Der wesentliche Unterschied zu den geschriebenen und in der Judikatur entwickelten Rechtfertigungsgründen betreffend Eingriffe in die EU-Grundfreiheiten sind die Legalausnahmen in Art 45 IV und 51 I AUEV. Gemeint sind Beschäftigungen in der öffentlichen Verwaltung bzw. Dienstleistungen mit Ausübung öffentlicher Gewalt. Es handelt sich um staatsnahe Bereiche, die von der unionsrechtlichen Arbeitnehmerfreizügigkeit bzw. Dienstleistungsfreiheit von vornherein nicht umfasst sind, sodass insofern kein Beurteilungsspielraum offen ist. Fällt eine Tätigkeit in einen dieser Bereiche, so sind die Binnenmarktgrenzen bereits überschritten; eine Diskriminierung kommt nicht in Frage.
Die Achtung der Verfassungsidentität und der Selbstverwaltung auf nationaler und lokaler Ebene zählt zu den tragenden Prinzipien des Unionsrechts. Allerdings darf man nicht verkennen, dass mit dem supranationalen Charakter der EU eine Teilaufgabe mitgliedstaatlicher Souveränität untrennbar verbunden ist. Insofern bildet sich ein Rechtsstreit besonderer Ausprägung. Einerseits beansprucht der EuGH das Auslegungsmonopol und vertritt in ständiger Rechtsprechung und seit geraumer Zeit den unmittelbaren Anwendungsvorrang des Unionsrechts, dem keine, wie immer gearteten, innerstaatlichen Vorschriften (also auch die Verfassung als Ganzes) vorgehen können. Zudem kommt das Gebot praktischer Wirksamkeit und einheitlicher Anwendung des Unionsrechts, welches durch Abweichungen und Divergenzen in den nationalen Rechtsordnungen nicht untergraben werden darf. Andererseits wollen sich aber die Mitgliedstaaten, nicht zuletzt durch die jeweiligen Verfassungsgerichte, gegen einen derartigen vermeintlichen Imperialismus womöglich absichern und bedienen sich dabei verschiedener Rechtsvorbehalte. Dies zeigt sich an der Solange-Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts , aber auch am Scheitern des Verfassungskonvents , besonders deutlich.
Die Ausnahme öffentlicher Verwaltung von der Freizügigkeit ist kein Privileg, welches etwa den Beamtenstatus für eigene Staatsbürger reservieren soll, sondern ein Staatsvorbehalt mit dem Ziel, einen staatsinternen, vom Staatsangehörigkeitsband besonders geprägten Bereich einzugrenzen. Selbst hier behält sich der EuGH aus obigen Gründen das Auslegungsmonopol. [...]
Inhaltsverzeichnis (Table of Contents)
- Einleitung
- Der Tatbestand der Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung nach Art 45 IV AEU als Bereichsausnahme von der unionalen Freizügigkeit
- Der Tatbestand des Art 45 IV AEUV in der Judikatur des EuGH
- Unionsautonome, einheitliche und restriktive Auslegung und Anwendung
- Zu den Begriffsmerkmalen
- Eingrenzung durch die Kommission
- Offene Punkte
- Der Tatbestand des Art 45 IV AEUV in der Judikatur des EuGH
- Der Tatbestand der Ausübung öffentlicher Gewalt nach Art 51 AEUV als Bereichsausnahme von der Niederlassungsfreiheit
- Der Tatbestand des Art 51 I AEUV in der Judikatur des EuGH
- Unionsautonome, restriktive Auslegung
- Zu den Begriffsmerkmalen
- Eingrenzung durch sonstige Unionsakte
- Offene Punkte
- Der Tatbestand des Art 51 I AEUV in der Judikatur des EuGH
- Das Tatbestandsverhältnis zwischen Art 45 IV und Art 51 I AEUV
- Verbale, systematische und teleologische Aspekte
- Divergenzen in den Tatbestandsmerkmalen
- Einzelne Berufsgruppen
- Besondere Fallgruppe: Rechtswesen
- Einzelfälle zu Art 45 IV AEUV (Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung)
- Einzelfälle zu Art 51 I AEUV (Tätigkeiten mit Ausübung öffentlicher Gewalt)
- Der verfassungsrechtliche Identitätsstreit im Lichte der Bereichsausnahmen
- Rechtsvergleichender Überblick zu verfassungsgerichtlichen Integrations-/Identitätsvorbehalten (insb Deutschland, Österreich, Frankreich, Tschechien)
- Das fragliche Verhältnis von Art 4 II EUV zu Art 45 IV und Art 51 I AEUV
- Schluss, Ausblick
Zielsetzung und Themenschwerpunkte (Objectives and Key Themes)
Diese Masterarbeit befasst sich mit den Bereichsausnahmen von der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit im europäischen Binnenmarkt, insbesondere mit den Tatbeständen der "öffentlichen Verwaltung" (Art. 45 IV AEUV) und der "Ausübung öffentlicher Gewalt" (Art. 51 I AEUV). Sie analysiert die Rechtsprechung des EuGH zu diesen Ausnahmen, untersucht die Kriterien und Definitionen in anderen Unionsakten und der Lehre, und beleuchtet den verfassungsrechtlichen Identitätsstreit in diesem Kontext.
