Das Innenleben der Musik

Eine musikpsychologische Studie


Fachbuch, 2011

119 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Im musikalischen Raum

- Ursprungliche Lebendigkeit, Urmenschliches, letzte Tiefen des Lebendigen: Georg Groddeck, Wilhelm Reich
- Energetik: Ernst Kurth
- Exkurs: Focusing o Vom Korpergefuhl zur Bedeutung
- H-ren, In-Res-nanz-Sein
- Musikwerdung alspersonaler Proze
- Pers-nliche Musik

Leopold Szondis Schicksalsanalyse

- Die acht elementaren Krafte der Schicksalspsychologie von Leopold Szondi
- Anthropologische Faktoren, Lebenswelt und Musik
- Geborgenheit
- Veranderung
- Liebe
- Tod
- Ethos
- Moral
- Geist
- Materie

Wo sind wir wenn wir in der Musik sind?

Heilsame Wirkungen

Literaturverzeichnis

Dank/Bi-graphische Notiz

Vorwort

Dieses Buch stellt den Versuch dar, das Musikalische nicht, wie meistens der Fall, von den objektiven Strukturen ausgeo hend, sondern vom personlichoindividuellen Erleben bezieo hungsweise der subjektiven Wirklichkeit herkommend zu beo stimmen An den Anfang stelle ich die Frage, wo wir in der Welt sind, wenn wir in der Musik sind. Um darauf zu antworten, ziehe ich Konzepte heran, die einerseits meiner personlichen inneren Erfahrung entsprechen, die andrerseits aber auch allgemeinoverbindlichere Zusammenhange von leiblicher Resonanzfahigkeit des Menschen auf die ihn umgebende Welt und musikalischen Strukturen aufzeigen. Auf diese Weise erscheint Musik schliesslich als Erweiterung des Menschlio chen.

Energetik ist das zentrale und verbindende Stichwort fur das vorliegende Buch: Der Musiktheoretiker Ernst Kurth hat in den dreissiger Jahren eine musikalische Energetik entwickelt, die auf der menschlichen Fahigkeit zu leiblicho resonanzhafo tem Horen und Erleben beruht. In dieser Fahigkeit sah Kurth die Grundlage der Musik. Die musikalischen Strukturen sind der Niederschlag der Wirksamkeit psychischer Funktionen, die aufgrund leiblicher Resonanz ins Spiel kommen.

Mit einem hochgradig differenzierten anthropologischoenergeo tischen System hat der ungarischoschweizerische Psychologe Leopold Szondi versucht, diejenigen elementaren psychischen Funktionen zu benennen, die in unserem Erleben den Zusammenhang von Mensch und Welt stiften. Die Zusammeno schau musikalischer Strukturen mit den anthropologischen Strukturen Szondis ermoglicht schliesslich sowohl eine vorwiegend individuelle als auch allgemeinere Verbindung von Mensch und Musik.

So wird sichtbar, welche unterschiedlichen Welterfahrungen fur uns durch Musik (Musizieren und Horen), moglich werden. Ja, es lassen sich sogar Uberlegungen anstellen, welche bestimmte Musik auf unsere individuelle Befindlichkeit heilsamen Einfluss ausuben kann.

Mathes Seidl, Zurich, August 2011

Im musikalischen Raum

,,Clara Haskil hatte Muhe sich zu erheben. Wie mit letzter Kraft hielt sie sich am Rand des Flugels fest, senkte leicht den Kopf, lachelte. Sie schien von weither zu kommen, aus einer anderen Welt. In dieser musste sie sich erst wieder zurechtfinden. Wie wir auch©1

Schon immer haben Musik und vor allem musizierende Meno schen eine Wirkung auf mich ausgeubt, die uber die aussere Abfolge der erklingenden und wieder verklingenden Tone wie auch die sonstigen greifbaren Dingen der Musik weit hinauso geht; vielmehr erscheinen die materiellen Vorgange von dieser Wirkung uberstrahlt, durchstrahlt, umhullt und in einen sphao rischen Raum getaucht, aus dem die musikalischen Dinge erst hervortreten.

Deutlichere Konturen erhalt dieser Eindruck, wenn ich an meinen Vater zuruckdenke: Er war Geiger von Beruf und wenn er ubte, war es mir, als ginge es ihm um diesen merko wurdigen Raum, um einen personlichen Eintritt oder wenigo stens Zugang. In diesem Raum schien er sich irgendwie vero stromen und auflosen, ja verwandeln zu konnen. Er schien dann ganz bei sich, weit weg von meiner Welt und doch in einem viel grosseren Sinn gegenwartig. Sein Geigenspiel schien aus einer Sehnsucht nach diesem inneren ort zu kommen, und die Bewegungen des Geigenspiels schienen mit der Erfullung dieser Sehnsucht zu tun zu haben.

Als ich dann selber zum Musiker wurde, ging es mir ahnlich. Auch ich erlebte und erlebe musizierend einen Innenraum, in den ich mich einlassen kann und aus dem ich gleichzeitig musizierendogestaltend heraustreten kann. Und zwar als ein Anderer, Verwandelter. (Das gilt allerdings nur fur den Fall, dass mir das offnen des Raums gelingt. Gelingt es nicht, verzweifle ich meistens

- und zwar nicht an der Musik oder an meinem Instrument, sondern an mir selbst. offenbar geht es bei dem Verschwinden und personlichen Auftauchen um einen sehr personlichen Prozess.)

