Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffsbestimmung und gattungstheoretische Merkmale der „Dorfgeschichte“ im 19. Jahrhundert
3. Literaturgeschichtliche Einordnung der Erzählung
4. Themen, Stoffe und Motive in Romeo und Julia auf dem Dorfe
4.1 Zur Darstellung der ländlichen Idylle - Am Beispiel des Getreideackers
4.2 Das Leben auf dem Dorf zwischen Sittlichkeit, Ehre und Recht
4.3 Der Stadt-Land-Gegensatz
5. Zur Sozial- und Gesellschaftskritik der Dorfgeschichte
6. Fazit
7. Literatur- und Quellenverzeichnis
1. Einleitung
ÄIhr ‚Romeo und Julie‘ wird leben, solange die deutsche Zunge lebt“ (Sautermeister 2003, S. 121) bescheinigte Hermann Hettner seinem Freund Gottfried Keller (1819-1890) in einem Brief vom 12. April 1856. Tatsächlich schaffte es Kellers Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe, nach ihrer Veröffentlichung im Jahr 1856, in den Kanon der deutschsprachigen Literatur, hielt bundesweit Einzug als Pflichtlektüre in den deutschen Schullehrplänen und wurde mehrfach illustriert, musikalisch bearbeitet und verfilmt.
Bei Kellers Erzählung handelt es sich allerdings nicht bloß um eine Ämüßige Nachahmung“ (Keller 1968, S. 5) des altbekannten Romeo-und-Julia-Stoffes, der an William Shakespeares Tragödie erinnert. Durch den Zusatz auf dem Dorfe verweist der Autor bereits im Titel auf den Schauplatz seiner tragischen Liebesgeschichte. Er verortet die Handlung seiner Erzählung ins bäuerlich-dörfliche Milieu und versucht gleichsam die dort befindlichen Lebensverhältnisse und Gesellschaftsnormen der damaligen Zeit aufzuzeigen. Kellers tragische Liebesgeschichte um Romeo und Julia auf dem Dorfe wird als Ähöchste Erfüllung“ (Spies 2009) der Gattung ‚Dorfgeschichte‘ betrachtet. Auch Berthold Auerbach, welcher als Erfinder der Dorfgeschichte gilt, äußerte sich anerkennend, Keller habe mit seiner Erzählung Äein Kunstwerk geschaffen, das nicht viele seines Gleichen in der Literatur hat“ (Sautermeister 2003, S. 131).
Ziel der hier vorliegenden Arbeit ist es, wesentliche Merkmale der Dorfgeschichte in Kellers Erzählung aufzuzeigen und die Sozial- und Gesellschaftskritik des Autors, die durch die Tragik und Schicksalhaftigkeit seiner Dorfgeschichte zum Ausdruck kommt, herauszustellen. Dazu wird zunächst auf gattungstheoretische Merkmale des Genres ‚Dorfgeschichte‘ eingegangen sowie eine literaturwissenschaftliche Einordnung der Erzählung vorgenommen. Den Hauptteil der Arbeit bildet eine ausführliche Analyse zur Darstellung der ländlichen Idylle am Beispiel des Getreideackers, den Keller mehrfach als Schauplatz der Erzählhandlung nutzte, sowie zum dörflichen Leben der Protagonisten. Motive wie Sittlichkeit, Ehre und Recht sollen hier eine übergeordnete Rolle spielen. Anschließend wird der in Kellers Erzählung dargebotene Gegen- satz zwischen Stadt und Land thematisiert und auf mögliche Sozial- und Gesellschaftskritik des Autors eingegangen. Den Abschluss dieser Arbeit bildet ein zusammenfassendes Fazit.
2. Begriffsbestimmung und gattungstheoretische Merkmale der „Dorfge- schichte“ im 19. Jahrhundert
Die Dorfgeschichte - als literarische Untergattung der bäuerlichen Epik und Heimatliteratur - wurde nach Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten (1843) benannt und bezeich- net eine in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts1 in ganz Europa (Minder 1966, S. 108) hervortretende Erzählform mittlerer Länge (< 200 Seiten), deren Handlung im bäuerlich-dörf- lichen Milieu spielt2.
