elemente, und zwar vor allem im Bereich der Terminologie, also des Wortschatzes der Schule und der Unterrichtsfächer“ (ebd.).

Man hat in Bezug auf die sprachlichen Fähigkeiten, die in der Schule von den Schülern verlangt werden und in Verbindung mit schulischem Erfolg stehen, festgestellt, „dass nicht das Verfügen über eine allgemeine, für alltägliche Kommunikation taugliche Sprachkompetenz - Alltagssprache - für den schulischen Erfolg entscheidend ist, sondern der Besitz spezifischer sprachlicher Fähigkeiten - eben der Bildungssprache“ (ebd., 110). Das Angebot der Sprachbildung in der Schule sollte sich daher primär auf die Vermittlung bildungssprachlicher Fähigkeiten in der Sprache Deutsch beziehen (BUNDESAMT FÜR MIGRATION UND FLÜCHTLINGE [BFMF] 2008, 15).

Wie deutlich wurde, kommt der deutschen Sprache, vor allem der Bildungssprache, im schulischen Kontext eine erhebliche Bedeutung zu, was die Schüler mit Migrationshintergrund vor vielfältige Herausforderungen stellt.

3.3.1. GEFÄHRDUNGSPOTENZIALE MEHRSPRACHIGER ENTWICKLUNG IN DER SCHULE

Die Mehrheitssprache in Deutschland ist Deutsch. Da der Unterricht in deutschen Schulen vordergründig in dieser Sprache stattfindet, richtet sich die Konzeption der Schule dementsprechend an Kinder und Jugendliche, die die Mehrheitssprache sprechen. Für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund steht daher vor allem das Ziel der Einsprachigkeit in der Zweitsprache im Vordergrund. Somit ist es scheinbar auch vorrangig bedeutsam, sprachliche Förderung im Bereich der deutschsprachlichen Fähigkeiten vorzunehmen. (vgl. JEUK 2010, 105).

Kinder und Jugendliche mit Migrationserfahrung entwickeln im Laufe ihrer Persönlichkeitsentwicklung eine sprachliche Identität, welche meist durch Bilingualität geprägt ist. Bei denjenigen, die selbst Zuwanderungserlebnisse gemacht haben und dadurch im Laufe der Schulzeit ins deutsche Bildungssystem eintreten, den sogenannten Seiteneinsteigern, ist anzunehmen, dass die sprachliche Identität, sofern sie nicht durch ihr Heimatland bilingual aufgewachsen sind, monolingual im Hinblick auf ihre Herkunftssprache ausgerichtet ist. Eine Vernachlässigung und soziale Abwertung der Herkunftssprache kann daher negative Auswirkung auf deren Identität haben. Dies trifft besonders auf Schüler zu, die im Laufe der Schulzeit einwandern und in Deutschland erfahren, dass ihre mitgebrachte Sprache sozusagen wertlos geworden ist, denn ein schnellstmöglicher Erwerb der deutschen Sprache steht im Vordergrund der Eingliederungsmaßnahmen. (vgl. KARAKAʂOǦLU et al. 2011, 154)

Darüber hinaus kann das Abwerten und Ausklammern der Herkunftssprache, und daher auch eines Teils der Persönlichkeit der Schüler mit Migrationshintergrund, dazu führen, dass eine Abneigung gegenüber der Sprache und Kultur des Herkunftslandes entsteht (vgl. SCHADER 2012, 37). JEUK (2010, 105) meint hierzu, dass aus motivationspsychologischer Sicht, „insbesondere Kinder sich dann der Sprache und Kultur der Umgebung öffnen, wenn sie in ihrer eigenen Sprache und Kultur gewürdigt werden“ (ebd.), was daher nur förderlich aus Sicht der Schule ist.

Das Potenzial der herkunftssprachlichen Fähigkeiten wird allerdings häufig nicht ausreichend berücksichtigt, sondern vielmehr als Defizit gesehen. Durch die monolingual ausgerichtete Schule besteht zudem die Gefahr des „subtraktiven Bilingualismus“ (NIEDRIG 2011, 93). Schüler mit Migrationserfahrung können ihre Herkunftssprache nur begrenzt weiterentwickeln, da in schulischen Institutionen ungenügend auf die sprachliche Förderung in der Herkunftssprache eingegangen wird (vgl. ebd.).

