Kinder mit Behinderung als Teil der Familie. Chancen, Herausforderungen und Veränderungen für Mütter, Väter und Geschwister


Akademische Arbeit, 2003

43 Seiten, Note: 1.5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Situation der Mütter
1.1. Bedeutung des Kindes für die Mutter
1.2. Mutterschaft in unserer Gesellschaft:
1.3. Verlusterleben von Müttern behinderter Kinder nach Jonas (Jonas 1994, 68-83)
1.3.1. Kindzentriertes Verlusterleben
1.3.2. Identitätszentriertes Verlusterleben
1.3.3. Sozialzentriertes Verlusterleben
1.4. Auswirkungen des behinderten Kindes auf die Frau
1.5. Verlust von Möglichkeiten zu einer individuell gestalteten Alltagswelt
1.6. Belastungen von Müttern
1.6.1. Pflege des Kindes
1.6.2. Gesundheitliche Probleme des Kindes
1.6.3. Haushalt
1.6.4. Die Gesellschaft
1.7. Zukunftsangst

2. Situation der Väter
2.1. Die männliche Geschlechterrolle
2.2. Die Bedeutung des „Vaterseins“
2.3. Die Bedeutung des Vaters für die kindliche Entwicklung
2.4. Belastungen für Väter behinderter Kinder
2.5. Die Vater – Kind Beziehung
2.6. Chancen für Väter behinderter Kinder

3. Situation der Geschwister
3.1. Allgemeine Geschwisterbeziehungen
3.2. Belastungen für die Geschwisterkinder
3.3. Ich bin doch auch noch da
3.4. Chancen für Geschwister behinderter Kinder Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis (inkl. weiterführender Literatur):

Vorwort

In meiner Arbeit setze ich mich mit der besonderen Situation von Familien mit einem Kind mit Behinderung auseinander. Ich möchte die Veränderungen aufzeigen, die die Geburt eines behinderten Kindes für die Familie mit sich bringt und einen Einblick in den Prozess der Auseinandersetzung mit der Situation geben.

In den folgenden Kapiteln gehe ich nun speziell auf die Situation der einzelnen Familienmitglieder ein. Am ausführlichsten behandle ich die Situation der Mütter, da diese die meiste Zeit mit dem Kind verbringen und daher am stärksten von der Behinderung betroffen sind. Ich zeige auf, welche große Bedeutung Kinder für Mütter haben und welche Auswirkungen es für die Mutter hat, ein behindertes Kind zu bekommen. Hierzu zählen die Belastungen, Trauer, aber auch Chancen die sich auftun können.

Um die Situation der Väter behinderter Kinder besser verstehen zu können, gehe ich zunächst auf die männliche Geschlechterrolle, ihre Gefühlswelt und ihr Denken ein. So werden die zur Mutter unterschiedliche Beziehung zum Kind sowie die Belastungssituation der Väter deutlicher.

Bei der Situation der Geschwister in Kapitel 3 beschreibe ich neben den Aspekten der Belastungen und Chancen von Geschwisterkindern vor allem die Situation des, gegenüber dem behinderten Geschwisters, in „zweiter Reihe“ Stehens und ständigen Zurückstecken müssens.

Bevor ich mich nun dem eigentlichen Teil meiner Arbeit zuwende, möchte ich noch zwei Vorbemerkungen machen:

In meiner Arbeit differenziere ich nicht nach verschiedenen Behinderungen. Die Literatur, auf die ich zurückgreife, bezieht sich vor allem auf Familien mit geistig- oder schwerst-mehrfachbehinderten Kindern.

Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass die im Folgenden beschriebenen familiären Situationen nicht als allgemeingültig und für jede Familie in gleichem Grad zutreffend sind.

