Eingliederungshilfe für junge Menschen mit Behinderungen. Abgrenzung von SGB VIII und SGB XII und Praxis im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte


Bachelorarbeit, 2015

67 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Das (allgemeine) Recht von Menschen mit Behinderungen
1.1 UN-Behindertenrechtskonvention
1.2 Grundgesetz
1.3 Sozialgesetzbuch

2. Behinderungsbegriff
2.1 World Health Organization
2.2 UN-BRK
2.2 Behinderungsbegriff des SGB IX
2.3 SGB XII / Eingliederungshilfeverordnung
2.4 SGB VIII

3. Eingliederungshilfe nach SGB XII
3.1 Aufgabe der Eingliederungshilfe innerhalb des SGB XII
3.2 Anspruchsvoraussetzungen
3.3 Leistungen der Eingliederungshilfe im Rahmen des SGB XII
3.4 Persönliches Budget
3.5 Zuständigkeit
3.6 Verwaltungsverfahren
3.7 Kosten und Heranziehung der PSB

4. Eingliederungshilfe nach SGB VIII
4.1 Aufgabe der Eingliederungshilfe innerhalb des SGB VIII
4.2 Anspruchsvoraussetzungen
4.3 Leistungen der Eingliederungshilfe im Rahmen des SGB VIII
4.4 Zuständigkeit
4.5 Verwaltungsverfahren
4.6 Kosten und Heranziehung der PSB

5. Schnittstellen der Eingliederungshilfe
5.1 Schnittstellen und Berührungspunkte
5.2 Abgrenzungsfragen innerhalb des SGB VIII
5.3 Schnittstelle Eingliederungshilfe SGB VIII / SGB XII
5.3.1 Vorrang / Nachrang der Jugend- und Sozialhilfe
5.3.2 Problematiken in Bezug auf den Behinderungstyp
5.3.2.1 Mehrfachbehinderungen
5.3.2.2 Unklare Behinderungen
5.4 Hilfen zur Erziehung nach SGB VIII und Eingliederungshilfe nach SGB XII

6. Eingliederungshilfe im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte
6.1 Landkreis Mecklenburgische Seenplatte
6.2 Zahlenüberblick in Bezug auf Eingliederungshilfe im Landkreis MSE
6.3 Praktisches Verfahren
6.3.1 Sozialamt
6.3.2 Jugendamt
6.3.3 Gegenüberstellung / Kritik
6.4 Praktischer Umgang mit der Schnittstelle und Konsequenzen
6.4.1 Vergangenheit
6.4.2 Gegenwart
6.4.3 Fallbeispiel - Hilfe für junge Volljährige
6.5 Zusammenarbeit der Fachämter

7 Zukunftsperspektiven / Lösungsansätze / Empfehlungen
7.1 Kommunale Ebene - Zusammenarbeit JA / SozA
7.2 Landesebene
7.3 Bundesebene - Eine Perspektive

8. Fazit

9. Quellenverzeichnis

Einleitung

Manche Kinder und Jugendliche haben seit Geburt an körperliche Einschränkungen oder erleiden im Laufe ihres Lebens einen Schicksalsschlag, so dass sie auf längere Dauer körperlich eingeschränkt sind. Bei manch anderen ist die Seele vielleicht durch ungünstige Umstände im sozialen Umfeld erkrankt und es hat sich eine psychische Störung herausgebildet, welche auch einen chronischen Verlauf nehmen kann. Wiederrum andere Kinder und Jugendliche haben einen unterdurchschnittlich ausgeprägten Intellekt, wodurch sie Schwierigkeiten bei der Bewältigung von Alltagsaufgaben haben können. All´ diese jungen Menschen können durch ihre körperlichen, geistigen oder auch seelischen Beeinträchtigungen so sehr eingeschränkt sein, dass sie nicht an einem denkbar normalen gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Grund hierfür sind aber nicht ihre Beeinträchtigungen selbst, sondern die Umgebungsbedingungen oder die sozialen Faktoren, die ihr Leben erschweren. Diese Teilhabebeeinträchtigung aufgrund des körperlichen, geistigen oder auch seelischen Leidens wird auch als Behinderung bezeichnet.

Kinder mit solchen Teilhabebeeinträchtigungen, also junge Menschen, die letztlich erst durch Barrieren zu behinderten Menschen werden, haben ebenso ein Recht auf ein erfülltes und menschenwürdiges Leben, wie alle anderen Kinder auch. Sie sollten aktiv am gesellschaftlichen Leben teilhaben dürfen und der Staat sollte alle möglichen Mittel für Bildung, Erziehung oder gesundheitliche Versorgung zur Verfügung stellen, damit ein Kind mit Behinderung ganz selbstverständlich mit anderen nicht behinderten Kindern aufwachsen kann. Das Instrument des Staates, um dies zu ermöglichen und die Teilhabebeeinträchtigungen von jungen Menschen mit Behinderungen zu minimieren oder gänzlich abzuschaffen, ist die sogenannte Eingliederungshilfe.

Eingliederungshilfe soll betroffenen Kindern und Jugendlichen bei der Überwindung von sozialen oder umweltbedingten Barrieren helfen. Hierfür wurden eigens Leistungsgesetze geschaffen, welche sich mit dem Personenkreis Menschen mit Behinderungen befassen. Nun sollte aber nicht davon ausgegangen werden, dass für alle Menschen mit Behinderungen ein und dasselbe Leistungsgesetz gilt. Hier wurden durch den Gesetzgeber Differenzierungen gemacht, die sich an der Art der Behinderung, am Alter der Menschen oder auch am Eintrittsgrund für eine Behinderung (bspw. durch einen Unfall) orientieren. Und hier beginnt die Krux, mit der sich diese Bachelorarbeit auseinander setzen wird.

Durch die Präsenz von verschiedenen möglichen Leistungsgesetzen und somit auch Leistungsträgern, welche für die Gewährung von Eingliederungshilfe nicht nur bei Kindern und Jugendlichen infrage kommen könnten, ergeben sich automatisch Schnittstellen- und Abgrenzungsproblematiken. Diese Problematiken können ein Zuständigkeitsgerangel (sogenannte Verschiebebahnhöfe) und somit auch Zeiteinbußen nach sich ziehen, was in den Einzelfällen zu Lasten der jungen Menschen führt. Ganz besonders auffällig ist die Abgrenzungsproblematik der Eingliederungshilfe zwischen dem Jugendhilfeträger und dem Sozialhilfeträger. Denn beide Träger haben als eigenständige Aufgabe die Umsetzung von Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche zu bewerkstelligen. Zwar gibt es in den jeweiligen Leistungsgesetzen Abgrenzungen nach Alter oder auch Behinderungsart, doch kommt es in der Theorie und Praxis gehäuft zu Unklarheiten und Fragen über den zuständigen Leistungsträger oder auch die Abgrenzung der jeweiligen Leistungen.

Ich bin als Mitarbeiter des Sozialamtes auf die Abgrenzungsproblematik im Jahr 2012 erstmalig aufmerksam geworden. In einer allgemeinen Dienstberatung des Sozialamtes wurde verkündet, dass das Jugendamt aufgrund eines Urteils begehrt, einige Eingliederungshilfefälle für Kinder und Jugendliche an das Sozialamt zu übertragen, was bei den zuständigen Kollegen auf Unverständnis stieß. Ich für meinen Teil konnte mir darüber kein Urteil bilden, da ich außerhalb der Eingliederungshilfe tätig bin und bis vor kurzem keinen Bezug zu dem Tätigkeitsbereich hatte. Was mein Interesse aber stetig vergrößerte, war die Zeit, welche ins Land floss, bis eine endgültige Entscheidung dieses Sachverhaltes getroffen war. Immer wieder kam dieses Thema in allgemeinen Beratungen zur Ansprache und sorgte für Aufsehen. Erst im Jahr 2014 kam es dann zu einer endgültigen Festlegung. Einige Fragen hatten sich in meinem Kopf ergeben: Warum werden Kinder und Jugendliche vom Jugendamt zum Sozialamt geschoben ? Hat dies nicht Nachteile für die jungen Menschen? Wie kann es trotz Bundesgesetzen, die Zuständigkeiten und Abgrenzungen normalerweise eindeutig regeln, überhaupt zu solch´ Problematiken kommen? Wie war die Sichtweise vor dem besagten Urteil, weshalb das Jugendamt sich zuständig fühlte? Verfügt das Sozialamt überhaupt über ausreichend Kompetenz, um die Bedarfe der Kinder und Jugendlichen, welche bisher durch das Jugendamt gedeckt worden sind, zu decken?

