Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Bedeutung von Bindungsbeziehungen
2.1 Deprivation und Hospitalismus
2.2 Mutter-Kind-Bindung
2.3 Die Bindungstheorie
2.3.1 Grundannahmen der Bindungstheorie
2.3.2 Konzept der Feinfühligkeit
2.3.3 Die „Fremde Situation“
3. Literaturverzeichnis (inkl. weiterführender Literatur)
1. Einleitung
Auch wenn das Bewusstsein für die Tragweite der Thematik noch lange nicht etabliert ist, ist das Thema „Trauma“ allgegenwärtig. Die Medien berichten, mal reißerisch, mal seriös, von verschiedensten Phänomenen, die Menschen traumatisieren können: von Naturkatastrophen über Kriege bis hin zu Verkehrsunfällen. Aber besonders die „man-made desaster“, von Menschenhand verursachte Traumata durch interpersoneller Gewalt wie Missbrauch oder Gewalt in der Familie, schockieren. Erschreckende Berichterstattung über Misshandlungs- und Missbrauchsfälle, Attentate oder Amokläufe sind schon fast zur Normalität geworden, allerdings eine Normalität, die sich auf die Medien und auf eine fiktiv wirkende Welt bezieht, niemand kann sich vorstellen, welche Motive einen Menschen veranlassen, seinen Kindern, Ehepartnern oder seinen Mitmenschen derartiges Leid zuzufügen. Unter anderem möchte ich hier – bei den möglichen psychologischen Grundlagen eines solchen Verhaltens – mit meiner Arbeit ansetzen und meinen Fokus deshalb – nach einer allgemeinen Definition des Begriffes Trauma – auf die Traumata in Folge menschlicher Aggressivität und Gewalt in Kindheit und Jugend, insbesondere auf familiäre Gewalt, physischer, psychischer oder sexueller Art richten. Denn aufgrund meiner langjährigen Beschäftigung mit dem Thema „Gewalt“ und „Verhaltensstörungen“ stelle ich die These auf, dass die Ursachen dieser beiden Phänomene in den meisten Fällen, insofern biologische Ursachen ausgeschlossen werden können, in bestimmten Erfahrungen zu suchen sind. Da Erfahrungen auch immer grundlegend von der Gesellschaft, in der ein Kind aufwächst, geprägt sind, möchte ich des Weiteren auf die aktuellen gesellschaftlichen Umstände eingehen und die Frage erörtern, inwiefern sie einen Nährboden für Traumatisierungen darstellen.
Die Gesellschaft stellt mit ihrer Kultur und ihren Normen die Makroebene dar, die sich unmittelbar auf die Mikroebene, also die zwischenmenschlichen Beziehungen – beispielsweise die innerfamiliären – auswirkt. Da die Familie die erste und wichtigste Sozialisationsinstanz ist, sind die Beziehungserfahrungen, die das Kind hier macht, grundlegend und richtungsweisend für die gesamte Entwicklung. Dies soll anhand der Arbeiten über das Deprivationssyndrom von René Spitz und anderen sowie der Erkenntnisse der Bindungsforschung, initiiert durch die Bindungstheorie des englischen Psychiaters John Bowlby, belegt werden. Fakt ist, dass nicht jeder Mensch in gleicher Weise auf potentiell traumatisierende Situationen reagiert. Ich möchte verdeutlichen, dass es bestimmte Faktoren gibt, die Einfluss auf die Entstehung eines Traumas haben. Zum einen die Risikofaktoren, die ein Trauma begünstigen und zum Anderen die Schutzfaktoren, die die Wirkung einer traumatischen Situation mildern können. Vor allem eine stabile – nach Bowlby sicher gebundene – Beziehung zur primären Bezugsperson, die unter anderem auf einer prompten Befriedigung der kindlichen Bedürfnisse basiert, stellt einen wichtigen Schutzfaktor dar. Die Bindungsforschung hat allerdings herausgefunden, dass, wenn das Gegenteil der Fall ist, die Bindung also unsicher ist, diese sich transgenerational überträgt. Das bedeutet, wenn die Bindung, beispielsweise durch Gewalterfahrungen mit dieser Person unsicher ist, der Mensch mit hoher Wahrscheinlichkeit später auch nicht adäquat auf die Bedürfnisse der eigenen Kinder eingehen können wird, was wiederum zu einem unsicheren Bindungsstil der Kinder führen kann. Diese intergenerationale Transmission soll einen weiteren Gegenstand meiner Auseinandersetzungen mit dem Trauma darstellen, woraufhin weitere Schutz- bzw. Risikofaktoren angeführt werden.