1. Situation der Mütter

Mütter sind an der Schwangerschaft körperlich, aber auch seelisch viel stärker beteiligt, als die Väter. Die Betroffenheit ist bei ihnen daher größer als beim Partner. Sie fühlen sich am engsten mit ihrem Kind verbunden und spüren die Enttäuschung und Kränkung am heftigsten. Der anfängliche Stolz und die Befriedigung über ein gesundes Kind schlägt nach der Feststellung der Behinderung bei der Mutter schnell in das Gegenteil um. Die Mütter empfinden sich als unfähig und unzureichend und sind maßlos enttäuscht. Sie zweifeln an ihren mütterlichen Qualitäten und fühlen sich gegenüber Müttern mit gesunden Kindern zurückgesetzt. Viele Eltern reagieren mit Schuldgefühlen, da die eigenen Erwartungen an das Kind nicht erfüllt werden konnten und fühlen sich im Innersten gekränkt, weil das Kind ihren eigenen Wunschvorstellungen und Normen nicht entspricht (vgl. Kriegl 1993, 18ff). Sie fragen sich, was sie falsch gemacht, verschuldet oder unterlassen haben.

Früh setzt nach Kriegl nun eine psychische Reaktion ein, die sich in der Auflehnung gegen das Schicksal zeigt und hauptsächlich gegen das Kind gerichtet ist: Die Mutter will das Kind im ersten Moment nicht haben. Verbunden mit dieser Reaktion ist die Trauer über den Verlust des idealen, erhofften, gesunden Kindes und das Verabschieden der mit dem Kind verbundenen Erwartungen und Hoffnungen (Kriegl 1993, 24).

In diesen Momenten nach der Geburt, wenn viele Mütter ihr behindertes Kind nicht haben wollen oder ihm sogar den Tod herbei wünschen, fühlen viele Mütter sich schlecht. Sie können ihren Gefühlen der Trauer, Angst, Wut und Verzweiflung oft nicht in dem Maß Ausdruck verleihen, wie sie gerne wollten, aus Angst vor gesellschaftlichen Sanktionen.

Dennoch liegt es im Bedürfnis der Frau, über ihre Gefühle zu reden, im Gegensatz zu Männern, zu deren Selbstverständnis es gehört, mit Problemen möglichst alleine fertig zu werden. Deshalb pflegen vor allem Frauen Kontakte zu Verwandten, Freundinnen und anderen betroffenen Müttern. Gerade die anderen betroffenen Eltern spielen in der Verarbeitung der Behinderung eine bedeutende Rolle; Von ihnen werden sie am Besten verstanden und es besteht ein Gefühl der Verbundenheit, aufgrund der Gemeinsamkeit der Probleme (vgl. Hinze 1991, 143ff). Für viele Mütter ist es sicherlich entlastend zu hören, dass andere sich mit den gleichen Gefühlen von Angst, Unsicherheit, Wut, Trauer und Erschöpfung quälen. Sie erfahren auch, dass anfängliche negative Gefühle und Reaktionen dem Kind gegenüber nicht ungewöhnlich oder pathologisch sind, sondern angemessene Reaktionen auf das ungewöhnliche Ereignis (vgl. Bremer – Hübler 1990, 291).

„Die Gespräche mit anderen Eltern haben mir sehr geholfen. Dadurch habe ich im Laufe der Zeit eine andere Einstellung bekommen. Früher habe ich immer gedacht, ich wäre die einzige weit und breit. Und jetzt kenne ich eben auch andere Betroffene, kenne ihre Probleme und weiß, wie sie denken. Und dadurch habe ich das Gefühl, da sind jetzt andere, die dich verstehen und dich unterstützen können.“ (Mutter)

(Hinze 1991, 146)

Nach einer verschieden langen Zeit der Trauer und Verzweiflung kehrt für die meisten Mütter langsam wieder der Alltag zurück: d.h. sie versuchen das behinderte Kind in die Familie zu integrieren. Kriegl zeigt zwei Formen der Anpassung an diese neue Situation auf:

Die häufigste Form ist demnach die Bindung an das Kind. Diese ist gekennzeichnet durch eine gesteigerte Zuwendung zum Kind und dadurch eine überhöhte Abhängigkeit der Mutter von diesem. Diese Frauen bezeichnen ihr behindertes Kind meist als ihr „liebstes“ Kind, das ihnen durch seine Hilflosigkeit besonders an das Herz gewachsen sei. Sie lassen sich nur ungern an die Gefühle der Ablehnung nach der Geburt erinnern, was zeigt, dass sie die Tatsache der Behinderung noch nicht ganz verarbeitet haben. Ein weiteres Indiz dafür ist die sprunghafte Verbesserung der Anpassung an das Kind, die dann aber meist auf einer bestimmten Stufe stehen bleibt und sich nicht weiter entwickelt.