Diese Arbeit wird einen Überblick über die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche innerhalb der Rechtskreise SGB VIII und SGB XII geben und aufdecken, worin genau die Abgrenzungsproblematiken bestehen und wie diese gelöst werden können. Darüber hinaus wird ein Einblick in die Praxis des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte gewährt, der u.a. erkennen lässt, wie Eingliederungshilfe verwaltungstechnisch umgesetzt wird und welche Konsequenzen eine Abgrenzung zwischen den SGB nach sich ziehen kann.

1. Das (allgemeine) Recht von Menschen mit Behinderungen

Im Laufe der letzten Jahrzehnte fand in der internationalen Sozialpolitik in Bezug auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen viel Bewegung statt. Zwar werden die allgemeinen Menschenrechte mittlerweile von nahezu allen Staaten anerkannt, jedoch leiden die Rechte von Menschen mit Behinderungen teilweise immer noch in vielen Staaten unter erheblichen Mängeln. Die Inklusion, was als universelles soziales Prinzip anzusehen ist und soviel bedeutet wie die volle, gleichberechtigte, wirksame sowie selbstverständliche Teilhabe aller Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft oder auch der sozialen Gemeinschaft,[1] findet nur verzögert ihren Einzug in das staatliche Handeln der Länder. Mit der im Dezember 2006 von den vereinten Nationen verabschiedeten UN-Behindertenrechtskonvention wurde eine weltweit bedeutende Grundlage für Menschen mit Behinderungen geschaffen, damit diese nicht nur wie bisher integrativ an der Gesellschaft teilhaben können, sondern ein selbstverständlicher und somit inklusiver Teil der Gemeinschaft zu sein.

1.1 UN-Behindertenrechtskonvention

Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen ist ein völkerrechtlicher Vertrag und gleichzeitig auch ein normativ bindendes Instrument gegen die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen. Die Bundesrepublik Deutschland ist nur eines von vielen Ländern, die der Konvention beigetreten sind und diese ratifiziert haben. Die Ratifizierung Deutschlands erfolgte nach Abschluss eines innerstaatlichen Zustimmungsverfahrens am 24. Februar 2009. Mit dem Inkrafttreten nach Art. 45 der BRK ist diese mittlerweile völkerrechtlich für die Bundesrepublik Deutschland verbindlich geworden.[2]

Der Zweck der UN-BRK ist in Artikel 1 schriftlich festgehalten und eindeutig beschrieben: „Zweck des Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschen und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern“. Diese Grundformulierung lässt die allgemeinen Merkmale der vielseitigen und umfangreichen Konvention erkennen, in der Regelungen für die Vertragsstaaten über Menschenwürde, Nichtdiskriminierung, Teilhabe an der und Einbeziehung in die Gesellschaft, Akzeptanz und Vielfalt, Chancengleichheit und auch Zugänglichkeit bzw. Barrierefreiheit enthalten sind.[3] Diese Merkmale sind auch als allgemeine Grundsätze der UN-BRK zu verstehen.[4]

Mit diesem neuen Rechtsrahmen der Behindertenpolitik weist die Konvention auf einen Systemwechsel hin, der sich von einer Politik der Fürsorge in Richtung einer Politik der Rechte entwickeln soll. Dreh- und Angelpunkt ist hierbei der Einfluss auf die Gesellschaft und deren Denken, die den Menschen mit Behinderung bisher vor Schranken gestellt hat. Artikel 8 der UN-BRK verpflichtet die Bundesrepublik dazu, politische Möglichkeiten zu schaffen, um ein Bewusstsein und damit ein positives Bild von Menschen mit Behinderungen in der Bevölkerung zu verankern.[5] Denn hier gelten noch Klischees und Vorurteile, die sich auch eher auf eine Krankheits- und Defizitorientierung beziehen. Die Bewusstseinsbildung nach der BRK soll durch sofortige Maßnahmen genau diese Klischees, Vorurteile und schädliche Praktiken bekämpfen und umfasst zugleich auch Bewusstseinsförderung zu den Fähigkeiten und dem Beitrag behinderter Menschen. Die Bewusstseinsbildung ist aber nicht nur an Personen und Institutionen gerichtet, welche mit oder an der Personengruppe behinderte(n) Menschen arbeiten, sondern soll sie mithilfe der jeweiligen Maßnahmen das Bewusstsein der gesamten Bevölkerung erhöhen.[6]

Die Bundesrepublik Deutschland ist mit der Inkraftsetzung der UN-BRK durch den Bundesrat und den Bundestag im Jahr 2009 die Verpflichtung eingegangen, die Konvention umzusetzen und die damit verbundenen Rechte für Menschen mit Behinderungen zu gewähren und durchzusetzen. Die verbindlichen Aufgaben treffen die Bundesrepublik insoweit, dass Legislative, Exekutive und auch Judikative darauf ausgerichtet sein sollten, die in der UN-BRK geregelten Rechte für Menschen mit Behinderungen zu verwirklichen und in nationale Maßnahmen und Regelungen umzusetzen.[7] Dies spiegelt sich in der gesamten UN-BRK wieder, da in den Anfängen der einzelnen Artikel häufig der Wortlaut „Die Vertragsstaaten verpflichten sich, erkennen an, bekräftigen oder treffen geeignete Maßnahmen“ zur Geltung kommt. Damit werden den Vertragsstaaten Aufgaben auferlegt, in den Bereichen wie Bildung, Wohnen, Partnerschaft, Arbeit, Barrierefreiheit oder gleiche Rechte für Menschen mit Behinderungen, Regelungen zu treffen, um den Systemwechsel von der Integration zur Inklusion herbeizuführen. Es ist nicht vorrangiges Ziel der UN-BRK, an den Menschen mit Behinderungen individuell zu arbeiten, sondern Gesellschaftsstrukturen zu ändern, um den betroffenen Menschen überhaupt Raum zu schaffen, damit sie ein Teil der Gesellschaft werden können und nicht als Sonderteil der Gesellschaft gelten.[8] Die benannten Aufgaben sind als tragende Leitprinzipien aller teilnehmenden Staaten zu verstehen und bilden somit den Interpretationsrahmen der UN-BRK.[9] Ob sich hieraus ein Rechtsanspruch für den einzelnen Menschen ergibt, bleibt allerdings fraglich, da die Konvention eher als Querschnittsaufgabe zu verstehen ist.[10] Jedoch führte die Ratifizierung der UN-BRK dazu, dass die völkerrechtlichen Normen Eingang in die deutsche Rechtsordnung erhalten haben und nach Art. 59 Abs. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG auch innerstaatlich zur Anwendung kommen müssen (Verfassungsgebot). Damit erhält die Rechtskonvention der Vereinten Nationen für Menschen mit Behinderungen (als völkerrechtlicher Normkomplex) den Status von deutschem Bundesrecht.[11]

Der Systemwechsel von der individuellen Förderung des einzelnen Menschen zur Änderung der Gesellschaft und deren Denken bestätigt sich mit dem Blick auf die UN-Kinderrechtskonvention, welche bereits am 02. September 1990 in Kraft getreten ist. Diese nimmt in Artikel 23 Bezug auf Kinder mit Behinderungen. Der Artikel lässt aber noch erkennen, dass zur Zeit der Erarbeitung der Kinderrechtskonvention die Kinder noch nicht in Bezug auf Inklusion, sondern eher in Bezug auf die besonderen Bedürfnisse aufgrund ihrer Behinderung und somit nur integrativ gefördert werden sollten. Damit kann eine individuelle Förderung in Abgrenzung der gesellschaftlichen Teilhabe (z.B. einer Schülerin in einer Förderschule) als Benachteiligung aufgrund der bestehenden Behinderung entgegen unserer Grundrechte zu verstehen sein. Doch „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ - So heißt es in Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes.