Ein Großteil der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund hat keine eigenen Zuwanderungserlebnisse und sie verfügen daher bereits beim Schuleintritt über unterschiedliche Fähigkeiten in der deutschen Sprache. Doch die Organisation des deutschen Schulsystems birgt auch für diese Schüler Gefahren, denn, wie bereits erwähnt, unterscheidet sich das schulsprachliche Deutsch von der Alltagssprache. Folglich reichen die Kompetenzen in der deutschen Sprache meist nicht aus, um in der monolingualen Schule bestehen zu können. (vgl. JEUK 2010, 11)

Daher ist zu erwarten, dass die Schüler ihr kognitives Potenzial in der Zweitsprache nicht vollständig ausschöpfen können. Die erforderten sprachlichen Fähigkeiten stellen somit eine gewisse Art der Diskriminierung dar. Daraus ergibt sich eine deutliche Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, welche sich durch das gegliederte Schulsystem verstärkt. Die Gliederung in verschiedene Schularten dient vornehmlich der Selektion. Da die Schulsprache Deutsch ist, wirken sich die Deutschkenntnisse auf Lernprozesse aus, wodurch die Gefahr entstehen kann, dass das Potenzial von migrationsbedingt mehrsprachig aufwachsenden Schülern nicht erkannt wird. Man kann daher annehmen, dass diese Schüler nicht die Schulbiografie durchlaufen können, die unter anderen Voraussetzungen gegeben wäre. Der Aufbau und die Strukturierung des Schulsystems stellen grundlegende Gefährdungspotenziale für Kinder und Jugendliche mit Migrationserfahrung dar. Die Benachteiligung, die sich dadurch ergibt, wird auch Institutionelle Diskriminierung genannt. (vgl. AUERNHEIMER 2013, 7f.)

Institutionelle Diskriminierung beschreibt die Benachteiligung von bestimmten Gruppen im Hinblick auf den „Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen“ (P TES et al. 2010, 35). Die Ursachen für diese Art der Diskriminierung gehen auf gesellschaftliche Einrichtungen und deren organisatorisches Handeln zurück (vgl. NORRENBROCK 2008, 50). Vor allem die alarmierenden Ergebnisse der Schulleistungsvergleichsstudie PISA im Jahr 2000 verweisen „auf die Bildungsbenachteiligung entlang der Trennungslinie der sozialen und ethnischen Herkunft“ (NORRENBROCK 2008, 50). Die Ergebnisse der Studie haben dazu geführt, dass der Fokus von den Ursachen für Bildungsbenachteiligung, weg von der defizitäre Sichtweise, hin zu einer institutionell verankerten Ursache gelegt wurde (vgl. ebd.).

GOMOLLA und RADTKE (2009, 20) haben in einer Studie untersucht und bestätigen, dass Schüler mit Migrationshintergrund nicht die gleichen Chancen in der Institution Schule haben wie solche ohne Migrationshintergrund. Sie werden beim Eintritt in das deutsche Schulsystem öfter in den Kindergarten zurückversetzt als Kinder ohne Migrationshintergrund, was mit mangelnden Deutschkenntnissen oder einer zu kurzen Kindergartenzeit begründet wird (vgl. ebd.) Die hier stattfindende institutionelle Diskriminierung wird unter dem Aspekt der Sprachförderung als eine positive Maßnahme dargestellt und somit ermöglicht (vgl. GOMOLLA 2013, 91f.).

Zudem sind Kinder mit Migrationshintergrund auf Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen überproportional häufig vertreten. Sie dürfen zwar offiziell nicht wegen geringen Fähigkeiten in der entsprechenden Unterrichtssprache in eine Förderschule überwiesen werden - allerdings werden in den Gutachten zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs nur äußerst selten die erstsprachlichen Fähigkeiten von Kindern mit Migrationshintergrund überprüft. Daher finden Überweisungen in die Förderschule aufgrund von Sprachdefiziten in der Unterrichtssprache statt. (vgl. GOMOLLA/ RADTKE 2009, 193-209)

„Negative Leistungsprognosen werden mit gravierenden Lernbeeinträchtigungen begründet, die aus sprachlich bedingten ‚Motivationsmängeln‘ resultieren (‚generalisierte Teilleistungsschwächen in der deutschen Sprache‘)“ (GOMOLL 2013, 93). Solche diskriminierenden Maßnahmen werden von der Institution Schule im positiven Sinne als

Förderstrategien dargestellt. Diese „ausgrenzenden und schulzeitverlängernden Förderstrategien“ (ebd. 94) werden als institutionelles Bestreben für möglichst homogene Schulklassen benutzt.

