Die Wechselbeziehungen zwischen Arbeitslosigkeit und psychischen Erkrankungen in unserer postindustriellen Arbeitswelt

Keine Arbeit – keine Gesundheit – keine Chance?


Hausarbeit, 2015

33 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Inhaltliche Einführung
1.2 Aufbau der Arbeit

2 Erörterung der relevanten Begrifflichkeiten
2.1 Zum Begriff „Arbeitslosigkeit“
2.2 Zum Begriff „psychische Erkrankung“
2.3 Zum Begriff „postindustrielle Arbeitswelt“

3 Bedeutungswandel der Arbeit ausgehend von der vorindustriellen Arbeitswelt

4 Psychologische Theorien der Arbeitslosigkeit
4.1Deprivationstheorie nach Jahoda (1975)
4.2Handlungsrestriktionstheorie nach Fryer (1986)
4.3Aktualitätsbezug der Theorien

5 Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit, psychischer Erkrankung und Arbeitswelt
5.1 Mögliche Wechselbeziehungen zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Erkrankung
5.2 Psychische Erkrankungen in der postindustriellen Arbeitswelt

6 Gesundheitsförderung von Arbeitslosen

7 Resümee/Ausblick

8 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Inhaltliche Einführung

Rückblickend auf die historische Entwicklung durchlief die Bedeutsamkeit der Arbeitslosigkeit bzw. der Arbeit einen Prozess der Veränderungen, beginnend mit dem Ziel einer Herbeiführung der Bestrafung mittels Arbeit bis hin zur Ansehung der Arbeit als höchsten Stellenwert des Lebens. Die Arbeitslosigkeit galt in der griechisch-römischen Antike als Privileg der gehobenen Gesellschaft, welche die körperliche Arbeit als Zwang und Übel den Sklaven sowie den Unfreien zuschrieb.

Im christlichen Mittelalter bildete Arbeit in Verbindung mit dem Beten den Sinn des Lebens, um das ewige Heil zu erlangen (vgl. Baumann 2010: 33-34). Mit der Maxime „ora et labora“ schufen die Mönche in den Klöstern eine christliche Arbeitsethik (vgl. Komlosy 2014: 14). Der Reformator Johannes Calvin (1509-1564) sah in der Arbeit eine Pflichterfüllung und eine göttliche Berufung des Menschen, hingegen in der Nicht-Arbeit ein ‚göttliches Verdammnis’. Diese Definition erzeugte eine neue Perspektive von Arbeit, führte aber nicht zu einer durchgreifenden Erneuerung (vgl. Schumacher 1986: 23-24).

Aufgrund neuzeitlicher Veränderungen des aufstrebenden Bürgertums wandelte sich die Einstellung zu Müßiggängern, die die Schuld der Arbeitslosigkeit in Bequemlichkeit sowie Faulenzerei verankerten und nicht als Resultat der Umstrukturierungen von Gesellschaft und Wirtschaft sahen. Auch die Zeit der Industrialisierung, die wirtschaftliches Wachstum entstehen ließ, erzeugte durch Schwankungen der Konjunktur eine Massenarbeitslosigkeit. Dennoch erhielt der Terminus „Arbeitslosigkeit“ erst Ende des 19. Jahrhunderts Einzug in die Gemeinsprache und ersetzte dadurch die pauschale Bezeichnung „die Armen“ mit dem Begriff „Arbeitslose“, wodurch nun die Arbeitsfähigkeit sowie Willigkeit unterstrichen wurde. Anfang des 20. Jahrhunderts rangierte eine Zu- sowie Abnahme der Arbeitslosigkeit aufgrund der Wirtschaftsveränderungen während des Ersten Weltkrieges und der späteren Demobilisierung (vgl. Baumann 2010: 33-36). Die anschließende Weimarer Republik wurde im Zuge der Weltwirtschaftskrise (1929/30) von einer Massenarbeitslosigkeit geprägt. Angesichts dessen entstand im Jahr 1932 die als Pionierarbeit auf dem Gebiet der Arbeitslosenforschung geltende Marienthal-Studie der Sozialpsychologin Marie Jahoda (1907-2001) et al. (vgl. ebd.: 106-107). Die Forschungsarbeiten fokussierten das österreichische Dorf Marienthal mit 1500 Einwohnern und einer Textilfabrik. Aufgrund der Schließung wurden 1930 alle Bewohner des Dorfes arbeitslos (vgl. Jahoda 1994: 261-262). Die empirischen Untersuchungen über negative Einflüsse der Langzeitarbeitslosigkeit[1] führten Jahoda und ihre Mitarbeiter inkognito durch. Ihre Forschungsergebnisse beschrieben zum einen vier Haltungstypen der Dorfbewohner, die sich in Stärke, Resignation, Verzweiflung und Apathie ausdrückten, sowie zum anderen den Verlust eines geordneten Tagesablaufes. Angesichts der begrenzten finanziellen Ressourcen entwickelten die Arbeitslosen ein schlechteres physisches sowie psychisches Wohlbefinden. Dies führte die Forschungsgruppe zu dem Resultat eines kausalen Zusammenhangs zwischen Erwerbsstatus und Gesundheit (vgl. Baumann 2010: 107-108).

