Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Begriffserläuterung
1.1.1 Pflicht
1.1.2 Der kategorische Imperativ
1.1.3 Der gute Wille
2. Die Lüge als Pflicht gegen sich selbst nach §9 aus der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten genommen
2.1 Grundlegendes
2.2 Die Pflicht gegen sich selbst
2.2.1 Das Problem der Widersprüchlichkeit der Pflicht gegen sich selbst
2.3 Wieso ist die Lüge eine Verletzung der Pflicht gegen sich selbst?
3. Interpretationsansätze
3.1 Tiedemann - Ja, es gibt Pflichten gegen sich selbst
3.2 Lohmar - Nein, es gibt keine Pflichten gegen sich selbst
4. Stellungnahme und Fazit
5. Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Pflicht - ein Begriff, mit dem der Mensch täglich konfrontiert wird. Doch was ist eigentlich eine Pflicht? Ist der Pflichtbegriff eindeutig definierbar? Wer verpflichtet sich wem gegenüber zu was? Mit diesen und weiteren Fragen, hat sich schon Immanuel Kant in seinem Werk, der Metaphysik der Sitten1 beschäftigt.
Das zentrale Thema dieser Arbeit ist es, darzulegen ob, und vor allem, wie Kant zu der Annahme kommt, dass die Lüge eine Pflicht gegen sich selbst ist. Hierzu wird hauptsächlich Bezug auf §9 der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten2 genommen. Desweiteren werden zwei Interpretationen, zum einen die von Tiedemann3, einem Befürworter der Existenz von Pflichten gegen sich selbst, zum anderen die Interpretation von Lohmar4, einem Kritiker der Pflicht gegen sich selbst, beigezogen, um zu diskutieren, ob es überhaupt Pflichten gegen sich selbst gibt. Zuletzt werde ich eine Stellungnahme zu der These, dass es Pflichten gegen sich selbst gibt, nehmen und mich dabei auf Kant und die Interpretationen, die auf seinen Text ausgerichtet sind, beziehen.
Es sollten noch einige Begriffe erklärt werden, die für das Verstehen, vorliegender Arbeit, von Nöten sein könnten.
1.1 Begriffserläuterung
1.1.1 Pflicht
Pflicht ist „der Selbstzwang des Menschen aus Achtung vor dem Gesetz, das ihm seine Vernunft gibt“5.Eine Pflicht liegt immer dann vor, wenn der Handelnde „passiv genötigt“, also verbunden wird.6 Die Handlung ist somit notwendig, wie sich aus dem Wort „genötigt“ erschließen lässt. Kant teilt Pflichten ihren moralischen Werten zu. Hierzu zählen Handlungen, die pflichtwidrig sind, also keinerlei Moral beinhalten, außerdem Handlungen die pflichgemäß7 sind, zu der der Mensch keine unmittelbare Neigung8 hat, aber durch eine andere Neigung dazu getrieben wird. D.h., dass auf die Handlung keine direkte Neigung abzielt, man aber passiv, durch eine andere Neigung, zu dieser Pflicht gebracht wird. Sie hat dadurch keinen moralischen Gehalt. „Denn bei dem, was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, daß es dem sittlichen Gesetze gemäß sei, sondern es muß auch um desselben willen geschehen.“9 Und letztendlich die Handlung, die einen moralischen Gehalt hat. Die Handlung aus Pflicht10, die Neigungen ausschließt.
1.1.2 Der kategorische Imperativ
Die Handlung aus Pflicht basiert auf dem kategorischen Imperativ. „Ich soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.“11 Und diese muss dem kategorischen Imperativ zufolge allgemeingültig vorstellbar sein. Daraus erschließt sich, dass „der Mensch und überhaupt jedes vernunftbegabte Wesen […] als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel12 “ existiert. Das führt uns zum guten Willen.
1.1.3 Der gute Wille
Nach Kant sei der gute Wille13 „allein durch das Wollen“14 gut. Hier bleiben die Folgen, die der Wille evtl. nach sich zieht, unberücksichtigt. „Eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Wert nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird.“15 Kant stellt die Frage „Was ich also zu tun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei?“16 und beantwortet sie damit, dass man sich vorstellen soll, dass durch das Wollen, diese Maxime zu einem allgemeingültigen Gesetz werde.17 Er führt uns also hier wieder zum kategorischen Imperativ. Der „an sich18 gute Wille sei es auch, „was die Pflicht ausmacht“.19
2. Die Lüge als Pflicht gegen sich selbst nach §9 aus der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten genommen
Ein Hinweis: Da das zentrale Thema vorliegender Arbeit von den Pflichten gegen sich selbst handelt, finden die Pflichten gegen andere etwas weniger Beachtung, als erstgenannte.