Auch die geringen Deutschkenntnisse der Eltern von betroffenen Kindern, deren eigene Schulbildung sowie deren „Unkenntnis des deutschen Schulsystems“ (ebd. 95) wird als erfolgshemmend angesehen (vgl. ebd. 94f.). Die Ergebnisse der Studie von GOMOLLA und RADTKE zeigen deutlich, „dass Prozesse auf der Ebene des Schulsystems wie auch auf der Ebene der Schulorganisationen“ (ebd. 96) für die in der PIS -Studie zum Vorschein gekommene Bildungsbenachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund verantwortlich sein können.

DÖLL (2012, 11) spricht in diesem Fall von einer „Diskriminierung durch Gleichbehandlung“. Das einsprachig geprägte Bildungssystem stellt Erwartungen an seine Schüler, die nicht jeder erfüllen kann:

„Die Ressourcen der Kinder und Jugendlichen auf der einen Seite und die Erwartungen und (inhaltliche, didaktisch-methodische usw.) Angebote der Schule auf der anderen Seite greifen gewissermaßen nicht ineinander. Die Institution Schule bestätigt und schreibt Benachteiligungen durch Gleichbehandlung bei gegebenen (z.B. sprachlichen) Unterschieden fort.“ (ebd.)

Die bildungspolitischen Rahmenbedingungen und die diskriminierenden Strukturen des deutschen Schulsystems beeinträchtigen Schullaufbahn und Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Vor allem die Orientierung an einsprachig aufwachsenden Schülern führt zu Bildungsbenachteiligung von Migrantenkindern (vgl. GOMOLLA 2013, 95). Um möglichen Gefährdungspotenzialen vorzubeugen, sollte vor allem auch die Förderung der Herkunftssprache von mehrsprachigen Schülern in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rücken.

3.3.2. MÖGLICHKEITEN DURCH MEHRSPRACHIGKEIT IN DER SCHULE

Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungserfahrung entwickeln durch das Leben in zwei Sprachen Mehrsprachigkeit. Diese Entwicklung verläuft enorm heterogen (vgl. KRACHT 2012, 578). Diese entstehende Mehrsprachigkeit von Schülern mit Migrationshintergrund trägt zudem zu deren Identitätsbildung bei (vgl. SCHADER 2012, 21). Daraus kann geschlussfolgert werden, dass diese Schüler nicht im Sinne der sprachlichen Heterogenität dahin gehend reduziert werden dürfen, dass sie eine andere Sprache sprechen, sondern es entsteht vielmehr der Anspruch, den Heterogenitätsbegriff auf die Eigenschaft der Mehrsprachigkeit und der damit verbundenen Persönlichkeitsentwicklung zu erweitern. „Bikulturelle Identität entwickelt sich im Verlauf der familiären, ausserschulischen und schulischen Sozialisation und ist spezifisch für die Situation und Kultur von Menschen in der Migration“ (ebd. 29). Es handelt sich also nicht um zwei getrennte Kulturen, sondern um eine gemischte kulturelle Identität, in der Aspekte zweier Kulturen auf individuelle Weise verschmelzen.

Die sprachliche Identität steht in engem Zusammenhang mit der Persönlichkeitsentwicklung und stellt damit einen wesentlichen Aspekt in der individuellen Entwicklung dar (vgl. KRACHT 2003, 124). „Der Begriff der Persönlichkeitsentwicklung verweist auf die Gesamtheit von Entwicklungsdimensionen, durch die sich das Kind zu einem unverwechselbaren Menschen entwickelt“ (ebd.). Deshalb ist in Bezug auf Migration der genannte Aspekt der sprachlichen Identität von herausragender Bedeutung und stellt ein besonderes Merkmal von Migrantenkindern dar. Ein positives Selbstwertgefühl in Bezug auf die sprachliche Identität der Mehrsprachigkeit kann durch Anerkennung der Mehrsprachigkeit der eingewanderten Kinder und Jugendlichen erreicht werden. (vgl. ebd.)