Vor diesem Hintergrund soll im Rahmen der vorliegenden Hausarbeit geklärt werden, inwiefern auch in unserer gegenwärtigen Arbeitswelt eine Wechselbeziehung zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Erkrankung besteht.

1.2 Aufbau der Arbeit

Im Einzelnen wird wie folgt vorgegangen: Nach der Einleitung sind in Kapitel zwei die zentralen Begriffe dieser Arbeit „Arbeitslosigkeit“, „psychische Erkrankung“ sowie „postindustrielle Arbeitswelt“ zu klären. Darüber hinaus wird in diesem Kapitel (2.1) eine Abgrenzung zwischen Arbeitslosigkeit und Erwerbslosigkeit anhand der zwei in Deutschland existierenden Messkonzepte erfolgen. Das dritte Kapitel vermittelt einen Überblick über den Bedeutungswandel hinsichtlich der Arbeit für den Menschen, ausgehend von der vorindustriellen Arbeitswelt. Dadurch soll anhand des Umkehrschlusses die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit veranschaulicht werden. Den Mittelpunkt des vierten Kapitels bilden die zwei, am häufigsten in der Fachliteratur vertretenen, psychologischen Theorien über Arbeitslosigkeit. Zu fragen ist hier, ob ein möglicher Aktualitätsbezug zur heutigen Arbeitslosigkeit, anhand einzelner Elemente, aufgezeigt werden kann. Anschließend ist in das Problemfeld der Wechselbeziehungen zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Erkrankung in unserer postindustriellen Arbeitswelt einzuführen. Das fünfte Kapitel bildet somit den Schwerpunkt der Arbeit und fokussiert mögliche Zusammenhänge der drei begrifflichen Ausgangspunkte: Mögliche Wechselbeziehungen zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Erkrankung werden dargestellt sowie anschließend die psychische Erkrankung im Kontext der postindustriellen Arbeitswelt betrachtet. Kapitel sechs konzentriert sich auf die gesundheitliche Förderung der Arbeitslosen. Die Hausarbeit endet mit dem Resümee/Ausblick in Kapitel sieben. An dieser Stelle ist einerseits zu überprüfen, inwieweit eine Klärung der zentralen Fragestellung gelang, andererseits sind Ansatzpunkte für mögliche Einsätze der SozialarbeiterInnen zu formulieren.

2 Erörterung der relevanten Begrifflichkeiten

2.1 Zum Begriff „Arbeitslosigkeit“

Eine erste Annäherung an den Begriff der „Arbeitslosigkeit“ führt zum folgenden Resultat: Arbeitslos ist, wer keiner vergüteten Arbeit nachgeht (vgl. Statistisches Bundesamt 2005: 304). Diese gebräuchliche Definition jedoch bedarf einer ökonomischen Auseinandersetzung. Aus dieser Sicht lässt sich der Begriff der „Arbeitslosigkeit“ als Summe von sowohl arbeitswilligen als auch arbeitsfähigen Personen definieren, die aufgrund der herrschenden Marktvoraussetzungen keine nach ihren Befähigungen und Begabungen kongruente Beschäftigung finden (vgl. Gabler Wirtschaftslexikon o. J.: o. S.). Infolgedessen umfasst dieser Terminus die Differenz zwischen Arbeitskraftnachfrage und Arbeitskraftangebot. Die Arbeitslosigkeit wird demnach durch ein Überangebot an Arbeitskräftepotenzial erzeugt, das die Nachfrage an Gütern und Dienstleistungen übersteigt (vgl. Baumann 2010: 27), sodass Arbeitslosigkeit „[…] die Folge einer Störung eines fiktiven Gleichgewichts auf dem Arbeitsmarkt […]“ darstellt (Fassmann 2001: o. S.).

