Muraus schriftliche Erinnerungen. Vergangenheitsbewältigung in Thomas Bernhards "Auslöschung. Ein Zerfall"

Durch Auslöschung zur Geistesexistenz?


Hausarbeit, 2008

12 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Verarbeitung negativer Erfahrungen

1. Durch Auslöschung zur Geistesexistenz?
1.1. Definition eines Geistesmenschen
1.2. Die Schrift „Auslöschung“
1.3. Diskussion der Frage, ob die angestrebte Geistesexistenz erreicht wurde

2. Kurze Zusammenfassung des Ergebnisses

Literaturverzeichnis

0. Verarbeitung negativer Erfahrungen

Menschen werden im Laufe ihres Lebens durch die verschiedensten Erfahrungen und Erlebnisse geprägt; sowohl durch erfreuliche, als auch durch negative, wie zum Beispiel durch den Verlust eines geliebten Menschen, durch Krankheiten, schulische oder Berufliche Misserfolge, durch zwischenmenschliche Konflikte, den Verlust des Arbeitsplatzes oder materieller Güter.

Alle diese Ereignisse hinterlassen in diesen Menschen tiefe Spuren.

Am gravierendsten sind jedoch die Erfahrungen in der Kindheit. Wenn Kinder von ihren Eltern nicht geliebt und geschätzt werden, wenn diese nicht auf ihre Bedürfnisse eingehen, sie nicht fördern oder gar zurückweisen, entstehen Schäden, die sie oft durchs ganze Leben begleiten. Wenn sie das als erwachsene Menschen erkennen und unter den Folgen leiden, führt das zu Vorwürfen, Abgrenzung oder gar zur völligen Loslösung vom Elternhaus. Es kann sein, dass sie dann bewusst oder unbewusst ganz andere Wege in ihrem Leben einschlagen als die von ihren Eltern vorgegebenen und mit allen Werten und Einstellungen brechen, die ihnen von ihnen vermittelt wurden

So vielfältig wie die Menschen sind, denen so etwas widerfährt, so vielfältig sind auch ihre Methoden, diese negativen Erfahrungen zu verarbeiten. Manche versuchen zu vergessen, zu verdrängen oder flüchten sich in ihre Arbeit; andere ziehen sich zurück und wieder andere versuchen sich intensiv mit ihren Problemen auseinanderzusetzen, sie versuchen, ihre aufgestauten Aggressionen anderweitig abzuladen, wie zum Beispiel im Sport, oder sie versuchen, das Erlebte in der Kunst oder aber auch in Gesprächen zu verarbeiten.

Eine ganz bestimmte Form der Vergangenheitsbewältigung finden wir in dem Roman „Auslöschung“, denn hier versucht der Protagonist, Franz-Josef Murau durch das Verschriftlichen seiner Erinnerungen seine Vergangenheit auszulöschen, um endlich mit dieser abschließen und eine Existenz führen zu können, die nicht mehr von seinen Kindheitserfahrungen bestimmt und beeinträchtigt ist. In der folgenden Arbeit wird auf diese ‚Auslöschung‘ eingegangen und in diesem Zusammenhang auch auf die Frage, ob es Murau gelingt, durch seine Schrift „Auslöschung“ die von ihm angestrebte Geistesexistenz zu erreichen. Um diese Frage diskutieren zu können, soll im Vorhinein erst einmal klar gemacht werden, was es in Muraus Augen überhaupt bedeutet, ein Geistesmensch zu sein und welche dieser Anforderungen er bereits erfüllt, bzw. welche dieser Vorraussetzungen erst erfüllt werden können, nachdem er mit seiner Schrift die Vergangenheit verarbeitet, ja ausgelöscht hat und sich somit von allem befreit hat, was ihn in seiner Entwicklung beeinträchtigt. Im Folgenden wird dann genauer auf die Schrift an sich eingegangen, auf den Widerspruch zwischen Auslöschung und Erinnerungsarbeit, den sie enthält, darauf, wer ihn zu dieser Schrift inspiriert hat, und schließlich darauf, dass ein genauer Plan für den Wideraufbau der zerstörten Welt fast vollkommen fehlt. Letzten Endes wird die Problematik aufgezeigt, welche sich bei dem Versuch diese Frage zu beantworten, ergibt.