Bei der bikulturellen und der bilingualen Identität handelt es sich folglich um Eigenschaften, die sich auf die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund beziehen, jedoch in unterschiedlichen individuellen Ausprägungen (vgl. SCHADER 2012, 31). Somit ist diesen Schülern eine Reihe von Sonderkompetenzen zu Eigen, die speziell durch ihre lebensweltliche Situation entstehen. Diese besonderen Kompetenzen „sind es, die das Potenzial der multikulturellen Klasse maßgeblich mitprägen“ (ebd.). SCH DER (ebd. 31f.) nennt im Hinblick auf diese Sonderkompetenzen drei Bereiche:

- „Die Kenntnis einer zweiten Sprache und jener Elemente einer zweiten Kultur, die in der Familie tradiert werden (z. B.: Speisen, religiöse Bräuche, Rollenverteilungen, Wertesysteme, Verhaltens- und Deutungsmuster).
- Die (meist vorhandene) Möglichkeit, weitere authentische Informationen über das Herkunftsland und seine Kultur einzuholen (via Eltern und Verwandte oder auch über die Fernsehprogramme der betreffenden Länder). [...]
- Erfahrungen im Heranwachsen in und zwischen zwei Kulturen [...]. Damit verbunden sind Verarbeitungs- und (z.T. auch sprachliche) Vermittlungskompetenzen und die Möglichkeit des ‚Blick von außen‘, die monokulturell aufwachsenden Kindern in dieser rt fehlen. Natürlich sind diese Erfahrungen eher unbewusster Natur, und die mit ihnen verbundenen Kompetenzen können nicht beliebig abgerufen werden. [...].“ (ebd.)

Kinder und Jugendliche mit Migrationserfahrung verfügen vor allem im sprachlichen Bereich über eine Vielzahl weiterer besonderer Kompetenzen. Diese sind aber selbstverständlich nicht für alle gleichermaßen abrufbar. Allen ist jedoch die Kenntnis einer weiteren Sprache mit ihren Lauten, ihrer Aussprache, der Wörter, den Satzkonstruktionen und auch den Schriftzeichen, sofern diese bereits gelernt wurden, gemein. Durch die mehrsprachige Lebenswelt der Schüler ist es ihnen möglich unterschiedliche Sprachen zu gebrauchen, was sie dazu befähigt zwischen den von ihnen beherrschten Sprachen zu wechseln. (vgl. ebd. 33)

„Es kann [͙΁ als erwiesen gelten, dass eine rt ‚symbiotische‘ Beziehung zwischen den Sprachen besteht, in denen die Kinder leben, und dass sie sich aus dem Gesamt ihres sprachlichen Repertoires je nach Anlass, Bedarf und Neigung, flexibel und variantenreich, bedienen“ (GOGOLIN/ NEUM NN 1997, 10). Mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen ist es möglich, sprachlich zu vermitteln, in einem gewissen Rahmen dolmetschende Tätigkeiten zu übernehmen und Vergleiche zwischen den Sprachen zu ziehen (vgl. SCHADER 2012, 34). Zudem verfügen sie, ab einem gewissen Alter, über metakommunikative Fähigkeiten, die Reflexionen über Sprache und Sprachgebrauch zulassen. (vgl. ebd.)

Es wird deutlich, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund über einen erweiterten sprachlichen sowie kulturellen Hintergrund verfügen. Obwohl die genannten Kompetenzen nicht bei allen Schülern gleichermaßen entwickelt und abrufbar sind, kann es eine Bereicherung für den Unterricht, und somit auch für die gesamte Klasse, sein diese zu aktivieren und mit einzubeziehen. Diese Chance wird allerdings oft nicht wahrgenommen, da das Bildungssystem, wie bereits erwähnt, monokulturell orientiert ist. (SCHADER 2012, 21f.)

Der Umgang mit sprachlicher und kultureller Heterogenität wird auch in Zukunft Aufgabe der Schule bleiben. Ziel von Schule sollte es sein, die sprachlichen Fähigkeiten von Schülern mit Migrationshintergrund nicht als Defizit zu betrachten sondern die dadurch entstehende Heterogenität als Ressource zu nutzen und entsprechende Chancengleichheit herzustellen (vgl. GOGOLIN 2008a, 15). Schüler verpassen sonst die Chance eines „authentische[n΁, zukunftsweisende[n΁ Mit- und Voneinanderlernen[s΁“ (SCHADER 2012, 26).

3.3. FÖRDERUNG IN DEUTSCH ALS ZWEITSPRACHE

In der bildungspolitischen Diskussion in Deutschland ist man sich uneinig darüber, welche Art der Förderung Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Schule erhalten sollen. Eine Position, welche einen wichtigen Platz bei dieser Debatte einnimmt, unterstreicht die Bedeutung der Förderung von Deutsch als Zweitsprache [DaZ΁, „denn die Jugendlichen müssten vor allem auf ein Leben in der deutschen Gesellschaft vorbereitet werden“ (JEUK 2010, 25).