Die zweite Reaktionsform ist die bewusste Auseinandersetzung mit der Behinderung. Diese Mütter sind in der Lage, sich mit der Behinderung ihres Kindes auszusöhnen und sie so annehmbar und erträglich für sich zu machen. Sie können sich auch die anfänglichen negativen Gefühlsreaktionen gegenüber dem Kind eingestehen und sind in der Lage ihre Einstellungen zum Kind und Zukunftserwartungen ständig zu modifizieren. Die Anpassung dieser Frauen kann zwar immer wieder Rückschläge erleiden, wie zum Beispiel durch einen Entwicklungsstillstand oder neue Schwierigkeiten, gelingt meistens aber immer besser (vgl. Kriegl 1993, 36).

Insgesamt gesehen, bringen Mütter nach einer Untersuchung von Hinze eine hoffnungsvollere und optimistischere Einstellung dem behinderten Kind gegenüber zum Ausdruck als die Väter. Durch ihr starkes Mitwirken in der fachlichen Betreuung des Kindes, sind sie sensibler für Veränderungen und Fortschritte geworden. Mütter sind nach Hinze besser als Väter in der Lage, das Kind selbst zum Maßstab seiner Entwicklung zu nehmen und können sich so über kleinste Fortschritte freuen (vgl. Hinze 1991, 135).

Mütter haben die Entwicklung ihres Kindes vom „normalen zum behinderten Kind“ (Hinze 1991, 140) von Beginn an hautnah und besonders intensiv miterlebt. Nach Hinze sind sie aufgrund ihres größeren Problembewusstseins wahrscheinlich besser als Väter auf die Behinderung und deren Folgen vorbereitet und sind daher eher in der Lage die Behinderung zu bejahen (vgl. Hinze 1991, 140).

1.1. Bedeutung des Kindes für die Mutter:

Einige Ausführungen des Abschnitts 2.1. werden hier noch einmal aufgegriffen und um einige Aspekte, die vor allem auf die Mutter zutreffen erweitert.

Nach Jonas soll das Kind zum getreuen Abbild der eigenen Person werden und das leben, was Mütter gerne sein möchten, aber nicht sind. Richter spricht in diesem Zusammenhang vom „idealen Selbst“ (Richter: Eltern Kind und Neurose. Die Rolle des Kindes in der Familie, Reinbek bei Hamburg 1976. Zitiert in Jonas 1994, 60). Das Kind soll die verinnerlichten idealen Aspekte der Mutter ausleben.

Eine andere Möglichkeit ist die Projektion von negativen Persönlichkeitsanteilen auf das Kind, die dieses dann stellvertretend lebt. Das Kind soll das leben, was die Mutter bei sich nicht ertragen kann oder wie sie sich selbst nicht sehen kann. „Indem Mütter (und Väter) sich mit dem Kind identifizieren, können sie eine Entschädigung für ihren Mangel an Selbstwertgefühl erreichen oder auch negative Aspekte des eigenen Selbst in das Kind projizieren“ (Jonas 1994, 60). Indem das Kind die negativ besetzten Seiten der Mutter auslebt, können eigene destruktive Impulse abgewehrt werden und es kommt zu einer Entlastung von Schuldgefühlen, da das Kind für die negativen Aspekte bestraft wird (vgl. Jonas 1994, 60).

Ein weiterer Aspekt nach Jonas ist der, dass bei der Mutter der Wunsch da ist, durch die Geburt ihres Kindes, sich für ihre eigene Kindheit zu entschädigen oder deren Wiederholung zu erleben. Die eigene Mutter-Kind-Beziehung wird reinszeniert, wobei die Frau diesmal die Rolle der Mutter einnimmt. Die Mutter versucht dadurch, eigene erlittene Kränkungen und Verletzungen wieder gut zu machen. Das Kind dient somit auf der psychischen Strukturebene der Vervollständigung der Mutter (vgl. Jonas 1994, 61).

