Der Einfluss biographischer Ereignisse auf das künstlerische Werk von Diane Arbus


Travail de Recherche, 2011

66 Pages, Note: 1,0


Extrait


INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG

Beschreibung des Gegenstandes

Fragestellung und These

Methode

Nomenklatur

Hinweis auf Quellenlage

I DIANE ARBUS - THE VERTICAL JOURNEY
1. The vertical Journey
2. »a kind of slight magic« - Photographie
3. Diane Arbus - die Fotografin
4. Die Ausnahme aller Regeln - Diane Arbus‘ Sujet

II DIE PHOTOGRAPHIE UND DER TOD
1. Was ist Photographie?
2. Was macht Photographie?
3. Welches ist das Wesen der Photographie?
4. Was hat Photographie mit Tod zu tun?

III DEVIANZ - DER AUSSENSEITER IMKONTEXT
1. Was ist ein Außenseiter?
2. Welche sind Diane Arbus‘ Zugehörigkeiten gewesen?
3. War sie als Künstlerin Außenseiterin?
4. Warum ist der Selbstmörder ein Außenseiter?
5. Photographie als Außenseiter?
6. Der Fotografierte als Außenseiter

IV DER SELBSTMORD ALS SCHÖNE KUNST BEGANGEN
1. Begriffsklärung
2. Schönheit in der Handlung die zum eigenen Tod führt?
3. Wo ist der Selbstmord Kunst?
4. Gibt es eine Ästhetik des Selbstmordes?
5. Selbstmord in der Kunsttheorie von Moderne undPostmoderne?

V DIANE ARBUS - THE LAST SUPPER
1. Diane Arbus - Ein Außenseiter?
2. Der Tod
3. ªIt’s good to remember people who die« - Das Abendmahlsbildnis

RESÜMEE

Rückblickend

Fazit

EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG

QUELLENVERZEICHNIS

Diane Arbus Einzelnachweise

Literaturnachweise

Film- und Internetquellen

Weitere Quellen

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

EINLEITUNG

»Manchmal denke ich, das Leben des Künstlers sei ein langer und süßer Selbstmord, und ich bedaure es nicht.«1

Mindestens seit der Zeit der Entstehung des Schriftstückes »Disput eines Mannes mit seinem Ba«2 (etwa 18. Jh. v. Chr., Ägypten Mittleres Reich (2040 - 1650 v. Chr.)) beschäftigt sich das Denken immer wieder mit dem Selbstmord und dadurch auch die Kunst. Für Antonin Artaud waren Kunst und Tod schon immer miteinander verwandt.3 Er beschreibt (in Hinblick auf van Gogh) Suizidenten, als Menschen die sich weigerten zu sterben, indem sie starben. Artaud meint, sie wollten sich nicht in die Reihe derer begeben, die im Leben schon tot sind.4 Dies kann als eine Rebellion gegen die abtötenden Zwänge einer Eingliederung in vorgestellte Normen verstanden werden. Diane Arbus, selbst Künstlerin und Suizidentin, beschäftigte sich fotografisch mit der Dokumentation einer menschlichen Gesellschaft, in welcher die Norm mit dem Ungewöhnlichen korreliert. Da bei ihr Tod, Gesellschaft und Kunst auf - für mich einmalige Weise - zusammenrücken (besonders da es z.B. im Verhältnis zu Schriftstellern wenige bildende Künstler gab, die sich umbrachten), ist das biografische Ereignis ihres Selbstmordes in Verbindung mit ihrem künstlerischen Schaffen hoch interessant und Thema dieser Arbeit.

