Frauenbilder in Uwe Johnsons „Mutmassungen über Jakob“ und „Zwei Ansichten“ im Vergleich zum Frauenbild in Christa Wolfs „Der geteilte Himmel“

Einflüsse des geteilten Deutschlands auf die Darstellung der Frau in Romanen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2015

34 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Fragestellung und Ziele der Arbeit
1.2 Aufbau der Arbeit
1.3 Form der Arbeit

2.Johnson und sein Frauenbild
2.1 Kurze Inhaltszusammenfassung von „Mutmassungen über Jakob“
2.2 Die Gebildete und/oder Politische
2.3 Die „sexuell bewusste“ Frau
2.4 Die Selbstsichere vs. die Schutzsuchende
2.5 Die Emotionale in „Die Mutmassungen über Jakob“
2.6 Frauen in „Mutmassungen über Jakob“ im historischen Kontext

3.Frauenbild in „Zwei Ansichten“: Krankenschwester D. aus Ost-Berlin
3.1 Inhaltszusammenfassung
3.2 Die Gebildete/Politische
3.3 Die „sexuell bewusste“ Frau
3.4 Die Selbstsichere vs. die Schutzsuchende
3.5 Die Emotionale
3.6 Einordnung der Frauenfigur D. in Johnsons Frauengestalten

4. Christa Wolf und ihr Frauenbild in „Der geteilte Himmel“
4.1 Die Gebildete und/oder Politische
4.2 Die „sexuell Bewusste“
4.3 Die Selbstsichere vs. Schutzsuchende
4.4 Die Emotionale
4.5 Bezüge zu historischen Ereignissen in „Der geteilte Himmel“

5. Chancen und Risiken von historischen und biographischen Bezügen

6. Fazit

7. Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Frauenbilder und die Stellung der Frau wurden in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, dann noch einmal ab den 1960ern, weiterhin über die Zeiten Alice Schwarzers bis hin zu Judith Butler immer wieder in Medien, Politik und Wissenschaft zum Thema der öffentlichen Debatte. Seit der Entwicklung dieser Frauenrechtsbewegungen (sowohl der bürgerlichen als auch der sozialistischen) in Deutschland und durch das anfängliche Wirken von Personen wie Helene Lange oder Clara Zetkin sind genderspezifische Themen im Diskurs der Gesellschaft angelangt und lieferten der „Genderforschung“ zahlreiche Impulse dahingehend, inwiefern diese zu überdenken wären und es erforderlich wäre, diese als solche zu analysieren. Dies geschieht in verschiedensten Disziplinen – ganz gleich, ob nun in der Ethnologie, der Kulturwissenschaft, der Sprachwissenschaften, den Medienwissenschaften, den Philologien oder Religionswissenschaften. Es geht um ein Thema, das im Verlauf der Entwicklung der Frauenrechtsbewegungen an öffentlichem Interesse und damit auch an Geltung gewann. Auch in der Literaturwissenschaft nahm die Bedeutung der Analyse von Frauenbildern zu. Aber trotz reichhaltiger vorhandener Forschung zu diesem Thema, gibt es keine Arbeit zum Thema hier vorliegender Untersuchung:

1.1 Fragestellung und Ziele der Arbeit

Die vorliegende Arbeit, die im Rahmen des Oberseminars mit dem Titel „Ausgewählte Werke Uwe Johnsons“ im Sommersemester 2015 entstanden ist, wird sich „Frauenbildern in ausgewählten Werken Uwe Johnsons und Christa Wolfs im Vergleich“ widmen. Dabei geht es darum, herauszufinden, wie die Darstellung der Frauenbilder in zwei ausgewählten Werken Uwe Johnsons im Vergleich zum Frauenbild in Christa Wolfs „Der geteilte Himmel“ aussieht. Von Uwe Johnson werden es die „Mutmassungen über Jakob“ und „Zwei Ansichten“ sein, die näher untersucht werden sollen. Ausgewählt habe ich diese Werke, weil die Biographien von Uwe Johnson und Christa Wolf einander sehr stark ähneln[1]: Beide kamen zur etwa gleichen Zeit zur Welt und waren während der nationalsozialistischen Ära Kinder, beide erlebten den Zweiten Weltkrieg und waren anschließend in der DDR ansässig, beide waren bis ans Ende ihrer Lebzeiten als Schreibende tätig. Der wichtige Unterschied liegt jedoch darin, dass Uwe Johnson 1959 die DDR verließ und Christa Wolf sich bewusst für ein Leben in der DDR entschied. Das bedeutete, dass Christa Wolfs Bücher sowohl im Westen als auch im Osten Deutschlands gelesen wurden und Uwe Johnsons Bücher nur im Westen.[2] Auch gab es unterschiedliche Literaturpolitiken der beiden Teile des damaligen Deutschlands, die das Schreiben bzw. die Darstellung von Frauenbildern beeinflusst haben könnten. Interessant ist also auch, dass Christa Wolfs erster Roman „Der geteilte Himmel“ „von der Thematik her an die Romane von Uwe Johnson denken“[3] lässt – obwohl sich die beiden damals gar nicht kannten[4]. Ebenso ist es interessant, dass in allen drei Werken eine weibliche Figur stark im Vordergrund steht.