Die Vervollständigung durch das Kind muss jedoch geschlechtsspezifisch differenziert werden. Dem Geschlecht kommt in unserer Gesellschaft eine große Bedeutung zu. Das Kind wird je nach Geschlecht mit bestimmten Bewertungen und Privilegien verbunden.

Die Bedeutung des Sohnes:

- Durch den Sohn hat die Mutter die Gelegenheit, sich in männlicher Gestalt zu sehen und für sie wird ein alter Menschheitstraum wahr, der der Bisexualität. Durch die Beziehung zum Sohn erlebt die Mutter ein „Ganzheits - Phantasma“, indem sie ihr Begehren auf ihn, dem einzigen männlichen Wesen, das ganz zu ihr gehört, richtet.

- Dem Sohn kommt die Aufgabe zu, alle männlichen Wunden der Mutter zu kompensieren. Der Sohn soll die Mutter also für alle Entbehrungen und die Leere entschädigen, die durch den abwesenden oder kränkenden eigenen Vater oder Mann entstanden sind.

- Die Mutter erträumt sich in ihrem Sohn einen „Helden“, an dessen Leben sie als Mutter identifizierend teilhaben kann.

Die Bedeutung der Tochter:

- Töchter sollen den „Erfordernissen einer idealen sozialen Qualität“ (Jonas 1994, 63) entsprechen, d.h. in die Mutter- und Hausfrauenrolle hineinwachsen und den gesellschaftlichen Leitbildern, wie süß, hübsch, zärtlich und dankbar, entsprechen.

Dies weist darauf hin, dass die Mutter durch die Tochter ihr eigenes ideales soziales Selbst leben kann. Was sie selbst den idealen sozialen Erwartungen schuldig geblieben ist, kann in die Tochter projiziert werden.

- Durch die Gleichgeschlechtlichkeit, soll die Tochter das „Weiterleben“ der Mutter in der Zukunft sichern.
(vgl. Jonas 1994, 58ff)

Nach Jonas wird jedoch nicht nur das Kind mit Idealen besetzt, sondern auch im Erleben der Mutter kommt es zu einer Selbstaufwertung. Bevor das Kind auf die Welt kommt, also während der Schwangerschaft haben viele Frauen ideale Beziehungsphantasien zu ihrem ungeborenen Kind. Das Selbstgefühl der Mütter hebt sich vor allem durch die Vorstellung von sich als „guter“ Mutter. Zu diesem Zeitpunkt leben die Mutter und das Kind in einem ideal – glücklichen symbiotischen Zustand (Jonas 1994, 64).

Die Frauen fühlen sich in ihrer Phantasie als sozial bedeutsam, heil und wertvoll. Sie erhoffen sich durch die Geburt ihres Kind und ihrer idealen Mutterschaft Wichtigkeit zu erhalten. Jedoch können die Mütter „für ihre persönliche Identität und ihr ideales Selbstbild als Mutter nur auf Wertzuwachs hoffen, wenn die Kinder zu gelungenen „Produkten“ werden (Jonas 1994, 65).

Ist das Kind auf der Welt, kann es der Mutter emotionale Erfahrungen vermitteln, die sie eventuell mit ihrem Partner nicht erlebt. Das Kind kompensiert also die als unzulänglich erlebten Emotionen in der Partnerschaft, in der Männer tendenziell eher weniger auf Emotionen und Beziehungsthematik ausgelegt sind, als auf Abgrenzung, Vernunft und Rationalität. Diese Kompensation kann zur Stabilisation der Partnerschaft führen. Destabilisierend für die Partnerschaft kann es jedoch werden, wenn die Mutter die Beziehung zu ihrem Kind auf der „psychischen Strukturebene als exklusiv erlebt“ (Jonas 1994, 66) und das Kind dadurch zum Partnerersatz werden kann (vgl. Jonas 1994, 66).

Der soziale Statuswechsel, von der Frau zur Mutter, bedeutet für sie eine große Veränderung in ihrem Leben und umfasst das gesamte Erleben und die soziale Situation der Frau.