Beschreibung des Gegenstandes. Diane Arbus wurde als zweites Kind der jüdischen Familie Nemerov am 14. März 1923 in New York geboren. Sie wuchs in wohlhabenden Verhältnissen auf, da die Familie ein Vermögen in der Pelzindustrie erwirtschaftete. Ihr Bruder Howard Nemerov wurde als Lyriker öffentlich. Diane Arbus arbeitete zunächst nur als Assistentin im Bereich der Modefotografie, wechselte aber schließlich das Fach und lernte u.a. bei Lisette Model5. Bekanntheit erlangte sie durch ihre z.T. als schockierend geltenden Darstellungen von Außenseitergruppen der spätkapitalistischen amerikanischen Gesellschaft. Sie dozierte u.a. an der Rhode Island School of Design und ihre Arbeiten wurden 1967 in der Ausstellung New Documents im Museum of Modern Art, New York gezeigt. Am 26. Juli 1971, ebenfalls in New York, wählte Diane Arbus den Freitod. Nach diesem fanden mehrere Ausstellungen ihres Schaffens statt, u.a. auf der Biennale in Venedig 1972.6 Ihre Photographie gehörte zu einer, im New York der 1960er Jahre, neuen dokumentarischen Strömung, die sich als Gegenbewegung zu einer bestimmten humanistischen Tradition verstand und deren Werke durch eine neue urbane und sozialkritische Sensibilität geprägt waren.7 Arbus‘ Bilder gelten als schwer zu kategorisieren, da sie u.a. zwischen Situationsportrait und Reportage changieren.8 Arbus beleuchtete viele Aufnahmen so findig, dass es ihr gelang, das Gewöhnliche ungewöhnlich und das Abnorme normal erscheinen zu lassen, z.T. als seien es Schnappschüsse, die innerhalb der Familie gemacht wurden9. Dabei kamen ihre Aufnahmen nicht spontan zustande, aber immer so, wie die fotografierte Person sich posieren wollte. Imitationen und Simulationen sind dabei weitere Charakteristika, was sich besonders bei den wenigen Bildern zeigt, die keine Menschen abbilden.10 Nicht nur durch die Fotografie selbst, sondern auch durch schriftliche Kommentare und längere Erzählungen, verlieh Diane Arbus ihren Bildern eine persönliche Note. Möglich wurde ihr dies durch die Arbeit an verschiedenen Magazinen, die sie bis zu ihrem Tod betrieb.11

Fragestellung und These. Unter der Fragestellung: Kann Diane Arbus’ Selbstmord als Teil ihrer Kunst gesehen werden? und der These, dass der Selbstmörder als Außenseiter der Gesellschaft ihrem Sujet entsprach und ihr fotografisches Themengebiet dadurch ein ästhetisches Verständnis ihres Selbstmordes begünstigt, enthält diese Arbeit fünf Essays. Die drei inneren Kapitel beschäftigen sich mit der Photographie und deren Verbindung zum Tod, mit dem Außenseiter in Bezug auf Diane Arbus und der Ästhetik des Selbstmordes. Gerahmt werden diese drei Gebiete durch das erste und das letzte Kapitel, welche sich mit Diane Arbus’ Photographie, ihren Außenseitern und ihrem Selbstmord beschäftigen. Dabei gibt es Betrachtungsunterschiede zwischen den rahmenden und den eingerahmten Kapiteln. Die Bearbeitung im ersten und letzten Essay wurde größtenteils von innen, durch Aussagen von Diane Arbus und meinen Interpretationen vorgenommen, wohingegen die mittleren Kapitel Überlegungen durch Außenansichten und Sekundarliteratur enthalten.

Methode. Übergeordneter Bezugsrahmen dieser Arbeit, ist eine Orientierung an der Ethnomethodologie. Deren Grundannahmen schließen ein, dass jede Handlung sinnbestätigend oder -stiftend (auch die des Suizids als extreme Alltagshandlung) ist, da sie u.a. den Handelnden in eine Gesellschaft einbindet. Dies, da die Gesellschaft das Handeln im gleichen Maße bestimmt, wie sie vom Handeln konstruiert wird.12 Dadurch erlaubt diese Methodologie handlungskonstruierte Wirklichkeiten innerhalb des erfahrungsnahen Bedeutungsspektrums eben jener Wirklichkeit zu interpretieren. Für die Interpretation von Diane Arbus’ Sichtweisen und Bildern, orientiere ich mich im Zuge dessen an der dichten Beschreibung von Clifford Geertz.13 Im Sinne der Methode sei verdeutlicht, dass die Interpretationen von einem männlichen deutschen Student im Jahr 2011 über eine weibliche, US-amerikanische Fotografin der Jahre 1923 - 1971 vorgenommen werden. Dies unterstreicht auch den relativen Charakter dieser Arbeit.