1.2 Grundgesetz

Auch wenn das Grundgesetz bereits 1949 in Kraft getreten ist, so wurde der soeben zitierte Satz erst 1994, also fast 50 Jahre später, nachträglich in das Grundgesetz aufgenommen.[12] Durch die Ergänzung im besonderen Bezug auf Menschen mit Behinderungen wurde ein Meilenstein im Behindertenrecht gelegt, der die Grundrechte der betroffenen Menschen maßgeblich verstärkt. Dies war zugleich die Basis zur Verabschiedung von konkretisierenden Gesetzen durch die Bundesregierung wie z.B. das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aus dem Jahre 2006 oder das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen von 2002. Dem 3. Artikel des GG mit seinem Diskriminierungsverbot und der Gleichstellung zu anderen Menschen kommt daher im Sozial- und besonders im Behindertenrecht eine hohe Bedeutung zu.[13] Die Forderung aus Art. 4 Abs. 1 S. 1 der UN-BRK „…die volle Verwirklichung aller Menschenrechte für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung auf Grund von Behinderung zu gewährleisten…“ geht mit den Bestimmungen aus der Verfassung einher.

Von ebenso großer Bedeutung ist hier auch das Sozialstaatsprinzip zu nennen, mit dem sich die Bundesrepublik Deutschland durch Artikel 20 Abs. 1 „Die Bundesrepublik ist ein […] sozialer Bundesstaat“ i.V.m. Art. 28 Abs. 1 S. 1 des GG „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des […] sozialen Rechtsstaates […] entsprechen“ zur Sozialstaatlichkeit bekennt. Nach Waltermann verpflichtet die Sozialstaatlichkeit den Staat, für ein menschenwürdiges Existenzminimum aller Menschen zu sorgen.[14] Wie auch das Rechtsstaatsprinzip gehört das Sozialstaatprinzip „…zu den tragenden Verfassungsgrundsätzen, die zusammen mit dem Schutz der Menschenwürde […] den Kernbestand der Verfassung ausmachen.“ Mit der Ergänzung des Diskriminierungsverbots für Menschen mit Behinderungen in Artikel 3 des Grundgesetzes wurde „…der Förderungs- sowie auch der Integrationsauftrag des Sozialstaatsprinzips deutlich…“ gemacht.[15]

Die Menschenwürde als oberstes Grund- und Menschenrecht ist im ersten Artikel des GG verankert. So heißt es dort: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Aus diesem Ausschnitt der Rechtsnorm ergibt sich, dass der Staat die Pflicht hat, die Menschenwürde zu achten, sobald er auf den Einzelnen durch Gesetz, Verwaltung oder Gerichtsbarkeit einwirkt. In Bezug auf einen Menschen mit Behinderung bedeutet dies, dass die Möglichkeit geschaffen werden muss, dass der Mensch trotz seiner Behinderung seine Grundrechte, welche alle in der Bundesrepublik lebenden Menschen genießen können, wahrnehmen kann. Der damit verbundene Zweck in Art. 1 des GG ähnelt dem Zweck des Art. 1 der UN-BRK, was die Orientierung an Menschen und ihrer Grundrechte beider Normen wiedererkennen lässt.[16]

Weitere bedeutende Grundrechte sind in den Artikeln 2 bis 19 verankert. In ihnen legt die Verfassung fest, welches (Grund-) Recht jeder Mensch oder auch speziell jeder Staatsbürger von Deutschland besitzt. Zu den weiteren bedeutenden Grundrechten und somit auch zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen gehören neben der Menschenwürde insbesondere die Freiheit der Person, die Gleichheit vor dem Gesetz, Schutz von Ehe und Familie, freie Berufswahl, die Meinungsfreiheit oder auch die Eigentumsgarantie. Artikel 1 und 20 des GG unterliegen darüberhinaus dem besonderen Schutz des Artikel 79 Abs. 3 GG, in dem es heißt, dass Änderungen der Verfassungs-prinzipien in Artikel 1 und 20 auf ewig unzulässig sind (sogenannte Ewigkeitsklausel), was die Bedeutung dieser besonderen Grundrechte noch einmal hervorhebt. Sollte ein Mensch bzw. ein Mensch mit Behinderungen sich in seinen Grundrechten, sei es durch Gesetze, Erlasse oder sonstige staatliche Tätigkeit verletzt fühlen, so kann er Rechtsmittel einlegen bzw. ggf. vor ein Verfassungsgericht treten.

1.3. Sozialgesetzbuch

Das Sozialgesetzbuch besteht aus 12 Teilen (I-XII) und aus diversen Sonderteilen, welche in § 68 des SGB I abschließend aufgeführt sind. Der Gesetzgeber hat in den verschiedenen Teilen des Sozialgesetzbuches einzelne Leistungszweige geschaffen, wobei Leistungen für Menschen mit Behinderungen sich in vielen von diesen Teilen wiederfinden. Für die einzelnen Gesetzbücher kommen verschiedene Träger infrage, wie die Rentenversicherung, die Agentur für Arbeit, die Kranken- oder Unfallversicherung, der Sozialhilfe- oder auch der Jugendhilfeträger. Schon diese Fülle an verschiedenen Trägern, mit derselben Zuständigkeit für den Personenkreis Menschen mit Behinderungen lässt zu Recht vermuten, dass dies zu Unstimmigkeiten unter den Trägern führen kann.[17]

Das SGB IX stellt durch seine bereichsübergreifende Wirkung eine zentrale Rechtsgrundlage für das durch die öffentlichen Träger anzuwendende Behindertenrecht dar. Das unmittelbar geltende Recht aus dem SGB IX kann aus diesem Grund durchaus mit dem SGB I und dem SGB X verglichen werden, welche eher als allgemeine Verfahrensgesetze und nicht als Gesetze mit eigenen Leistungszweigen gelten.[18] Ein inhaltlicher Schwerpunkt des SGB IX ist die Partizipation, also die Teilhabe behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen an der Gesellschaft. Mit diesem Schwerpunkt rückt das SGB IX die Teilhabe an der Gesellschaft mehr in den Fokus und verdrängt die bisher geltende Defizitorientierung, aber nicht gänzlich.[19] Auch mit den erweiterten Wunsch- und Wahlrechten aus § 9 SGB IX und dem daraus resultierenden Persönlichen Budget[20], mit denen Leistungsberechtigte ihre Sachleistung eigenverantwortlich und selbstbestimmt besorgen können, lehnt sich das SGB IX an die Aufgaben der UN-BRK an.[21] Das SGB IX erfüllt bereits in mehreren Bereichen die Forderungen, die die UN-BRK an die Staaten stellt.[22]

Jedoch deutet § 7 des SGB IX auch darauf hin, dass ein in verschiedene Segmente „gegliedertes System“ beibehalten wird: „…soweit sich aus den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen nichts Abweichendes…“ ergibt.[23] Die Träger der Jugend- und Sozialhilfe fungieren laut § 6 Abs. 1 SGB IX als Rehabilitationsträger und laut den Teilen des SGB findet für den Sozialhilfeträger das SGB XII und für den Träger der öffentlichen Jugendhilfe das SGB VIII Anwendung. Aus dieser Regelung heraus gelten somit eigene Leistungsgesetze für die jeweils zuständigen Hilfeträger. § 7 Satz 2 SGB IX besagt aber, dass lediglich die Zuständigkeit und die Voraussetzungen (Anspruch) durch die Leistungsgesetze bestimmt werden, wonach das SGB IX dennoch für den Leistungsumfang oder die Leistungsart entscheidend bleibt.[24]