2. Die Bedeutung von Bindungsbeziehungen
Im Vergleich zu den meisten Tierarten ist der menschliche Säugling eine lange Zeit unmittelbar abhängig von seinen Bezugspersonen. Da die Verhaltensweisen des Menschen um einiges differenzierter und weniger durch angeborene Mechanismen determiniert sind, sind sie auf die kontinuierliche und wechselseitige Interaktion von Individuum und Umwelt angewiesen. Dabei ist die Herausbildung einer Bindungsbeziehung zur Pflegeperson sowie deren konstante Verfügbarkeit in Bezug auf sowohl physische als auch emotionale Bedürfnisse von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung.
2.1 Deprivation und Hospitalismus
Wird Kindern jegliche Zuwendung versagt und werden ihnen nur die physischen Bedürfnisse befriedigt, wie es beispielsweise in Zeiten der Kollektiverziehung in Kinderheimen der Fall war – in der Zeit von 1967 bis 1970 waren 2 % der deutschen Kinder in einem Säuglingsheim untergebracht (vgl. Seibert, 1974, S. 27) –, so können Symptome der Deprivation auftreten.
Der Begriff der Deprivation kann in zweierlei Hinsicht verwendet werden. Er kennzeichnet zum Einen Situationen, die einen Mangel an sensorischer, emotionaler und sozialer Stimulation aufweisen, also Lebensbedingungen, die das Individuum in seinen motorischen Aktivitäten und in den Möglichkeiten zur Übung seiner psychischen Funktionen einschränken. Zum Anderen versteht man unter Deprivation ein umfassendes Erklärungsprinzip. Es stellt das theoretische Bindeglied zwischen den als deprivierend beschriebenen Umweltbedingungen und ihren verschiedenen nachteiligen Folgen dar.
Analog hierzu ist der Begriff des Deprivationssyndroms, auch Hospitalismus (Pfaundler, 1924, Spitz, 1945, 1967), anaklitische Depression (Spitz, 1946), Pflegeschaden oder chronisches Verlassenheitssyndrom (Meierhofer und Keller, 1966) genannt, der die nachteiligen Folgen der Entbehrung ausreichender sozialer Zuwendung, meist aufgrund eines Krankenhaus- oder Heimaufenthaltes beschreibt (alle oben genannten Autoren nach Moog/ Moog, 1973, S. 8 ff.).
Harry Harlow forschte zu diesem Thema anhand eines Experimentes mit jungen Rhesus-Affen. Er ließ diese zwischen zwei verschiedenen „Mutter-Attrappen“ wählen, einer Drahtgestellattrappe, die Milch spendete und einer mit Plüsch überzogenen Attrappe, die keine Nahrungsquelle darstellte. Die Drahtgestellmutter wurde ausschließlich zur Nahrungsaufnahme aufgesucht, während Schutz- und Nähebedürfnis bei der plüschigen Ersatzmutter befriedigt wurden. Die jungen Affen konnten durch die Erfüllung dieser Bedürfnisse zwar ihre Umwelt erkunden, zeigten allerdings keine große Entwicklung, da ihnen ein Vorbild fehlte.
Das Experiment wurde ein zweites Mal, diesmal ohne Plüschattrappe durchgeführt. Die Affen zeigten Angst, Stereotypie der Bewegungen und Aggressionen, auch teilweise gegen sich selbst gerichtet (vgl. Seibert, 1974, S. 20).
Durch fehlende Reaktion auf Bedürfnisäußerungen entwickeln Kinder Todesangst, die traumatisierend wirkt. Das natürliche Vertrauen, das „Urvertrauen“ in die Eltern als Schutz und Geborgenheitsquelle wird erschüttert, was mit Wut und dem zumindest vorübergehenden Zusammenbruch der positiven Wahrnehmung des eigenen Körpers und seiner Funktionen einhergeht.