Nomenklatur. Der Bergriff Selbstmord wird in dieser Arbeit wertneutral und synonym zu Freitod, Selbsttötung, Suizid, Selbstentleibung etc. verwendet. Es werden keine juristischen, moralischen oder sympathisierenden Unterscheidungen vorgenommen. Photographie oder Fotografie? In dieser Arbeit tauchen beide Schreibweisen auf. Mit Photographie ist das Phänomen, mit Fotografie das Objekt bezeichnet. Ausnahme bilden direkte Zitate oder Titelangaben. Die Begriffe Abnorm und Norm, Auslenkung, Freak etc. werden in dieser Arbeit ohne Wertung verwendet. Sie dienen nur der deutlichen Benennung dessen, was gesellschaftlich leichter, was schwerer als Standard empfunden werden kann. Weitere Begriffe wie Gesellschaft, Handlung, Außenseiter o.ä. werden an betreffender Stelle geklärt.

Hinweis auf Quellenlage. Im Laufe der Arbeit greife ich mitunter zur Ergänzung auf die Arbus Biografin Patricia Bosworth zurück. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass die von ihr abgedruckten Zitate leider zweiter, oft dritter Ordnung sind, da Bosworth keine Quellen angibt, woher diese Zitate stammen. Zum Teil ist aus dem Textzusammenhang zu vermuten, dass sie im direkten Gespräch mit Diane Arbus entstanden, doch dies ist nicht bestätigt. Auch alle anderen Zitate oder direkten Verweise auf Diane Arbus müssen kritisch betrachtet werden. Auch sind meist nur Fragmente aus Briefen, Notizbüchern etc. zugänglich und so kann über den Kontext keine völlige Sicherheit herrschen, denn letztlich sind die Angebote der Arbus Estate bereits eine Vorauswahl! Konnte das Zitat nicht anhand eines Briefes o.ä. nachvollzogen werden, wurde aber zur Vollständigkeit hinzugezogen, ist in der Fußnote ein »ungesichert«- Vermerk in Klammern gesetzt. Dies ist der Fall bei Zitaten von Tonbandmitschnitten, die in den Publikationen nicht genauer nachgewiesen oder verschriftlicht wurden.

Zudem habe ich alle direkten Zitate kursiv hervorgehoben. Dies entspricht in keinem der Fälle dem Original.

I DIANE ARBUS - THE VERTICAL JOURNEY

»All we need are a few of the most lyrical, magical, metaphorical [...] Characters In A Fairy Tale for Grown Ups«14 Ganz im Sinne Albert Camus’15, der meinte: »Im ersten Satz eines Buches, findet sich stets sein Ende«16 will ich zur Erhärtung späterer Aussagen Diane Arbus‘ erste veröffentlichte Arbeiten ihrer selbstständigen Karriere voranstellen. Nicht nur, weil dieser erste »Satz« von ihr mit der Autopsie einer Frauenleiche (Todesursache unbekannt) endet, welches auch der Schlusspunkt ihrer künstlerischen, wie biografischen Geschichte ist, sondern, weil diese frühe Arbeit auch gut zeigt, in welchem Feld sich Diane Arbus bewegte.

The vertical Journey17: Six Movements of a moment within the Heart of the City, erschienen in der Juliausgabe des Esquire 1960 (S. 102 - 107), zeigt sechs schwarz-weiß Portraitfotografien. Darunter wechseln sich Norm und Abnorm ab. Jeweils links ist ein »Freak« zu sehen (»The jungle creep«, ein »Zwerg« und ein »Verrückter«), jeweils auf der rechten (engl.: right meint auch richtig, passend) Magazinseite ist Normalität gegeben, die auch einen idealen zeitlichen Verlauf anzeigt; von glanzvoller, schöner Jugend (Frau auf einem Opernball in eleganter Unschärfe), über das geehrte Alter (ausgezeichnete Dame), hin zum gewöhnlichsten aller Dinge: dem Tod (weibliche Leiche in einem Autopsiesaal18 ). Auch der »Verrückte« ist bereits ein Toter, da er kurz nach der Aufnahme und vor Veröffentlichung des Fotos tödlich verunglückte.19 Jede Doppelseite zeigt somit einen Kontrast, zeitgleich durch den Hintergrund auch eine Verwandtschaft. Die Aufnahmen des jungle Creep und der schönen, jungen Mrs. Dagmar Patino haben einen wahrnehmbaren, doch unscharfen, diffusen Hintergrund und beide Bilder zeugen von Lebendigkeit: Bei Hezekiah Trambles (jungle Creep) durch seine Wildheit, aber auch den geometrisch spannenden Hintergrund (eine strenge Ordnung für den Wilden?) und die Bildkomposition20 ; bei Mrs. Patino durch die verschwommenen Menschen in ihrem Rücken, sowie der halben Drehung von ihr und ihrem Gesprächspartner, was zusammengenommen Bewegung suggeriert. Das mittlere Paar, der zwergwüchsige Monroe-