Jedoch unterliegt der Begriff einer ständigen Kontroverse, da weder eine identische Definition noch eine einheitliche Erfassung existiert; vielmehr gilt es, die Differenzierung zwischen Arbeitslosigkeit und Erwerbslosigkeit, anhand der zwei in Deutschland existierenden Messkonzepte, zu beachten (vgl. Baumann 2010: 28).

Auf der einen Seite richtet sich die Erfassung der Arbeitslosenzahl sowie -quote[2] durch die Bundesagentur für Arbeit nach dem Sozialgesetzbuch III und erfolgt auf Grundlage „[…] einer Totalerhebung aus den Geschäftsdaten der Agenturen für Arbeit beziehungsweise der Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende (gemäß Sozialgesetzbuch II).“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2014: o. S.). Folglich werden lediglich registrierte Arbeitslose berücksichtigt, denn gemäß § 16 Abs. 1 SGB III gelten Personen als arbeitslos, sofern eine Registrierung ihrer Arbeitslosigkeit bei der Bundesagentur für Arbeit erfolgt ist, sie vorläufig keinem Beschäftigungsverhältnis nachgehen oder weniger als 15 Stunden pro Woche arbeiten, jedoch eine versicherungspflichtige Beschäftigung suchen und den Vermittlungen der Bundesagentur zur Verfügung stehen. Zu den Nicht-Arbeitslosen zählt die Arbeitsmarktstatistik der Bundesagentur z.B. erkrankte Personen, Schüler, Studenten sowie Personen ab Vollendung des 65. Lebensjahres (vgl. Baumann 2010: 30) oder auch Teilnehmer von Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik gemäß § 16 Abs. 2 SGB III. Das Zweite Sozialgesetzbuch sieht keine eindeutige Definition von Arbeitslosigkeit vor. Als Grundlage ist die Definition des § 16 SGB III heranzuziehen.

Auf der anderen Seite orientiert sich die Erfassung von Erwerbslosen an dem Labor-Force-Konzept der International Labour Organization (ILO):

Seit März 2005 erhebt und veröffentlich das Statistische Bundesamt, anhand der derzeit 185 Mitgliedstaaten des Labour-Force-Konzepts, die Erwerbslosenzahl sowie -quote (vgl. International Labour Organisation o. J.: o. S.). Das Ziel des Konzepts besteht in einem internationalen Vergleich der Erwerbslosenzahlen (vgl. Baumann 2010: 29). Das Zahlenmaterial des Statistischen Bundesamtes basiert nicht wie bei der Bundesagentur für Arbeit auf einer Totalerhebung, sondern auf Stichproben in der Bevölkerung, die die Erwerbslosigkeit in seiner Arbeitskräfteerhebung, einem Teil des Mikrozensus[3], fokussiert (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2014: o. S.). Charakteristisch dafür ist die Eingruppierung der erwerbstätigen Personen in einen Erwerbsstatus, der sich in „Erwerbstätige“, „Erwerbslose“ und „Nichterwerbspersonen“ untergliedert. Resultierend daraus schließt diese Methode auch Personen ein, die weder bei der Bundesagentur für Arbeit noch bei anderen Trägern der Grundsicherung als arbeitsuchend erfasst sind.

Entgegen der existierenden Differenzen[4] weisen beide vorgestellten Konzepte eine gemeinsame Basis in ihrer Definition auf, der zufolge eine Person als arbeits- bzw. erwerbslos angesehen wird, „[…] wenn sie für eine bestimmte Zeit keine bezahlte Arbeit hat, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht und sie aktiv nach neuer Arbeit sucht […]“ (Baumann 2010: 31). Im Rahmen der Hausarbeit wird eine Differenzierung der Begrifflichkeiten hinsichtlich „Arbeitslosigkeit“ und „Erwerbslosigkeit“ nicht vorgenommen.

