Habitus und entfremdetes Leben bei Pierre Bourdieu


Essay, 2015

12 Pages

Jens Vösseler (Author)


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Struktur– Habitus – Praxis

Struktur –Habitus –Praxis

Struktur – Habitus –Praxis

Sozialisation und Identität

Entfremdung und Anpassung

Fazit

Literaturverzeichnis

Pierre Bourdieu – Habitus und das entfremdete Leben

„Der Mensch ist ein Gewohnheitstier“ (Freytag 2002: 18). Dieser bekannte Satz zeigt zwei tiefgreifende anthropologische Konstanten: Der Mensch scheint es den Tieren gleich zu tun, indem er instinktähnliche Mechanismen bei der Bewältigung seines Lebens anwendet, und er übt sich in Gewohnheit. Wie beispielsweise diese beiden Konstanten in einer Gesellschaft genauer zur Geltung kommen, untersuchte ein Mann am Collège de France bis vor einigen Jahren mit großem Bemühen: Der französische Soziologe Pierre Bourdieu befasste sich mit Strukturen in einer Gesellschaft, die uns als das allzu Normale erscheinen, und entwickelte unter anderem mit seinem Konzept des Habitus eine Erklärung dafür, wie sich gesellschaftliche Klassen untereinander verhalten, wie sie miteinander interagieren und vor allem wie dabei Herrschaft funktioniert. Mit seinen Analysen und Theorien wurde die Sichtweise auf Herrschaftsverhältnisse innerhalb einer Gesellschaft nicht nur geändert, sondern um wesentliche Elemente erweitert. Auch half er uns dabei, zu verstehen, wie die Ordnungen hinter unseren Gewohnheiten aussehen und was unser Denken und Verhalten im alltäglichen Leben wirklich beeinflusst.

Bei all unserer Gewohnheit und Anpassung aus vielerlei Gründen lassen sich Bedenken hinsichtlich der Fragen äußern, wie sehr wir wirklich bei uns selbst sind, wie wir uns wahrnehmen und wie viel Entscheidungsmöglichkeit wir tatsächlich haben. Ist der Radius unseres Bewirken-Könnens nicht um ein Vielfaches geringer als der unseres Bewirkt-Werdens? Haben wir wirklich eine Wahlfreiheit oder befähigen uns unsere Veranlagungen lediglich dazu, aus einem vorgeformten Angebot auszuwählen? Es erscheint mir als eine lohnende Angelegenheit, in Pierre Bourdieus und anderen Schriften nach Hinweisen darauf zu suchen und diese zusammenzutragen. Ausgehend von Bourdieus Konzept des Habitus und seiner Analyse sozialer Ordnungen möchte ich mich – unter Berücksichtigung der o.g. gedanklichen Anregungen – in diesem Essay folgender Frage widmen: Weist der Habitus uns darauf hin, wie sehr wir unser Leben nicht aus eigenen Stücken meistern können?

Zunächst erläutere ich diesbezüglich die zentralen Themen Bourdieus, die ich anhand seiner drei Leitbegriffe Struktur – Habitus – Praxis gliedere. Anschließend werde ich die Punkte Sozialisation und Identität sowie Entfremdung und Anpassung mithilfe anderer Autorinnen und Autoren näher betrachten, um sie schließlich mit Bourdieus Analysen zu vergleichen. Dies dient der weiteren Illustration des Themas und erweitert überdies die Blickwinkel. Zuletzt möchte ich dann eine Antwort auf meine Forschungsfrage geben sowie einen Ausblick wagen.

Struktur–Habitus–Praxis

Ein zentraler Baustein in Bourdieus Theoriebildung ist die Theorie der Praxis. Sie lässt sich in drei Bereiche unterteilen, die miteinander in Verbindung stehen: Struktur – Habitus – Praxis (vgl. Bourdieu 1984: 280). Der Bereich der Struktur umfasst den von Bourdieu bezeichneten Raum der Lebensstile (vgl. Bourdieu 1987: 277f.). Die dortigen Positionen, derer es drei gibt, werden als Klassen bezeichnet. Es gibt die Volks-, die Mittel- und die Oberklasse. In der genaueren Analyse dieser Klassen kommt ein Begriff zur Anwendung, der für Bourdieu entscheidend ist: Kapital. In Anlehnung an Marx spielt das ökonomische Kapital auch in Bourdieus Theoriebildung eine Rolle, jedoch führt er einen zweiten Kapitalbegriff ein, der für ihn bedeutsamer ist: kulturelles Kapital (vgl. ebd.: 307). In welche Klasse ein Individuum einzuordnen ist, bestimmt nach Bourdieu ihr Kapitalvolumen. Es ergibt sich eine Reihe von Möglichkeiten, Einordnungen vorzunehmen: Ein Arzt ist beispielsweise sowohl kulturell als auch ökonomisch der Oberklasse zuzuordnen, da er in ökonomischer Hinsicht in der Regel ein hohes Einkommen bezieht und in kultureller Hinsicht in Form von Bildung und dem damit verbundenen Zugang zu vielen kulturellen Gütern in der Regel umfangreich ausgestattet ist. Ein Handwerker hingegen ist in die Volksklasse einzuordnen, da er in ökonomischer Hinsicht in der Regel ein geringes Einkommen bezieht und auch keine umfangreiche Bildung genossen hat. Die Mittelklasse ist in einen Kampf um den Auf- und Abstieg in die beiden anderen Klassen verwickelt.