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Esquire, Juli 1960

erste Doppelseite von THE VERTICAL JOURNEY

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Imitator Andrew Ratoucheff und die ältere Dame Flora Knapp Dickinson posieren in möblierten

Zimmern, deren Ausleuchtungen von unterschiedlichen Tageszeiten bestimmt wird. Die Sichtbarkeit der Räumlichkeiten vermittelt mir Sesshaftigkeit, wobei diese bei Mrs. Dickinson ausgeprägter scheint, wiederum - obschon in beiden Bildern spürbar - ist eine Einsamkeit im Bild des Kleinwüchsigen greifbarer. Dem Umstand liegt das Größenverhältnis von ihm und seinen Möbeln zugrunde, ebenso zwei räumliche Begrenzungen des Bildes rechts und links, die das Foto zusätzlich rahmen und den Bildausschnitt vasenartig nach unten verjüngen (der Zwerg, eine mythische Figur auf einer griechischen Amphora?). Das letzte Paar, Walter L. Gregory alias The mad man from Massachusetts und der unbekannte Leichnam haben keinen verbindenden Hintergrund. Im Vergleich zu den anderen vier Bildern, verbinden sich diese beiden lediglich durch ihre Andersartigkeit und bieten vermutlich ungewollt einen Ausblick auf Arbus’ Interesse für Dunkelheit, und gleichzeitiger Mühe um Klarheit.21 Mr. Gregory steht förmlich in der Finsternis, da sein Hintergrund schwarze Raumlosigkeit ist, wie auf alten Ölgemälden. Der Leichnam überrascht mit einer neuen Aufnahmeperspektive, da in der Bildmitte die Füße der Toten zu sehen sind und der Rest des Körpers eher vermutet wird, statt sichtbar zu sein. Bei Betrachtung dieser Seite fühlte ich mich, trotz des mangelnden Pathos der Fotografie, an Andrea Mantegnas Beweinung des toten Christi (15. Jh) erinnert.22 Auf dem Gemälde wird durch die starke, perspektivische Verkürzung des Christusleichnams eine Profanisierung seines Todes erzielt.23 Ein Gedanke, der zur erwähnten Normierung in Diane Arbus‘ Bildern passt. Letztlich kann als verbindendes Bildthema der letzten beiden Fotografien der Verfall und der geistige und körperliche Tod gesehen werden. Der Takt Auslenkung, Norm, Auslenkung, Norm ... wirft zudem die Frage nach Beziehungsverhältnissen zwischen den Abgebildeten auf und bewirkt die Suche des Abnormen im Normalen. Die Vermischung des mystischen Anderen mit dem alltäglich Gleichen scheint mir ein Schlüsselpunkt in den Arbeiten und auch in den Sichtweisen von Diane Arbus zu sein.24

»a kind of slight magic«25 - Photographie vermittelt für Arbus das Gefühl, als erzählte sie sagenhafte Geschichten dessen, was für die Kamera wahr war.26 Da nie ausgeblendet werden kann, dass es einen Fotografen gab, hat die Photographie ihrer Meinung nach, die Tendenz mit

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Andrea Mantegna, um 1475 - 1478

BEWEINUNG DES TOTEN CHRISTI

Fakten zu handeln27, obschon man es bei ihr immer mit rätselhaften Dingen zu tun hat.28 So war

es auch nicht Diane Arbus, die auf den Auslöser drückte, sondern das gebotene Bild selbst - »And it’s like being gently clobbered«29. Photographie und sogar die Kamera sind beseelt und haben, Arbus zufolge, mitunter einen eigenen Willen.30 Vielleicht trägt auch dies zu dem Umstand bei, dass Arbus meint, der Fotograf werde bei den Aufnahmen kälter und unfreundlicher,31 so dass anzunehmen sei, es tue ein wenig weh, fotografiert zu werden.32 Diane Arbus glaubte an beides, an die Schuld und die Unschuld der Photographie33 (offenbar in Bezug auf das (kalte) Präsentieren »festgenagelter« Fotosubjekte), deren Bedingung möglicherweise die Bewegung an den Grenzen des Gewöhnlichenwar.34