2.2 Zum Begriff „psychische Erkrankung“

Um den Begriff der „Erkrankung“ zu beleuchten, soll vorerst eine negative Definition anhand des Gesundheitsbegriffes durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 1946 erfolgen. Gemäß der WHO umfasst der Begriff „Gesundheit“ nicht nur das Fehlen von Krankheiten und Gebrechen, sondern beschreibt ein geistiges, körperliches sowie soziales Wohlbefinden (vgl. World Health Organization 2003: o. S.).[5] An dieser Stelle wird der Begriff „Gesundheit“ zum ersten Mal im Rahmen eines mehrdimensionalen Konzepts betrachtet, welches nicht nur physische, sondern auch psychische und soziale Aspekte in gleicher Weise berücksichtigt. Dieser sog. ‚biopsychosoziale Blickwinkel’ bildet die Basis einer modernen Definition dieses Begriffs (vgl. Bauer/Jenny 2007: 222). Als Umkehrung wird der Erkrankungsbegriff durch Symptome gekennzeichnet, die ein physiologisches Ungleichgewicht verursachen oder von einer Norm abweichen, wobei die Norm keine Regelgröße darstellt, sondern durch kontinuierliche Weiterentwicklung geprägt ist (vgl. Schmidt/Unsicker 2003: 1632). Den stetigen Ausdifferenzierungen des Begriffs „Normal“[6] unterliegt die Diagnose psychischer Erkrankungen bzw. – der neuere Begriff – psychischer Störungen (vgl. Walter 2006: o. S.). Der Terminus „psychische Störung“ umfasst im Allgemeinen ein individuelles Leid aufgrund vorliegender Hoffnungslosigkeit, Behinderungen, Benachteiligungen, Funktionseinschränkungen sowie Kontrollverluste (vgl. Frances 2013: 42)[7] und bezeichnet noch keine eindeutige Diagnose über das Maß der Störung. Demnach kann die Störung als starke psychische Beschwerde in Form von Schmerz, Problem oder Krankheit in Erscheinung treten (vgl. Bauer/Jenny 2007: 230-231). Der Entstehungsgrund einer psychischen Störung basiert der öffentlichen Diskussion zufolge auf kontinuierlich steigenden Arbeitsbedingungen, einhergehend mit psychischen Belastungen und Beanspruchungen, bis schließlich das höchste Maß der psychischen Störung erreicht ist: die Erkrankung. Das Begriffspaar „Belastung und Beanspruchung“ wird durch die Normenreihe DIN EN ISO 10075 betreffend ergonomischer Grundlagen hinsichtlich psychischer Arbeitsbelastungen definiert. Demzufolge liegt die Wortbedeutung der „psychischen Belastung“ in der Summe aller erkennbaren Einflüsse[8], die von außen auf das Individuum herantreten und psychische Wirkungen erzielen. Im Gegensatz dazu charakterisieren „psychische Beanspruchungen“ kurzfristige Konsequenzen der psychischen Belastung im Menschen, die sowohl von individuellen Voraussetzungen[9] als auch persönlichen Bewältigungsstrategien abhängig sind (vgl. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2010: 9-10).

Das höchste Maß dazu bildet die ‚Psychische und Verhaltensstörung’ im Sinne einer Erkrankung, die gemäß der Internationalen Klassifikation der Erkrankungen (ICD 10 = International Classification of Diseases)[10] der WHO (Kapitel V: F00-F99) verschiedenen Differenzierungen unterliegt, u. a. der organischen – einhergehend mit symptomatischen psychischen Störungen, die durch psychotrope Substanzen verursachte Psychische und Verhaltensstörungen, den affektiven Störungen sowie den Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (vgl. Krollner/Krollner 2015: o. S.; vgl. Portuné 2006: o. S.).

Oftmals wird in öffentlichen Debatten das Burnout-Phänomen mit den gegenwärtigen Arbeitsbedingungen in Verbindung gebracht. An dieser Stelle sei jedoch – gemäß der ICD-10 – angemerkt, dass Burnout keine Krankheitsdiagnose ist, sondern ausschließlich im Anhang des ICD-10, bezüglich Faktoren, die den Gesundheitszustand des Einzelnen beeinflussen können, aufgeführt wird. Auch in der künftigen 11. Revision wird Burnout keine medizinische Diagnose darstellen (vgl. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde 2012: 1, 5).

