Über die Anwendbarkeit des Cleavage-Modells auf das türkische Parteiensystem


Trabajo Escrito, 2015

14 Páginas


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Forschungsfrage und Vorgehen

3. Theorie
3.1 Übersicht über den Cleavage-Ansatz
3.2 Kurzportrait der AKP
3.3 Die Konfliktlinien der türkischen Gesellschaft und die Rolle der Parteien

4. Analyse
4.1 Die Übertragbarkeit
4.2 Die Anwendbarkeit auf das türkische Parteiensystem

5. Fazit und Schluss

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Präsenz und Wahrnehmung der türkischen Republik in der deutschen Öffentlichkeit hat sich spätestens seit der Jahrtausendwende erheblich verändert. Insbesondere seit dem Amt- santritt von Recep Tayyip Erdoğan als Ministerpräsident des Landes steht das politische Sys- tem und damit auch die Parteienlandschaft und Wähler_innenschaft im Fokus der Berichter- stattung.

Für die wissenschaftliche Betrachtung von Wahlverhalten haben sich in der Forschung über die Jahre zahlreiche Theorien etabliert. Diese wurden in vielen Fällen anhand der Analyse (demokratischer) Staaten des Westens entwickelt und tragen zur Erklärung der individuellen Verhaltensweisen in diesen Wahlsystemen bei.

Der Umfang der Forschung zu nicht-westlichen Fällen weist ein deutliches Missverhältnis auf. Dabei fällt nicht nur die geringe Anzahl an Arbeiten dazu auf, sondern insbesondere die geringere Tiefe der Theoretisierung. Die Möglichkeit der Anwendung westlicher Ansätze auf andere Fälle wird in der wissenschaftlichen Debatte nicht einheitlich bewertet. Als weitgehend unbestritten kann aber die Notwendigkeit der Anpassung der Theorien für den spezifischen Fall gelten (vgl. dazu z.B. Özcan 2000: 515-516).

Damit wird dieser Bereich der Forschung zu einem hochinteressanten Betätigungsfeld.

In dieser Arbeit werden weibliche und männliche Mitglieder der jeweils betroffenen Gruppen mit Hilfe der Gender-Gap sprachlich sichtbar gemacht.

2. Forschungsfrage und Vorgehen

Die Forschungsfrage dieser Arbeit lautet: Inwiefern ist das Cleavage-Modell nach Lipset/ Rokkan dazu geeignet die Wahl der türkischen AKP zu erklären?

Die Frage setzt sich damit aus zwei Bestandteilen zusammen, die nacheinander beantwortet werden. In einem ersten Schritt soll geklärt werden, ob das Modell allgemein auf nicht-west- liche Gesellschaften bzw. Parteiensysteme übertragen werden kann. In einem sich daran anschließenden zweiten Schritt wird dann das türkische Parteiensystem mit dem Fokus auf die AKP aus makrosoziologischer Perspektive betrachtet.

Der Cleavage-Ansatz wurde von den Politikwissenschaftlern Lipset und Rokkan anhand einer „[…] historisch-genetische[n] Rekonstruktion der Entstehung von Parteiensystemen in west- europäischen Demokratien […]“ (Schoen 2014: 180) entwickelt. Sie beziehen sich dabei auf gesellschaftliche Spannungslinien, die in den 1960er Jahren in den untersuchten westeu- ropäischen Gesellschaften vorzufinden waren. Damit bedarf eine jede Übertragung auf andere Systeme eine genaue Analyse und Begründung. Insbesondere dann, wenn sich der gewählte Untersuchungsgegenstand wesentlich von dem des Ursprungswerks unterscheidet. In Kapitel

4.1 wird der Aufbau dieser Analyse mit einer präzisen Strukturierung und Benennung der Voraussetzungen näher beschrieben.

Die Problemstellung der Anwendbarkeit des Cleavage-Modells zur Erklärung des Wahlver- halten türkischer AKP-Wähler_innen ist in der Literatur nur an wenigen Stellen explizit be- handelt worden. Im Rahmen dieser Arbeit soll daher zur Schließung dieser Lücke beigetragen werden.