2.1 Grundlegendes
Wichtig für die Bearbeitung des Themas ist die „Einteilung“ des Menschen. Der Mensch kann als animalisches20 Wesen und als bloß moralisches Wesen21 Pflichten gegen sich selbst haben. Als Vernunftwesen sei der Mensch, zu innerer Freiheit22, begabt. Er sei also nach Kant, durch diese innere Freiheit in der Lage, eine Pflicht gegen sich selbst anzuerkennen.23 Eine Pflicht gegen sich selbst sei demnach eine Pflicht, bei der Subjekt und Adressat der Handlung eine Person, also „in sich identisch“ sind.24 Hier taucht das Problem des Widerspruchs auf, was im Folgenden noch besprochen wird.
Für den Menschen als bloß moralisches Wesen gilt das Verbot, sich der „inneren Freiheit“ zu berauben. Das ist die Pflicht, die der Mensch gegen sich selbst hat. Kant nennt hier die Lüge, den Geiz und die falsche Demut (Kriecherei) als Laster, die der Pflicht des Erhalts der inneren Freiheit gegenüberstehen.25 Es ist also „die Pflicht des Menschen gegen sich selbst, bloß als einem moralischen Wesen“26, diese Laster zu umgehen.
Wir nehmen die Lüge als Untersuchungsgegenstand und versuchen uns anhand dieses Lasters ein Bild davon zu machen, wieso das Umgehen der Lüge eine Pflicht gegen sich selbst ist.
2.2 Die Pflicht gegen sich selbst
Wie kommt Kant zu der Annahme, dass es Pflichten gegen sich selbst gibt? Schon zu Anfang seiner Tugendlehre in der Metaphysik der Sitten, legt Kant dar, dass ich mich als Mensch nicht mit anderen als verbunden erklären kann, solange ich mich nicht mit mir selbst verbinde.27 Bedeutet das also, dass ich die Pflichten, die ich als Mensch habe, erst auf mich projizieren muss, bevor ich Pflichten gegenüber anderen Personen haben kann? Diesen Gedanken führt er fort, indem er sagt „weil das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner eigenen praktischen Vernunft hervorgeht, durch welche ich genötigt werde, indem ich zugleich der Nötigende in Ansehnung meiner selbst bin.“28
Damit ist gemeint, dass ich, als Vernunftwesen, jede Handlung von dieser praktischen Vernunft „ableite“. Ich bin also der Genötigte, der Adressat und gleichzeitig Nötigender, das Subjekt der Handlung, weil jede Handlung aus meiner Vernunft stammt, bevor sie ausgeführt wird.
Kant stellt die These auf, dass die Pflicht gegen sich selbst auch dann bestünde, hätte ich keine Pflichten gegen andere Menschen oder wäre ich der einzige Mensch, der zu einer Pflicht fähig wäre.29 Dazu zählt auch, dass es gleichgültig sein muss, was sie für andere Personen bedeuten würde.30 Und diese Pflicht müsste auch dann bestehen, würde es gar keine Pflichten gegen andere geben.31 Daraus ist abzuleiten, dass „das Bestehen von Pflichten gegen sich selbst für das Bestehen äußerer Pflichten erforderlich ist.“32 Darauf wurde bereits Bezug genommen, als aufgeführt wurde, wie Kant zu der Annahme kommt, dass ich mich als Mensch erst mit mir selbst verbinden muss, um mich mit anderen verbinden zu können.
2.2.1 Das Problem der Widersprüchlichkeit der Pflicht gegen sich selbst
Um die Möglichkeit einer inneren Lüge zu beweisen, sei eine zweite Person erforderlich, „die man zu hintergehen die Absicht hat“.33 Es scheint einen Widerspruch zu haben, sich selbst betrügen zu können. Hier liegt eine nach Kant „scheinbare“ Antinomie34 vor, die es aufzuklären gilt. Wenn ich doch selbst Subjekt und Adressat meiner Lüge bin, wie soll ich wissen, oder nicht wissen, dass ich lüge oder nicht lüge? Um diesen Widerspruch aufzulösen, versucht Kant nachzuweisen, dass „der Mensch eben ‚nicht in einem und demselben Sinn gedacht‘ werden dürfe, sondern ‚in zweifacher Qualität‘“.35
Kant beleuchtet den Menschen auf zwei verschiedene Weisen. Das Sinnenwesen oder auch Naturwesen (homo phaenomenon) mit seiner animalischen Moral und das Vernunftwesen (homo noumenon).36 Als homo noumenon bin ich ein „mit innerer Freiheit begabtes Wesen“.37 In Bezug auf die Pflicht ist der homo phaenomenon das Wesen, das verpflichtet wird, der Verpflichtung also passiv fähig ist und der homo noumenon das Wesen, das aktiv verpflichtet.38 Bedeutet dies nun, dass ich in meiner Person als Subjekt den homo noumenon und als Adressat der Handlung den homo phaenomenon darstelle?39 Kant sagt, dass der Mensch nur „in [eben dieser] zweierlei Bedeutung betrachtet“40 wird und somit in der Lage ist, eine Pflicht gegen sich selbst anerkennen zu können.41
[...]