2.3 Zum Begriff „postindustrielle Arbeitswelt“

Um den Begriff „postindustrielle Arbeitswelt“ hinreichend bestimmen zu können, ist es hilfreich, eine Abgrenzung anhand von Merkmalen der industriellen Arbeitswelt aufzuzeigen.

Die industrielle Arbeitswelt war durch Technisierung und Rationalisierung geprägt. Der Einsatz von Energie und Maschinen ersetzte die Körperkraft und führte zu einer Gütermassenproduktion, einhergehend mit Arbeitsteilungen. Von nun an stand die Koordinierung von Arbeitern, Rohstoffen sowie Märkten im Mittelpunkt, um so einerseits dem Bedarf an Produktion und Gütern gerecht zu werden sowie andererseits die verschiedenen hergestellten Produkte zeitnah zusammenzubringen. Aufgrund des Zweckdenkens konnte eine Beschleunigung der Güterproduktion erreicht werden, die weiterhin eine steigende ‚Maximierung’ und ‚Optimierung’ fokussierte. Orientierte sich die Lebensqualität der industriellen Gesellschaft an der Gütermenge, so legt man den Schwerpunkt innerhalb der postindustriellen Arbeitswelt auf Dienstleistungen[11], Gesundheit, Bildung, Erholung und Freizeit. Insbesondere das Gesundheitswesen erfährt eine erhebliche Bedeutung aufgrund der Bekämpfung von Krankheiten und der damit verbundenen erhöhten Lebensdauer. Auch die Bildung wird zu einem wichtigen Sektor, da lediglich eine umfangreiche Schulbildung den gesellschaftlichen Aufstieg begünstigt (vgl. Bell 1985: 133-135). Das Leben der Gesellschaft entwickelt sich zu einem „[…] Spiel zwischen Personen […]“ (ebd.: 136), in dem Konkurrenz um wissenschaftliche Innovationen, die Verwirklichung individueller Lebensziele sowie Mitbestimmungen, besonders in Politik und sozialen Rechten, die postindustrielle Arbeitswelt prägen (vgl. ebd.). Dennoch bestehen die Elemente der industriellen Arbeitswelt weiter, nur haben sie sich in die Bereiche Wissenschaft und Automatisierung gewandelt (vgl. Zapf 2008: 264). Die Veränderungen der Arbeitswelt prägten zu jeder Zeit die Lebensqualität der Menschen. Im Hinblick auf die zentrale Fragestellung gilt es daher zunächst, den Wandel der Arbeit hinsichtlich der Bedeutsamkeit für den Menschen aufzuzeigen. Anhand dieser Darstellung soll im Umkehrschluss deutlich werden, was Arbeitslosigkeit für den Einzelnen bedeuten kann.

3 Bedeutungswandel der Arbeit ausgehend von der vorindustriellen Arbeitswelt

Die Bedeutung der Arbeit durchlief einen Prozess der Veränderungen, beginnend in der vorindustriellen über die industrielle bis zur postindustriellen Arbeitswelt. Zur Zeit der vorindustriellen Arbeitswelt dominierte die Agrarwirtschaft, welche lediglich das Ziel verfolgte, keinen Hunger zu erfahren und „[…] wenn nötig […] zusätzliche Mäuler zu stopfen“ (Bell 1985: 133). Aufgrund der durch Naturgeschehen und von der Jahreszeit abhängigen Arbeit konnte diese weder einen Lebensrhythmus, ein regelmäßiges Arbeitstempo noch eine Zeitstruktur vorgeben (vgl. ebd.). Dies änderte sich mit der Entstehung von Manufakturen, wodurch die Menschen der Arbeit eine zentrale Bedeutung zuschrieben (vgl. Füllsack 2009: 47). War bis dato Arbeit in Haus und Familie eingebettet, so fand sie nun außerhalb des Lebensraumes in den neuen Fabriken statt (vgl. Komlosy 2014: 136). Der Arbeitswandel entwickelte eine neue Assoziation von Arbeit hinsichtlich der Herstellung eines Produktes und der Einsicht über Notwendigkeit und Verpflichtung. Die Arbeit ermöglichte nun eine feste Zeitstruktur, die nicht nur die Tagesplanung an die Arbeit anpasste, sondern auch die Freizeitgestaltung bis hin zur Lebensplanung. Die Menschen gewannen an „[…] Fähigkeiten, Fertigkeiten, Charakter, Einstellung, Weltanschauung […]“ (Schuhmacher 1986: 19), was die Prägung der Persönlichkeit, die Erhöhung des Selbstwertgefühls sowie die Identitätsentwicklung unterstützte. Der Arbeitsplatz verfestigte das soziale Umfeld, erwies sich als Bereich der Kontaktaufnahme und vermittelte den Arbeitern ein Gefühl der Zugehörigkeit und der Handlungskompetenz. Rückblickend auf die gewonnene Bedeutung der Arbeit erfuhren die Menschen durch den Arbeitswandel positive psychosoziale Auswirkungen (vgl. ebd.: 19-21). Obgleich die Fabriken Arbeitsplätze zur Verfügung stellten und dadurch finanzielle Einnahmen ermöglichten, lebten die Arbeiter mit ihren Familien in Armut und Elend. Die herrschenden Missstände riefen die soziale Frage hervor, der sich Arbeiter und Gewerkschaften annahmen. Der Nationalstaat gab den Handelnden einen gesetzlichen Rahmen, in dem sich Ende des 19. Jahrhunderts die Bismarckschen Sozialgesetze etablierten, infolgedessen Erwerbsarbeit und soziale Sicherung eine enge Bindung erfuhren (vgl. Mehlich 2005: 41).