3. Theorie

In diesem Kapitel wird theoretische Grundlage für die Beantwortung der Forschungsfrage erarbeitet. Dazu wird eine selektive Übersicht zu den relevanten Punkten des Cleavage-Mod- ells dem Kurzportrait der AKP und einer Zusammenfassung der Konfliktlinien in der türkischen Gesellschaft vorangestellt.

3.1 Übersicht über den Cleavage-Ansatz

Die Politikwissenschaftler Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan lieferten 1967 mit ihrem Werk „Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignment: An Introduction.“ einen großen Beitrag für die soziologische Analyse von Wähler_innenverhalten, der in der Literatur umfassend rezipiert wurde und wird.

Das Modell trifft durch eine „[…] Rekonstruktion der Genese westeuropäischer Parteiensys- teme […]“ Aussagen über die Parteipräferenzen von „Mitglieder[n] sozialer Großgruppen“ (Schoen 2014: 186), welche sich anhand von sozialen Konfliktlinien (Cleav- ages) erklären lassen. Lipset und Rokkan beschreiben ingesamt vier verschiedene dieser Cleavages die von „critical junctures“ (Lipset/Rokkan 1967: 47) ausgelöst werden und in spezifischen Konstellationen auftreten (vgl. Lipset/Rokkan 1967: 14). Sie ordnen dabei für Westeuropa die Konfliktlinie ‚Center-Periphery‘ und ‚State-Chruch‘ dem Prozess der na- tionalen Revolution zu. Davon grenzen sie die industrielle Revolution mit den Konflikten ‚Land-Industry‘ und ‚Owner-Worker‘ ab (vgl. Lipset/Rokkan 1967: 47).

Die Abbildung der Cleavage-Struktur/Konstellation einer Gesellschaft im Parteiensystem ist dabei kein selbstständiger Vorgang (vgl. Lipset/Rokkan 1967: 26), sondern ist von unterschiedlichen Faktoren abhängig und wird von den Mitgliedern einer betroffenen Gruppe betrieben. Diese organisieren sich dabei in einer institutionalisierter Form (wie z.B. einer Partei), stellen damit eine Interessensvertretung her und politisieren die Konfliktlinie. Politische Akteur_innen sind dabei hauptverantwortlich für Art, Weise, Umfang und konkrete Konstellation dieser Abbildung im politischen System (vgl. Ufen 2012: 38).

Mit dem Cleavage-Modell von Lipset und Rokkan lassen sich mittelbare Rückschlüsse auf das Verhalten von Personen bei Wahlen ziehen:

“Indem es das Unterstützungspotential politischer Parteien in den Mitgliedern bestimmter sozialer Großgruppen sieht, postuliert es zugleich ein bestimmtes individuelles Wählerverhal- ten: Mitglieder sozialer Großgruppen, die an einem politisierten Konflikt beteiligt sind, votieren für ihre Partei.“ (Schoen 2014: 186)

3.2 Kurzportrait der AKP

Die ‚Adalet ve Kalkınma Partisi‘ (AKP), zu deutsch etwa ‚Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung‘, ist eine im Jahre 2001 gegründete türkische Partei, die seit der Parlamentswahl zur Nationalversammlung 2002 ununterbrochen den Ministerpräsidenten stellt und die Regierung bildet (Stand September 2015). Die AKP, die über zehn Jahre von dem Parteimitgründer und heutigen Staatspräsidenten Recep Erdoğan geführt wurde, kann als islamischkonservative Partei beschrieben werden. Sie ging aus mehreren islamischen Parteien hervor, die teilweise von Verbotserfahren durch das Verfassungsgericht betroffen waren. Im Vergleich zu der seit 1923 bestehenden ‚Cumhuriyet Halk Partisi' (CHP), zu deutsch etwa ‚Republikanische Volkspartei‘, ist die AKP eine relativ junge Partei. Unabhängig der geringen Dauer des Bestehens gibt die Partei an, die seit der Gründung der türkischen Republik bestehende Gruppe der islamisch-orientierten Wähler_innen zu vertreten.