1. Durch Auslöschung zur Geistesexistenz?

1.1. Definition eines Geistesmenschen

Um festzustellen, ob es Murau gelingt durch seine Schrift „Auslöschung die Geistesexistenz zu erlangen, muss wie in der Einleitung schon angedeutet erst einmal geklärt werden was Murau unter diesem Begriff versteht:

Muraus Begriff der Geistesexistenz orientiert sich an dem Leben seines Vorbilds Onkel Georg, denn dieser war seiner Meinung nach durch und durch ein Geistesmensch:

„Mein Onkel Georg führte eine Geistesexistenz, wie ein paar hundert vollgeschriebene Notizbücher beweisen.“[1]

Er eifert seinem Onkel in allen Lebensbereichen nach und teilt dessen Interessen.

So lieben beide die Literatur, die Bücher und das Meer[2], beide haben ein großes Vergnügen an Bildungs- und Weltreisen. Onkel Georg ermöglichte es Murau in der Literatur „das Paradies ohne Ende“[3] zu erkennen, er hat ihn in die Welt der Musik eingeführt und ihm für alle Künste die Augen geöffnet. Auf Onkel Georgs Voschlag hin, hat Murau den Schritt gewagt Wolfsegg zu verlassen um wie er selbst im Süden leben zu können.

Der Geistesmensch bildet sich seine eigene Meinung und lässt sich nicht dadurch beirren, wenn er mit dieser alleine dasteht und gegen alle bürgerlich- konservativen Normen verstößt. So hat sich der Onkel Georg als einziger in Wolfsegg klar und deutlich gegen den Nationalsozialismus ausgesprochen und ist auch während des Krieges aktiv gegen diesen vorgegangen. Auch Murau äußert sich immer wieder als entschiedener Gegner des Nationalsozialismus, auch wenn er es nicht so, wie sein Onkel öffentlich in Wolfsegg, wie zum Beispiel beim gemeinsamen Abendessen ausgesprochen hat.

Des Weiteren „lehnt [Murau] es generell ab, einen Verstorbenen allein des Todes wegen zu idealisieren“[4]. Er ändert seine Meinung über seine Eltern nicht, nur weil sie nun tot sind, denn diese Tatsache macht aus ihnen auch nicht bessere Menschen. Zu diesem Thema sagt Murau: „Wie wir uns nicht scheuen sollten, bei seinem Tode zu sagen, der gute Mensch ist tot, sollten wir uns auch nicht scheuen, zu sagen, der gemeine, der niederträchtige ist tot.“[5]

Murau schreibt, dass er mit Nietzsche die Überzeugung teilt, dass alles was fest ist tötet.

Dies ist ein Grundgedanke, nach dem der Geistesmensch lebt, denn das Sich-Weiterentwickeln und das Denken endet nie, denn ein Geistesmensch existiert gerade dann in der äußersten Anspannung und in dem allergrößten Interesse, wenn er sozusagen dem Nichtstun frönt[6]. Auch deshalb ist es für Murau so wichtig sich von Wolfsegg loszulösen, denn dort findet keine Weiterentwicklung mehr statt, dort ist alles festgefahren:

Meine Eltern hatten von Geburt an immer nur nach den ihnen von ihren Vorgängern vorgeschriebenen Gesetzen gelebt und waren niemals auf die Idee gekommen , sich einmal eigene, neue Gesetze zu machen, mein Onkel Georg hatte nur nach seinen eigenen, von ihm gemachten Gesetzen gelebt. Und diese von ihm selbst gemachten Gesetze hatte er alle Augenblicke umgestoßen.[7]

Um aber nach seinen eigenen Regeln leben zu können muss der Geistesmensch Selbstständig und unabhängig sein und diese angestrebte Autonomie kann erst dann eintreten, wenn man sich vom HK befreit, also dann erst, wenn man niemanden mehr hat, gegen den man sich entwickeln muss oder dem man sich mit einer Antiautobiographie entgegenstellt.[8]

Erst wenn nichts mehr da ist, wogegen er sich entwickeln muss, kann sich der Mensch so entwickeln, wie es ihm entspricht. Diese Loslösung von allem glaubt Murau durch das Verfassen einer Schrift, welche er „Auslöschung“ nennen will, erreichen zu können. Die Geistesexistenz Muraus ist somit schon vor dem Schreiben skizziert, kann aber erst durch das Verfassen der Auslöschung perfektioniert werden.[9]

1.2. Die Schrift „Auslöschung“

Murau spricht im Ganzen Roman, von seinem Vorhaben, eine Schrift zu verfassen, welche ihm hilft, seine ganze Vergangenheit und vor allem seine schlechten Erfahrungen in seiner Kindheit, mit Wolfsegg und mit seiner Familie zu verarbeiten.