„In vielen Büchern von DDR-Schriftstellern ist der Verlauf des Wiederaufbaus nach dem Kriege und den ersten sozialistischen Umgestaltungen ebenso festgehalten wie die aktive Beteiligung der Frau an den das Bild des Landes verändernden Vorhaben, zugleich aber auch der rückwirkende Einfluß dieser Wandlungen auf Stellung, Charakter und Geisteshaltung der Frauen selbst.“[5]

Deshalb lautet die zentrale Frage dieser Arbeit: „(Inwiefern) wirkte sich die historische Wirklichkeit nach dem zweiten Weltkrieg auf die Darstellung von Frauen in den Romanen Uwe Johnsons und Christa Wolfs aus?“ Hierzu sollen historisch relevante Aspekte verwoben mit den einzelnen Stellen aus den Romanen näher analysiert und in Verbindung gebracht werden. Eine getrennte Darstellung von historischem Kontext und den Frauenbildern in den Romanen erschien bei diesem Thema als hinderlich, weshalb diese inhaltlich ineinander verflochtene Form ausgewählt wurde. Mein Forschungsgegenstand ist also eine literaturkritische Analyse (drei Romane im Vergleich) mit einem thematischen Leitfaden (Frauenbilder in Werken, in denen die Haupthandlungsorte die ehemalige DDR und die BRD zu Zeiten des geteilten Deutschlands sind). Zentral für die Analyse sind folgende drei Fragen: a) „Wie werden Frauen dargestellt?, b) „Welches Verhalten zeigen sie als weibliche literarische Figuren in den jeweiligen Werken?“ und c) „welche Berufsbilder erfüllen sie?“.

Mein Ziel ist es dabei, herauszufinden, was die Besonderheiten des Frauenbildes in diesen drei Werken aus Zeiten, in denen Deutschland geteilt war, sind, inwiefern sich die Darstellungen zweier verschiedener AutorInnen voneinander unterscheiden und was sich daraus hinsichtlich des historischen Abrisses über die Epoche, in der diese drei Werke entstanden, gewinnen lässt – unabhängig vom Geschlecht der AutorInnen selber.

1.2 Aufbau der Arbeit

Auf dem Weg zur Herausarbeitung der Frauenbilder in den ausgewählten Texten wird in Kapitel 2 das Frauenbild in „Mutmassungen über Jakob“ von Uwe Johnson analysiert und in Kapitel 3 jenes in „Zwei Ansichten“ Uwe Johnsons. Auf das Frauenbild im von Christa Wolf ausgewählten Werk wird anschließend in Kapitel 4 eingegangen. Dabei möchte ich die dominierenden Frauenfiguren analysieren und auf je vier Aspekte hin überprüfen, bzw. inwiefern diese in den jeweiligen Werken vorkommen und Beispiele hierfür anbringen. Die wesentlichen Eigenschaften der a) gebildeten oder/und politischen Frau, b) der sexuell bewussten, c) der selbstsicheren versus der Schutz suchenden und d) der emotionalen Frau werden hierbei exzerpiert und verglichen. Bei diesem Aufbau ließ ich mich von der Herangehensweise von Vanessa Tröschs Magisterarbeit mit dem Titel „Die Frau in den literarischen Geschlechterbeziehungen Arthur Schnitzlers“[6] inspirieren. In Kapitel 2, 3 und 4 werden also auch Bezüge zum historischen Kontext und den jeweiligen Entstehungszeiten, auch hinsichtlich der Stellung der Frau der damaligen Zeit, hergestellt. In Kapitel 5 wird auf Chancen und Risiken von historischen und biographischen Bezügen zu jeweiligen Frauenbildern in Romanen von AutorInnen eingegangen, woraufhin in Kapitel 6 ein Fazit gezogen wird. Hinsichtlich dessen, dass Uwe Johnson und Christa Wolf sich in ihrem biologischen Geschlecht voneinander unterscheiden und in dieser Arbeit das Thema „weibliches Schreiben“ und „männliches Schreiben“ durchaus seinen Platz gefunden hätte, kann darauf hier in diesem begrenzten Rahmen dennoch leider nicht weiter eingegangen werden – soll hier jedoch Erwähnung finden und als Anregung für potenzielle Vertiefung zu diesem Thema dienen.[7] Der Grund dafür, weshalb die Johnson-Werke dominieren und ich nur ein Werk Christa Wolfs mit aufnehme, ist der Titel des von mir besuchten Oberseminars, in dessen Rahmen diese Arbeit entsteht.