3.3 Die Konfliktlinien der türkischen Gesellschaft und die Rolle der Parteien

Die Gesellschaft in der türkischen Republik kann als polarisiert beschrieben werden. Im Rahmen dieser Arbeit wird - neben einer kurzen historischen Einordnung - der Fokus auf den Zeitraum zwischen November 2002 und September 2015 gelegt. Die historische Perspektive ist für das Cleavage-Modell notwendig, um den Ausgangspunkt der Konflikte erfassen zu können (vgl. Onken 2013: 24).

Mit dem „[…] Umbau von Staat und Gesellschaft erschüttert“ die Regierungspartei AKP seit 2002 „Machtstrukturen, die sich über Jahrzehnte herausgebildet und gefestigt haben“ (Stein- bach 2012: 69). Der Streit um diesen Reformkurs ist dabei nicht Ursache, sondern Ausdruck der Polarisierung.

Durch die von dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk etablierte Einparteienherrschaft der CHP entstand in der Republik eine kemalistische Staatselite. Diese Koalition aus „[…] Partei, Armee und staatlicher Bürokratie […]“ übte Herrschaft nach der Ideologie des Kemalismus „[…] über Land und Bevölkerung […]“ (Jung 2012: 98) aus. Der Einfluss dieser gesellschaftlichen Elite auf das politische System bestand auch nach dem Systemwechsel 1946 und freien Wahlen weiter fort.

Mit einer sozialwissenschaftlichen Betrachtung lässt sich diese Elite allgemein als soziale Großgruppe beschreiben. Im Einklang mit der makrosoziologischen Literatur zur Analyse des Wahlverhaltens türkischer Wähler_innen wird in dieser Arbeit die Gruppenbezeichnung altes Zentrum gewählt. Das alte Zentrum setzt sich vor allem aus „[…] quasi-autonomous bureau- cracy, especially of the security circles; various layers of mostly state-dependent businesses; and the various branches of the intellectual community and academia“ (Carkoglu 2008: 319) zusammen. In Bezug auf die politische Ausrichtung kann für diese Großgruppe die Orien- tierung an den ‚sechs Pfeilen‘ der kemalistischen (Staats-)Ideologie als wesentliche Charak- terisierung beschrieben werden. Insbesondere die damit geregelte strikte Trennung von Staat und Religion (‚laiklik‘ = Laizismus) und der Nationalismus (‚milliyetçilik‘) sind dabei wichtig. Der kemalistische Nationalismus zeichnet hierbei vor allem durch eine restriktive Position gegenüber ethnischen, religiösen und kulturellen Minderheiten des Landes, zugun- sten einer einheitlichen Nationenbildung, aus. Das Militär als „[…] natural protector of the Kemalist Republic […]“ kann dabei als „[…] crucial element in the alliance“ (Carkoglu 2008: 320) verstanden werden.

In den 1980er Jahren setzte, ausgelöst durch einen Modernisierungskurs, eine umfassende Binnenmigration aus den ländlichen Regionen in die Städte und Zentren ein. Der enorme Bevölkerungszuwachs der größten Stadt des Landes (Istanbul) ist ein Indiz für diese nach- haltige Entwicklung. Die Hinzuziehenden profitieren dabei von sozio-ökonomischen Verbesserungen und partizipieren im größeren Umfang am politischen System. Das alte Zentrum verlor in Folge dessen stetig an Einfluss in der Gesellschaft und dem Staat, auch wenn die effektive Dominanz erst seit dem Jahre 2002 als beendet beschrieben werden kann (vgl. Guida/Tuna 2009: 130). Dieser Verlust der führenden Rolle wird auch bei Betrach- tung des kontinuierlichen Abstiegs in den Wahlergebnissen deutlich (vgl. dazu Carkoglu 2008: 321 sowie Guida/Tuna 2009: 130).