Im achten Teil des SGB ist die Kinder- und Jugendhilfe des Staates geregelt. In § 1 des SGB VIII benennt der Gesetzgeber das grundlegende Recht jedes jungen Menschen auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftlichen Persönlichkeit. Aufgabe der Jugendhilfe nach § 1 SGB I i.V.m. § 2 Abs. Nr. 5 SGB VIII ist es u.a., Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit einer seelischen Behinderung oder die von solch einer Behinderung bedroht sind, zu leisten. Hier verweist der Gesetzgeber auf den § 35a des SGB VIII und auch auf die folgenden bis hin zu § 40 (Ausnahme § 38). Mit der Einbindung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in das Jugendhilferecht sieht der Gesetzgeber jedoch vielmehr die altersgerechten Bedürfnisse, als die behinderungsspezifischen Bedürfnisse. Dies widerspricht der Intention des Gesetzgebers nach dem SGB IX, dass Menschen mit Behinderungen unabhängig ihrer sonstigen Eigenschaften wie z.B. dem Alter zu sehen sind.[25]

Während Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche innerhalb des SGB VIII aber nur für Kinder und Jugendliche mit einer seelischen Behinderung (bzw. drohenden) und darüber hinweg mit keiner weiteren Behinderung ausgelegt ist, umfasst das SGB XII die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit körperlichen, geistigen und/oder Mehrfachbehinderungen (inkl. seelische Behinderungen). Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen in Verantwortung des Sozialhilfeträgers ist im Sechsten Kapitel des SGB XII in den §§ 53-60 geregelt. Eine Besonderheit des SGB XII ist, dass es das einzige umfassende Leistungsgesetz für Menschen mit Behinderungen ist, da andere Teile des Sozialgesetzbuches oder gänzlich andere Gesetze nur an Tatbestände einer Behinderung oder an Sachverhalte, die bei Menschen mit Behinderungen vorliegen, anknüpfen.[26] Um den zuständigen Träger zu bestimmen bzw. die Zuordnung eines Leistungsanspruchs für Eingliederungshilfe vornehmen zu können, ist es i.d.R. erforderlich, die Art der Behinderung zu definieren.

2. Behinderungsbegriff

Der Begriff Behinderung ist innerhalb des deutschen Rechts erst seit Verkündung des Körperbehindertengesetzes am 27.02.1957 in Gebrauch.[27] Das Gesetz löste einige aus heutiger Sicht unvertretbar lautende Bestimmungen wie das „Preußische Gesetz zur öffentlichen Krüppelfürsorge “ aus dem Jahr 1920 ab.[28] Während es in der Vergangenheit nur sehr wenige Zweige mit dem Bezug zu Behinderungen gab, sind heute viele wissenschaftliche Disziplinen in diesem Bereich präsent (Medizin, Psychologie, Pädagogik, Soziologie), die sich mit dem Begriff der Behinderung auseinandersetzen und diesen in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt haben. Nicht nur aus diesem Grund ist der Begriff der Behinderung heutzutage als sehr komplex zu verstehen. Zu einer Vereinheitlichung im internationalen Sprachgebrauch und fachlichem Verständnis kommt es durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO).[29]

2.1 World Health Organization

Die WHO, ein Zusammenschluss im Rahmen der Vereinten Nationen, zuständig für die öffentliche Gesundheit, beschloss im Jahr 1980 mit der ICIDH (International Classification of Impairments, Disabilities an Handicaps) einen theoretischen Bezugsrahmen, womit eine systematische Klassifikation für einzelne Behinderungen vorgenommen werden konnte. Konzeptionell wurde der Begriff der Behinderung in der ICIDH nunmehr als Krankheitsfolge verstanden. Was bedeutet, dass aus einer bestehenden Schädigung eine Störung der Fähigkeiten resultiert, die eine Beeinträchtigung der Teilhabe am sozialen Leben zur Folge hat. Auf diesen Erkenntnissen aufbauend wurde im Mai 2001 die ICF beschlossen, in welcher der Begriff der Behinderung erstmals als negative Wechselwirkung zwischen einem Menschen mit einem gesundheitlichen Problem und seinen Umweltfaktoren in Bezug auf die Funktionsfähigkeit und insbesondere der gesellschaftlichen Teilhabe beschrieben wird.[30] Dank dieses sogenannten bio-psycho-sozialen Modells war die Definition von Behinderung in der ICF nicht mehr als reine Krankheitsfolge zu verstehen, sondern eher als Klassifikation von gesundheitlichen Komponenten, welche auch die Partizipation und die Teilhabe an der Gesellschaft umfasst. Für Kinder und Jugendliche wurde durch die WHO ein ICF-ergänzendes Werk geschaffen, das sich speziell den besonderen Lebenswelten und Entwicklungsphasen in Bezug auf die Funktionsfähigkeit und altersentsprechender Partizipation anpasst. Die ICF und die Ergänzung (ICF)-CY (Children and Youth, dt.: Kinder und Jugendliche) sind ausschlaggebend für eine Klassifizierung der Teilhabebeeinträchtigungen und somit für die Beschreibung bzw. Feststellung einer Behinderung.

Ein weiterer Teil der herausgegebenen Klassifikationen der WHO ist die ICD-10[31]. Diese ist relevant für die medizinische Disziplin zur Klassifizierung und Eingruppierung von Krankheitsbildern bzw. sogenannten Störungen (medizinische Diagnose). Diesem System kommt z.B. in der Beschreibung der geistigen Behinderung eine große Bedeutung zu, da die Grundlage zur Beurteilung einer geistigen Behinderung die Feststellung einer Intelligenzminderung nach ICD-10 sein kann (verschiedene Grade F.70-F.79). Aber auch für die Beschreibung von anderen vorliegenden Gesundheitsstörungen wie eine Beeinträchtigung der körperlichen oder seelischen Funktion dient die ICD-10 als Eingruppierungssystem für die medizinische Disziplin.[32]

Eine Behinderung wird laut WHO also definiert über eine Einschränkung der körperlichen, geistigen oder seelischen Funktion und der damit in Verbindung stehenden Aktivitätsbeeinträchtigung und die resultierende Teilhabeeinschränkung an der Gesellschaft. Wohlbemerkt sind es aber auch die Umweltfaktoren und die wechselseitige Beeinflussung der vorgenannten Faktoren, die ausmachen, ob und wie behindert ein Mensch ist bzw. wird.[33]

2.2 UN-BRK

Wie die vorangegangenen Darstellungen gezeigt haben, wurde das Verständnis von Behinderung stetig weiterentwickelt. Auf diese Entwicklungserkenntnis wird auch in Buchstabe e) in der Präambel der UN-BRK hingewiesen. Demnach ist der Begriff der Behinderung ständig im Prozess der Weiterentwicklung und immer unter Beachtung der Umweltfaktoren und der Teilhabeeinschränkungen zu betrachten. Nach Art. 1 S. 2 der UN-BRK zählen zu den Menschen mit Behinderungen „…Menschen, die langfristige, körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ Mit dem damit eingebundenen Psycho-Sozial-Modell der WHO macht die Konvention deutlich, dass Behinderung nicht allein durch die jeweilige Beeinträchtigung entsteht, sondern erst durch die Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren. Wie sehr sich die Beeinträchtigung auswirkt, hängt also entscheidend auch von gesellschaftlichen Bedingungen ab. Die Behinderung ist „…nach dem Verständnis der UN-BRK ein soziales Phänomen, dem durch den Abbau sozialer Barrieren begegnet werden muss.“[34]

Eine genaue bzw. abschließende Definition des Behinderungsbegriffes wird in der UN-BRK nicht explizit ausgewiesen. Lediglich der Personenkreis wird durch Art. 1 S. 2 eingeengt. Das Fehlen einer präzisen Definition in Verbindung mit Buchstabe e) der Präambel lässt erkennen, dass eine starre Struktur, die ggf. zu einem Ausschluss von Menschen mit Behinderungen führen kann, verhindert werden soll.[35] Hier hingegen definiert das SGB IX den Begriff der Behinderung präziser.