1.2. Mutterschaft in unserer Gesellschaft:

Jonas sieht in der Bedeutung der Mutterschaft in unserer Gesellschaft nicht nur, dass Frauen biologisch Mutter werden, sondern sie schließt auch die soziale Mutterschaft mit ein (vgl. Jonas 1994, 41). Mutterschaft bedeutet für sie eine „exklusive Beziehung zwischen der Mutter und dem Kind und [sie] ist assoziativ mit herausragenden Emotionen wie Liebe, Güte, Gewährenlassen, Warmherzigkeit, Verzeihen, Aufopferung, Fürsorge besetzt.“ (ebd.)

Wenn Frauen Mütter werden, wird die tatsächliche Abhängigkeit und Bedürftigkeit des Kindes zur Verantwortung der Mutter. Ihre Identität ist dadurch an die des Kindes gekoppelt. Das „gelungene“ Kind wird somit von der Gesellschaft als ihre „Leistung“, das „misslungene“ als ihr persönliches „versagen“ gesehen (Jonas 1994, 46).

1.3. Verlusterleben von Müttern behinderter Kinder nach Jonas (Jonas 1994, 68-83)

Nachdem nun beschrieben wurde, welch große Bedeutung die Mutterschaft für die Frau hat, kann man verstehen, dass die Behinderung des Kindes ein traumatischer Einschnitt in ihrem Leben und eine immense Verlusterfahrung bedeutet. Im folgenden möchte ich die drei von Jonas beschriebenen Kategorien des Verlustes darstellen. Sie gliedert das Verlusterleben der Mutter in einen kindzentrierten, einen identitätszentrierten und einen sozialzentrierten Bereich auf. Diese drei Kategorien des Verlustes greifen ineinander über und können unterschieden, jedoch nicht voneinander getrennt werden. Jonas erachtet die Unterscheidung des Verlusterlebens als hilfreich, um das Ausmaß der Erschütterung durch die Behinderung im Leben der Mutter zu differenzieren. Bei der Beschreibung des Verlusterlebens, geht sie von der Bedeutung des Kindes für die Mütter aus.

1.3.1. Kindzentriertes Verlusterleben:

Jede Mutter muss die Erfahrung machen, dass sie manche Projektionen in ihr Kind zurücknehmen muss, da das Kind seine eigene Individualität entwickelt. Diese Rücknahme von Projektionen entwickelt sich bei anderen Müttern prozesshaft und über einen langen Zeitraum. Bei Müttern behinderter Kinder bleibt für diesen Prozess keine Zeit, sondern ereignet sich direkt nach der Diagnose der Behinderung. Sie müssen ihre Projektionen und ihr Wissen, dass sie sich selbst durch das Kind nicht vervollständigen und es als „ideales Selbst“ erleben können, in kürzester Zeit zurücknehmen (ebd. 69).

Durch die Behinderung werden der schöpferische Neubeginn, die Wandlung und die neuen Lebensmöglichkeiten blockiert. Das vermeintlich „ideale“ Kind geht ebenso verloren, wie auch die sonst so wichtige Geschlechtsspezifik, die der überragenden Bedeutung der Behinderung zum Opfer fällt. Die Behinderung wird somit zum alleinigen Merkmal der Identität des Kindes. Jonas hat im Laufe ihrer langjährigen Tätigkeit in einer Frühberatungsstelle nur eine Mutter erlebt, die ihre Tochter im Sinne der Geschlechtsidentität ansprach: „Komm mein kleines Mädchen,“ sagte sie (ebd. 70).

Durch den Verlust der Geschlechtsspezifik können die Mütter nicht mit ihren Söhnen das bisexuelle Ganzheitsphantasma leben. Er kann auch nicht Objekt des Begehrens, der „Held“ werden. Die Tochter kann die erhofften idealen sozialen Qualitäten nicht erfüllen, sowie der Aspekt des Weiterlebens der Mutter in der Tochter geht verloren.

Das Kind wird zum „ewigen Kind“, zum geschlechtlichen Neutrum, ohne Zukunft als Mann oder Frau (ebd. 70).