In einer Analyse zur Parlamentswahl im November 2002 hält Ali Carkoglu ein klares regionales Muster in der Stimmenverteilung (vgl. Carkoglu 2002: 33) als Ergebnis fest. Die Deutlichkeit dieser geographischen Verteilung kann seit 2002 als abnehmend bezeichnet wer- den (vgl. bspw. Fabbe 2011: 660). In den Städten ist neben dem alten Zentrum seit diesem Prozess auch die Gruppe des neuen Zentrums beheimatet. Jene bildet zusammen mit der Pe- ripherie für die Analyse eine eigenständige Großgruppe. Die Literatur zu diesem neuen Zen- trum zeigt, dass die ursprüngliche politische Sozialisierung dieser Gruppe wesentlich in den ländlichen Regionen stattfand.

Nachfolgende Generationen werden dabei, obwohl sie in den Städten aufwachsen, ähnlich sozialisiert. Die Elterngeneration gibt jeweils die Erfahrungen aus der Peripherie über entsprechende Netzwerke weiter an die Kindergeneration (vgl. Guida/Tuna 2009: 134 oder Özcan 2000: 512).

Diese Unterscheidung in der Bezeichnung der Gruppen berücksichtigt also die Besonderheit, dass der Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie, trotz der geographischen Aufhebung, weiter besteht. Die gesellschaftliche Hauptkonfliktlinie, an der sich die CHP und die AKP po- sitionieren, besteht also zusammenfassend aus zwei wesentlichen Teilen. Zum einen lässt sich analog zum ‚Centrum vs. Periphery‘-Cleavage nach Lipset/Rokkan eine Dichotomie zwischen den sozialen Gruppe der Gesellschaft, die als altes und dem neues Zen- trum definiert wurden, feststellen.

Zum anderen ist der Konflikt um das Fortbestehen der strikten Trennung von Staat und Reli- gion, die die türkische Verfassung vorsieht, relevant. Es handelt sich hierbei im Kern auch um eine Auseinandersetzung über die Rolle der Religion im staatlichen System. Gleichzeitig ist für den türkischen Fall aber ein von der Entwicklungsgeschichte des ‚State-Chruch‘-Cleavage

- in den westeuropäischen Nationalstaaten seit dem 19. Jahrhundert - abweichender Verlauf zu beachten.

Beide Teile der Hauptkonfliktlinie lassen sich nicht trennscharf von einander abgrenzen, son- dern sind vielmehr eng verbunden, bzw. überlagern sich gegenseitig (vgl. Carkoglu 2002: 35). Aus diesem Grund ist es möglich, die Bestandteile im Rahmen dieser Analyse zusammen- zulegen. Die Ausführungen in diesem Kapitel der Arbeit umfassen nicht alle Punkte, die für die zu Beginn beschriebene Polarisierung der türkischen Gesellschaft relevant sind. Für eine umfassende Analyse des gesamten türkischen Parteiensystem ist insbesondere noch der Kon- flikt um die Bevölkerungsgruppe der Kurd_innen von erheblicher Bedeutung.

4. Analyse zur Anwendbarkeit des Cleavage-Ansatzes

Die Forschungsfrage soll in diesem Abschnitt in zwei Schritten beantwortet werden.

4.1 Die Übertragbarkeit

Wie bereits schon herausgestellt, wurde der Cleavage-Ansatz anhand des (west-)europäischen Parteiensystem der 1960er Jahre entwickelt. Die Anwendung auf andere Systeme ist damit grundsätzlich begründungsbedürftig, insbesondere vor dem Hintergrund der möglicherweise geringeren Erklärkraft des Modells (vgl. Özcan 2000: 515). Vor einer Analyse der Übertrag- barkeit sind dafür zuerst Bedingungen festzulegen, die dann in einem zweiten Schritt (Kapitel 4.2) systematisch geprüft werden. Diese Voraussetzungen sollten im wesentlichen zwei Punk- te erfüllen: Sie müssen von dem ursprünglichen Modell (Lipset/Rokkan 1967) abstrahiert werden (a) bzw. dieses „enthistorisier[en]“ (Onken 2013: 47). Dadurch sollen diese fortan ein allgemeines Prinzip beschreiben, welches nicht mehr nur für den speziellen Untersuchungs- gegenstand gültig ist.