2.3 Behinderungsbegriff des SGB IX

§ 2 Abs. 1 SGB IX enthält die Definition von Behinderung, die ähnlich der UN-BRK an den Behinderungsbegriff der WHO anknüpft und für das gesamte Sozialrecht gilt.[36] Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderungen bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist. Diese Definition findet im deutschen Behindertenrecht eine zentrale Anwendung.[37] Gleichlautend taucht sie auch in § 3 BGG und in den meisten der Behindertengleichstellungsgesetzen der Länder auf. Die Art der Behinderung wird durch den Gesetzgeber in 3 Kategorien eingeteilt – körperliche, geistige und seelische Behinderung. Aber nicht immer lassen sich körperliche, geistige und seelische Behinderungen strikt voneinander trennen, da sie sich überschneiden oder aber auch in Wechselwirkung miteinander auftreten können. Diese Differenzierung ist laut Welti traditionell übernommen worden.[38]

Um entscheiden zu können, ob eine Behinderung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX vorliegt, muss also zunächst untersucht werden, ob eine körperliche Funktion, eine geistige Fähigkeit oder die seelische Gesundheit von einem auszugehenden Normalzustand abweicht (Störung). Die körperlichen Funktionsstörungen beziehen sich auf den organischen und orthopädischen Gesundheitszustand, wobei hier auch Sinneswahrnehmungen und Empfindungen mit einfließen. Körperliche Beeinträchtigungen, die sich nicht auf Körperfunktionen auswirken, gelten nicht als Störung. Die Kategorie der geistigen Funktionsstörung umfasst vordergründig die intellektuellen und kognitiven Fähigkeiten, nimmt aber auch Rücksicht auf das Bewusstsein und die mentalen Funktionen des Menschen. Beeinträchtigungen in psychisch-funktionalen Fähigkeiten, wie z. B. Persönlichkeit, Belastbarkeit und Emotionen, sowie auch psychische Erkrankungen nach ICD-10 sieht der Gesetzgeber in den seelischen Störungen.[39] Relevant wird die Differenzierung aber letztendlich erst mit der Abgrenzung der Zuständigkeit für die Eingliederungshilfe zwischen dem Sozialhilfeträger im Rahmen des SGB XII und dem Jugendhilfeträger im Rahmen des SGB VIII.[40]

2.4 SGB XII / Eingliederungshilfeverordnung

Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Sozialgesetzbuch kann laut § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII für Personen geleistet werden, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von solch einer wesentlichen Behinderung bedroht sind. In Anlehnung an die Definition von Behinderung der UN-BRK und somit auch an die ICF und den Bezug auf den Behinderungsbegriff des SGB IX liegt in diesem Rechtskreis eine Behinderung nur dann vor, wenn die festgestellte Funktionsstörung zu einer Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft führt.

Die Eingliederungshilfe im Rechtskreis des SGB XII unterliegt der Besonderheit, dass eine Behinderung wesentlich sein muss, was die Voraussetzungen zur Anerkennung einer Behinderung ggü. dem SGB VIII und SGB IX erhöht. Mit dem Erlass der Eingliederungshilfeverordnung durch das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit im Jahr 1975 wurde der Begriff der wesentlichen Behinderung aus § 53 SGB XII näher präzisiert.[41] Die Bundesregierung ist laut § 60 dazu ermächtigt, mit Zustimmung des Bundesrates Bestimmungen über die Abgrenzung des leistungsberechtigten Personenkreises der behinderten Menschen Verordnungen zu erlassen, welche die Leistungsart, den Leistungsumfang und das Zusammenwirken mit den Stellen, die die Leistungen letztlich ausführen, näher regeln. Bieritz-Harder beklagt jedoch, dass die Formulierungen und Ansichten nicht zeitgemäß angepasst worden sind. So erscheint in der EinglHVO der Begriff der Behinderung noch veraltet als Eigenschaft der Person und nicht wie zeitgemäß und im Sinne der UN-BRK erwartet, als Folge der Wechselwirkung verschiedener Barrieren. In diesem Zusammenhang weist Bieritz-Harder auch darauf hin, dass bei Anwendung der EinglHVO vergegenwärtigt werden sollte, dass die maßgebliche Definition des Behinderungsbegriffes in § 2 Abs. 1 SGB IX nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII zu finden ist.[42] Auch im Haufe-Kommentar heißt es, dass in der Praxis kein messbarer Unterschied zwischen dem Behinderungsbegriff nach § 2 Abs. 1 SGB IX i.V.m. der UN-BRK und dem Behindertenbegriff i.V.m. dem Leistungsanspruch aus § 53 SGB XII (wesentliche Behinderung) festzustellen ist und demnach eine Überarbeitung des § 53 SGB XII und der EinglHVO im Sinne einer Anpassung an die UN-BRK längst überfällig ist.[43]

2.4 SGB VIII

Im Rahmen des SGB VIII wird Eingliederungshilfe nur bei jungen Menschen mit einer seelischen Behinderung gewährt. Der Begriff der seelischen Behinderung geht konform mit dem allgemeinen Begriff der Behinderung nach § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX. Die Zweigliedrigkeit von Behinderung, nämlich zum einen die Störung und zum anderen das gleichzeitige und sich darauf beziehende Vorhandensein von Einschränkungen in der Partizipation wird in Nr. 1 und 2 des § 35a Abs. 1 SGB VIII deutlich. Jedoch unterscheidet sich die Definition einer drohenden seelischen Behinderung nach § 35a Abs. 1 S. 2 SGB VIII von einer drohenden Behinderung nach § 2 Abs. 1 S. 2 SGB IX.[44] Während es laut SGB IX ausreichend ist, dass allein der Eintritt der Beeinträchtigung zu erwarten ist, fordert der Gesetzgeber für eine drohende seelische Behinderung nach § 35a SGB VIII eine hohe Wahrscheinlichkeit für den Eintritt der Beeinträchtigung. Die hohe Wahrscheinlichkeit ist mit einer mehr als „…nur überwiegenden Wahrscheinlichkeit für den Eintritt der Behinderung“[45] auszulegen. Vorbehaltlich des § 7 SGB IX ist diese abweichende Regelung zwar zulässig, aber jedoch kann die unterschiedliche Ausweitung hier durchaus kritisiert werden.[46]

Der Behinderungsbegriff als solches und dessen Verständnis wird nach wie vor kritisch von Verbänden und Organisationen diskutiert. Die fortlaufenden Entwicklungen des Begriffes sowie des Begriffsfeldes unterlaufen jedoch der Gefahr, dass die Menschen, um die es hierbei geht, in Schubladen gesteckt werden bzw. ihnen ein Stempel aufgedrückt wird. Aber solange das vielfältige Sozialrecht mit seinen verschiedenen Leistungen und Zuständigkeiten für Menschen mit Behinderung Bestand hat, wird es notwendig sein, die Tatbestände genau zu prüfen und somit auch die Menschen in gewisser Art und Weise zu kategorisieren bzw. zu typisieren, um die entsprechenden Zuständigkeiten und notwendigen Leistungen zuordnen zu können.[47]

3. Eingliederungshilfe nach SGB XII

Während die Anzahl der Empfänger für Eingliederungshilfe in der gesamten Bundesrepublik im Rahmen des SGB XII im Jahr 1991 noch bei 324.211 lag, stieg die Anzahl der Hilfeempfänger bis ins Jahr 2004 auf fast das Doppelte: 628.966.[48] Laut der aktuellsten Erhebung des Statistischen Bundesamt waren im Jahr 2013 sogar 834.494 Hilfeempfänger registriert, was eine steigende Tendenz beweist und die Daseinsberechtigung von Eingliederungshilfe bestätigt.[49] Doch was genau umfasst die Eingliederungshilfe innerhalb der Sozialhilfe, was sind ihre Aufgaben und welche genauen Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit Menschen einen Anspruch darauf geltend machen können?