3 Diane Arbus - die Fotografin. Über Geoffrey Chaucer35 schrieb Diane Arbus, dass er die Welt

wie ein Neugeborener sah. Alles erschien wundervoll, weil es einzigartig ist und existiert.36 Ich meine, dies war in vielerlei Hinsicht auch ihre Art zu sehen. Ich gewann den Eindruck, dass Arbus sich viel Zeit ließ - vielleicht ein Grund, warum die Mehrheit ihrer geplanten Projekte nie umgesetzt werden konnte - und auch viel Zeit mit ihren Objekt-Subjekten verbachte (vor, während und nach der Fotografie).37 Diane Arbus war fasziniert von den Menschen vor ihrer Kamera, schmeichelte sich etwas ein38 und identifizierte sich ein Stück weit mit den Fotografierten, passte sich z.T. (um fotografieren zu können / dürfen) den Gepflogenheiten jener an39, auch wenn ein Gefühl der Fremdheit blieb.40 Eine nötige Distanz. Ich glaube sie folgte fotografisch nie absichtlich dem Reiz neuer Moden. Was sie fesselte41 war das Andere und das ihr Unbekannte.42 Dadurch, dass sie es fotografierte, stahl43 sie es der Welt und machte es zu etwas Eigenem. Ich sehe darin einen Akt des Kennenlernens, des Bekanntmachens mit zuvor Fremdem und zugleich die Sichtbarmachung44 ihrer Märchenwelt45, was auch den Aufbau einer Identität bedeutet.46 Ich denke, dass sie weniger durch die Technik, mehr durch das Fotografierte, eine Beziehung zu ihren Bildern hatte und diese als ein Teil von sich sah.47 Dafür spricht, dass ich biografische Signaturen in ihren Bildern sehe, die allerdings nicht generalisiert werden konnten. Beispielsweise schauen die Abzubildenden Arbus direkt an, auch tragen diese immer wieder Pelze und Betten bilden oft den Hintergrund.48 Arbus baute sich selbst ein Lager aus Fellen49, ein Bett, welches sie mit Fotos umringte. Dadurch ging sie in Beziehung zu ihrer Arbeit, entdeckte Dinge, die sie zuvor nicht gesehen hatte.50 Sie nahm größtmöglichen Einfluss darauf, was der Betrachter in ihren Bildern zu sehen hat. Dabei vermittelt sie einen Teil ihrer Erlebniswirklichkeit - z.B. wenn Sie zu Triplets in their bedroom, New Jersey, 1963 sagt: »Drillinge erinnern mich an mich selbst, als ich in der Pubertät war. [...] Aufgereiht zu drei Bildern: die Tochter, die Schwester, das böse Mädchen mit geheimen, wollüstigen Phantasien; und diese drei unterscheiden sich nur geringfügig voneinenander«51 - und trifft zugleich eine Aussage, die ich als Quintessenz ihrer Arbeit verstehe: In unserer Andersartigkeit sind wir alle gleich. Oder anders formuliert: Wir sind alle Außenseiter.52

4 Die Ausnahme aller Regeln - Diane Arbus‘ Sujet

»If like you [Marvin Israel] said one cannot know without being maybe there is another kind of knowing which has to do with outsiders in which one cannot know without not being [«] Everyone is just much locked in as locked out.«53

»I always wanted something I could be faithful for ever«54, schrieb Diane Arbus 1940. Rückblickend könnte man meinen, sie hätte es geschafft. Deviante Menschen, Freaks, Exzentriker - oder in Arbus‘ Worten: »fictional characters«55 - waren nicht nur eines ihrer ersten Sujets, sondern eine Art Begeisterung56, ein bis zum Tode57 anhaltendes Interesse. »Freaks« hatten für Arbus eine rätselhafte Aura, die auf Legenden und Märchen verwies. Diese Außenseiter waren für sie lyrische58 Aristokraten, Helden und Autoren eines wirklichen Traumes, der den Nichtzugehörigen dieser Wundermenschen den Mut abverlangt, nach der eigenen Identität und Position im Leben zu fragen.59

Mein Eindruck ist, dass Diane Arbus einen Hang zum Abnormen als Sujet hatte60 und Abweichungen nur bei Auftragsarbeiten vornahm, um sich zu finanzieren61 und um den, für ihre anderen Arbeiten oft notwendigen, Presseausweis62 zu erhalten. Zudem lassen sich diese »Abweichungen« bei einem tieferen und umfassenden Verständnis63 des Bergriffs »Außenseiter« zum größeren Teil dennoch einbinden. Zum Beispiel die Silver-Spoon-Kinder 1962 (Kinder sehr wohlhabender Familien)64: Arbus spricht davon eine »whole new hidden hierachy within in the upper class«65 gefunden zu haben.

