Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Im Visier
2.1 Die Arbeit 'Haus im Schlamm'
2.2 Die Geschichte des Maschsees in Hannover
2.3 Die Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der Arbeit
2.4 Die Intentionen und ihre künstlerische Übersetzung
3 Fazit
Anhang
Abbildungen
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Abbildungsverzeichnis
Internetquellen:
1 Einleitung
Santiago Sierra ist ein spanischer Künstler. 1966 in der Hauptstadt geboren, wohnt er seit 1995 in Mexiko-Stadt, eine Stadt, die zu seiner thematischen Orientierung in der Kunst passt. Zunächst schloss er sein Kunststudium 1989 an der Universität Complutense in Madrid ab, studierte aber auch zwischen 1989 und 1991 an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, wo er mit Franz Erhard Walther und Bernhard Blume arbeitete. Seine Radikalität sicherte ihm schon früh einen Platz im Kunstgewerbe. Die 50. Biennale in Venedig 2003 stellt einen ersten Höhepunkt in seiner künstlerischen Laufbahn dar. Insgesamt hat er bisher ca. 160 Kunstwerke in seinem Œuvre.
Santiago Sierra ist als ein sehr provokanter Künstler bekannt. In vielen seiner Arbeiten geht er einer Forschungsarbeit gleich den Bedingungen auf den Grund, unter welchen sich Menschen Endwürdigung und Ungerechtigkeit preisgeben. Das bedeutet, er bezahlt Menschen ihrem jeweiligen ökonomischen System nach, gegen die Leistung scheinbar sinnloser, aber in der Öffentlichkeit erniedrigender Dinge. Das macht seine Werken sehr intensiv und eindringlich. „In der Kunst ist es nun einmal sehr unüblich, Menschen dermaßen offensiv zu instrumentalisieren.“1 Die Personen bleiben stets “gesichtslos”. Aber trotzdem erscheint es dem Betrachter als würden die Kunstwerke von individuellen Schicksalen handeln.
Was jedoch alle seine Arbeiten gemein haben, also auch diese, in denen Sierra keine Leute anheuerte, ist, dass sein Sarkasmus dabei aus der Art und Weise der Umsetzung, Kopplung von Ästhetisierung und Wirtschaft entsteht. Oft verunsichert und irritiert Sierra mit seinen Werken, da der Zuschauer nicht mehr allein in der Rolle des Passiven bleibt, sondern zu einem intimen Mitwisser.
Seine Aktionen sind stets temporär und können daher nicht an anderer Stelle reproduziert werden. So dokumentiert Sierra die von ihm konzipierten Aktionen mit Hilfe von Schwarz-Weiß-Fotografie und -Film.
Doch in dieser Arbeit soll es um ein ganz bestimmtes Kunstwerk von Sierra gehen, welches den Titel “Haus im Schlamm” trägt. Sein historischer Kontext spielt bei der Analyse eine wesentliche Rolle. Es soll außerdem aufgezeigt werden, wie extrem sein widerständiger Charakter ist. Dabei ist es wichtig eine genauere Vorstellung, ein deutlicheres Bild von Santiago Sierras als Künstler zu erhalten, seine Arbeitsweise kennenzulernen und zu verstehen. Zur Orientierung müssen natürlich einige andere Werke, nicht nur von ihm, herangezogen werden.
2 Im Visier
2.1 Die Arbeit 'Haus im Schlamm'
2005 lässt Santiago Sierra in das Erdgeschoss der Kestnergesellschaft in Hannover circa 320 m³ Schlamm einbringen. Verteilt in allen Räumen zieht sich der Modder von dem Boden bis schräg hoch an die Wände. Teilweise sind in den Räumen die Arbeitsgerätschaft zurückgelassen. Diese Installation ist begehbar, ja der Besucher ist sogar Teil, Akteur, des Kunstwerks, denn er verteilt den Schlamm, der an seinen Schuhen hängenbleibt, in dem restlichen Gebäude, wo sich nichts weiter befindet als die Fußspuren selber. (Abb. 1-4)
Ursprünglich sah Sierra aufgrund ihrer soziologischen Bedeutung Sedimente aus dem Maschsee (Abb. 5) vor. Doch war die Nutzung dieses Materials aufgrund seiner bakteriellen Belastung und der damit verbundenen gesundheitlichen Gefährdung der Besucher zu bedenklich. So wurden 55 m³ Schlamm und 265 m³ Torf aus einem nahegelegenen See aus Bad Nenndorf in der Nähe des Steinhuder Meeres verwendet, welcher aufgrund seiner Nährstoffarmut und seinem Säuregrad ungefährlich war.