Die „anaklitische Depression“ mit ihren Symptomen wurde von René Spitz unter anderem auch in Filmen beschrieben. Seine Untersuchungen an deprivierten Kindern zeigen, dass die Entbehrung der Mutterliebe, dem „größten Bedürfnis des Kleinkindes“, häufig körperliche und psychische Krankheit („affektive Mangelerkrankung") trotz guter Ernährung und Hygiene nach sich zieht. Anfällig seien Kinder im Alter zwischen drei Monaten und fünf Jahren, besonders zwischen zwei und drei Jahren. Die Dauer der Entbehrung, der Entwicklungsstand des Kindes und die vor der Trennung entwickelte Mutter-Kind-Bindung bestimmen das Ausmaß der Störung. Je jünger das Kind ist und je länger die Trennung dauert, desto gravierender sind die Folgen, wohingegen Trennungen von kurzer Dauer oder direkt nach der Geburt selten schwere Schäden hervorrufen.
Im ersten Monat nach der Muttertrennung verzeichnete Spitz Weinerlichkeit, während im zweiten schon ein Entwicklungsrückstand mit zunehmender Kontaktverweigerung, Schlaflosigkeit, Gewichtsverlust und erhöhter Anfälligkeit für Infektionskrankheiten, eine verlangsamte Motorik und ein starrer Gesichtsausdruck zu beobachten waren. Der vierte und fünfte Monat markierten ein Übergangsstadium in dem eine Verschlimmerung der Symptome stattfand, die allerdings im Falle einer Mutterrückführung verschwanden.
Spitz grenzte die oben genannten Begriffe noch einmal voneinander ab und sprach bei bis zu 3 Monaten Muttertrennung von den Symptomen einer „anaklinitischen Depression“ während er die Folgen einer fünfmonatigen oder längeren Trennung als „Hospitalismus“ bezeichnete. Deren Symptome seien zwar verringerbar, könnten aber nie völlig ausheilen. Weiter zeigten die deprivierten Kinder Passivität oder Aggressivität, Stagnation und Kontaktverweigerung, pathognomische Stellung, teilweise Gewichtsverlust, Schlaflosigkeit und keine Entwicklung der Motorik, Mimik oder der Sprache. Es war ein Absinken des Intelligenzquotienten zu verzeichnen und ohne Therapie stellte sich ein Zustand von raschem körperlichem Verfall (Marasmus) ein.
Untersuchungen zeigen, dass bis Ende des zweiten Lebensjahres die Sterblichkeitsquote hospitalisierter Kinder bis auf das Zehnfache von jener von Kindern mit einer ausreichenden Bemutterung ansteigt (vgl. Spitz nach Moog/Moog, 1973, S. 29 ff. und nach Brisch/Hellbrügge, 2006, S. 39 f.).
Auch ist das Phänomen der „Retardation“ häufig unter deprivierenden Bedingungen zu beobachten. Dies ist das Verharren in einem nicht dem Alter gemäßen Zustand der psychischen Unreife und die starke Einschränkung des Repertoires an verfügbaren Verhaltensweisen, was sich auf alle Bereiche der Persönlichkeit beziehen kann und die oben bereits angesprochene Störung der emotionalen und sozialen Anpassung und der geistigen Leistungsfähigkeit einschließt. Auf einzelne Verhaltensweisen beschränkt kann sich auch eine partielle oder Teilretardation entwickeln (vgl. Moog/Moog, 1973, S.6).
Auch wenn ein hospitalisiertes Heimkind später in eine Familie kommt, in der es eine entwicklungsgemäße Förderung und genügend Zuwendung bekommt, so können doch noch Symptome wie Stottern, Depression, Angst, Einkoten oder -nässen, Tic-Störungen, Nahrungsaufnahmestörungen, Unfähigkeit zu sozialen Kontakten oder Empathie und starkes Misstrauen auftreten.
Untersuchungen mit Jugendlichen, die als Kinder unter deprivierenden Bedingungen in einem Heim aufwuchsen, ergaben, dass sich bei den Betroffenen in der Adoleszenz gegenüber einer gleichaltrigen Vergleichsgruppe häufiger Phänomene wie Streunen, Wegbleiben von Schule und Arbeit, Eigentumsdelikte, sexuelle Verwahrlosung oder kriminelle Gefährdung zeigten. Die Heimkinder lagen in ihrem Intelligenzniveau niedriger und wiesen Störungen im Leistungsbereich auf (vgl. Hellbrügge, 1966 nach Brisch/Hellbrügge, 2006, S. 47).
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