Gleichzeitig dürfen die Voraussetzungen aber nicht so allgemein (b) formuliert sein, sodass sie nicht mehr ohne Widersprüche (in erster Linie) unter den makrosoziologischen Theorien zum Wahlverhalten subsumieren lassen. In der Literatur lassen sich verschiedene Ausführun- gen über die Abstraktion des Ursprungsmodells von Lipset/Rokkan finden. Diese entwickeln allerdings insbesondere Modifizierungen für die Analyse der (post)modernen Parteiensysteme in Europa.

Das von dem Politikwissenschaftler Harald Schoen beschriebene Modell zur Konstituierung einer sozialen Spannungslinie nach Lipset/Rokkan (vgl. Schoen 2014: 183; vgl. dazu auch Onken 2013: 33) erfüllt die zuvor genannten Voraussetzungen (a) und (b). Es dient in diesem Kapitel der Arbeit als Framework zur Prüfung. Demnach setzt sich ein Cleavage aus einem sozialstrukturellen (1) und einem institutionellen Element (2) sowie vorhandenem Wertekon- flikt (3) zusammen.

Für das sozialstrukturelle Element (1) sei nach Schoen die relative Stabilität der Spannungslinie über Zeit wichtig. Darüber hinaus ist die Möglichkeit der objektiven Identifizierung von mindestens zwei, anhand der Spannungslinie klar abgrenzbaren, sozialen Gruppen eine Voraussetzung.

Die Unterscheide zwischen diesen Gruppen sollen dabei „[…] wenigstens intragenerational, noch besser aber intergenerational […]“ (Schoen 2014: 183) bestehen.

In der Außen- und Selbstwahrnehmung sollen die Mitglieder der Gemeinschaft als eigenständige soziale Gruppe verstanden werden, die „[…] durch (mindestens eins) politische Partei“ (Onken 2013: 33) im politischen System vertreten wird (2). Der Wertekonflikt (3) um die „[…] wünschenswerte Gesellschaft […]“ (Schoen 2014: 183) muss sich zwischen den sozialen Gruppen ausmachen lassen.

Können diese drei Bedingungen für die Türkei als voll erfüllt betrachtet werden, kann in di- rekter Folge auch die grundsätzliche Übertragbarkeit des Modells angenommen werden. Durch die vorgenommene Abstraktion liegt nach Holger Onken dann ein Konfliktmodell vor, das allgemein die „[…] Politisierung sozialer Strukturen und deren Umwandlung in politische Parteien […]“ (Onken 2013: 49) erklären kann. Schoen und Onken weisen darauf hin, dass von einfachen Regelmäßigkeiten im Verhalten der Wähler_innen noch nicht auf das Vorhan- densein eines Cleavages geschlossen werden sollte (vgl. Schoen 2014: 185 sowie Onken 2013: 45). Das Zutreffen der drei beschriebenen Elemente ist damit notwendige Vorausset- zung, um die Definition einer sozialen Konfliktlinie zu erfüllen. Mögliche Widersprüche und Unstimmigkeiten, die in der Analyse auftreten, müssen nachvollziehbar dargestellt werden.

4.2 Die Anwendbarkeit auf das türkische Parteiensystem

Die Prüfung der Anwendbarkeit des Cleavage-Ansatzes auf das türkische Parteiensystem soll systematisch vorgenommen werden. Dazu wird die Einteilung der sozialen Gruppen der türkischen Gesellschaft in altes Zentrum, neues Zentrum und Peripherie, die in Kapitel 3.3 beschrieben wurde, übernommen. Darüber hinaus wird die von Schoen beschriebene Struk- turen über die Konstituierung einer sozialen Spannungslinie (siehe Kapitel 4.1 ) verwendet.