Das Dorf, als geografische und soziale Verortung der Erzählung, wird oft als Zentrum des Le- bens verstanden und ist - im Unterschied zur Stadt - Ort lebendiger Traditionen und stabiler menschlicher Beziehungen mit der Nähe zur Natur (Meid 1999, S. 119). In der Dorfgeschichte wird der Bauer zu einer akzeptierten literarischen Figur, dessen Lebenspraxis und Denkweisen in den Vordergrund gerückt werden. Die Menschen auf dem Dorf werden meistens in armen und einfachen Verhältnissen dargestellt und zeichnen sich durch Bodenständigkeit, Sittlich-, Frömmig- und Volkstümlichkeit aus, was vor allem durch die Beschreibung der heimatlichen Welt, in Denk- und Handelsmustern der Landbewohner sowie der Verwendung von sprachli- chen Dialekten zum Ausdruck gebracht wird. Außerdem folgt das bäuerliche Leben auf dem Dorf meistens einer strengen gesellschaftlichen Hierarchieordnung. Das Dorfmilieu wird somit zur einfachen, überschaubaren und heilen Welt verklärt und in Gegensatz zur unruhigen, zivi- lisationsgeschädigten Stadt gesetzt. Dorfgeschichten des 19. Jahrhunderts richten sich daher nicht nur an ein dörfliches, sondern ebenso an ein städtisches Leserpublikum, können als Ver- bindung von Heimat, Volk und Sprache verstanden werden und weisen sowohl aufklärerische, romantische, idyllische als auch (früh)realistische Elemente auf.
Während sie Anfang des 19. Jahrhunderts noch die Tendenz enthielten, eine idyllische Lebens- welt dazustellen und wirkliche Lebensverhältnisse zu idealisieren, treten ab Mitte des 19. Jahr- hunderts zunehmend sozialkritische Elemente und volkserzieherische Ideen in den Mittelpunkt der Erzählungen (Hein 1988, S. 10 f.). Spezifisch ländliche Konflikte und soziale sowie öko- nomische Verhältnisse auf dem Land werden mithilfe einer realistischen und bewusst pointier- ten Erzählweise kritisch dargestellt. Die Dorfgeschichte diente somit als Mittel, um Äeinerseits die soziale Realität auf dem Land aufklärerisch zu verbessern […], andererseits zivilisations- kritisch das ‚einfache Leben‘ auf dem Lande der Abstraktheit der modernen Verhältnisse entgegen[zuhalten].“ (Kirst 2002, URL). Das oftmals in Dorfgeschichten dargestellte Spannungsfeld zwischen Stadt und Land kann zudem als Folge der sozioökonomischen und politischen Entwicklung im Vormärz (u.a. Bevölkerungswachstum, Bauernbefreiung, Bürokratismus, Industrialisierung, Pauperismus, Stadt-Land-Flucht, allgemeine Rückständigkeit) gesehen werden (Killy Literaturlexikon 2008, S. 24019).
Zu den bekanntesten deutschsprachigen Dorfgeschichten des 19. Jahrhunderts zählen, neben Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten (1848-1876), unteranderem Schatzkästelein des rheinischen Hausfreundes (Johann Peter Hebel 1811), Die Judenbuche (Annette von Droste- Hülshoff 1842), Der Bauernspiegel (Jeremias Gotthelf 1837), Dorfgänge (Ludwig Anzengru- ber 1879) und nicht zuletzt Romeo und Julia auf dem Dorfe (Gottfried Keller 1875).