Die Reaktionen der Besucher waren sehr unterschiedlich. Die einen wollten gar nicht in die Räume hineingehen, sich nicht schmutzig machen, die anderen waren begeistert, manche verstanden die Installation nicht als Kunst und wieder andere konnten nicht nachvollziehen, wie „man ein so schönes Haus mit Schlamm füllen“2 kann. Doch eindeutig war, dass der Besucher wieder einmal mit etwas konfrontiert wurde, mit dem er gar nicht umzugehen wusste, wie bei vielen Sierras Arbeiten. Allein das Bewegen in den Räumen war ganz anders, wenn es überhaupt stattfand.
Santiago Sierras “Haus im Schlamm” ist eine sehr ortsbezogene Arbeit. Wie so häufig berücksichtigt er “die Querverbindungen zwischen Material und Mensch”3, da seiner Ansicht nach kein Material wertneutral und unabhängig von Kultur und Gesellschaft des Ortes ist. So spiegelt der Schlamm erst einmal nur die Geschichte des Maschsees wieder, über die Sierra auch nicht mehr weiß, als vielleicht die Hannoveraner selbst.
2.2 Die Geschichte des Maschsees in Hannover
Der Maschsee ist ein in den 1930er Jahren im Verfahren der Notstandsarbeiten künstlich angelegter See, der heute ein wichtiges Freizeitgebiet darstellt. Die Baumaßnahmen des Maschsees begannen 1934 und sollten zwei Jahre anhalten, in denen ca. 780.000 m³ Erdmaterial ausgehoben wurden. (Abb. 6 u. 7) Die Jahre zuvor waren geprägt von größter Massenarbeitslosigkeit. Dem wollte die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei mit ihrem politischen Programm entgegenwirken. So konnten mit dem Bau 1.650 Notstandsarbeiter beschäftigt werden. Dazu gehörten Arbeitslosen-, Krisen- und Wohlfahrtsunterstützungs-Empfänger, welche schließlich gegen einen Stundenlohn von 64 Pfennig eingestellt wurden. Davon mussten sie sich Arbeitskleidung und Werkzeug kaufen, welche mehrere Tageslöhne betrugen, was bedeutete, dass sie bei den Notstandsarbeiten einen geringeren Geldbetrag erhielten als zuvor vom Wohlfahrtsamt. Zudem wurden ihre Arbeitsstunden auf 40 pro Woche reduziert, da die Mittel für die zivile Arbeitsbeschaffungsmaßnahme sehr eingeschränkt waren. Um mehr Leute beschäftigen zu können, wurde auf Arbeitsmaschinen verzichtet und somit die Arbeitsbedingungen weiter verschärft. Überdies beschnitten die Nationalsozialisten die Arbeiter ihren Rechten, entließen gewählte Betriebsräte aus ihren Ämtern und lösten Gewerkschaften gewaltsam auf, sodass die Arbeitnehmerschaft nahezu keinen politischen Einfluss mehr hatte.
2.3 Die Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der Arbeit
Nach diesem Blick in die historischen Zusammenhänge, könnte man nun annehmen, Sierra geht es um den Nationalsozialistischen Gedanken hinter seinem Kunstwerk, wie schon in seinem Werk '245 Kubikmeter' (Stommeln bei Köln, 2006) (Abb. 8-10). Dabei leitete Sierra über Schläuche die Abgase von Autos in eine Synagoge, welche anschließend von den Besuchern mit einer Atemschutzmaske und in Begleitung eines Feuerwehrmanns für 5 Minuten begangen werden konnte. Dieses Werk sollte Sierras Ablehnung gegenüber der Form des Holocaust-Gedenkens ausdrücken und selbst diesbezüglich eine Art Vorreiter sein.
Es kann sein, dass Sierra auch bei “Haus im Schlamm” zum Nachdenken über „das chronische und instrumentalisierte Schuldgefühl“4 in Bezug auf die deutsche Vergangenheit auffordern will, doch wahrscheinlicher ist eine andere, viel weitreichendere Intention, auf die nun weiter eingegangen werden soll.