[...]


1 Wilde, 1987, S.19

2 vgl. Assmann, 2005, S. 196 ff.

3 vgl. Mattheus, 2009, S. 88

4 vgl. ebd., S. 89

5 Fotografin (1901 - 1983)

6 vgl. z.B. Olbrich, 1996, S. 236

7 vgl. Govignon, 2005, S. 128 f.

8 vgl. ebd., S. 156

9 vgl. Phillips, 2003, S. 60

10 vgl. Weski u.a., 2000, S. 460 f.

11 vgl. Southall, 1984, S. 152 - 175

12 vgl. Lamnek, 1995, S. 54 f.

13 Geertz, 1987, S. 7 ff.

14 Arbus, November 1960 a

15 Philosoph, Schriftsteller (1913 - 1960)

16 Camus, 2008, S. 21

17 Der Titel ist eine Anspielung auf ein Kapitel in Lewis Carrolls Alice im Wunderland (1863)

18 Die Geschlechtszuordnung erfolgte nach Betrachtung von orig. Filmstreifen (The Estate, 2003, S. 53)

19 vgl. ebd., S. 146

20 »Ich hasse die Vorstellung von Komposition. Ich weiß nicht, wozu Komposition gut sein soll. Ich meine, ich muß wohl etwas darüber wissen, nachdem ich es schon so häufig gemacht habe, [...].« (Arbus

(ungesichert) dt. nach Weissner, 1994, S. 10)

21 vgl. Arbus, 1970

22 Es ist nicht das einzige Foto von Diane Arbus, welches an historische Gemälde erinnert. Z. B. A husband and wife in the woods at a nudist camp, N.J. 1963. Die Körperstellung des Paares ist vergleichbar mit Adam und Eva Darstellungen von Lucas Cranach oder Albrecht Dürer. Nur Adams Apfel, wurde durch eine Zigarettenpackung ausgetauscht. (vgl. The Estate, 2003, S. 151; Phillips, 2003,

S. 57)

23 vgl. Broer, 1999, S. 31 f.

24 vgl. auch Southall, 1984, S. 165

25 Arbus über Photographie nach Phillips, 2003, S. 50

26 anhand Kafkas Erläuterungen eines Hundes, vgl. Arbus nach Weissner, 1994, S. 8 (ungesichert)

27 vgl. Arbus nach Phillips, 2003, S. 54

28 vgl. ebd. nach Weissner, 1994, S. 11 (ungesichert)

29 ebd., 4. Februar 1960

30 vgl. Musili u.a., 1972, ca. ab 19 : 23 min

31 vgl. ebd., ca. ab 08 : 24 min

32 vgl. Arbus, 5. Januar 1960

33 vgl. ebd., ca. November 1965

34 vgl. ebd., 12. Februar 1960

35 Schriftsteller (~ 1343 - 1400) 36 vgl. Arbus, 5. März 1940

37 z.B. fotografierte sie einen Transsexuellen viele Male über die Jahre und wurde auf dessen Geburtstag eingeladen (The Estate, 2003, S. 198); eine Frau, die sich als Reinkarnation Christi ausgab (The Bishop) schrieb ihr hin und wieder (Arbus, ca. 1961) und The jewish Giant posierte für sie 1960, 1968 denkt sie an ihn zurück und fotografiert ihn 1970 neuerlich (The Estate, 2003, S. 153, 159, 338 Pkt. 329), einen Kleinwüchsigen besuchte sie Jahre später in seinem neuen Heim (Arbus, 1969, No. 37) und sie beschreibt, wie viel Zeit sie für das Foto von Senator Eugene McCarthy 1968 investierte (ebd., ca. November 1968 a).