3. Literaturgeschichtliche Einordnung der Erzählung
“Sachsen. − Im Dorfe Altsellerhausen, bei Leipzig, liebten sich ein Jüngling von 19 Jahren und ein Mädchen von 17 Jahren, beide Kinder armer Leute, die aber in einer tödtlichen Feindschaft lebten, und nicht in eine Vereinigung des Paares willigen wollten. Am 15. Au- gust begaben sich die Verliebten in eine Wirthschaft, wo sich arme Leute vergnügten, tanz- ten daselbst bis Nachts 1 Uhr, und entfernten sich hierauf. Am Morgen fand man die Lei- chen beider Liebenden auf dem Felde liegen; sie hatten sich durch den Kopf geschossen.” (Züricher Freitags-Zeitung 1847)
Eine nüchterne Zeitungsnotiz bot dem damals dreißigjährigen Keller den Stoff zu Romeo und Julia auf dem Dorfe, einer der zartesten und schönsten Liebesgeschichten der deutschen Lite- ratur (Keller 1968, S. 90). So ist sein Werk durch einen starken Wirklichkeitsbezug geprägt. Auch den Schauplatz seiner tragischen Liebesgeschichte verlegte der Autor in seine Gegenwart und in ein Dorf seiner Heimat und erzählt von der Tragödie zweier Bauernkinder, die das Recht auf Liebe inmitten ihrer aus Besitzgier verfeindeten Elternhäuser und der selbstzufriedenen Umwelt mit dem Tode bezahlen müssen. Mit der Transposition des hohen Romeo und Julia- Stoffes (vgl. Shakespeares Tragödie bzw. den antiken Stoff um Pyramus und Thisbe) ins bäu- erlich-ländliche sowie kleinbürgerliche Milieu schafft Keller ebenso eine Verlagerung des Po- etischen ins Durchschnittsleben. Dargestellt werden durchschnittliche Charaktere und Lebens- lagen von Menschen mit bürgerlich-bäuerlichen Berufen (wie Bauern, Wirtsleute, Schuhma- cher, Pfarrer u.a.), weshalb das Werk auch dem bürgerlichen Realismus zugeordnet werden kann. Im Gegensatz zu Friedrich Hebbel (vgl. Maria Magdalena 1843) und Theodor Fontane (vgl. Effie Briest 1894/1895) und weiteren Hauptvertretern des bürgerlichen Realismus erzählt Keller von einfachen, durchschnittlichen Menschen aus dem Volk, die keine Machtposition haben. Anstatt zeitgenössische politische und gesellschaftliche Zustände zu beschreiben, rückt Keller eher allgemein menschliche Probleme und Gefühlslagen, wie Leidenschaft, Liebe und Hass, in den Vordergrund. Mit seiner Dorfgeschichte Romeo und Julia auf dem Dorfe kreierte er keine Kunstfiguren als Verkörperung von Idealen, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. Die Familie und die unmittelbare, ländliche Heimat werden zu den wichtigsten Handlungsfel- dern, in denen die Geschichte spielt. Charakteristisch ist daher ebenso Kellers Versuch, volks- tümliche Sprechweisen in der Dorfgeschichte zu bieten. Exemplarisch dafür sind vor allem Di- aloge zwischen Manz und Marti (Keller 1968, S. 15 f.) sowie Vrenchen und der Bauersfrau (ebenda, S. 57 f.).
Neben einer realistischen Erzählweise ist Kellers Werk ebenso durch die Verwendung zahlrei- cher Motivzusammenhänge und einer kunstvollen Symbolik (der schwarzer Geiger, der brach- liegende Acker, Steine, Todessymbole wie das Puppenspiel, der Fluss) gekennzeichnet. Der Text besitzt somit nicht nur eine Rahmenerzählung, sondern ebenso eine Binnenerzählung. Daraus folgt, dass die Erzählung von Romeo und Julia auf dem Dorfe als poetisch und realis- tisch zugleich angesehen werden kann, da sie Gegenwartsnähe und eine poetische Darstellung der Zeitverhältnisse miteinander vereint. Allerdings lässt sie sich nicht eindeutig einer bestimm- ten literarischen Epoche zuordnen. Sie weist zwar Elemente der Stilrichtung des bürgerlichen als auch des poetischen Realismus auf, die Geschichte des jungen Liebespaares enthält aber durchaus auch romantische Züge. Sali und Vrenchen sehen keinen anderen Ausweg, ihre große Liebe zueinander in der spießbürgerlichen Welt zu verwirklichen und wählen den gemeinsamen Freitod. Kellers Werk markiert daher einen Übergang zwischen Romantik und bürgerlich-poe- tischen Realismus.
[...]
1 Zu den Vorläufern dieser Gattung zählen unteranderem die Dörperliche Dichtung im Mittelalter sowie die Pas toral- und Schäferdichtung im Barock, in denen das bäuerliche Leben bereits dargestellt wurde.
2 Eine exakte literaturwissenschaftliche Abgrenzung zu anderen Erzählformen wie Bauernroman und Kalender- geschichte fällt allerdings schwer.