Des Weiteren beschreibt Jonas die Tatsache der „lebenslangen Kindheit“ und der daraus folgenden „lebenslangen Mutterschaft“ sowie die frühe Trennungs-problematik von Mutter und Kind nach der Geburt. Diese Punkte habe ich oben schon genauer erläutert und gehe deshalb an dieser Stelle nicht noch einmal darauf ein.

1.3.2. Identitätszentriertes Verlusterleben:

Der soziale Statuswechsel von der Frau zur Mutter ist für alle Frauen mit einem Verlust an autonomer Identität verbunden. Dies nehmen die Mütter aber aufgrund der anfallenden Alltagsbelastungen zunächst nicht wahr. Die Mütter werden nach Jonas von den Kindern so in Anspruch genommen, dass es für sie scheinbar kein anderes Thema gibt als das Kind (vgl. Jonas 1994, 72).

Wie schon oben erwähnt, nimmt die Isolation der Mütter durch die Geburt des Kindes zu, die sozial differenzierten Kontakte werden weniger und sie verlieren durch die Reduzierung auf den häuslich privaten Raum verbliebene Reste an gesellschaftlichem Einfluss und sozialer Bedeutung. Jonas berichtet außerdem von Müttern, die ihren früheren Freiheiten und ihrer Selbständigkeit nachtrauern. All diese Verluste werden durch die in unserer Gesellschaft vorherrschende „Ideologie der Mutterschaft“ (ebd. 73) überdeckt, indem suggeriert wird, dass die Frau erst durch die Geburt eines Kindes Vollständigkeit erlangt (vgl. ebd. 74).

Bekommt die Mutter ein behindertes Kind, bedeutet dies in dieser sensiblen Phase des Identitätswechsels von der Frau zur Mutter einen elementaren Einschnitt und Verlust. Die Frau verliert ihre Identität als „gute Mutter“, da ihr Kind behindert ist und von nun an, an ihre Identität gekoppelt ist. Aus „Mutter eines Kindes“ wird die Identität „Mutter eines behinderten Kindes“ (vgl. ebd.).

Das Gefühl des Ganzseins durch das Kind und die Phantasie der Vollständigkeit ist durch die Behinderung beschädigt. „Die idealen Beziehungsphantasien zum Kind laufen ins Leere, das ideale mütterliche Selbstbild ist erschüttert und zerstört“ (Jonas 1994, 74). Anstatt des erhofften Prestigezuwachses muss sie sich mit der Kränkung, Mutter eines behinderten Kindes zu sein, auseinander setzen. Die Folge sind Gefühle der Ablehnung und Enttäuschung, doch solche Gefühle passen nicht zum Selbstbild einer Mutter, was den inneren Konflikt der Mütter noch verstärkt. Die Mütter haben in der Folgezeit, Probleme eine Beziehung zu dem Kind aufzubauen (ebd.).

Verstärkt wird der Identitätsverlust nach Jonas durch die Fremdbestimmung, die die Mütter zunächst in der Geburtsklinik und später durch Fachleute, TherapeutInnen und PädagogInnen erfahren. So können Mütter behinderter Kinder zum Beispiel in der Klinik nicht selbstbestimmt Kontakt zu ihrem Kind aufnehmen, oder es wird ihnen vorgegeben, welche Maßnahmen für das Kind notwendig sind. Durch diese Fremdbestimmung haben viele Mütter das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Inkompetenz. Dadurch, dass sie glauben nicht beurteilen zu können, was gut für ihr Kind ist, fühlen viele Mütter sich hilflos und unfähig (vgl. ebd. 75).

[...]

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Kinder mit Behinderung als Teil der Familie. Chancen, Herausforderungen und Veränderungen für Mütter, Väter und Geschwister
Hochschule
Pädagogische Hochschule Ludwigsburg
Note
1.5
Autor
Jahr
2003
Seiten
43
Katalognummer
V308879
ISBN (eBook)
9783668089266
ISBN (Buch)
9783668133297
Dateigröße
804 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kinder, behinderung, teil, familie, chancen, herausforderungen, veränderungen, mütter, väter, geschwister
Arbeit zitieren
Daniel Reichelt (Autor:in), 2003, Kinder mit Behinderung als Teil der Familie. Chancen, Herausforderungen und Veränderungen für Mütter, Väter und Geschwister, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/308879

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