Ferner führte die Industrialisierung zu einer Steigerung von Arbeits- und Wirtschaftsproduktivität, die im Besonderen zum einen auf die systematische Arbeitsteilung, Arbeitsorganisation sowie Standardisierung und zum anderen auf die zunehmende Automatisierung zu deduzieren ist (vgl. Füllsack 2009: 59). Diese Basis schuf der US-amerikanische Automobilhersteller Henry Ford (1863-1947) mit der Entwicklung des Fließbandes und legte somit den Grundstein für die industrielle Massenproduktion (vgl. Vester 1993: 111), die in den Nachkriegsjahren zu einem wirtschaftlichen Aufschwung führte. Der Aufschwung erfuhr durch die zunehmende Globalisierung der Arbeitsmärkte, einhergehend mit einer rasanten technischen Entwicklung, eine grundlegende Veränderung, mit der Folge einer Umstrukturierung der Arbeitsprozesse. Die Massenkonsumgüterproduktion sowie verschiedene Dienstleistungen wurden in das billiger produzierende und arbeitende Ausland verlegt (vgl. Mehlich 2005: 44-45). Im Land verblieben die qualifizierten und wissensintensiven Bereiche der Industrien und Dienstleistungen (vgl. Komlosy 2014: 177).

Basierend auf diesem Wandel wurden die 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts als Übergang zu einer neuen Epoche gewertet, die den Schwerpunkt von der Industriegesellschaft auf die Dienstleistungsgesellschaft[12] – ein Charakteristikum der postindustriellen Arbeitswelt nach Bell – verlagerte (vgl. Görtemarker 1999: 597).

Mit zunehmender innerer Tertiarisierung veränderten sich die Arbeitsbedingungen des sekundären Sektors. Dienstleistungen, die nicht zu den Kernaktivitäten der Unternehmen gehören, werden an externe spezialisierte Unternehmen ausgelagert (sog. Outsourcing). Die Auswirkungen des Outsourcings führen einerseits zur Entstehung neuer Dienstleistungszweige in den produzierenden Industrien (vgl. BT-Drucksache 2008: 6- 7), wodurch Produkte und Dienstleistungen in unmittelbarer Beziehung zueinander stehen; andererseits wird die Angst der Arbeitsplatzunsicherheit durch ansteigende Zeit- sowie Leiharbeitbeschäftigungen erhöht, was bis zur Arbeitslosigkeit führen kann (vgl. Mehlich 2005: 47). Die Konsequenzen des Wandels umfassen neben steigender Flexibilität, Mobilität und Selbstbestimmung der Mitarbeiter auch unbestimmte Arbeitsstrukturen, unregelmäßige Arbeitszeiten sowie ungleichmäßige Einkommen und befristete Arbeitsverträge, infolgedessen die Berufsvita durch eine Fluktuation geprägt wird. Folglich bekommt das Konzept des ‚lebenslangen Lernens’ stetig mehr Relevanz zugeschrieben (vgl. ebd.: 53-56). Trotz der genannten negativen Auswirkungen des Wandels ermöglicht Arbeit den Menschen nicht nur finanzielle Absicherung, sondern auch Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, sodass „[…] Qualifizierung, sozialer Status, soziale Kontakte, Selbstidentität und -entfaltung […]“ (Elkeles/Kirschner 2004: 3) mit der Existenz einer Erwerbsarbeit in enger Verbindung stehen (vgl. ebd.). Unter Berücksichtigung der Bedeutsamkeit von Arbeit für den Menschen stellt sich die Frage, inwiefern Arbeitslosigkeit auf den Einzelnen gesundheitsschädigend wirkt. Angesichts dessen werden im folgenden Kapitel die zwei in der Fachliteratur am häufigsten genannten psychologischen Theorien über Arbeitslosigkeit, einhergehend mit ihren Auswirkungen, beschrieben. Anschließend wird anhand einzelner Elemente überprüft, ob die Theorien auch in der Gegenwart einen Aktualitätsbezug aufweisen.