3.1 Aufgabe der Eingliederungshilfe innerhalb des SGB XII

Im § 53 SGB XII wird die besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe beschrieben, was darauf schließen lässt, dass die hier enthaltenen Aufgaben nicht abschließend zu betrachten sind, sondern dass parallel dazu noch allgemeine Aufgaben der Eingliederungshilfe bestehen. Präzise heißt es in Abs. 3: „Die besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern.“ Zum einen soll die Eingliederungshilfe also dazu beitragen, dass eine drohende Behinderung überhaupt gar nicht erst entsteht, dass eine Behinderung oder deren Folgen komplett beseitigt oder zumindest gemildert werden und zum anderen den betroffenen Menschen dabei helfen, sich in der Gesellschaft trotz seiner individuellen Einschränkungen ein- und zurechtzufinden. In diesem Zusammenhang werden zwei Teilaufgaben deutlich. Zum einen die Art von Hilfe in Bezug auf die eigentliche Behinderung und eine andere Art von Hilfe, die darauf abzielt, den Menschen trotz seiner körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigung ohne merkbare Einschränkungen an der Gesellschaft ganz im Sinne der UN-BRK teilhaben zu lassen. Der Gesetzgeber präzisiert im folgenden Satz 2 des 3. Absatzes, was die Eingliederung in die Gesellschaft umfasst, wobei auch diese Aufzählung nicht als abschließend anzusehen ist.[50] Die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft soll Menschen mit Behinderungen vereinfacht oder überhaupt erst ermöglicht werden. Z.B. umfasst auch die Teilnahme am gemeinsamen Schulunterricht oder eine berufliche Ausbildung die Gesellschafts-eingliederung, sowie die Betroffenen möglichst unabhängig von Pflege zu machen, also auch deren Selbsthilfe zu stärken. Das besondere und oberste Ziel der Eingliederungshilfe parallel zu den inklusiven Forderungen der UN-BRK ist es demnach, die Einschränkung in der gesellschaftlichen Teilhabe zu mildern oder bestenfalls ganz und gar zu beseitigen.[51]

Nicht unbedeutend in diesem Kontext ist auch die zentrale Aufgabe der Sozialhilfe und zugleich auch der Eingliederungshilfe, die aus § 1 Satz 1SGB XII hervorgeht und drei allgemeinere Ziele und somit auch Aufgaben der Eingliederungshilfe benennt. Eines dieser allgemeinen Ziele ist die Förderung zu einem selbstbestimmten Leben von Menschen mit Behinderungen, welches sich auch in den allgemeinen Grundrechten Freiheit und Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG widerspiegelt. Zwei weitere Ziele, welche sich auf den Zweck des Diskriminierungsverbotes aus dem Art. 3 Abs. 2 des GG beziehen, sind die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am Leben in der Gesellschaft und die Vermeidung von Benachteiligungen gegenüber nichtbehinderter Menschen (Barrieren/Diskriminierung). Basierend auf diesen allgemeinen Zielen und zugleich Grundsätzen müssen die spezielleren Ziele der Eingliederungshilfe verfolgt werden.

3.2 Anspruchsvoraussetzungen

Laut § 53 Abs. 1 SGB XII erhalten Personen Eingliederungshilfe, wenn die Teilhabefähigkeit an der Gesellschaft sie durch eine Behinderung wesentlich einschränkt oder sie von einer Behinderung bedroht sind, allerdings unter der Voraussetzung, dass Aussicht auf die Erfüllung der vorgenannten Aufgaben der Eingliederungshilfe besteht (Abs.3). Der Verweis innerhalb dieses Paragraphen auf die zentrale Definition des Behindertenbegriff aus dem SGB IX (§ 2 Abs. 1 Satz 1) engt den Personenkreis in Verbindung mit dem Bezug auf eine Bedrohung oder das Vorhandensein einer Behinderung und auf das Bestehen oder Drohen einer wesentlichen Teilhabeeinschränkung ein. Der unbestimmte Rechtsbegriff der wesentlichen Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Teilhabe wird bezogen auf die Rubriken der körperlichen, geistigen und seelischen Störungen in der Eingliederungshilfe-Verordnung näher erläutert.

§ 1 der EinglHVO definiert die körperlich wesentlich behinderten Menschen, die aufgrund ihrer körperlichen Gebrechen wesentlich in ihrer Teilhabefähigkeit eingeschränkt sind. Dem Wortlaut nach zu urteilen, muss neben der Prüfung der körperlichen Gebrechen auch der Grad der Teilhabefähigkeit in Bezug auf den Einzelfall in den Fokus gerückt werden. In Nr. 1 bis 6 des § 1 EinglHVO sind die auf der Funktionsstörung beruhenden Fähigkeitsbeeinträchtigungen erfasst. Ob und von welcher Beeinträchtigung die körperlichen Funktionen in erheblichem Umfang eingeschränkt sind, obliegt hierbei der medizinischen Disziplin. Um eine Klassifizierung vorzunehmen, kann sich die Medizin am System der ICD-10 bedienen (F.70-79). Die Feststellung der daraus resultierenden Teilhabebeeinträchtigung fällt hingegen in das Aufgabengebiet der Sozialen Arbeit, also Sozialarbeiter oder Sozialpädagogen, welche mithilfe des Klassifikationssystems ICF den Grad der Teilhabebeeinträchtigung ermitteln können.[52]

Geistig wesentlich behinderte Menschen sind nach § 2 der EinglHVO Menschen, die infolge einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in erheblichem Umfang eingeschränkt sind. Hier bedarf es auch der medizinischen Profession, die mentalen bzw. kognitiven Fähigkeiten festzustellen. Neben der medizinischen Feststellung des Grades der Beeinträchtigung der geistigen Kräfte, müssen auch hier Fachkräfte der Sozialen Arbeit den Grad der Teilhabebeeinträchtigung feststellen bzw. prognostizieren.[53] Es ist aber ungenügend, wenn man die geistige Behinderung über die niedrigen intellektuellen Fähigkeiten ausmacht. Denn nur wenn auf die erhebliche Fähigkeitsbeeinträchtigung eine Teilhabebarriere folgt, ist eine wesentliche Behinderung nach § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII gegeben. Auch spezielle Lernstörungen wie Legasthenie (Lese-Rechtschreib-Störung) oder Dyskalkulie (Beeinträchtigung des arithmetischen Denkens) können Grund für eine drohende oder bereits vorhandene geistige Behinderung sein.[54]

Abschließend wird in § 3 EinglHVO die seelische wesentliche Behinderung beschrieben. Hier werden die seelischen Störungen aufgezählt, die zu einer wesentlichen Einschränkung der Teilhabefähigkeit führen können. Es wird also nicht davon ausgegangen, dass bei jeder seelischen Störung auch eine erhebliche Fähigkeitsbeeinträchtigung vorliegt. Daher muss neben der Prüfung, ob die erhebliche Fähigkeitsbeeinträchtigung zu einer wesentlichen Teilhabebeeinträchtigung führt, auch geprüft werden, ob durch die seelische Störung überhaupt erst eine erhebliche Fähigkeitsbeeinträchtigung vorliegt. Als seelische Störungen werden in Nr. 1-3 psychische Erkrankungen (Psychosen, Neurosen, Sucht) oder unter Nr. 4 Folgen von Krankheiten oder Verletzungen beschrieben, welche auch nach der ICD-10 durch die Medizin klassifiziert werden können. Die Beurteilung, ob die Teilhabefähigkeit aufgrund der funktionalen seelischen Beeinträchtigung gegeben ist, sollte hier wieder durch Sozialarbeiter bzw. Sozialpädagogen erfolgen.[55]

Die Feststellung der Behinderung darf allerdings nicht auf den Katalog der EinglHVO beschränkt werden. Auch andere medizinische Diagnosen, welche länger als 6 Monate andauern, aber nicht in der EinglHVO aufgeführt sind, können Teilhabebeeinträch-tigungen nach sich ziehen. Auch hier ist es Aufgabe des Sozialhilfeträgers, zu prüfen, ob eine wesentliche Behinderung im Sinne des SGB XII vorliegt. Voraussetzung ist zunächst die medizinische Diagnose, dass eine körperliche, geistige und/oder seelische Störung vorhanden ist. Die Prüfung, ob die Teilhabefähigkeit wesentlich eingeschränkt ist, sollte auch dann möglichst durch Sozialarbeiter bzw. Pädagogen erfolgen. Letztlich ist es aber der Sozialhilfeträger, der die Behinderung feststellt und nicht die Fachärzte oder das Gesundheitsamt selbst, da diese lediglich die medizinische Diagnose abgeben. Auch wenn eine Behinderung bereits über das Versorgungsamt festgestellt wurde, hat der Sozialhilfeträger aufgrund des differenzierten Behinderungsbegriffes im SGB IX und SGB XII die wesentliche Behinderung im Sinne des SGB XII festzustellen unter der notwendigen aktuellen Einschätzung der Teilhabebeeinträchtigungen.