Das Literaturverzeichnis mit sämtlichen verwendeten Titeln der Ausgaben und Schriften bildet den Abschluss dieser Arbeit. Als Forschungsliteratur wurden als Primärausgaben der beiden Werken Uwe Johnsons die Suhrkamp-Ausgaben – einmal bei Johnsons „Mutmassungen“ die elfte Ausgabe und bei „Zwei Ansichten“ die dritte Ausgabe[8] und beim Werk Christa Wolfs die Deutscher Taschenbuchverlag-Ausgabe in ihrer 28. Ausgabe[9] - herangezogen. Für den historischen und literaturgeschichtlichen Teil wurden vor allem die Werke Hermann Webers „Die DDR. 1945-1990“ (20125), Michaela Karls (2011) „Die Geschichte der Frauenbewegung“ (2011) zu Rate gezogen und Edgar Wolfrums: „Die DDR: eine Geschichte in Bildern“ (2008) genommen. Als Sekundärliteratur zu den Werkausgaben waren Annekathrins Klaus „„Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!“ – Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons“ und Kristin Felsners „Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung: Christa Wolf und Uwe Johnson“ sehr hilfreich.

1.3 Form der Arbeit

Zur Form dieser Arbeit ist zum einen anzumerken, dass in dieser Arbeit der deutschen Zitierweise mit Fußnoten Folge geleistet wurde. Zum anderen soll auf eine Schreibweise hingewiesen werden, die nicht in jeder wissenschaftlichen Arbeit ihren Platz findet, aber auf die hier auch aufgrund der thematischen Relevanz Acht gegeben wurde: Dabei geht es um die Verwendung des intraverbalen großen „I“, das bei der Benennung von gemischtgeschlechtlichen Personengruppen wie beispielsweise AutorInnen für Autorinnen und Autoren verwendet wird. Diese als orthographisch bisher falsch eingestufte Schreibweise wähle ich dennoch, um zum einen weibliche Personen erkennbar zu machen und zum zweiten, weil diese Art von politisch korrekter Schreibweise platzsparender ist.[10] Ebenso sollen AutorInnen und WissenschaftlerInnen mit Vor- und Nachnamen erwähnt werden und nicht – wie üblich – nur mit dem Nachnamen. Denn ansonsten könnten erwähnte Personen als „Wissenschaftler, Forscher und Autoren in der historischen Tradition als Männer […]“[11] gedacht werden, welchem hier aufgrund der thematischen Relevanz entgegengewirkt werden soll.[12] Nur in den Fußnoten wird der Vorname bei der Kurform nicht erwähnt, wie auch beim Begriff „Erzähler“ bleibe ich aus Einfachheit bei der männlichen Form, ohne das weibliche Geschlecht damit auszuschließen.

