Die vorliegende Arbeit nimmt Anstoß an der Beobachtung, dass gegenwärtig eine erstaunlich fraglose Bereitschaft zur umfangreichen Medienkonsumtion in breiten Teilen der modernen Gesellschaft entwickelt ist. Dabei werden Folgen der Individualisierung, Isolation und Virtualisierung ganzer Spektren von Lebenswelten ins Selbstverständnis der Protagonisten übernommen.
Die Arbeit fragt nach den anthropologischen Hintergründen der medialen Verbiederung, als dem durch Medien gestützten und forcierten Rückzug der Menschen aus der sich leerenden Öffentlichkeit in den Raum mediengefüllter Intimsphären. Welche anthropologischen Phänomene können die paradoxen Entwicklungen moderner Gesellschaften begründen, deren Angehörige sich nach Nähe, Wärme und persönlicher Anerkennung zu sehnen scheinen, während sie sich in eine durch Sichtbarkeit geprägte Isolation sozialen Handelns begeben, indem sie zu passiven Mitgliedern einer in einsame Individuen ausdifferenzierten Zuschauermasse mutieren?
Die Ursachen dafür finden sich – laut Arbeitsthese – im Konflikt von Autonomie und Kontingenz, der im säkularen Selbstverständnis moderner Individuen unbewältigt bleibt. Die fehlende Akzeptanz der Abkünftigkeit eigenen Daseins führt zur ontischen Scham, die als dauernde Identitätsstörung auftritt. Das destabilisierte Selbst zieht sich aus Furcht vor weiteren Zurücksetzungen innerhalb öffentlicher Blick- oder kommunikativer Anerkennungsverhältnisse in ein asozial-narzisstisches Dasein zurück. Infolge dessen kommt es zur Degeneration der Öffentlichkeit zugunsten einer individualisierenden Virtualisierung von Interaktion in Bild und Ton.
Die Arbeit will zeigen, dass die Stabilität gegenwärtiger Demokratien auf systemimmanenten Beschämungs- u. Beleidigungsverhältnissen fußt, die zur Entstehung einer klassenlosen Klassengesellschaft beitragen und den Wunsch nach virtueller Selbstverbergung verständlich werden lassen.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Von der Kontingenz zur Daseinsscham
1.1 Das Geschlecht als existentielles Zeichen der ontischen Scham
1.1.1 Internalisierte Schuld ist nicht Scham
1.1.2 Die Geschlechtsscham
1.1.2.1 Die ontische Scham im Genesis-Mythos
1.1.2.2 Das Geschlecht bei Platon: Eros und Thymos
1.2 Die transzendierende Identität und die moderne Frage nach dem Selbstseinkönnen bei Kierkegaard
2. Von der Transzendenz des Selbstseinkönnens zur Immanenz des Selbstseinmüssens
2.1 Säkularismus
2.2 Von der ontischen Scham zur moralischen Scham
2.3 Der Säkularismus begünstigt das Schamempfinden
2.3.1 Das sichtbare Haben als Vorurteil des verborgenen Seins
2.3.2 Scham und der Blick des Anderen: Anerkennungsprobleme
3. Von der Öffentlichkeit zur Privatheit
3.1 Das Ideal der persönlichen Empfindung
3.2 Intimität, Narzissmus und die Pflicht zur Authentizität
3.3 Vom Raum öffentlichen Handelns zur Durchgangsstrecke
3.3.1 Intimität und Zivilisiertheit
3.3.2 Der Raum als Durchgang
4. Von der Gesellschaft zur Gemeinschaft
4.1 Statusscham: Von der Ehre zur Würde
4.2 Charismatische Beleidigungshierarchien moderner Gesellschaften
4.3 Statusgruppen sind charismatische Herrscher
4.4 Statusgruppen als fundamentalistische Gemeinschaften
5. Von der Gemeinschaft zur Vereinzelung: Virtualisierung der Lebenswelt
5.1 Immanente Transzendierung des Selbst und prometheische Scham
5.2 Kompensationsformen der Prometheischen Scham
5.2.1 Autonome Raumbewegung des Users
5.2.2 Vom Film und Fernsehen
5.2.3 Vom gemeinsamen Handeln zur gemeinsamen Flucht
6. Plädoyer statt Fazit
7. Quellenverzeichnis
- Quote paper
- Benjamin Baumann (Author), 2011, Scham und Kontingenz. Zur medialen Verbiederung des Individuums der Gegenwart, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/308470
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