1 Kant, Immanuel; Ebeling, Hans (Hrsg. u. Einleitung): Metaphysik der Sitten, Stuttgart 2011.
2 Vgl. MS, AA 06: 429-431.
3 Tiedemann, Paul: Gibt es Pflichten gegen sich selbst? - Ja- Eine Replik auf Achim Lohmar. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Frankfurt a. M., Jg. 30, 2005, S. 179-192.
4 Lohmar, Achim: Gibt es Pflichten gegen sich selbst? In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Köln, Jg. 30, 2005, S. 47-65. Und: Lohmar, Achim: Warum es keine Pflichten gegen sich selbst gibt. Antwort auf Paul Tiedemann. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Köln, Jg. 32, 2007, S. 291-298.
5 Horn, Christiane: Die Pflicht, sich gesund zu erhalten, als Pflicht gegen sich selbst bei Immanuel Kant. Marburg, 2004. S.52.
6 Vgl. MS, AA 06: 417.
7 GMS, AA 04: 397-398.
8 Vgl. Ebd.
9 GMS, AA 04: 390.
10 Vgl. GMS, AA 04: 398-399.
11 GMS, AA 04: 402. Hier eine verständliche Form, die den Sinn des kategorischen Imperativs, darstellt.
12 GMS, AA 04: 428.
13 Vgl. GMS, AA 04: 393-394.
14 Ebd.
15 GMS, AA 04: 399.
16 GMS, AA 04: 403.
17 Vgl. GMS, AA 04: 403.
18 GMS, AA 04: 403.
19 Ebd.
20 Vgl. MS, AA 06: 421.
21 Vgl. MS, AA 06: 428.
22 MS, AA 06: 420.
23 Ebd.
24 Auf die Problematik, die hierbei entsteht, verweise ich in Kapitel 2.2.
25 Vgl. MS, AA 06: 428.
26 Ebd.
27 Vgl. MS, AA 06: 417.
28 Ebd.
29 Vgl. Lohmar, Achim: Gibt es Pflichten gegen sich selbst? In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Köln, Jg. 30, 2005, S. 55.
30 Vgl. Lohmar, Achim: Gibt es Pflichten gegen sich selbst? In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Köln, Jg. 30, 2005, S. 53.
31 Vgl. Lohmar, Achim: Gibt es Pflichten gegen sich selbst? In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Köln, Jg. 30, 2005, S. 54.
32 Lohmar, Achim: Gibt es Pflichten gegen sich selbst? In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Köln, Jg. 30, 2005, S. 58.
33 MS, AA 06: 430.
34 Vgl. MS, AA 06: 418.
35 Schönecker, Dieter: Kant über die Möglichkeit von Pflichten gegen sich selbst (Tugendlehre, §§ 1-3). Eine Skizze. In: Kant als Bezugspunkt philosophischen Denkens. Festschrift für Peter Baumanns zum 75. Geburtstag, Würzburg 2010, S. 253.
36 Vgl. Ebd.
37 Schönecker, Dieter: Kant über die Möglichkeit von Pflichten gegen sich selbst (Tugendlehre, §§ 1-3). Eine Skizze. In: Kant als Bezugspunkt philosophischen Denkens. Festschrift für Peter Baumanns zum 75. Geburtstag, Würzburg 2010,S. 254.
38 Vgl. Schönecker, Dieter: Kant über die Möglichkeit von Pflichten gegen sich selbst (Tugendlehre, §§ 1-3). Eine Skizze. In: Kant als Bezugspunkt philosophischen Denkens. Festschrift für Peter Baumanns zum 75. Geburtstag, Würzburg 2010, S. 255.
39 Diese Problematik tritt in der Forschung zu Kant immer wieder auf und ist von der Lesart des Begutachters abhängig.
40 MS, AA 06: 418.
41 Vgl. Ebd.