Diese geschilderten Eindrucke und Erfahrungen beschaftigen beide Seiten von mir, namlich den bratschespielenden Musiker und Musikwissenschaftler als auch den Psychologen und Psychotherapeuten, nachhaltig wie kaum etwas anderes in meinem Leben.

Worum geht es hier? Wonach kann ich uberhaupt fragen, um diesen Beobachtungen auf die Spur zu kommen?

Ich versuche einen Anfang zu machen mit folgender Frage

- angelehnt an den Philosophen Peter Sloterdijk2: ,,In welcher Welt oder welchen Welten bin ich oder bewege ich mich, wenn ich in der Musik bin, wenn ich Musik mache oder Musik hore?“

In dem vorliegenden Buch will ich versuchen, dieser Frage mit den Mitteln der Psychologie nachzugehen. Ich habe vor, die erwahnten Erfahrungen vor Augen, nach Theorien, Konzepten, Modellen Ausschau zu halten, die mit diesen Erfahrungen zu tun haben.

Der springende Punkt in allem ist das Erleben eines inneren musikalischen Raumes, in den ich eintauche und aus dem ich gleichzeitig verandert wieder auftauche.

Was verandert sich? Was ist da, was vorher nicht da war? Ich sage es vorlaufig so: Was sich verandert, ist das Wie meines Musizierens. Aus einem IrgendwieoTun ist ein musikalisches Tun geworden. Was heisst das?

Mit dem Eintreten injenen inneren Raum verlieren alle technio schen SpieloBewegungen ihren ausseren mechanischen Chao rakter. Sie verwandeln sich in musikalische, „musikalisierte“ lebendige Bewegungen, die mit mir selbst zu tun haben. Daruberhinaus sind es Bewegungen, die sich in ihrem Ereignen erschopfen und weder eine Funktion noch eine uber ihr eigenes Bewegtsein hinausgehende Bedeutung haben. Diesen inneren Raum, der sich naturlicherweise im musi­kalischen Ausdruckswillen manifestiert, nenne ich den musi­kalischen Raum.

Wie erlebe ich mich selbst in diesem Raum?

In ihm fuhle ich mich einerseits nicht ganz oder noch nicht ganz in der alltaglichen Welt, aber auch nicht irgendwo aussero halb; vielmehr bin ich mittendrin

- ja ganz besonders mittendrin...

Vieles aus der alltaglichogreifbaren Welt ist da: Ich kann horen, mich spuren, auf Eindrucke reagieren und Resonanzen empfinden, mich von ihnen bewegen lassen und weitere erzeugen...

- aber das alles ist in eine Art aufgelosten, fast taumelnden Zustand gehoben, den ich am ehesten beim Aufwachen erlebe, wenn ich „in die Welt hineinfliesseA

Dieser personliche Eindruck passt ubrigens gut zu jener Gefuhlslage, die Romain Rolland in einem Brief an Freud3 beschreibt, und die von Freud anschliessend als ,,ozeanisches Gefuhl“4 bezeichnet wird. Freuds Auffassung, dass es sich dabei um ein Gefuhl fur die ,,Zusammengehorigkeit mit dem Ganzen“ handelt, ist fur mich stimmig

- allerdings im positiven und nicht im kritischen Sinn Freuds, der diese Art Zusammengehorigkeitsgefuhl als unreif und „infantil“ ansah.

Unter dem Eindruck dieser ozeanischen Qualitat hatte ich zunachst daran gedacht, die musikalische Welt metaphysisch zu bestimmen: In meiner personlichen Theorie, die stark beeinflusst war von den Visionen der Hildegard von Bingen und den Spekulationen um die morphogenetischen Felder von Rupert Sheldrake5, fallt den Engeln, nachdem sie den gottlichen Urgrund geschaut und den gottlichen Herzenso impuls in sich aufgenommen haben, die Aufgabe zu, die aufgenommene energetische Substanz auf die Menschen zu ubertragen, um sich in den Akten musikalischer Ausubung und den Formen sinnlicher Gestaltungen zu konkretisieren. Aber mit fortschreitender Ausarbeitung und Umsetzung der ,,englischen Grundlegung“ verlor ich mich immer mehr im Dickicht herangezogener Angeologien

- und da ich mich nicht zu sehr auf Spekulationen ausserhalb einer am Erleben orientierten Psychologie einlassen wollte, gab ich diesen Versuch zuguterletzt auf.

(Ubrigens bildet diese vom metaphysischen Ursprung zur konkreten Praxis verlaufende Prozessfigur den Angelpunkt einer bedeutsamen mittelalterlichen Theorie, die eine Dreio gliedrigkeit der Musik in Form von musica mundana (kosmische Musik)

- musica humana (Musik im Menschen)

musica instrumentalis (manifeste Musik beziehungsweise Praxis) entwirft.6

Nach diesem Ausflug versuchte ich mich anders zu orieno tieren, und begann, mich auf psychologische Ausserungen, Konzepte und Theorien zu besinnen, in denen nach meinem Gefuhl etwas von dem erfahrenen musikalischen Raum enthalten sein konnte.