4 Psychologische Theorien der Arbeitslosigkeit

4.1 Deprivationstheorie nach Jahoda (1975)

Die Theorie nach Jahoda, welche „[d]as wohl bekannteste Modell innerhalb der Arbeitslosenforschung […]“ (Baumann 2010: 97) darstellt, basiert primär auf dem Datenmaterial der Marienthal-Studie. Ihrer Theorie zufolge rufen Mangelerlebnisse und Entzüge wie der Arbeitsplatzverlust negative psychische Folgen hervor (vgl. Paul/Moser 2007: 293, Hollederer 2008: 29). Jahoda geht in der Gesellschaft von einem bestehenden manifesten Bild der Arbeit aus, welches drei Bereiche, die sog. manifesten Funktionen, einschließt: die Herstellung von Dienstleistungen und Gütern, den Aufbau der Arbeitsteilung, welcher eine moderne Arbeitswelt charakterisiert, sowie das zur Lebensunterhaltssicherung erworbene Einkommen (vgl. Baumann 2010: 98). Jedoch sieht die Sozialpsychologin im Vergleich zur Zeit der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1930 die ökonomische Einschränkung nicht mehr als ausschlaggebenden Aspekt an (vgl. Paul/Moser 2007: 292). Neben den manifesten Auswirkungen ermöglicht lediglich der Arbeitsplatz die Befriedigung latenter Bedürfnisse, die sich aus den Formen moderner Erwerbstätigkeit ergeben (vgl. Jahoda 1982: 59). Hierunter versteht Jahoda die Vorgabe eines festen Zeitplans, die Ausdehnung der sozialen Kontakte außerhalb der Kernfamilie, die Teilnahme an gemeinsamen Zielen, die kontinuierlichen Aktivitäten sowie die Zuweisung des Status und der Identität, welche anhand der Arbeit gemessen werden. Aus diesem Grund sei selbst eine unpassende Arbeitsstelle vor der Arbeitslosigkeit zu favorisieren (vgl. ebd.: 59-60). Angesichts dessen besteht ein geregelter Alltag, geprägt von Arbeit, in einer Unentbehrlichkeit für Jahoda, andernfalls droht dem arbeitslosen Menschen ein unstrukturiertes und sinnloses Leben (vgl. Rogge 2009: 3).

[...]


[1] Gemäß § 18 Abs. 1 SGB III beruht die Langzeitarbeitslosigkeit auf einer mindestens einjährigen durchgängigen Arbeitslosigkeit.

[2] Die Arbeitslosenquote bildet den Arbeitslosenanteil an dem im Inland vorliegenden gesamten Arbeitskräfteangebot ab. Errechnet wird die Arbeitslosenquote anhand des Quotienten aus Arbeitslosenzahl und Zahl der Erwerbspersonen. Letztere setzt sich zusammen aus der Summe der Erwerbstätigen und Arbeitslosen (vgl. Baumann 2010: 31).

[3] Der Mikrozensus stellt ein repräsentatives Zufallsverfahren dar, welches auf einer Befragung von 830.000 Personen in ungefähr 370.000 Privat- und Gemeinschaftshaushalten basiert. Den Ergebnissen kommt eine für die Gesamtbevölkerung stellvertretende Wirkung zu, wobei dies sich rechnerisch auf ein Prozent an der Bevölkerung beläuft (vgl. Statistisches Bundesamt 2015: o. S.)