38 vgl. Musili u.a., 1972, ca. ab 05 : 35 min

39 vgl. z. B. Bosworth, 1984, S. 237

40 vgl. Musili u.a., 1972, ca. ab 06 : 12 min

41 Das Abnorme war ihr ein Kirchgang, der Katharsis bot (vgl. z.B. Arbus, 1966, S. 80 f.)

42 vgl. z. B. ebd., Mai 1971

43 vgl. ebd., ca. April 1960

44 vgl. Musili u.a., 1972, ca. ab 28 : 40 min;. z. K. The Estate, 2003, S.18

45 »[World] seems ... not so much small as done with mirrors.« (Arbus, 27. August 1960). Weitere Hinweise auf eine mystifizierte Weltsicht finden sich z.B.: Arbus, 1966, S. 81; ca. Nov. 1960 b

46 Identität kommt bei ihr immer wieder zur Sprache (vgl. z. B. Musili u.a., 1972, ca. ab 18 : 08 min; Arbus, Sommer 1951) und damit auch die Frage nach dem Ich. Photographie mag bei optischen Aspekten helfen, immerhin sieht jeder Straßenpassant mich mind. auf einer optischen Ebene vollständiger als ich selbst. Da uns unser Gesicht immer unsichtbar ist, ist der eigene ungespiegelte Anblick ist so fremd, wie oft nur auf Fotografien.

47 vgl. Musili u.a., 1972, ca. ab 28 : 05 min

48 Was macht der Pelz? Verbindet er die anerkannte upper Class mit den Randgruppen, die kaum je ein Pelzgeschäft betreten (dürften)? 1870, bei Leopold von Sacher-Masoch, ist der Pelz ein Instrument der Verwandlung. Durch ihn wurde eine Frau zu einer mächtigen, aggressiven (handlungsfähigen) Göttin, die gestattete Devianzen auszuleben. Bedenkt man, dass der Pelzhandel das Einkommen der Nemerovs war und Arbus meinte: »all families are creepy in a way« (Arbus, ca. Juni 1968), könnte die Pelzjacke des Blumenmädchens oder der jungen Frau auf ihrem Bett neuerlich eine Markierung des Seltsamen am Gewöhnlichen sein. Jedoch ist völlig unklar, ob Diane Arbus ihre Subjekte ausstattete odernicht.

49 vgl. The Estate, 2003, S. 218

50 vgl. Musili u.a., 1972, ca. ab 14 : 53 min

51 Bosworth, 2006, S. 290

52 vgl. Arbus, 20. April.1960 (in Bezug auf Freaks und Eccentrics)

53 ebd., 24. März 1960

54 Arbus, 1940 a

55 ebd., 12. Januar 1961

56 Diane Arbus spricht bisweilen selbst von Besessenheit (vgl. ebd., ca. Herbst 1960)

57 exempl.: Fire Eater at carnival, Palisades Park N.J. 1956 (14 x 11 inches), Russian midget friends in a living room on 100th Street, N.Y.C. 1963 (20 x 16 inches), Mexican dwarf in his hotel room, N.Y.C. 1970 (20 x 16 inches), Blind couple in their bedroom, Queens N.Y. 1971 (20 x 16 inches)

58 vgl. z.B. ebd., ca. Oktober 1959 a

59 vgl. Musili u.a., 1972, ca. ab 09 : 05 min; Arbus, November 1961

60 dies verrät u.a. eine Reise nach London. Sie erhoffte die schmutzigsten Geheimnisse, wurde jedoch größtenteils enttäuscht. (vgl. Arbus, ca. später Februar 1969; ca. später April 1969)

61 vgl. z.B. ebd., 25. September 1962; ca. später März 1969 a

62 vgl. ebd., ca. 1969

63 Im Verständnis einer Gesellschaft kontextualisierter Personen, das Diane Arbus zu teilen schien. (vgl. ebd., Februar 1971; ca. Frühling 1960)

64 Schönheit (vgl. ebd., ca. später März 1969 b) und Reichtum sah Diane ebenso als ein lastendes Stigma an (vgl. ebd., 19. Januar 1960), wie z. B. zwergwüchsig zusein.

65 ebd., 9. Januar 1963

Fin de l'extrait de 66 pages

Résumé des informations

Titre
Der Einfluss biographischer Ereignisse auf das künstlerische Werk von Diane Arbus
Note
1,0
Auteur
Année
2011
Pages
66
N° de catalogue
V307378
ISBN (ebook)
9783668057647
ISBN (Livre)
9783668057654
Taille d'un fichier
2351 KB
Langue
allemand
Mots clés
Diane Arbus, Fotografie, Photographie, Suizid, Selbstmord, Außenseiter, Freak, Philosophie, ethnomethodologie, Tod, Ästhetik, ästhetische Bildung, Roland Barthes
Citation du texte
Christoph Hinkel (Auteur), 2011, Der Einfluss biographischer Ereignisse auf das künstlerische Werk von Diane Arbus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/307378

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