Ursprungliche Lebendigkeit, Urmenschliches, letzte Tieo fen des Lebendigen: Georg Groddeck, Wilhelm Reich

Kann man sich heute vorstellen, dass ein Begriff, der fur die doch sehr ernsthafte Psychoanalyse so zentral werden sollte wie der Begriff vom „Es“, auf einen viel belachelten Ausseno seiter zuruckgeht? Und noch dazu auf einen, der von vielen als „Wilder“ und „Spinner“ bezeichnet wurde: Namlich auf den Arzt und fruhen Analytiker Georg Groddeck (1866o1934).7

Was hatte es, male ich mir aus, fur eine Musikpsychologie bedeuten konnen, wenn sie sich von diesem ,,wilden Wisseno schafter“hatte inspirieren lassen. Uber Musik sagt Groddeck folgendes:

,,Alle Musik quillt aus dem Urmenschlichen; wenn es anders ware, liesse sich ihre Wirkung auf Sauglinge und ihre Ausubung durch Idioten schwer erklaren“.8

Groddeck spricht im Zusammenhang mit Musik nicht von Trieben, Archetypen9 oder anderen Konstrukten und ,,Zusatzo lichkeiten“; vielmehr beschwort er eine Sphare des „Urmenschlichen“ und eine unmittelbare Wirkung auf den Menschen.

Einen ahnlich lebendigen und unmittelbaren Ausspruch zur Musik gibt es vom Wiener Psychiater und energetisch denkenden Psychoanalytiker Wilhelm Reich (1897o1957):

,,Der musikalische Ausdruck hangt mit letzten Tiefen des Lebendigen zusammen“... wobei dieses Lebendige ,,lange funktioniert, ehe es eine Sprache und Wortbildung gibt.“10 Auch hier spricht also jemand in einem Atemzug vom Urgrund der Musik und des Menschlichen.

Im Laufe meines Musikwissenschaftsstudiums an der Hamburger Universitat, begann ich mich fur die Aspekte der Systematischen Musikwissenschaft zu interessieren: Vor allem fur Musikphilosophie, und

- psychologie. Nur in Hamburg gab es seinerzeit einen Lehrstuhl fur dieses Stiefkind der ansonsten vorwiegend historisch ausgerichteten Musikwissenschaft. Den Lehrstuhl hatte der tschechische Musikwissenschaftler und Strukturalist Vladimir Karbusicky (1925o2002) inne, ein Schuler des Prager Strukturalisten Jan Mukarovsky (1891o1975). Ich erinnere mich: Wenn in einem der philosoo phischen HauptoSeminare die „WasoistoMusikoFrage“ auftauchte, pflegte Karbusicky zu sagen: ,,Irgendetwas EnergetischesA Nun war in der Art und Weise wie er das sagte, sofort das grosse personliche Anliegen Karbusickys herauszuspuren, das ihn mit dem noch so ungenugend erforschten Gebiet einer musikalischen Energetik verband.

Dem entsprach auch Karbusickys Versuch, uns Studenten so nachhaltig wie

- fast immer
- vergeblich fur den mit der musikalischen Energetik identifizierten Musikwissenschaftler Ernst Kurth (1886o1946)11 zu interessieren. Auch ich nahm die Anregung nicht an,
- ich brachte seinerzeit die intellektuelle Anstrengung und Ausdauer nicht auf, um mich mit Kurth ernsthaft zu befassen. Heute ist Kurth unter den Musikwisseno schaftern leider weitgehend aus der Mode gekommen.

Mein personliches Interesse an Kurth entzundete sich erst einige Zeit nach meinem Musikwissenschaftstudium, namlich im Zusammenhang mit meiner psychologischopsychotherao peutischen Ausbildung. Nach anfanglicher analytischer Auso richtung

- ich hatte mich nach einem akademischen Psychologiestudium an der Universitat Zurich am dortigen SzondioInstitut, einem Institut fur Allgemeine Tiefenpsyo chologie (Freudsche, Jungsche Richtung und die schicksalso analytische nach Leopold Szondi) zum Psychotherapeuten ausbilden lassen
- begann ich mich fur die Humanistische Psychologie zu interessieren und hier vor allem fur die therapeutischen und erkenntnistheoretischen Moglichkeiten, die von der Auffassung des menschlichen Korpers als einem lebendigoorganismischen und resonanzfahigen Korper ausgehen.12

Im Gegensatz zur analytischo therapeutischen Arbeitsweise, bei der der Analytiker das fehlende Wissen (die Locher im Bewussten) durch seine kompetenten Deutungen ersetzt, ist die Erfahrung moglich, aus eigenen Kraften zu personlichem Wissen um sich selbst zu gelangen.

Uber diesen Umweg nun kam ich auf Ernst Kurth zuruck. Dieser hat seinerseits auf die Resonanzwirkung und Spuro barkeit der musikalischen Energetik hingewiesen und damit

- wie spater Sergiu Celibidache
- das musikalische Erleben zum grundlegenden Erkenntnisvorgang gemacht.

Energetik: Ernst Kurth

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ernst Kurth (1886o1946)

Ernst Kurth war einer der prominentesten Musikwissenschafto ler seiner Zeit - ihm verdanken wir eine konsequente energetische Grundlegung des Musikalischen.

Kurth sah Musik als Resultat seelischer Verarbeitung beziehungsweise energetischer innerer und nach aussen drangender Bewegungen, die auf der Fahigkeit des Menschen zu horendem, resonanzhaftem Erleben beruhen.