- Analyse der Kriterien und Definitionen von "öffentlicher Verwaltung" und "Ausübung öffentlicher Gewalt" in der Rechtsprechung des EuGH
- Bewertung der Auslegungsbefugnisse des EuGH im Verhältnis zur nationalen Verfassungsautonomie der Mitgliedsstaaten
- Untersuchung der Anwendung der Bereichsausnahmen auf verschiedene Berufsgruppen, insbesondere auf klassische juristische Berufe
- Rekonstruktion der verfassungsrechtlichen Identitätskontroverse in Deutschland, Österreich, Frankreich und Tschechien im Zusammenhang mit der EU-Integration
- Bewertung des Verhältnisses von Art. 4 II EUV, der Identitätsklausel, zu den Bereichsausnahmen und deren Bedeutung für die Kompetenzabgrenzung zwischen Union und Mitgliedsstaaten
Zusammenfassung der Kapitel (Chapter Summaries)
Kapitel II untersucht den Tatbestand der "öffentlichen Verwaltung" nach Art. 45 IV AEUV. Es analysiert die Kriterien des EuGH für die Anwendung dieser Ausnahme, insbesondere die Ausübung hoheitlicher Befugnisse und die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates. Zudem werden die Einwände der Kommission gegen eine zu weite Auslegung der Ausnahme sowie offene Punkte der Rechtsprechung diskutiert.
Kapitel III befasst sich mit dem Tatbestand der "Ausübung öffentlicher Gewalt" nach Art. 51 I AEUV. Es zeigt die restriktive Auslegung des EuGH auf, die sich an der "unmittelbaren und spezifischen Teilnahme" an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse orientiert. Die Kapitel analysiert die Bedeutung von Zwangsbefugnissen und -mitteln für die Anwendung der Ausnahme sowie die Einwände der Kommission und offene Fragen der Rechtsprechung.
Kapitel IV vergleicht die Tatbestände von Art. 45 IV und Art. 51 I AEUV. Es untersucht die sprachlichen, systematischen und teleologischen Unterschiede der beiden Bestimmungen. Zudem werden die Divergenzen in den Tatbestandsmerkmalen der beiden Ausnahmen und ihre Bedeutung für die praktische Anwendung diskutiert.
Kapitel V analysiert die Anwendung der Bereichsausnahmen auf verschiedene Berufsgruppen, insbesondere auf klassische juristische Berufe wie Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Notare. Es beleuchtet die jeweiligen Anforderungen an die Ausübung hoheitlicher Befugnisse und die Wahrung der staatlichen Belange im Kontext dieser Berufe.
Kapitel VI untersucht den verfassungsrechtlichen Identitätsstreit im Lichte der Bereichsausnahmen. Es bietet einen rechtsvergleichenden Überblick über die verfassungsgerichtlichen Kontrollvorbehalte in Deutschland, Österreich, Frankreich und Tschechien und analysiert das Verhältnis des Art. 4 II EUV zu den Bereichsausnahmen.
Schlüsselwörter (Keywords)
Die wichtigsten Schlüsselwörter und Fokusthemen der Arbeit sind: Bereichsausnahmen, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungsfreiheit, öffentliche Verwaltung, Ausübung öffentlicher Gewalt, Unionsrecht, nationaler Verfassungskern, Identitätsklausel, Art. 4 II EUV, Art. 45 IV AEUV, Art. 51 I AEUV, EuGH-Rechtsprechung, Vertragsverletzungsverfahren, Kompetenzabgrenzung.
- Quote paper
- Yordan Semov (Author), 2015, „Öffentliche Verwaltung“ und „öffentliche Gewalt“. Integrationsfester Verfassungskern am europäischen Binnenmarkt, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/309540