Wer sich Bourdieu zufolge in der Oberklasse befindet, gibt vor, was in einer Gesellschaft als legitim gilt. Am entscheidendsten für die Herrschaft in einer Gesellschaft ist die Verborgenheit, der Herrschaftsschleier, mit der sie agiert. Die Beherrschten befinden sich in einer Art Komplizenschaft, durch welche die Herrschaft akzeptiert wird und normal und legitim wirkt (vgl. Bourdieu 2001: 216f.). Die einzige Möglichkeit, den Herrschaftsschleier zu durchbrechen, liegt für Bourdieu in der Unterwanderung der Macht.

Woher nimmt Bourdieu die Präzision seiner Klassenanalyse? Um den entscheidenden Dreh- und Angelpunkt, der die Weichenstellung für die Klassenzugehörigkeit und das Verhalten innerhalb der Klassen bietet, soll es im nächsten Schritt gehen.

Struktur –Habitus –Praxis

Der zweite Baustein in der Formel der Theorie der Praxis ist der Habitus. Unter dem Begriff des Habitus versteht Bourdieu eine jedem Individuum innewohnende Anlage von Denk- und Verhaltensstrukturen, die wiederum die Strukturen in gesellschaftlichen Räumen erzeugen. Mithilfe dieser verschaffen sich Individuen Orientierung innerhalb ihrer sozialen Klasse und beziehen Positionen. Der Habitus ist gewissermaßen als Handlungs- und Denkanleitung, als eine Art Überbau aller Verhaltensmuster anzusehen. Seine Ausgestaltung erfolgt vor allem in der frühen Kindheit, anschließend aber auch an anderen Stellen. Der Habitus ist unbewusst und inkorporiert; er legt fest, wie viel sich ein Individuum zutrauen kann, wie Dinge beurteilt werden, was geschafft und nicht geschafft werden kann - also welche Eigenschaften eine Persönlichkeit charakterisieren und welche Grenzen ihr gesetzt sind. Die Entwicklung all dieser Eigenschaften geht Bourdieu zufolge ganz ohne das bewusste Zutun der Individuen vonstatten – vielmehr durch Erfahrung und damit schlicht durch das Leben, das Dabei-Sein in einer Gesellschaft (vgl. Bourdieu 1987: 278ff.).

„Wer in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen ist, so Bourdieus Logik, der kleidet sich in der Regel eben anders als jemand, dessen Vater Chefarzt war, er bevorzugt andere Speisen, liebt andere Filme und Musik, schätzt andere Sportarten und Freizeitaktivitäten, hat andere Lese- und Lerngewohnheiten, einen anderen Sprachduktus, andere Berufswünsche und auch einen anderen Freundeskreis. Im Habitus hätten sich die Erfahrungen der einzelnen Person und seiner Klasse verkörperlicht, individuelle also ebenso wie kollektive.“ (Kunze 2008, zit. n. Hartmann 2004: 89)

Hartmanns Beschreibung verdeutlicht die Allgegenwärtigkeit des Habitus im täglichen Leben der Menschen. Er ist in der Lage, ganze Lebensstile zu konstituieren. Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten oder er/sie kann nicht aus seiner/ihrer Haut sind Sätze aus dem Alltag, die so zu sein scheinen, wie sie gemeint sind: unverrückbar und selbstverständlich. Der Habitus ist träge. Er gewöhnt sich nur langsam an einen Wandel und lässt dementsprechende Veränderungen auch nur langsam zu. Bourdieu nennt das den Hysteresis-Effekt (vgl. Barlösius 2011: 86). Diese und viele andere simple Wahrheiten vereint der Habitus in sich. Sein Wesen scheint um Eleganz bemüht zu sein. Die elegante Macht ist das, was sich – so denke ich – sehr treffend auf den Habitus und ebenso auf die Herrschaft in vielen Teilen der heutigen Gesellschaft übertragen lässt: Sie springt uns nicht sofort ins Auge. Ihre Art ist von „souveräner Unauffälligkeit“ (Gronemeyer 2009: 25), sodass man kann ihr nur schwer begegnen kann; sie ist „verborgen, ohne klammheimlich zu sein“ (ebd.). Diese immunisierende Eigenschaft scheint die edelste des Habitus zu sein, wie Bourdieu heraushebt:

„Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat. Deswegen macht gerade er die Praktiken relativ unabhängig von den äußeren Determiniertheiten der unmittelbaren Gegenwart.“ (Bourdieu 1993: 105)

Genau diese Unabhängigkeit von der unmittelbaren, praktischen Gegenwart macht den Habitus nur schwer angreifbar und veränderlich. Zumindest scheint es so, als sei der Habitus nie an der Oberfläche zu erkennen. Ob dies zutrifft, soll im nächsten Abschnitt anhand der Praxis geklärt werden.

[...]

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Details

Title
Habitus und entfremdetes Leben bei Pierre Bourdieu
College
University of Münster  (Institut für Soziologie)
Author
Year
2015
Pages
12
Catalog Number
V308073
ISBN (eBook)
9783668066960
ISBN (Book)
9783668066977
File size
448 KB
Language
German
Keywords
Pierre Bourdieus, Habitus, Sozialisation, Anpassung, Identität, Entfremdung, Struktur, Praxis
Quote paper
Jens Vösseler (Author), 2015, Habitus und entfremdetes Leben bei Pierre Bourdieu, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/308073

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