2. Johnson und sein Frauenbild

2.1 Kurze Inhaltszusammenfassung von „Mutmassungen über Jakob“

„Das Vorhandensein des weiblichen Elements im erzählerischen Werk Uwe Johnsons ist nicht zu übersehen: Fast 2000 Seiten hat er allein in seinem Hauptwerk „Jahrestage“ einer Frau gewidmet.“[13]

Aber nicht nur in „Die Jahrestage“, die zwischen 1970 und 1983 erschienen sind[14], tritt diese „Frau“[15], der Uwe Johnson vier Bände gewidmet hatte, auf, sondern auch in „Mutmassungen über Jakob“, seinem 1959 veröffentlichten Roman. Hier geht es um einen Jakob Abs, der 1928 in Pommern geboren wurde und am Ende des Zweiten Weltkrieges mit seiner Mutter aufgrund der voranschreitenden Gefahr durch die Rote Armee an den fiktiven Ort „Jerichow“ im Gebiet des heutigen Mecklenburg-Vorpommern und der damaligen DDR migriert. In Jerichow werden die beiden Flüchtlingen neben anderen von dem Kunsttischler Heinrich Cresspahl aufgenommen, der mit seiner Tochter Gesine Cresspahl zusammenlebt. Die Handlung selbst spielt später, hauptsächlich im Spätherbst 1956.[16] Unter sehr vielen Aspekten, die lohnenswert wären, analysiert zu werden, sollen nun mögliche Wesensmerkmale der dominanten Frauenfiguren in „Mutmassungen über Jakob“ herausgearbeitet werden.

2.2 Die Gebildete und/oder Politische

Bei der Suche nach der gebildeten Frau ist es wichtig, danach zu sehen, wie die Kindheit der jeweiligen Frauenfiguren aussah. Dazu gehört also der Werdegang an sich, aber auch die nachhaltige Weiterbeschäftigung mit intellektuellen Inhalten. Man kann sagen, dass in Uwe Johnson Werk die Figur der Gesine Cresspahl als Prototyp der gebildeten Frau angesehen werden kann. Über ihre Kindheit lässt sich nicht viel erfahren. Man erfährt als LeserIn, dass sie als 13-Jährige unter Spionageverdacht war und von sechs Russen zum Revier gebracht wurde. Vielleicht rührt daher auch das etwas als gestört einschätzbares Verhältnis zu ihrem Vater, der dagegen auch nichts zu tun wusste.[17] Auf das Verhältnis zu ihrem Vater wird später noch näher eingegangen. Zu Gesines Werdegang ist noch zu sagen, dass sie studierte – was für eine junge Frau in der DDR zu jener Zeit noch nicht üblich gewesen sei – wobei gesagt werden muss, dass Frauen durchaus die Möglichkeit des Studierens hatten und dies auch in Anspruch nahmen.[18] Weiterhin ist aus Gesines Lebenslauf herauszulesen, dass sie nach ihrem Weggang aus der DDR als Dolmetscherin bei der NATO arbeitet, wo sie im späteren Handlungsverlauf kündigen wird. Von den Sozialisten versucht Rohlfs sie zuvor für Spionagezwecke zu gewinnen und vom Sozialismus zu überzeugen – während sie sich jedoch dafür entscheidet, in den Westen zu ziehen und dort auch zu bleiben. Gesine tritt ganz klar als gebildete Frau auf, die sich für das kapitalistische Ausland entscheidet, von Rohlfs für seine Zwecke vereinnahmt werden soll, von Jakob und Dr. Jonas Blach geliebt wird, vom Vater vermisst, und von Mutter Abs nicht unbedingt Unterstützung erfährt, als ihr Vater Cresspahl sich mit ihr über ihren Wunsch, in den Westen gehen zu wollen, streitet – obwohl Frau Abs auch gehen wollte. Die Figur Gesine zeigt auch, dass es möglich war, im DDR-System jene Bildung zu genießen, die es ermöglicht, sich auch gegen die Ideologie zu entscheiden, in der man aufwächst. Dass sie zur Oberschule ging, ist für die Zeit eher untypisch für Frauen in der DDR gewesen. Dann hat sie studiert, geht ins westlich-kapitalistisch geprägte Ausland, während mehrere Männerfiguren des Romans sich daran stören. So auch die Figur namens Rohlfs. Als RezipientIn kann man sich hier fragen, ob er sich als DIE sozialistische Figur im Buch nicht darüber freuen müsste, dass Gesine nun das sozialistische Gedankengut, das sie ja geprägt hat und in dem sie erzogen worden ist, in die Welt hinausträgt. Er tut es aber nicht – möglicherweise aufgrund ihrer nicht gerade als pro-DDR einzuschätzenden Haltung und seines Unverständnisses ihres Verlassens der DDR wegen – wo sie doch nach dort vorherrschender Meinung die Früchte ihrer Ausbildung an dem Orte einzubringen habe, von dem sie diese auch erhielt. Es wird deutlich, dass er sie als Verräterin sieht – was im Gesamteindruck das Bild Gesines keineswegs schwächt. Ein weiterer Punkt ist, dass Johnson eventuell verdeutlichen wollte, wie überflüssig der Sozialismus zu werden scheint, wenn man selbst Bildung genoss – nicht, weil man zu klug für den Sozialismus würde und dieser nur was für die Dummen wäre. Sondern vielmehr deshalb, weil man – da kann man noch so überzeugt vom Sozialismus sein – dem Luxus des Geldes und des Kapitalismus verfallen könnte.