Die energetische Auffassung, die besagt, dass alles Lebendige von subtilen Bewegungen durchdrungen ist, zeigt einen Weg auf, Musik in einen inneren Zusammenhang mit der lebendigen Welt zu stellen. Es geht dabei - andersherum ausgedruckt - um die Befreiung von der Auffassung, Musik sei eine vom gesamten Lebendigen isolierte oder abzusondernde Kunsterscheinung.13

Der entscheidende Gedanke Kurths beruht, wie angedeutet, auf der Annahme einer universellen, selbstverstandlich auch den Menschen einschliessenden „Bewegungsenergie“, deren Formen er ,,lebendige Krafte“, „Urkrafte“, „Urvorgange“, „Grundregungen“ und ,,schopferische Krafte“ genannt hat.14 Dieser einheitliche Bewegungsstrom „Bewegungsenergie“ manifestiert sich bei Kurth zunachst in primaren Erscheio nungsformen wie Linien, Wellen, Stromungen, Stauungen, Hauptstromungen, Nebenstromungen. Aus diesen primaren Formen gehen sekundar weitere Bewegungen hervor: Eine Melodie ist beispielsweise durchzogen von einem Kraftstrom, aus dem sich die Tone der Melodie sekundar herauslosen. Musik in diesem Sinn ist - wie nebenbei das ozeanische - ein einziger Bewegungsstrom, in dem viele Unterstromungen das Ganze organisch durchstromen.

Auf der Basis dieses Kraftespiels formuliert Kurth eine seinerzeit aufsehenerregende energetischopsychologische Musiktheorie, die in dem zentralem Motto: ,,Musik ist Ausbruch aus dem Inneren“15 gipfelt.

Mit diesem „Inneren“ meint Kurth die spurbare „innere“ Dynamik seelischer Bewegungen, die Resultat von Erlebenso vorgangen (Resonanzen) sind16. Diese Resonanzen werden ihrerseits ausgelost durch die Interaktion des Menschen mit der ihn umgebenden Welt. Alle musikalischen Erscheinungen sind nichts anderes als „Abkommlinge“ beziehungsweise „Ausbruchsbewegungen“ - inneren Erlebens. Zum Ausbruch kommen die Bewegungen, weil sich die inneren Krafte aus gewaltiger Aufstauung und Anspannung explosionsartig beo freien und sich in Form von klingenden Tonen entladen.

In der nicht immer leicht verstandlichen Ausdrucksweise Kurths liest sich der entsprechende Gedanke so:

,,Der kunstlerische Schaffensvorgang, dessen Vollkraft nur zersprengt in die Ausdrucksform hineinklingt, ist darum stets auch nur aus einem Zuruckfuhlen ins Unbewusste zu erfassen, aus einer Resonanzfahigkeit fur die lebendigen Krafte, die sich ans Licht des Kunstwerks verloren haben.“17 Und: ,,Alles Erklingende an der Musik ist nur emporgeschleuderte Ausstrahlung weitaus machtigerer Urvorgange im Unbewusso ten “18

Abgesehen von der Postulierung derartiger, durch Erleben zustande gekommener psychischer Krafte macht Kurth eine brisante Entdeckung, namlich, dass wir mit den ,,unbewusso ten“ Krafte durch Zuruckspuren in Kontakt kommen konnen.

Inwiefern ist dieser Hinweis brisant?

offensichtlich gibt es Dinge, die wir (noch) nicht wissen, aber doch spuren. Auf diese Weise differenziert Kurth die

Bedeutung des „Unbewussten“: Das Unbewusste mag ero kenntnismassig „unbewusst“ sein, - es kann aber korperlich spurbar und damit erlebensfahig sein.

Exkurs: Focusing - Vom Korpergefuhl zur Bedeutung

Die Psychologic - speziell die vom Philosophen und Psychotheo rapeuten Eugene T. Gendlin19 (*1926) begrundete Focusingo Psychologie - hat im Zuruckspuren bzw. Fokussieren auf ein spezifisches Korpergefuhl eine wichtige, zu umfassenden Bedeuo tungen fuhrende, Erkenntnisquelle entdeckt: Gendlin hat erforscht , dass korperlicholeibliches Erleben nicht irgendetwas Chaotisches, Diffuses und Unverbindliches ist, sondern etwas Umfassendes, das uber die logischen Formen des Gewussten und Gesagten hinaus geht. Der lebendige, erlebensfahige, organismische Korper kann bei entsprechender spurendogerichteter Aufmerksamkeit (Zuruckspuren) auf den von innen gefuhlten Koper eine spezifische Art von Befindlichkeit ausbilden, eine Art Resonanzfeld, das mehr Wissen „enthalt“ als das schon Bekannte einer bestimmten Situation. In der FocusingoPsychologie wird das beschriebene situative Resonanzfeld ,,Felt sense“ (= gespurte Bedeutung, gefuhlter Sinn) genannt. Der Korper ist „situational“, d. h. er ,,hat die Situation 44 heisst es im Focusing. Die in ihm eingefaltete, noch nicht gewusste Vielheit der Situation kann sich durch eine bestimmte Art des Fokussierens entfalten.