Mit „Center-Periphery Relations: A Key to Turkish Politics?“ des Soziologen und Politikwissenschaftler Serif Mardin wurde der ‚Centrum-Periphery‘-Cleavage erstmals für die türkische Gesellschaft beschrieben. Damit stellt das 1973 erschienene Werk auch den Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Debatte um die Relevanz makrosoziologischer Perspektiven nach dem Cleavage-Modell von Lipset/Rokkan für das türkische Parteiensystem dar.

Mardin beschreibt darin die Entwicklung der Spannungslinien in der Gesellschaft seit dem Zusammenbruch des osmanischen Reichs durch die kemalistische Revolution und ordnet diesen Einfluss auf das politische System ein. Die Gegensätze zwischen Zentrum und Peripherie werden dabei von ihm als „[…] outstanding issue of Ottoman political and economic life“ (Mardin 1973: 170) bezeichnet.

Die Erkenntnisse Mardins werden unter anderem von Guida und Tuna aufgegriffen. Sie kön- nen aufzeigen, dass die beschriebene Dichotomie unter Anpassungen (vgl. Guida/Tuna 2009: 170) auch für die Erklärung des Wahlverhaltens bei den Parlamentswahlen 2007 Erklärkraft besitzt (Daten aus Nachwahlbefragungen in zwei Distrikten Istanbuls). Den Konflikt bezeich- nen sie dabei mit dem Begriff des „Kulturkampfes“, der die „tiefen kulturellen Auseinander- setzungen in der türkischen Gesellschaft“ (Guida/Tuna 2009: 131) zusammenfassend beschreiben soll. Auf der säkularen Seite steht demnach das alte Zentrum, das vor allem an einer Bewahrung des status quo festhält (vgl. Guida/Tuna 2009: 132) und im politischen Sys- tem durch die CHP repräsentiert wird. Das neue Zentrum, welches den status quo zugunsten einer größeren Bedeutung der Religion im staatlichen Handeln verändern will, steht auf der Gegenseite der Konfliktlinien.

Zusammen mit den Ausführungen in Kapitel 3.3 lässt sich diese Konfliktlinie nach dem Schoen (Kapitel 4.1) wie folgt systematisch zusammenfassen:

Die Stabilität der Konfliktlinie über Zeit (1) lässt sich mit den Ausführungen Mardins bis in die Zeit des osmanischen Reichs fundiert nachweisen. Die beiden an dem Konflikt beteiligten Großgruppen lassen sich grundsätzlich auch über den kompletten Zeitraum objektiv identifizieren. Auch das Fortbestehen jener über eine Generation hinaus konnte anhand von Untersuchungen (Kapitel 3.3) gezeigt werden.

Mit der Dichotomie aus AKP und CHP ist auch die eigenständige Repräsentation der Gruppen im politischen System (2) gegeben. Der vom Cleavage-Modell vorausgesetzte Wertekonflikt (3) bezieht sich wie beschrieben vor allem auf die Bedeutung von Religion im staatlichen Handeln.

Das Vorliegen einer relevanten Konfliktlinie, die politisiert ist und durch institutionalisierte Akteur_innen im politischen System repräsentiert wird, konnte für den türkischen Fall nachgewiesen werden. Auch das Wahlverhalten der Wähler_innen anhand dieser Linie konnte gezeigt werden. Zusammen mit dem Ergebnis der Übertragbarkeit aus Kapitel 4.1 kann die Forschungsfrage als beantwortet betrachtet werden.

5. Fazit und Schluss

In der Analyse ließ sich die grundsätzliche Anwendbarkeit des Cleavage-Modells für das türkische Parteiensystem zeigen. Die Übertragbarkeit der Grundprämissen des Modells konnte, unter Vornahme entsprechender Modifizierungen, belegt werden.