Weiterhin sind Gesines Gelehrsamkeit und Wissensdurst zu erkennen. Das kann man an Textstellen erkennen, in denen Dr. Blach – zu dessen Person im weiteren Verlauf ergänzende Informationen geliefert werden –, sagt, dass sie „an diesem Morgen (…) wieder angefangen“ habe, „ihre täglichen zweieinhalb Pfund Zeitung zu kaufen“ und dass sie die beiden „bis München (…) gelesen“ haben.[19] Ebenso kommt an anderer Stelle folgender Hinweis auf Gesines Gelehrsamkeit und Wissensdurst vor: „Er [Jakob] erinnerte sich an Gesines Erzählungen von den Büchereien und der Universität überhaupt“[20]. Ebenso wird erkennbar, dass Gesine Cresspahl zur Analyse fähig ist und mit einer entwaffnenden Nüchternheit Jonas‘ Theater der Emotionen („als er wie ein Filmheld vor ihr auftritt“[21] ) entgegentritt.[22] Diese Nüchternheit habe laut Annekatrin Klaus Gesine auf politischer Ebene den rechten Weg gewiesen.[23]

Hier erfährt man als LeserIn ebenso über politische Züge Gesines und dass bei Gesine zusätzlich zur Bildung auch die politische Aktivität in Erfahrung zu bringen ist. Das ist beispielsweise an ihrer Reaktion auf den Vorfall der „politischen Physik“ und die Niederschlagung der Aufstände in Ungarn ablesbar, die mit einer direkten Anklage verbunden ist. Das ist auch jene Stelle, an welcher ersichtlich wird, dass das Handlungsumfeld des Werkes die Zeit der Forderungen nach Reformen im Ostblock ist, als es den ungarischen Volksaufstand gab und die Zeit der Suezkrise mit einbezieht – wobei Gesine eben ihre Position hinsichtlich dieser Ereignisse zeigt.[24] Eine weitere Stelle, an der das Politische an der Gesine-Figur deutlich wird, ist der Einmarsch der Briten und Franzosen in Ägypten, auf den sie mit Verweigerung und Aufregung reagiert – was sogar zum Grund für ihre Kündigung wird.[25] Insgesamt liegt ein Unverständnis Gesines gegenüber dem Bestreben vor, Grausamkeiten in Theorien zu verpacken – was vielleicht auch als der Grund dafür gedeutet werden kann, dass sie sich als einzige der Personen in „Mutmassungen über Jakob“ bewusst und zugleich ostentativ auf den Weg in den Westen macht, weil sie relativ früh sah, dass die Sache des Sozialismus in der DDR längst verraten worden wäre. Mutter Abs hat die DDR zwar auch verlassen und somit „mit den Füßen abgestimmt“, wie man das seit Lenin so sagt,[26] aber stand dabei nicht so sehr für die Sache – was natürlich auch an den unterschiedlichen Umständen liegen mag. Aber dennoch ist Gesine in Johnsons Werk spürbar die Einzige, die das Leben in der DDR demonstrativ ablehnt:

„Schon bevor die Handlung der Mutmassungen einsetzt, hat Gesine eine wichtige Entscheidung für ihr Leben getroffen: Sie hat die DDR im Krisenjahr 1953 verlassen und im Westen ein neues Leben begonnen (vgl. MJ, 15). Gesine hat aus der politischen Situation die Konsequenzen gezogen, vor denen Jakob und Jonas, die 1956 vor einer ähnlichen Entscheidung stehen, zurückschrecken“[27],

heißt es in Annekatrin Klaus‘ Beschreibung. Dass die DDR längst verraten worden wäre, ist für Gesine an Ereignissen wie jenem des 17. Juni erkennbar. Historisch gesehen ist der 17. Juni ein Tag eines historisch bedeutsamen Aufstandes, der auch Volksaufstand oder Arbeiteraufstand genannt wird. Damit sind jene Ereignisse gemeint, im Zuge derer es um den Tag des 17. Juni 1953 herum zu mehreren Streiks und Demonstrationen gekommen war, um politische und ökonomische Forderungen zu artikulieren. Diese Welle von Protesten wurde mithilfe der Roten Armee blutig niedergeschlagen, was natürlich insofern auch als Ironie des Schicksals verstanden werden kann, als dass die Protestform, die gewählt wurde, eigentlich typisch für jenes Gedankengut war, das den Staatsgedanken ausmachte. Dass diese Handlung des Volkes nun unterdrückt wurde und darauf nicht eingegangen wird, wird also von Gesine als literarische Figur aufgegriffen und als Verrat interpretiert – was sie als Figur in Johnsons „Mutmassungen“ auch zu einer politischen Figur macht. Uwe Johnson scheint der Figur Gesine die Last der Welt auferlegt zu haben: Schuldgefühle auf Grund des Holocaust PLUS politische Sensibilität. Und unter dieser Last vermochte Gesine sich kaum fortzubewegen. Sie könne laut Annekatrin Klaus nur dastehen, die Laster der Welt aufzeigen, diese beschreiben und dann letztendlich aber weiterhin nur damit dastehen.[28] Gesine scheint laut Annekatrins Klausens Interpretation den „Engel der Geschichte“ Walter Benjamins darzustellen:

[...]


[1] Vgl. Grambow, Jürgen/Hanuschek, Sven: Johnson, Uwe, in: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Bd. 6 Huh-Kräf, , hg. v. Wilhelm Kühlmann. Berlin 20092. S. 177-180; vgl. Behre, Maria: Wolf, Christa. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, Bd. 12, Vo-Z, hg. v. Wilhelm Kühlmann, Berlin/Boston 20112, S. 515-521.

[2] Vgl. Felsner, Kristin: Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung: Christa Wolf und Uwe Johnson. In: Johnson-Studien, Bd. 10, hg. v. Eberhard Fahlke/Ulrich Fries/Sven Hanuschek/Holger Helbig, Göttingen 2010, S. 15.

[3] Durzak, Manfred: Der deutsche Roman der Gegenwart. Entwicklungsvoraussetzungen und Tendenzen. Heinrich Böll, Günter Grass, Uwe Johnson, Christa Wolf, Hermann Kant. Stuttgart u.a. 19793, S. 184.

[4] Ihre erste Begegnung sei im Februar 1974 gewesen. Vgl. Wolf, Christa: Dankesrede. Begegnungen – An Uwe Johnson erinnern. In: Gansel, Carsten (Hrsg.): Christa Wolf – Im Strom der Erinnerung, Göttingen 2014, S. 346.

[5] Motyljowa, Tamara: Frauen in der DDR-Literatur. In: Neue Deutsche Literatur, Bd. 27, Heft 10, Berlin 1979, S. 154.

[6] Vgl. Trösch, Vanessa: Die Frau in den literarischen Geschlechterbeziehungen Arthur Schnitzlers, Essen 2011, S. 2f.

[7] Zur weiteren Vertiefung siehe: Bauer, Christine: Darstellung der Frau in „Der geteilte Himmel“ UND „Kassandra“: Wie Christa Wolf ihre Forderungen nach „weibliches Schreiben“ realisiert. Masterarbeit. Lubbock 1988. URL: https://repositories.tdl.org/ttu-ir/bitstream/handle/2346/19336/31295000275486.pdf?sequence=1, Stand 05.05.2015; vgl. auch: Masanek, Nicole: Männliches und weibliches Schreiben. Zur Konstruktion und Subversion in der Literatur. In: Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 521 – 2005, Würzburg 2005; vgl. auch: Legg, Suzanne: Zwischen Echos leben. Christa Wolfs Prosa im Licht weiblicher Ästhetikdebatten. In: Literatur: Männlichkeit/Weiblichkeit, hg. v. Maria Kalveram/Wolfgang Popp, Bd. 5, Essen 1998; vgl. auch: Geiger, Gerlinde: Weiblichkeit in den Schriften von Frauen und Männern: Ein Vergleich, S. 97-103. In: Stephan, Inge/Pietzcker, Carl (Hrsg.): Frauensprache – Frauenliteratur? Für und Wider einer Psychoanalyse literarischer Werke, hg. v. Albrecht Schöne: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Kontroversen, alte und neue, Bd. 6, Göttingen 1985.