Die Idee des Maschsees, sowie die der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme sind nicht nationalsozialistischen Ursprungs, auch wenn das Regime es damals so propagiert hat. Schon Ende des 19. Jahrhundert wurde das Interesse nach einer Leine- und Ihmeregulierung und der damit verbundenen Anlegung eines Sees bekundet. Arbeitsbeschaffungsmaßnahme waren schon unter Papen und Schleicher in der Weimarer Republik eingeführt worden. Doch hat erst Dr. Arthur Menge, Bürgermeister Hannovers seit 1925, dieses System auf das Maschsee-Projekt bezogen und somit das Problem der Finanzierung gelöst. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die Maßnahme erst realistischer. Denn ihr Kult um Arbeit war in ihr ideologisches Konzept eingebunden, was sich durch ihre Regime-Parole „Arbeit für Alle“5 unzweifelhaft zeigt.6 Und so wurden die Bauarbeiten des Maschsees in die Propanganda-Kampagne mit dem reißerischen Titel „Zweite Arbeitsschlacht”7 zu Zwecken Hitlers Politik integriert.
Die Inschrift einer Säule am Ufer des Maschsees lautet „Wille zum Aufbau gab werkfrohen Händen den Segen der Arbeit – Freude, Gesundheit und Kraft spende fortan euch der See! 1934 – 1936“8. Doch berücksichtigt man die Bedingungen unter denen die Arbeitslosen arbeiteten, muss bezweifelt werden, dass diese dabei vergnügt gewesen und das Arbeiten für sie Hilfe und Glück waren. Dieses zeremonielles Spektakel, welches man um den leistenden Bürger gemacht hat, steht in keinem Verhältnis zu seiner Entlohnung und seiner politischen Kraft.
Dieses Thema hat zeitlose Aktualität, denn nicht nur zu Zeiten des Dritten Reichs gab es das Versprechen von der Schaffung von Arbeitsplätzen. Heute zu Zeiten der wiedergekehrten Massenarbeitslosigkeit, steckt die Politik in der gleichen Krise wie damals. „Nach der Aktualität des Maschsee-Projektes muß nicht lange gesucht werden: Die Zahl der Beschäftigungslosen ist wieder so hoch wie Anfang der Dreißiger.“9 Und wieder tauchen zwiespältige Versprechungen der Arbeitsschaffung auf, in welcher die Arbeit bezahlt, aber die Beschäftigung sinnlos ist, wie so häufig die Tätigkeiten der Akteure bei Santiago. Doch während das NS-Regime damit versuchte die Schicht der Arbeiter in ihr Gefüge zu integrieren und die Arbeitshaltung zu stimulieren, sodass sie militärisch motiviert war, sind die Intentionen solcher Maßnahmen heute andere. Und zwar solche, die die beiden Fälle der Arbeitsfürsorge gemein haben. Es geht dabei nicht primär um ein wirtschaftliches Ziel, sondern pädagogisch betrachtet um die Ablenkung der kritischen Gedanken der Bürger durch eine Beschäftigung, weshalb diese sich vielleicht gebraucht fühlen, aber dennoch die Erniedrigung darin spüren.
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1: Winzen, Matthias/ Heinzelmann, Markus (Hrsg.): Gegen den Strich. Neue Formen der Zeichnung, Nürnberg 2004, S. 127.
2: http://www.kestnergesellschaft.de/index.php?id=608, Herausgeber kestnergesellschaft Hannover, letzter Besuch 17.10.2011.
3: Gardner, Belinda Grace: http://www.artnet.de/magazine/interview-mit-santiago-sierra/, 17.10.2011.
4: Sierra, Santiago: http://www.synagoge-stommeln.de/index.php?n1=2HYPERLINK "http://www.synagoge-stommeln.de/index.php?n1=2&n2=2&n3=0&Direction=131&s=0&lang=dein, letzter Besuch 17.10.2011.
5: Görner, Veit/ Wagner, Hilke: Santiago Sierra. Haus im Schlamm/ House in Mud, Hannover 2005, S. 18.
6: Die ursprüngliche Strategie Hitlers, Arbeitsbeschaffung durch Aufrüstung, war aufgrund des Versaillers Vertrags nicht umsetzbar. Um jedoch den militärischen und kriegerischen Gedanken ihres Konzepts weiterführen zu können, propagierten sie eine “Arbeitsschlacht”, welche gegen die hohe Arbeitslosigkeit geführt werden musste. So passte das Maschsee-Projekt, sowie das der Reichsautobahnarbeiten, sehr gut in ihre Politik.
7: Görner, Veit/ Wagner, Hilke: Santiago Sierra. Haus im Schlamm/ House in Mud, Hannover 2005, S. 73.
8: Ebd. S. 17.
9: Tröster, Christian (Journalist von 'Welt am Sonntag'): http://www.kestnergesellschaft.de/608.98.html, letzter Besuch 17.10.2011.