Wie die Bedrohung einer Behinderung beurteilt werden kann, ist in Abs. 2 des § 53 SGB XII geregelt. Hierbei wird auf die fachliche Erkenntnis abgestellt, dass die wesentliche Behinderung mit hoher Wahrscheinlichkeit (mehr als 50%[56] ) zu erwarten ist. Die Bedrohung ist also nicht erst präsent, wenn bereits eine wesentliche Beeinträchtigung vorliegt und eine Teilhabebeeinträchtigung zu erwarten ist. Vielmehr ist der Tatbestand vollkommen ausreichend, dass beide Faktoren, also die Störung und die daraus resultierende Einschränkung in der Teilhabe, in absehbarer Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit eintreten können. Folglich müsste hier auch wieder auf verschiedene Professionen zurückgegriffen werden, um das Eintreten der Bedrohung einer wesentlichen Behinderung einzuschätzen (med. Disziplin für die evtl. drohende gesundheitliche Beeinträchtigung; SozA für die evtl. drohende Teilhabebeein-trächtigung).[57]

Wenn die Voraussetzungen der wesentlichen Behinderung nicht in vollem Maße erfüllt sind, d.h., dass entweder die Teilhabe oder die Fähigkeit an sich nicht unbedingt wesentlich beeinträchtigt ist, liegt dem Sozialhilfeträger nach § 53 Abs. 1 S. 2 ein Ermessen für eine Leistungsgewährung zugrunde. Jedoch ist dieses Ermessen verfassungskonform so auszulegen, dass, wenn mit einer Gesundheits- oder Fähigkeitsstörung eine erhebliche Teilhabenbeeinträchtigung einhergeht, das Ermessen bei Null stagniert. Denn bestehend auf dem Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG und der aktuellen Rechtsprechung zur Gleichbehandlung im Normengeflecht dürfen verschiedene Gruppen behinderter Menschen nicht ungleich behandelt werden.[58] Daher ist es allgemein fraglich, ob eine Differenzierung des Behinderungsbegriffes innerhalb des Sozialgesetzbuches überhaupt verfassungskonform ist. Denn nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG dürfte die Voraussetzung für das Vorliegen einer Behinderung im SGB XII (wesentliche Behinderung) nicht von anderen Teilen des Sozialgesetzbuches abweichen.

Die Grundnorm der Eingliederungshilfe in § 53 Abs. 1 SGB XII besagt außerdem, dass Eingliederungshilfe geleistet wird, wenn Aussicht darauf besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt wird. Voraussetzung für die Behörde ist demnach, nicht nur zu prüfen, ob eine Behinderung vorliegt, sondern darüber hinaus auch nach Abs. 3 zu prüfen, ob eine Verbesserung oder eine Aufrechterhaltung[59] des Zustandes absehbar ist. Eine weitere Voraussetzung für den rechtlichen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe ist, dass diese auch geeignet sein müssen, um die Aufgabe der Eingliederungshilfe zu erfüllen.[60]

3.3 Leistungen der Eingliederungshilfe im Rahmen des SGB XII

Der nicht als abschließend anzusehende Leistungskatalog für mögliche Empfänger von Eingliederungshilfe ist in § 54 SGB XII aufgeführt. Der Katalog wird ergänzt und präzisiert durch die §§ 6-23 der EinglHVO. Auf eine ausführliche Darstellung aller in Betracht kommenden Leistungen wird aufgrund des Umfangs verzichtet. Für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen sind aus dem Leistungskatalog des § 54 SGB XII besonders relevant die:

- Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung (§ 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII i.V.m. § 12 EinglHVO)
- Hilfen zur schulischen Ausbildung für einen angemessenen Beruf einschließlich des Hochschulbesuchs (§ 54 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII i.V.m. § 13 EinglHVO)
- Hilfen zur Ausbildung für eine angemessene Tätigkeit (§ 54 Abs. 1 Nr. 3 SGB XII i.V.m. § 13a EinglHVO).
- und die Betreuung in einer Pflegefamilie (§ 54 Abs. 3 SGB XII)

Die Betreuung in einer Pflegefamilie unterliegt der Besonderheit, dass diese Leistung durch den Gesetzgeber bis zum 31.12.2018 befristet ist, was mit den aktuellen politischen Diskursen einer Neuregelung im Behindertenrecht zusammenhängt.

Darüber hinaus beinhaltet die Aufzählung laut Verweis in § 54 Abs. 1 SGB XII auch die Leistungen der medizinischen, beruflichen und sozialen Rehabilitation des SGB IX. Für den Einzelfall ist es daher wichtig, die notwendig werdende Hilfeleistung einem Hilfezweig zuzuordnen, damit die Nachrangigkeit der Sozialhilfe ggü. anderen Leistungsträgern nach § 2 SGB XII geprüft werden kann und damit der Grundsatz der Subsidiarität eingehalten wird.[61] Weitere für Kinder und Jugendliche relevante Leistungsarten aus den Leistungskatalogen, auf die in Abs. 1 des § 54 Abs. 1 SGB XII verwiesen wird, wären die im SGB IX festgehaltenen

- Hilfen zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder (§ 26 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 30 SGB IX)
- Hilfen zur Berufsvorbereitung einschließlich einer wegen der Behinderung erforderlichen Grundausbildung (§ 33 Abs. 3 Nr. 2 SGB IX)
- heilpädagogischen Hilfen für Kinder, die noch nicht eingeschult worden sind (§ 55 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 56 SGB IX)
- und die Hilfen zur Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben (§ 55 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX).

Die Erbringung von Eingliederungshilfeleistungen kann im Sinne des § 13 SGB XII in stationärer Form erfolgen, also in einer Einrichtung oder Wohnstätte, in teilstationärer Form z.B. einer Tagesstätte oder aber auch in ambulanter Form, also in der eigenen Häuslichkeit. Hierbei gilt es aber den Grundsatz einzuhalten „ambulant vor stationär“ (bzw. ambulant vor teilstationär und teilstationär vor ambulant), damit die Selbsthilfe des jungen Menschen gefördert wird bzw. erhalten bleibt.

3.4 Persönliches Budget

Eine besondere Form, wie der öffentliche Sozialhilfeträger die Leistungen für Eingliederungshilfe erbringen kann, ist das Persönliche Budget. Basierend auf dem Wunsch und Wahlrecht nach § 9 SGB IX stellt das Persönliche Budget eine betragsmäßig bestimmte Geldleistung für einen definierten Hilfebedarf dar, „…die einem Leistungsberechtigten zur selbstbestimmten und selbstorganisierten Deckung seiner Bedarfe zur Verfügung gestellt wird.“[62] § 9 Abs. 2 SGB IX beinhaltet die Grundlage für die Umwandlung von Sachleistungen in Geldleistungen. Hier heißt es, Sachleistungen zur Teilhabe können auf Antrag des Leistungsberechtigten als Geldleistung erbracht werden, wenn die Leistungen hierdurch voraussichtlich bei gleicher Wirksamkeit wirtschaftlich zumindest gleichwertig ausgeführt werden können. Neben diesen Leistungen sind laut § 17 Abs. 2 S. 4 SGB IX auch Leistungen der Krankenkassen und Pflegekassen, Leistungen der Träger der Unfallversicherung bei Pflegebedürftigkeit, sowie Hilfe zur Pflege der Sozialhilfe budgetfähig. Durch den jeweiligen Träger müssen folglich die individuellen Bedarfe bemessen werden[63] (siehe auch § 17 Abs. 3 Satz 3 SGB IX). Anhand dieses Bedarfes kann die Höhe der Geldleistung bestimmt werden, die direkt an den Hilfeempfänger erbracht wird, damit dieser eigenverantwortlich den oder die Dienstleister für seine erforderlichen Hilfen bezahlen kann.