[4] Vergleicht man die Arbeitslosenquote mit der Erwerbslosenquote so werden diese Differenzen deutlich: Demzufolge betrug z.B. im Januar 2015 die Arbeitslosenquote 3,03 Mio. Menschen; die Erwerbslosenquote hingegen belief sich auf lediglich 2,06 Mio. Menschen (vgl.: Statistik-Portal 2015: o. S.)

[5] Im Jahr 1986 erweiterte die WHO ihre erste Gesundheitsdefinition mit der Ottawa-Charta um den Aspekt der Gesundheitsförderung (vgl. Moser 2007: 222).

[6] Der amerikanische Psychiater und ehemalige Vorsitzende der Entwicklungsgruppe des DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders ist in den USA ein entwickeltes Klassifikationssystem zur Diagnostizierung psychischer Erkrankung) Prof. Dr. Allen Frances behandelt in seinem Buch „Normal“ u. a. die Fragestellung „Was ist normal und was nicht?“. Er kommt schließlich zu dem Resultat, dass es Menschen niemals gelingen wird, eine scharfe Begriffstrennung zwischen „psychischer Störung“ und „Normalität“ zu ziehen. Seiner Ansicht nach verhilft keine Definition zu einer deutlichen Aussage darüber, welche Leiden als psychische Störung einzustufen sind und welche als „normal“ gelten (vgl. 2013: 9-11, 42).

[7] Aufgrund der vielen Merkmale von Störungsbildern gelingt es der Wissenschaft nicht, eine identische Definition des Begriffes „psychische Störung“ zu formulieren, da es schwierig erscheint, Eigenschaften von psychischen Störungen von Anfang an festzulegen (vgl. Köhler 2012: 13; vgl. Walter 2006: o. S.).

[8] Die Einflüsse in Bezug auf die Arbeitsbedingungen unterteilen sich in Arbeitsaufgabe, Arbeitsmittel, Arbeitsumgebung, Arbeitsorganisation und Arbeitsplatz (vgl. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2010: 9).

[9] Die individuellen Voraussetzungen untergliedern sich zum einen in psychische Aspekte wie z.B. eigene Motivation, Vertrauen in die eigenen Eigenschaften und Begabungen sowie zum anderen in weitere Voraussetzungen wie Gesundheitszustand, Alter und momentaner Verfassungszustand (vgl. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2010: 10).

[10] Die Internationale Klassifikation der Erkrankungen repräsentiert den gegenwärtigen Stand der klinisch-psychologischen sowie psychiatrischen Wissenschaft, in dem die Experten hinsichtlich der Bereiche Psychotherapie und Psychiatrie ihre Ergebnisse auf einen gemeinsamen Nenner bringen, wodurch neue Störungskategorien entworfen werden Die ICD-10 strebt einerseits eine identische Benennung und andererseits einheitliche Diagnosekriterien der Erkrankungen an (vgl. Walter 2011: o S.).

[11] Die Bedeutung der Dienstleistungen für die postindustrielle Arbeitswelt wird im folgenden Kapitel näher beleuchtet.

[12] Orientierend an dem Wandel entwarf der französische Ökonom Jean Fourastie im Jahr 1954 die „Drei-Sektoren-Hypothese“, welche die Agrarproduktion in den primären, die industrielle Produktion in den sekundären und die Dienstleistungsproduktion in den tertiären Sektor unterteilt (vgl. Füllsack 2009: 82).

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Die Wechselbeziehungen zwischen Arbeitslosigkeit und psychischen Erkrankungen in unserer postindustriellen Arbeitswelt
Untertitel
Keine Arbeit – keine Gesundheit – keine Chance?
Hochschule
Universität Kassel
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
33
Katalognummer
V306073
ISBN (eBook)
9783668039971
ISBN (Buch)
9783668039988
Dateigröße
537 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lea Weidlich, Arbeitslosigkeit, psychische Erkrankungen, postindustrielle Arbeitswelt, Arbeit und Gesundheit, Jahoda, Fryer, Marienthal-Studie, Gesundheitsförderung von Arbeitslosen, vorindustrielle Arbeitswelt, industrielle Arbeitswelt
Arbeit zitieren
Lea Juliana Weidlich (Autor:in), 2015, Die Wechselbeziehungen zwischen Arbeitslosigkeit und psychischen Erkrankungen in unserer postindustriellen Arbeitswelt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/306073

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