Ob Ernst Kurths Zuruckspuren zu den lebendigen Kraften identisch ist mit dem Erspuren des Felt sense im Sinne Gendlins ist kritisch zu uberlegen. Wahrend bei Gendlin der Felt sense eine Art diffuser sechster Sinn darstellt, fokussiert Kurth mehr auf die kraftvollen Entladungsbewegungen, die im manifesten Ton aufgefangen werden. Gendlin wurde die schopferischen Urbewegungen wegen ihrer bestimmten Bahnung und ihrem Ziel, der erklingende Ton, vielleicht schon fur eine Symbolisierung eines noch ursprunglicheren resonanzhaften InoderoWeltoSeins halten. Andrerseits ist die Vorstellung vom Ton als einem Symbol nicht plausibel, da ein Ton auf nichts Bedeutsames verweist. Ich vermute folgendes: Grundlage der Kurthschen Energetik sind jene inneren, noch nicht erklingenden Tonbahnungen, mit denen wir durch horendes Zuruckspuren in Kontakt kommen. Wir werden dabei ,,ganz ohr“ und kommen gleichzeitig unmittelbar mit den sich in/mit uns organisierenden und sich von selbst fortsetzenden TonoBewegungen in Kontakt. Die Unmittelbarkeit bedeutet, dass es sich nicht um Symbolisierungen handelt sondern um Einschwingen in die sich bewegendoselbsto gestaltende Welt: ,,Musik meint nichts. Aufgrund ihrer Intentionso losigkeit eroffnen ihre Tone betont eine Welt als Welt“ So sagt es der Wiener Philosoph Gunther Poltner.20 Beim Zuruckspuren Gendlins eroffnen wir ein Beziehungsfeld zwischen dem vagen, undifferenzierten primaroanwesenden Korper, der eine Situation verkorpert (eine Situation hat), und der Entfaltung dieser Befindlichkeit in Form einer zu Bedeutungen fuhrenden Erfassung durch ein Hinspuren, bei dem unser Ich schon ein bisschen ,,von nebenan“ zuschaut.

Kurths ,,Zuruckfuhlen ins Unbewusste“, ,,Urvorgange im Unbewussten“, die Unterscheidung von ausseren Formen und inneren WirkoKraften o das sind in meinen Augen Elemente einer Tiefenpsychologie der Musik, deren Tiefe nicht durch ,,seelische Tiefe“ sondern durch korperliche Erspurbarkeit und eine Resonanzfahigkeit fur subtile ,,lebendige Krafte“ bestimmt wird.

Wenn Wilhelm Reich von lebendigen Kraften als ,,wortlose Ausdrucksbewegungen aus der Tiefe der Lebensfunktion“ spricht, sagt er nichts anderes als Ernst Kurth.21 Auch im

Reichschen Sinn lasst sich Tiefe nur verstehen als ,,Korpero tiefe“.

Die lebendigen Krafte losen sich unmittelbar aus dem noch undifferenzierten und sich prozesshaft differenzierenden korperlichen Leben beziehungsweise Erleben, das seine Lebendigkeit gar nicht anders als in noch nicht bedeutungso haltigen Bewegungen ausdrucken kann.

Was die Spekulationen uber das Symbolische und vor allem uber die Sprachahnlichkeit der Musik anbelangt, lasst sich also sagen, dass Musik als Ausdruck unmittelbaren leiblichen Bezugs zur Welt bedeutungsfrei ist, und nicht symbolisch verstanden werden kann o den symbolisch verweisenden Ausdruck stiften erst die Worter. Musik ist unmittelbarer Ausdruck des Lebens selbst.

Ich mochte an dieser Stelle kurz innehalten und auf meine Ausgangsfrage nach dem musikalischen Innenraum zurucko kommen.

In der Zusammenschau von Groddeck, Reich und Kurth lasst sich der musikalische Erlebensraum darstellen als eine dynao mische Situation, in die der Mensch eingebunden ist: Ich umreisse die Situation in Form von vier Aspekten

1. Der Mensch erscheint in der musikalischen Situation als lebendiger und erlebender organismus.
2. Er befindet sich in unmittelbarem Austausch beziehungs­weise in einer spannungsvollen Resonanzbeziehung mit der Umwelt.
3. Aus dieser Resonanzbeziehung resultieren Krafte, die zur Entladung drangen.
4. Die sich entladenden Krafte manifestieren sich explosionso artig in Form von klanglich bewegtem Ausdruck („Ausbruch“).

Dieser Vorgang entspricht der Entfaltung des musikalischen Prozesses, dessen Pole sind: resonanzhaftes Erleben (im aktiven Sinn) und den sich daraus entwickelnden manifest erklingenden Tonen.