Insbesondere die alarmierenden Ergebnisse der PISA-Studie führten dazu, dass sich das öffentliche Bewusstsein verändert hat und Maßnahmen im Bereich DaZ verstärkt wurden. Diese haben zum Ziel die schulische Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu verbessern und damit deren Schulfähigkeit und Bildungserfolge nachhaltig zu optimieren. So wird die Sprachförderung durch den DaZ-Unterricht häufig als Mittel zur Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gesehen. (vgl. RÖHNER 2008, 8)

Darüber hinaus werden vermehrt frühzeitige Tests mit Migrantenkindern angeordnet, um eine möglichst frühzeitige Sprachförderung zu sichern (vgl. BELKE 2012, 21). Diese bergen jedoch eine defizitorientierte Sichtweise, weil „sie sich in der Regel nur auf Sprachkenntnisse in der Zweitsprache Deutsch beziehen und das sprachliche Potenzial in den Erstsprachen ignoriert wird“ (ebd.).

OTT (2010, 202) betont, dass DaZ aus zwei Gründen zur Schlüsselqualifikation für Migranten in Deutschland wird: einerseits sind die Kompetenzen in der Zweitsprache ein bedeutendes Kriterium, um die Anforderungen aller Schulfächer in einem monolingualen Schulsystem bewältigen zu können. ndererseits „stellt das Deutsche in den Ländern mit gegliedertem Schulsystem ein wesentliches Auswahlkriterium beim Übergang auf die weiterführenden Schulen dar“ (ebd. 202f.). Defizite im Bereich der deutschsprachlichen Fähigkeiten werden daher als Grund für Schulversagen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund betrachtet (vgl. ebd.).

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die Integration durch DaZ-Unterricht vielmehr eine Form der Assimilation darstellt (JEUK 2010, 102f.). Es geht nämlich darum den Schülern die deutsche Sprache näher zu bringen, um im monolingualen Schulsystem bestehen zu können. Dementsprechend ist das bildungspolitische Ziel, Schüler mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit an das System und die deutsche Schülerschaft anzupassen, da sie ohne diesen Prozess in ihren Bildungschancen vermeintlich benachteiligt werden.

Laut dem BUNDESAMT FÜR MIGRATION UND FLÜCHTLINGE [BFMF] hat ein Drittel der jungen Bevölkerung selbst Zuwanderungserfahrungen, wodurch diese einen besonderen Bedarf an sprachlicher Förderung und der damit verbundenen Integration ins Bildungssystem bedürfen (vgl. BFMF 2008, 16). Normalerweise erhalten diese jungen Menschen, die sogenannten Seiteneinsteiger, Unterstützung durch Vorbereitungsklassen, welche in der Regel zwischen sechs Monaten und zwei Jahren andauern und von spezifisch qualifiziertem Personal geleitet werden (ebd.). „Wenn wir die Förderung bzw. den Unterricht von Deutsch als Zweitsprache näher betrachten, dann gibt es organisatorische Überlegungen und Unterschiede, wie die Schüler/innen zusammengefasst und unterrichtet werden: in eigenen Förderkursen, in Kleingruppen, einzeln im Sinne der Binnendifferenzierung oder gar in einer speziellen Vorbereitungsklasse“ (GÜNTHER 2011, 100f.).

BELKE (2012, 5) weist darauf hin, dass die speziellen Förderangebote keineswegs dazu führen dürfen, dass sich der Unterricht weiterhin an der deutschen Sprache auf Muttersprachenniveau orientiert und die Verantwortung der sprachlichen Förderung von Schülern mit Migrationserfahrung an DaZ-Spezialisten abgegeben wird. Vorbereitungskurse in DaZ dienen lediglich der sprachlichen Förderung vor der Einschulung, als Eingliederungshilfe für Seiteneinsteiger oder aber, je nach Bundesland, als Teil des Unterrichts in Form von Kleinklassen, Sprachlernklassen oder Intensivklassen (vgl. ebd.) Zudem gibt es in einigen Bundesländern für Schüler in Regelklassen zusätzlich Intensivkurse oder Förderunterricht, sofern noch Förderbedarf in der deutschen Sprache besteht. Darüber hinaus werden mittlerweile vermehrt Feriensprachkurse für DaZ-Schüler angeboten (vgl. RÖSCH 2010, 457).