[8] Vgl. Johnson, Uwe: Mutmaßungen über Jakob, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 201311, [MüJ]; vgl. ders.: Zwei Ansichten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 20133, [ZA].

[9] Vgl. Wolf, Christa: Der geteilte Himmel. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 201445, [DgH].

[10] Vgl. Häberlin, Susanna/Schmid, Rachel/Wyss, Eva Lia: Übung macht die Meisterin. Ratschläge für einen nichtsexistischen Sprachgebrauch, München 1992, S. 104-107.

[11] Klaus, Elisabeth: Kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung. Zur Bedeutung der Frauen in den Massenmedien und im Journalismus. Opladen, Wiesbaden 1998, S. 11.

[12] Vgl. Häberlin u.a.: Übung, S. 104-107.

[13] Klaus, Annekatrin: „Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!“ – Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, Bd. 3, Johnson-Studien, hg. v. Eberhard Fahlke/Ulrich Fries/Holger Helbig/Norbert Mecklenburg, Göttingen 1999, S. 9.

[14] Vgl. MüJ, S. 309.

[15] Damit ist Gesine Cresspahl gemeint. [Anmerkung der Verfasserin, CG].

[16] Vgl. MüJ, S. 7-20.

[17] Vgl. ebd., u.a. S. 84.

[18] Die Zahl der weiblichen Studierenden stieg erst ab 1960. Zu Gesines Zeit wäre das noch nicht sehr üblich gewesen. Vgl. hierfür: Statistisches Amt der DDR (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1990, 35. Jg., Berlin 1990, S. 341f.; vgl. auch: Schubert, Friedel: Die Frau in der DDR. Ideologie und konzeptionelle Ausgestaltung ihrer Stellung in Beruf und Familie, in: Forschungstexte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Bd. 4, Opladen 1980, S. 82f.

[19] Vgl. MüJ, S. 124.

[20] Ebd., S. 136.

[21] Ebd., S. 200.

[22] Vgl. Klaus: Weibliche Hauptfiguren, S. 154.

[23] Vgl. a.a.O.

[24] Vgl. ebd., S. 157; vgl. MüJ, S. 274.

[25] Dass sie gekündigt hat, merkt man daran, dass sie einen Englischkurs gibt, wovon Rohlfs in einem Radioprogramm hört. Vgl. Felsner: Perspektiven, S. 258; vgl. MüJ: S: 294, 306-308; vgl. Klaus: Weibliche Hauptfiguren, S. 157.

[26] Vgl. Müller-Marein, Josef: Abstimmung mit den Füßen. In: Die Zeit, 21.06.1961, URL: www.zeit.de/1961/30/abstimmung-mit-den-fuessen, Stand: 28.07.2015.

[27] Felsner: Perspektiven, S. 256.

[28] Vgl. Klaus: Weibliche Hauptfiguren, S. 157-159; vgl. Felsner: Perspektiven, S. 256-259; vgl. MüJ, S. 152, 89, 274, 69.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Frauenbilder in Uwe Johnsons „Mutmassungen über Jakob“ und „Zwei Ansichten“ im Vergleich zum Frauenbild in Christa Wolfs „Der geteilte Himmel“
Untertitel
Einflüsse des geteilten Deutschlands auf die Darstellung der Frau in Romanen
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Germanistisches Seminar)
Veranstaltung
Ausgewählte Werke Uwe Johnsons
Note
1,7
Autor
Jahr
2015
Seiten
34
Katalognummer
V307742
ISBN (eBook)
9783668061545
ISBN (Buch)
9783668061552
Dateigröße
571 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
frauenbilder, johnsons, mutmassungen, jakob, zwei, ansichten, vergleich, frauenbild, christa, wolfs, himmel, einflüsse, deutschlands, darstellung, frau, romanen
Arbeit zitieren
Cansu Güler (Autor:in), 2015, Frauenbilder in Uwe Johnsons „Mutmassungen über Jakob“ und „Zwei Ansichten“ im Vergleich zum Frauenbild in Christa Wolfs „Der geteilte Himmel“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/307742

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