Ich fuhre einige Zitate und Beispiele aus der Praxis an, die meines Erachtens fur eine solche energetische Auffassungen sprechen:

-Der zeitgenossische italienische Komponist Claudio Ambrosini aussert im Jahr 1985: ,,Ich hore Musik als Energie. Komponieren heisst, (...) Energie zu erzeugen, zu lenken, zu erhalten, Energie, die zu Beginn des Werks in Bewegung gerat, bis hin zur Vollendung der Form“.
-Beim eigenen Musizieren (Bratschespielen) erlebe ich das ahnlich: Bevor der erste musikalische Ton meinen Korper und mein Instrument verlasst, nehme ich in meinem Korperinneren subtiloanregende Bewegungen wahr, die mich von innen her ergreifen, meinen Korper in Bewegungen versetzen und ihn dynamisieren. Diese inneren Bewegungen bereiten den Ton vor, laufen auf ihn zu und entladen (Kurth: „fangen“) sich in ihm. Ausgelost werden sie durch Erspuren und Innewerden meiner gegenwartigen leiblichen Resonanz. Leibliche Resonanz fuhlt sich an wie ein tonlosofluidales Ino BewegungoKommen des menschlichen Korpers. Irgendwie steckt in diesem Resonanzgefuhl sowohl ein geniesserische Bleibenwollen und SichoEinwiegen in die gegenwartige Situation als auch ein SichoVerandernoWollen, in dem ja in letzter Konsequenz die Verganglichkeitso oder Verfluchtio gungstendenz wirkt: Bleibenwollen wie Vergehenwollen fuhren zu der Spannung, die sich im musikalischen Ausdruck entladt.
- Bei den meisten Interpreten erscheinen die energetischen
Bewegungen auch in der Mimik; und zwar nicht im Sinne eines Abbilds einer inneren musikalischen Bedeutungso dynamik, sondern als unmittelbares Ergriffensein. Es ware nicht richtig zu sagen, der Pianist zeigt in seinem Gesicht die Traurigkeit des Stuckes o nein, er zeigt die Dynamik der musikalischen Urbewegungen: Die Mimik gehort im Kurthschen Sinn zu den Spuren der inneren Krafte, die sich an die manifesten Erscheinungen der Musik „verlieren“. (Ich habe hier beispielsweise den Pianisten Alfred Brendel vor Augen.)
-Am deutlichsten konnen wir bei Dirigenten beobachten, was musikalische Energetik ist. Die Bewegungen der Diri­genten sind erlebte Bewegungen: Sie sind nicht Abbildung einer objektivowerkhaften musikalischen Energetik, sondern Resultat der Resonanz des horendoleiblichen InoderoWeltoSeins (das identisch mit InoderoMusikoSein) des erlebenden Dirigenten. Deshalb sagt Ernst Kurth, wie spater auch der Dirigent Sergiu Celibidache: ,,Die Struktur der Musik ist die Struktur ihres ErlebensA (Auf die Spitze getrieben heisst der Satz: Nichtoerlebte Musik ist keine Musik.) Allerdings gibt es Dirigenten, die einem intellektuellen o energetisch armseligem
- Transparenzkult huldigen, indem sie sich fast ausschliesslich auf die rationalen und messbaren Elemente der Musik verlassen und das Metronom fur den Herzschlag des Komponisten halten. (Ich selbst habe unter einem Dirigenten gespielt, dessen musikalische Anleitung sich in dem Satz: ,,just in time“ erschopfte. Naturlich erschopfte sich auch seine Zeichengebung in einem unerschutterlichen Taktschlagen.)
- Horen, InoResonanzoSein

Wie kommt es zu einer solchen Resonanzbeziehung zwischen Welt und Mensch, die offenbar Ursache des musikalischen Ausbruchso beziehungsweise Ausdrucksgeschehens ist?

Grundlage fur ein derartiges resonanzhaftes, interaktives Ino deroWeltoSein ist die Fahigkeit zu Horen. Im Gegensatz zu einer allgemein verbreiteten Ansicht ist Horen kein einseitiger passiver Aufnahmeakt, sondern ein aktiver Vorgang, bei dem Ausseneindrucke in korperliches Erleben, sprich Resonanzen, umgewandelt werden. Es geht um Innewerden im Sinn von verstandesfreiem Mitschwingen, denn musikalisches Horen hat nichts zu tun mit der Bildung eines Tongedachtnisses oder einer Art innerer Speicherung von Tonfolgen. Horen in dem aktiven gestaltenden Sinn heisst, die Resonanz der Klange als Bewegtheit wahrzunehmen, sie zu erleben und auf diese Weise zu lebendiger, erolebter Musik werden zu lassen. Deshalb sagt Ernst Kurth: ,,nicht erlebte Musik ist keine Musik.“

Wie aber wird durch horende Wahrnehmung Musik?

Fur Ernst Kurth ist der musikalische (vorsprachliche, vorinformative) Horvorgang ein Verarbeitungsprozess: Zunachst werden wir durch das ImoohroSein empfanglich fur die ratselhaften dunklen „Urerlebnisse“, die den primaren Weltbezug stiften. Innerhalb des spezifischen musikalischen

Horraums, der zu einer Art vorbewusster, anfanglicher, traumartiger und vorsprachlicher Schicht unseres Daseins gehort, kommt es nun zu einer sekundaren Verarbeitung: das resonanzhafte Erleben, das wir konkret als inneres InoBeweo gungoKommen und Mitschwingen spuren konnen, ist identisch mit der „ahnungsvollen“, subtiloinnerkorperlichen Anbahnung des werdenden musikalischen Ausdrucks. Das heisst, die umfassende individuelle Schwingungsstruktur (organismische Struktur) des wahrnehmenden Subjekts wird in die werdende musikalische AusdrucksoGestalt aufgenommen und zum lebendigen Ton „verarbeitet“. Ich denke mir, dass Reich und Groddeck mit ,,Tiefe des Lebendigen^ und „Urmenschliches“, aus denen die Musik „quillt“ eben jene Vorgange meinen, die Kurth mit dem erlebten Ton verbindet.