Für die Arbeit im Bereich der DaZ-Förderung existieren Rahmenpläne, welche einen sprachförderlichen Unterricht gewährleisten sollen. „Der Rahmenplan Deutsch als Zweitsprache bildet die fachliche und pädagogische Grundlage für den sprachfördernden Unterricht von Kindern und Jugendlichen deren Muttersprache oder Herkunftssprache nicht Deutsch ist“ (MINISTERIUM FÜR BILDUNG, WISSENSCHAFT, JUGEND UND KULTUR [MBWJK] 2002, 1). Des Weiteren gibt es zahlreiche Veröffentlichungen, die Vorschläge zur Umsetzung von DaZ in allen Unterrichtsfächern bereitstellen. Der Rahmenplan für das Land Rheinland-Pfalz zum Beispiel stellt die Grundlage für gezieltes pädagogisches Handeln in der Primarstufe und der Sekundarstufe I an allen Schularten dar. Er kann für eine sprachliche Förderung in Form von Sprachkursen, sowie im Rahmen eines binnendifferenzierten Unterrichts herangezogen werden. Eine optimale Sprachförderung benötigt, dem Rahmenplan zur Folge, offen gestaltete Unterrichtsformen, welche dazu führen, dass die individuellen Bedürfnisse der Schüler im Vordergrund stehen und die Lehrkräfte zunehmend die Rolle des Begleiters der Spracherwerbsprozesse einnehmen. (vgl. ebd.)

Im Hinblick auf die Förderung in DaZ innerhalb heterogenener Gruppen formuliert JEUK (2010, 120) neun didaktische Prinzipien, die dabei berücksichtigt werden sollen:

1) „Jeder Unterricht ist DaZ-Unterricht“ (ebd.). Die Hauptaufgabe, die zweitsprachlichen Fähigkeit zu fördern liegt zwar im Deutschunterricht, doch auch die Unterrichtenden aller anderen Schulfächer tragen Verantwortung, neben der Vermittlung regulärer Unterrichtsinhalte auch den Erwerb fachspezifischer Sprachkompetenzen zu sichern.
2) „Die Schule ist ein Raum interkulturellen Lernens“ (ebd.) Die Mehrsprachigkeit, die von den Schülern mitgebracht wird, sollte Teil des Unterrichts sein und in die Lernkultur der Klasse integriert werden. Unterschiedliche Sprachstrukturen können als Bereicherung dienen, beispielsweise durch Sprachreflexion im Rahmen des Grammatikunterrichts.
3) „Die Kommunikationssituationen sind für die Kinder subjektiv bedeutsam und relevant“ (ebd.). usgangspunkt des Unterrichts sollten sprachliche Handlungen sein, welche auch in der alltäglichen Kommunikation bedeutsam sind.
4) Bezogen auf die Interlanguagehypothese sollten sprachliche Fehlbildungen als normaler Prozess mit dem Ziel der Sprachbeherrschung betrachtet werden. Die Durchführung von Analysen ermöglicht es den Lehrenden diese Prozesse zu verfolgen und Entwicklungen festzustellen. (vgl. ebd)
5) Man muss den Schülern zu jeder Zeit die Möglichkeit bieten, Hilfe und Unterstützung zu beziehen, auch wenn die Sachverhalte bereits bekannt sein sollten. „Möglichkeiten sind z. B., dass sich mehrsprachige Schülerinnen nicht verstandene Sachverhalte von Schülern gleicher Erstsprache übersetzen lassen [...], dass ihnen einsprachige Schüler Erklärungshilfen geben oder dass in zweisprachigen Wörterbüchern sowie in Lexika nachgeschlagen werden kann“ (ebd.).
6) Die Lehrkraft muss berücksichtigen, dass sie für mehrsprachige Kinder und Jugendliche ein bedeutendes Sprachvorbild darstellt, weswegen die eigene Sprache bewusst und kontrolliert eingesetzt werden sollte, zum Beispiel durch langsames, deutliches und grammatikalisch richtiges Sprechen. (vgl. ebd.)
7) „Insbesondere in heterogenen Klassen muss der Unterricht im rbeitsbereich ‚Sprachbewusstsein entwickeln‘ auf die Bedürfnisse der mehrsprachigen Kinder ausgerichtet werden“ (ebd.). Bei der Unterrichtsgestaltung ist daher zu berücksichtigen, dass diesen Kindern die Möglichkeit geboten wird Einsicht in den Aufbau von Sprache zu erlangen sowie deren Muster und Formen zu erlernen.
8) „Den Kindern und Jugendlichen muss die Möglichkeit zur imitierenden Wiederholung und damit zum Einüben von Redemitteln und Sprachmustern gegeben werden“ (ebd.). Methoden, um diese Voraussetzung zu schaffen, sind zum Beispiel interaktive Rollenspiele sowie das Arbeiten mit Reimen oder Gedichten. Solche Übungen bilden vor allem in Vorbereitungsklassen eine wichtige Grundlage für den Deutscherwerb. (vgl. ebd.)
9) Unterricht birgt mehrere sprachliche Ziele, wie beispielsweise die Beherrschung der Alltagssprache, die Beherrschung der Bildungssprache und die konzeptionelle Form der Schriftlichkeit. „Die Förderung sprachlicher Kompetenzen verlagert sich mit zunehmendem Alter der Lernenden auf die Förderung der konzeptionellen Schriftlichkeit“ (ebd.).