Es werden zwei Arten des Persönlichen Budgets unterschieden. Kommt ein Leistungsträger als alleiniger Kostenträger der Hilfeleistungen in Betracht, ist die Bezeichnung einfaches Persönliches Budget angebracht. Im Umkehrschluss handelt es sich bei der anderen Art um das Persönliche Budget, bei welchem organisatorisch und rechtlich mehrere Träger bei der Erbringung der Leistung beteiligt sind. Hier wird auch im gesetzlichen Sinne der Begriff Trägerübergreifendes Persönliches Budget verwendet.[64] Leistungsberechtigte, die für Eingliederungshilfe infrage kommen, können laut § 57 SGB XII auch das Trägerübergreifende Budget erhalten (was das einfache P.B. aber nicht ausschließt). Hier verweist Satz 2 auf den § 17 SGB IX und auf die Budgetverordnung vom 27. Mai 2004. In der Budgetverordnung wird das nähere Verfahren geregelt, indem u.a. eine Zielvereinbarung zwischen dem Träger und dem Hilfeberechtigten geschlossen werden soll, in der Festlegungen getroffen werden, wie z.B. dass die Geldleistungen auch in Form von Gutscheinen erbracht werden können oder aber auch, welcher Träger als beauftragter also als hauptverantwortlicher Träger auftritt (i.V.m. § 80 SGB X).

Das Persönliche Budget ist im Sinne der Behindertenrechtskonvention gradewegs dazu prädestiniert, die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der Menschen mit Behinderungen zu fördern. Schon durch den Begriff des Persönlichen Budgets wird auch das Individualisierungsprinzip deutlich. Mit diesem Prinzip lässt sich die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen deutlich verbessern und gleichzeitig steigt deren Lebensqualität.[65] Der Gesetzgeber geht darüber hinaus auch von einer institutionellen Steigerung von Effektivität und Effizienz aus, sodass sich mittels des Persönlichen Budgets Kosten einsparen und gleichzeitig überdurchschnittliche Ergebnisse erzielen lassen können.[66]

[...]


[1] vgl. Wansing in Welke (Hrsg.) 2012, S. 93f

[2] vgl. Kotzur und Richter in Welke (Hrsg.) 2012, S. 81 Rz 1

[3] vgl. Bieritz-Harder Hrsg. Deinert/Welti 2014, S. 626

[4] vgl. Kotzur und Richter in Welke (Hrsg.) 2012, S. 81 Rz 3

[5] vgl. Palleit in Welke (Hrsg.) 2012, S. 119 Rz 1

[6] vgl. Palleit in Welke (Hrsg.), S 124 Rz 20f

[7] vgl. Banafsche Hrsg. Deinert/Welti 2014, S. 139 Rz 14

[8] vgl. Minninger 2013, S. 48

[9] vgl. Banafsche Hrsg. Deinert/Weiti 2014, S. 139

[10] vgl. Minninger 2013, S.48ff und Aichele 2013, S. 38

[11] vgl. Aichele und Althoff in Welke (2012), S. 115 Rz 61f

[12] vgl. Klauß 1999, S. 54

[13] vgl. Waltermann 2008, S. 9 und Ratgeber für Menschen mit Behinderungen 2014, S. 119f

[14] vgl. Waltermann 2008, S. 6

[15] Joussen in Einführung-LPK SGB IX Rz 1

[16] vgl. Bieritz-Harder Hrsg. Deinert/Weiti 2014, S. 626 Rn 4

[17] vgl. Jousson in Einführung LPK-SGB IX Rz 4

[18] vgl. Joussen in Einführung LPK-SGB IX, Rz 30

[19] vgl. Joussen in Einführung LPK-SGB IX, Rz 29

[20] siehe hierzu Punkt 3.4 Persönliches Budget

[21] vgl. Jousson in Einführung LPK-SGB IX, Rz 33-34

[22] vgl. Joussen in Einführung LPK-SGB IX, Rz 17

[23] Joussen in LPK-SGB IX § 7 Rz 6

[24] vgl. Joussen in LPK-SGB IX § 7 Rz 8

[25] vgl. Tammen in Münder/Wiesner (Hrsg.) 2007, S. 275 Rz 2

[26] vgl. Conradis in Rothkegel (Hrsg.) 2005, S. 442 Rz 2

[27] vgl. Welti 2014, S. 147

[28] BGBl. Nr. 5 vom 27.02.1957 - § 19 Abs. 3 Nr. 1 Körperbehindertengesetz (Anlage 1)

[29] vgl. Welti 2014, S. 148 Rz 3

[30] vgl. Welti 2014, S. 148 Rz 4f

[31] Übersetzung Dt.: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme

[32] vgl. Bieritz-Harder in LPK-SGB XII § 53 Rz 6

[33] vgl. Münder u.a. FK-SGB VIII, § 35a Rz 34-36

[34] Kotzur und Richter in Welke (Hrsg.) 2012, S. 86 Rz 10

[35] vgl. Banafsche Hrsg. Deinert/Welti 2014, S. 138 Rz 11

[36] vgl. Bieritz-Harder in LPK-SGB XII § 53 Rz 4 und BT-Dr. 14/5074, S. 98

[37] vgl. Minninger 2013, S. 51 und Waltermann 2008, S. 266

[38] vgl. Welti 2014, S. 150 Rz 13

[39] vgl. Joussen in LPK-SGB XII § 2 Rz 6-8

[40] Welti 2014, S. 150 Rz 14

[41] auf die wesentliche Behinderung wird in Punkt 3.2 näher eingegangen

[42] vgl. Bieritz-Harder in LPK-SGB XII § 53 Rz 11

[43] URL1: Schell in Haufe 2015

[44] vgl. Vondung in LPK-SGB VIII § 35a Rz 6a

[45] Vondung in LPK-SGB VIII § 35a Rz 8

[46] vgl. Vondung in LPK-SGB VIII § 35a Rz

[47] vgl. Welti 2014, S. 148 Rz. 2

[48] vgl. Tabelle Hilfeempfänger nach Hilfearten Münder in Einführung LPK-SGB XII, S. 37

[50] Wortlaut in Bezug der Aufgabenaufzählung § 53 Abs. 3 S. 2 SGB XII „insbesondere“

[51] vgl. Theben Hrsg. Welti 2014, S. 275f Rz 14 und 23

[52] vgl. Bieritz-Harder in LPK-SGB XII § 53 Rz 12

[53] vgl. Bieritz-Harder in LPK-SGB XII § 53 Rz 15

[54] vgl. Münder u.a. FK-SGB VIII, § 10 Rz. 42

[55] vgl. Bieritz-Harder in LPK-SGB XII § 53 Rz 16

[56] Urteil BVerwG 26.11.1998 5 C 38.97 – FEVS 49, 487, 489

[57] vgl. Bieritz-Harder in LPK-SGB XII § 53 Rz 17

[58] vgl. Bieritz-Harder in LPK-SGB XII, § 53 Rz 21

[59] Bei Aussicht auf Verschlimmerung

[60] vgl. Bieritz-Harder in LPK-SGB XII § 53 Rz 20

[61] vgl. Bieritz-Harder in LPK-SGB XII § 54 Rz 1-2

[62] Rothenburg 2009, S.39

[63] vgl. Welti 2014, S. 666

[64] vgl. Rothenburg 2009, S. 41f

[65] vgl. Sobota Hrsgb. BdB e.V. 2013, Einführung S. 22

[66] vgl. Rothenburg 2009, S. 50

Ende der Leseprobe aus 67 Seiten

Details

Titel
Eingliederungshilfe für junge Menschen mit Behinderungen. Abgrenzung von SGB VIII und SGB XII und Praxis im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte
Hochschule
Hochschule Neubrandenburg
Autor
Jahr
2015
Seiten
67
Katalognummer
V306094
ISBN (eBook)
9783668040014
ISBN (Buch)
9783668040021
Dateigröße
894 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Behinderung, Sozialrecht, Kinder, Jugendliche, SGB VIII, SGB XII, Sozialhilfeträger, Jugendhilfeträger, Abgrenzungsproblematik, Schnittstelle
Arbeit zitieren
Maik Gerasch (Autor:in), 2015, Eingliederungshilfe für junge Menschen mit Behinderungen. Abgrenzung von SGB VIII und SGB XII und Praxis im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/306094

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