Dieser Vorgang lasst sich modellartig darstellen:

(0) Gegenwartigkeit = allgemeiner Spannungszustand, potentielle Bewegungsenergie

(I) Horen als sinnliche Interaktion mit der Welt = bewegende, anregende und gestaltende

Verarbeitung im Inneren, Freiwerden innerer Urkrafte

(II) Entladung von Ausdruckso, Ausbruchkraften

= Manifestation von Musik o Modell des musikalischen Prozesses nach Ernst Kurth

Ich werde dieses Modell mit den wahmehmungstheoretischen Erkenntnissen des vor dem 2. Weltkrieg in Hamburg forschenden Entwicklungspsychologen Heinz Werner22 in Beziehung setzen, die in einem inneren Zusammenhang mit dem Kurthschen Ansatz steht.

Werner postuliert aufgrund seiner Forschungen „Schichten beim Kulturmenschen, die genetisch vor (kursiv Seidl) den Wahrnehmungen stehen, und die als ursprungliche Erlebniso weisen beim sachlichen Menschentyp teilweise verschuttet sind. In dieser Schicht kommen die Reize der Umwelt nicht als sachliche Wahrnehmungen, sondern als ausdrucksmassige Empfindungen, welche das ganze Ich erfullen, zum BewusstseinA

Werner formuliert im Anschluss an seine Ergebnisse zwei Prinzipien:

„(1) ein genetisches Prinzip das besagt, dass der organismus sich aus einem einheitlichen, psychophysischen Grunde zu immer scharfer differenzierten, hierarchisch geordneten Funko tionen und Phanomenen strukturiert oder unter gegebenen Umstanden sich umkehrt, von der erreichten Differenzierungso hohe, der undifferenzierten Einheitsschicht wiederum nahert.

(2) ein organismisches Prinzip, das besagt, dass alle psychischen Erscheinungen, sosehr sie auch anscheinend ein statisches Endprodukt darstellen, bedingt sind durch die stetige Aktivitat des organismus und damit im total organiso mischen Geschehen tief verwurzelt sind.“

Und er kommt zu einer typologischen Unterscheidung von

- Typus a) dessen Erlebnisweise ursprunglich und ganzheito lich organisiert ist und
- Typus b) dessen Wahrnehmungsweise sachlich organisiert ist, und bei dem die ursprunglichen, genetisch fruheren Schichten des Typus a), verschuttet sind.

Die Ahnlichkeit dieser Positionen mit denjenigen von Ernst Kurth ist eklatant: Was bei Ernst Kurth ,,ursprungliche spannungsvolle Gegenwartigkeit“ heisst, ist bei Werner ,,eino heitlicher psychophysischer Grund“. Und die sich aus der ur­sprunglichen Einheit differenzierenden „Kraftregungen“ Kurths sind bei Werner die ,,immer scharfer differeno zierten...Funktionen und Phanomene“, die er offensichtlich als Folge ,,der stetigen Aktivitat des organismus“ sieht. Werner vermutet, dass diesen Aktivitaten ,,Tonusvorgange des Korpers“ zugrunde liegen.23

In diesen Zusammenhang gehort die Leibphilosophie des Kieler Philosophen Hermann Schmitz24. Schmitz spricht ebenfalls von einer primaren Erfahrungsqualitat, der er den innerhalb seiner Feibphilosophie zentralen Erfahrungsbereich des „Atmospharischen“25 zuordnet. Grundlage des atmosphao rischen Erlebens bilden bei Schmitz Vorgange, die er ,,eigenleibliches Spuren“ nennt. (Dass hier irgendwie ebenfalls Tonusvorgange im Spiel sind, liegt auf der Hand. Allerdings scheint etwas dazu zu kommen, das konkrete korperliche Empfindungen ubersteigt. Siehe dazu oben die Ausfuhrungen zur FocusingoPsychologie, die sich hier andeutet.) In der Qualitat des Atmospharischen erscheint uns die Welt als vage

Ganzes, Diffuses, noch nicht Differenziertes, eher Traumo haftes, aus der sich die Phanomene erst prozesshaft herauslosen. Die Beschreibung dieser Erlebenssphare deckt sich exakt mit meinen Eindrucken des inneren musikalischen Raums, ,,aus dem alles herauskommt“.

Die Aspekte des musikalischen Raumes werden mittlerweile durch folgende Bezeichnungen bestimmt:

Ursprungliche Lebendigkeit, Urmenschliches, letzte Tiefen des Lebendigen, Psychophysischer Grund, Atmosphare, Eigeno leibliches Spuren.

Musikwerdung als personaler Proze

In meinem Buch Fluidum Musik26 habe ich meinen inneren Horprozess beziehungsweise die Hervorbringung des Tons als subjektiven Erfahrungsprozess dargestellt und auf einen Punkt in dessen Verlauf hingewiesen, bei dem der Prozess in seiner Ganzheit als Bild (Verlaufsbild) erscheint:

„Dasjenige, das sich als Ganzes des Prozesses herausgebildet hat fuhlt sich an wie die Hervorbringungsarbeit des Ton...sein Weg in die Umwelt... Es gibt im Prozessverlauf einen Moment, in dem ich irgendwie selbst hineingezogen werde: ich werde in die Tonwerdung mit hineingezogen...ich bin es nun selbst, der mit (dem Ton) in die Welt kommt...es geht auch um mich...“

Auf dieser Erfahrung beruht der Eindruck, dass die Vero arbeitung der Welteindrucke zum Ton nicht ein apersonaler oder transpersonaler Prozess ist, sondern ein personlicher

Prozess, dessen tiefer Sinn mit dem Auftauchen des personlichen Tons (oder der Person im Ton) zu tun hat.