Konzeptionen, welche die genannten Prinzipien erfüllen, sind der Language AwarenessAnsatz und die Durchgängige Sprachbildung. Auf beide wird im 4. Kapitel dieser Arbeit näher eingegangen.

Innerhalb der Diskussionen um optimale schulische Sprachförderung kommt der DaZ- Förderung eine beachtliche Bedeutung zu. SCHMAHL (2004, 37) schlussfolgert, dass es auf der einen Seite „unverzichtbar [ist΁, [zugewanderte΁ Kinder und Jugendliche in die deutsche Sprache, Denkweise und Kultur einzuführen und ihnen entsprechende Kenntnisse zu vermitteln. Die entsprechende staatliche Legitimation hierfür folgt aus der Mitgliedschaft der Kinder in der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Andererseits scheint die Förderung der Herkunftssprache und Kultur ebenso notwendig. Dies gebietet vor allem die grundgesetzlich festgeschriebene Achtung der freien Entfaltung der Persönlichkeit. “ (ebd.).

Dadurch wird deutlich, dass auch der Berücksichtigung der entsprechenden Herkunftssprache Bedeutung zukommen sollte, worauf im folgenden Kapitel genauer eingegangen wird.

3.4. FÖRDERUNG IN DER HERKUNFTSSPRACHE

Als 1964 eine allgemeine Schulpflicht für ausländische Kinder und Jugendliche beschlossen wurde, empfahl die KMK, neben anderen Förderangeboten, auch die Einführung von herkunftssprachlichem Ergänzungsunterricht. Anfangs diente dieser Unterricht in der jeweiligen Erstsprache vordergründig der Vorbereitung auf eine mögliche Rückwanderung in das Heimatland. Er war nicht an den regulären Unterricht gekoppelt und wurde als zusätzliches und freiwilliges Angebot gesehen. (vgl. FÜRSTENAU 2011, 39)

In den folgenden Jahren erstellten mehrere Bundesländer spezielle Rahmenpläne und „die Zielsetzung entwickelte sich tendenziell weg von der Eröffnung einer ‚Rückkehrperspektive‘ hin zu dem Ziel, mehrsprachige Kompetenzen innerhalb der Einwanderungsgesellschaft als Ressource zu nutzen“ (ebd.). Wie im vorherigen Kapitel deutlich wurde, kommt vor allem der DaZ-Förderung im deutschen Schulsystem eine große Bedeutung zu. Der Herkunftssprachenunterricht muss zu großen Teilen der Deutschförderung weichen, da finanzielle Mittel vermehrt den Maßnahmen zur Verbesserung der Deutschkenntnisse zukommen (vgl. BFMF 2008, 16). Der Unterricht in der Herkunftssprache findet deshalb eher wenig Berücksichtigung.

Außerdem ist der herkunftssprachliche Unterricht meistens nicht in den Schulalltag eingebunden, sondern tritt vielmehr als Ergänzung des Regelunterrichts in eher unverbindlicher Form auf. Er findet häufig in Randstunden statt oder wird auf die verfügbaren freien Nachmittage gelegt. (vgl. FÜRSTENAU 2011, 38)