Auch wenn es sich bei der AKP um eine relative junge Partei handelt, konnte durch his- torisch-soziologische Betrachtung nachgewiesen werden, dass sie sich maßgeblich an einer stabilen sozialen Konfliktlinie der Gesellschaft positioniert. Die Gruppe der Wähler_innen lässt sich anhand dieses Konfliktes objektiv bestimmen. Gleichzeitig ist die Aussagekraft dieser Analyse eingeschränkt. Durch die notwendige Reduzierung konnte die vollständige Komplexität der türkischen Gesellschaft (und des türkischen Parteiensystems) nicht abge- bildet werden. Somit kann beispielsweise die Wechselwirkung anderer Konfliktlinien wie der „Kurd_innenfrage“ im Rahmen dieser Arbeit nicht genau quantifiziert werden. Auch der Ein- fluss anderer Faktoren bleibt unbetrachtet.

Für die empirische Bestätigung bietet sich eine langfristige Wahlbeobachtung unter den angepassten Prämissen des makrosoziologischen Ansatzes an.

Die Erklärreichweite des Modell muss sich dabei auch im Vergleich zu den anderen etablierten Theorien der Wahlverhaltensforschung messen lassen. Für einen Nachweis der Robustheit des Modells ist die empirische Überprüfung unabdingbar.

Literaturverzeichnis

Carkoglu, Ali (2002): Turkey's November 2002 elections: A new beginning. In: M E R I A Journal.Vol. 6: Issue 4, 30-41.

Carkoglu, Ali (2008): Ideology or Economic Pragmatism? Profiling Turkish Voters in 2007. In: Turkish Studies. Vol. 9: Issue 2, 317-344.

Guida, Michelangelo und Tülin Tuna (2009): Centre-Periphery Divide as a Key to Understand Electoral Choices in Istanbul. In: European Journal of Economic & Political Studies. Vol. 2 :Issue 2, 129-143.

Fabbe, Kristin (2011): Doing more with less: the Justice and Development Party (AKP), Turkish elections, and the uncertain future of Turkish politics. In: Nationalities Papers. Vol. 39: Issue 5, 657-666.

Jung, Dietrich (2012): Das politische Leben: Institutionen, Organisationen und politische Kultur. In: Steinbach, Udo: Länderbericht Türkei. Bonn: bpb, 86-120.

Lipset, Martin und Stein Rokkan (1967): Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignment: An Introduction. In: Lipset, Martin: Party Systems and Voter Alignments: CrossNational Perspectives. New York: Free Press, 1-64.

Mardin, Serif (1973): Center-Periphery Relations: A Key to Turkish Politics? In: Daedalus, Vol. 102: Issue 1, 169-190.

Onken, Holger (2013): Parteiensysteme im Wandel: Deutschland, Großbritannien, die Niederlande und Österreich im Vergleich. Wiesbaden: Springer VS.

Özcan, Yusuf (2000): Determinants of political behavior in Istanbul, Turkey. In: Party Politics. Vol. 6: Issue 4, 505-518.

Schoen, Harald (2014): Soziologische Ansätze in der Wahlforschung. In: Falter, Jürgen und Harald Schoen: Handbuch Wahlforschung. Wiesbaden: Springer VS, 169-239.

Steinbach, Udo (2012): Vom Osmanischen Reich zum EU-Kandidaten: ein historischer Bogen. In: Steinbach, Udo: Länderbericht Türkei. Bonn: bpb, 14-83.

Ufen, Andreas (2012): Ethnizität, Islam, Reformasi. Wiesbaden: Springer VS.

Final del extracto de 14 páginas

Detalles

Título
Über die Anwendbarkeit des Cleavage-Modells auf das türkische Parteiensystem
Universidad
University of Freiburg
Autor
Año
2015
Páginas
14
No. de catálogo
V309685
ISBN (Ebook)
9783668079328
ISBN (Libro)
9783668079335
Tamaño de fichero
498 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Wahlverhalten, Cleavage, Türkei, AKP, makrosoziologisch, Lipset, Rokkan
Citar trabajo
Frederic Arning (Autor), 2015, Über die Anwendbarkeit des Cleavage-Modells auf das türkische Parteiensystem, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/309685

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