„Mein Bericht ist nur dazu da, das in ihm Beschriebende auszulöschen, alles auszulöschen, das ich unter Wolfsegg verstehe, und alles. Das wolfsegg ist, alles gambetti, verstehen sie mich wirklich und tatsächlich alles. Nach diesem Bericht muss alles das Wolfsegg ist, ausgelöscht sein Mein bericht ist nichts anderes als eine Auslöschung, hatte ich zu Gambetti gesagt. Mein Bericht löscht Wolfsegg ganz einfach aus.[10]

Gambettis Aufmerksamkeit, ja Faszination war die großere, wenn ich ihm sage, wie die Welt in meinem Sinne zu verändern wäre, indem wir si ganz und gar redikal zuerst zerstören, beinahe bis auf nichts vernichten, um sie dann auf die mir erträglich erscheinende Weise wieder herzustellen mit einem Wort, als eine vollkommen neue, wenngleich ich nicht sagen kann, wie das vor sich zu gehen hat, ich weiss nur, sie muss zuerst völlig vernichtet werden, um wieder hergestellt u werden, denn ohne ihre totale vernichtung kann sie nicht erneuert sein.[11]

Thomas Bernhard sagt selbst über den Titel seines Buches: „Auslöschung“, ein guter Titel, ausgezeichnet: „Auslöschung, ein Zerfall.“ Einer löscht alles aus, und drum herum zerfallt sowieso alles, also ist es eigentlich ein Blödsinn, dass er es auslöscht, weil eh alles zerfallt.“[12]

Der Zerfall, der auch ohne Muraus zutun eintreten würde zeigt sich zum einen im Aussterben seiner Familie. Seine Eltern und sein Bruder sind tot, er und seine Schwestern sind schon über vierzig Jahre und obwohl eine seiner Schwestern nun verheiratet ist, ist relativ klar, dass keine Nachkommen mehr folgen werden.

Zum anderen spricht Murau selbst von einem unaufhaltsamen Verfallsprozess welcher hauptsächlich durch Erfindungen wie die Fotographie vorangetrieben wird. Und seiner Ansicht nach wird dieser Verfallsprozess mit dem Millenium abgeschlossen sein und er rät jedem denkenden Menschen sich vorher umzubringen.[13]

Nun stellt sich die Frage ob bzw. warum eine solche Auslöschung überhaupt nötig ist, wenn sowieso alles zerfällt.

[...]


[1] Bernhard, Thomas: Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1988. S. 37

[2] vlg. Ebd. 31

[3] Ebd. S. 34

[4] Der Protagonist im Erzählwerk Thomas Bernhards. Michael Grabher (Hrsg.). Hamburg: Verlag Dr. Kovac 2004 (=Studien zur Germanistik). S.344.

[5] Bernhard, Thomas: Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1988. S. 10.

[6] Ebd. S. 47

[7] Ebd

[8] vlg. Nickel, Eckhart: Flaneur. Die Ermöglichung der Lebenskunst im Spätwerk Thomas Bernhards. Heidelberg. Manutius Verlag 1997. S. 48.

[9] vgl. ebd. S. 51-52

[10] Bernhard, Thomas: Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1988. S. 199

[11] Ebd. S. 209

[12] Der Protagonist im Erzählwerk Thomas Bernhards. Michael Grabher (Hrsg.). Hamburg: Verlag Dr. Kovac 2004 (=Studien zur Germanistik). S.351.

[13] Bernhard, Thomas: Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1988. S. 646.

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Muraus schriftliche Erinnerungen. Vergangenheitsbewältigung in Thomas Bernhards "Auslöschung. Ein Zerfall"
Untertitel
Durch Auslöschung zur Geistesexistenz?
Hochschule
Universität Regensburg  (Germanistik)
Veranstaltung
Die Romane Thomas Bernhards
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
12
Katalognummer
V308451
ISBN (eBook)
9783668065659
ISBN (Buch)
9783668065666
Dateigröße
416 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Thomas Bernhard, Auslöschung, Geistesexistenz, Geistesmensch, Wolfsegg, Rom, Murau, Nationalsozialismus, Auslöschung. Ein Zerfall, Vergangenheitsbewältigung, Erinnerungsarbeit
Arbeit zitieren
Dr. phil Sandra Herfellner (Autor:in), 2008, Muraus schriftliche Erinnerungen. Vergangenheitsbewältigung in Thomas Bernhards "Auslöschung. Ein Zerfall", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/308451

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