Zudem ist es scheinbar nicht jedem Kind möglich, Unterricht in der Erstsprache, trotz verfügbarer Angebote, überhaupt besuchen zu können, denn dieser Ergänzungsunterricht findet meist nur in einer begrenzten Auswahl an Sprachen statt. Kinder und Jugendliche, deren Herkunftssprache nicht angeboten wird, sind demnach diejenigen, denen diese Förderung durch die deutsche Schulpolitik verwehrt bleibt. (vgl. LÖSER 2010, 162) Laut FÜRSTENAU (2011, 39) ist daher „insgesamt davon auszugehen, dass nur eine Minderheit der mehrsprachigen Kinder in deutschen Schulen ein herkunftssprachliches Unterrichtsangebot wahrnehmen kann“ (ebd.). Sie schlussfolgert, dass im deutschen Bildungssystem der Ausbau herkunftssprachlicher Fähigkeiten von Kinder und Jugendlichen mit Migrationserfahrung insgesamt nicht vorgesehen ist (vgl. ebd. 37). Das Angebot eines herkunftssprachlichen Unterrichts sollte, auch von einem bildungspolitischen Standpunkt her, mehr Beachtung finden, da laut der Interdependenzhypothese, die Förderung in der Deutschen- sowie in der Herkunftssprache gleichermaßen berücksichtigt werden sollte. (vgl. KREUZER 2004, 71f.) In der neusten KMK-Empfehlung hat man sich in allen Bundesländern nun dazu verpflichtet die Herkunftssprachen aller Schüler anzuerkennen. Neben dem Erwerb der deutschen Sprache, wird vor allem immer wieder die Bedeutung von Mehrsprachigkeit betont. Darüber hinaus gibt es in einigen Bundesländern die Bemühung, das schulische Sprachangebot zu erweitern und somit neben den regulären Fremdsprachen, wie beispielsweise Englisch und Französisch, auch die Sprachen der Migranten anzubieten. (vgl. KARAKAʂOǦLU et al. 2011, 160)

Einige Länder erkennen zudem ausgewählte Herkunftssprachen bereits als Fremdsprache an. Am häufigsten handelt es sich dabei um Russisch, Türkisch oder Italienisch. (vgl. BFMF 2008, 16)

Des Weiteren fordert auch die Europäische Union den Erhalt der Mehrsprachigkeit mit dem Ziel, dass alle Schüler, ob mehrsprachig oder einsprachig aufwachsend, Kompetenzen in drei Sprachen erreichen - eingeschlossen der jeweiligen Muttersprache (vgl. KARAKAʂOǦLU et al. 2011, 161). In dieser Forderung sieht BELKE (2012, 28) einen Vorteil für Kinder und Jugendliche mit Migrationserfahrung, denn die sprachlichen Fähigkeiten, welche durch Mehrsprachigkeit geprägt sind, würden schließlich zu einer Aufwertung und Anerkennung dieser Fähigkeiten führen. Zudem würden bei der Entwicklung von geeigneten Konzepten der Förderung alle Schüler im Fokus dieser Überlegungen stehen (vgl. ebd.).

Ein weiterer positiver Aspekt, der einen Unterricht in der Herkunftssprache begründet, ist die Bedeutung für den Deutscherwerb. Denn, wie bereits erläutert, haben gute Kompetenzen in der Erstsprache eine positive Wirkung auf den Zweitspracherwerb (vgl. GÜNTHER 2011, 75). Zudem nimmt die Berücksichtigung der Herkunftssprache eine bedeutende Stellung in der Persönlichkeitsentwicklung sowie der Bildung einer eigenen Identität ein (vgl. SCHMAHL 2004, 29).

[...]


1 Im Folgenden wird in der vorliegenden Arbeit das generische Maskulinum verwendet, da das Geschlecht der genannten Personen bzw. Personengruppen hier nicht von Bedeutung ist.

Fin de l'extrait de 153 pages

Résumé des informations

Titre
Mehrsprachigkeit als Bildungsziel im Deutschunterricht
Sous-titre
Eine Unterrichtsreihe mit dem Thema Satzglieder
Université
University of Trier
Note
1.3
Auteur
Année
2015
Pages
153
N° de catalogue
V305935
ISBN (ebook)
9783668041578
ISBN (Livre)
9783668041585
Taille d'un fichier
8828 KB
Langue
allemand
Mots clés
Mehrsprachigkeit, Unterricht, Deutschunterricht, Unterrichtsreihe
Citation du texte
Anna Theresa Wendel (Auteur), 2015, Mehrsprachigkeit als Bildungsziel im Deutschunterricht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/305935

Commentaires

  • Pas encore de commentaires.
Lire l'ebook
Titre: Mehrsprachigkeit als Bildungsziel im Deutschunterricht



Télécharger textes

Votre devoir / mémoire:

- Publication en tant qu'eBook et livre
- Honoraires élevés sur les ventes
- Pour vous complètement gratuit - avec ISBN
- Cela dure que 5 minutes
- Chaque œuvre trouve des lecteurs

Devenir un auteur