Zunachst: Wenn es bei Kurth heisst, die Struktur der Musik sei die Struktur ihres Erlebens, so versteht es sich von selbst, dass diese Struktur weit uber das Physiologische hinausreicht o es ist vom lebendigen Menschen im Sinn eines lebendigen (erlebenden) organismus die Rede.

Bei der gegenwartigen padagogischen Vernarrtheit in das Physiologische und Medizinische ist dieser Punkt besonders relevant: Da an den Konservatorien und Hochschulen immer mehr Mediziner eingestellt werden, wird die Wahrnehmung der physiologischen Vorgange schleichend zur Hauptsache, wahrend die Dimension des Erlebens in den Hintergrund tritt.

Erleben beziehungsweise lebendige Verarbeitung des musikao lischen Tons ist nur durch umfassendes personliches Erleben beziehungsweise durch zuruckspurende Aufmerksamkeit fur die korperlichen Resonanzen zu erreichen. Der Ton als Struktur des Erlebens kann deshalb nur personliche Struktur sein und erlebte Musik kann nur personlich erlebte, subjektiv erfasste Musik sein. Kurths Satz musste also vollstandig heissen: Die Struktur der Musik ist die Struktur seines personlichen, individuellen Erlebens. Insofern ist der erste erklingende Ton das Geburtszeichen der Person, die mit dem werdenden Ton etwa sagt, ,,ich komme in die Welt, wenn auch fluchtig, ich verklinge, ich werde wieder neu“. Das Wesen der Musik liegt in der Tonowerdung; das Verklingen des Tons ist Voraussetzung fur ein neues Erklingen beziehungsweise erneutes Werden.

In der inneren Erfahrung bin ich selbst mit dem Prozess der Tonwerdung aufs Innigste verknupft. Der primare innere musikalische Raum ist ein anfanglicher, personlicher mit einem vagen IchobinoGefuhl. Er beginnt in einem Zustand undifferenzierter auditiver personlicher und von Welt umo hullter Gegenwartigkeit, die durch einen gewissen spannungso vollen „Bewegungszusammenhang“ gekennzeichnet ist. Aus der elementaren und primaren „Bewegungsenergie“ losen und differenzieren sich in der Folge bewegende, anregende und gestaltende Krafte. Diese ausgelosten Krafte ergreifen die den inneren Prozess nach aussen fortsetzenden (entladenden) organe, o sie gehen uber ins Physiologische o woraus eine „Erformung“ oder Manifestation des Musikalischen resultiert: In dem Raum einer inneren Vorformung stosst die Energie an die inneren Rander des Korpers o beim Singen ist es der innere Raum der Mundhohle, bei den Instrumenten sind es die korperlichen Kontaktstellen der Instrumente, welche die Grenzen bilden jenseits derer sich die potentielle Energie in klingenden Tonen konkretisiert.

Die Musikinstrumente haben nicht nur die Funktion von werkzeughaften Energieauffango, und Umsetzungsgerate, sondern auch von Korperorganen im Sinne organischer Erweiterungen des Korpers.27 In dieser Hinsicht sind die Instrumente vielleicht korpernahe „Worter“, oder eine Art „Ubergangsobjekte“ auf dem Weg zu den Wortern und der Wortsprache.

In Kurths energetischem Modell gibt es zwischen der allgemeinen Spannung des potentiellen UroZustand (0) und der Entladungso beziehungsweise Manifestationsphase ero klingender Musik (II) eine vermittelnde Schicht (I), in der sich die aus der ursprunglich allgemeinen Spannung losenden und sich dabei differenzierenden subtilen Urkrafte28 zu greifo bareren o immer mehr ,,lebendige Welt“ integrierende o allgemeinen Kraften mutieren. Von diesen Kraften konnen wir annehmen, dass sie schliesslich auf der Buhne des Meno schlichen als psychische Funktionen erscheinen.

Personliche Musik

Eine bedeutsame Schwache des Kurthschen Ansatzes liegt meines Erachtens darin, dass Kurth diese sich in der Mittelschicht gestaltenden Krafte (I), nicht in ihrer psyo chischen Funktionalitat deutlich macht; vielmehr leitet er sie ab von ihrem zukunftigen Schicksal innerhalb der manifesten Schicht des Musikalischen. Daher erscheinen die anregenden und gestaltenden Krafte, die von innen nach aussen drangen, wie nach innen gespiegelte musikalische Krafte: Wenn Kurth beispielsweise von einer ,,kinetischen Energie“ spricht, die sich vor allem in der Melodiebildung erschopft, ist diese Energieform lediglich mit dem musikalischen Kontext verknupft, in dem sie erscheint aber nicht mit einer allo gemeineren psychischen Funktion.

Das ist allerdings verstandlich: Schon Wilhelm Reich hat auf die Schwierigkeit hingewiesen, das „Lebendige“ funktionell streng zu definieren.29

Es musste also versucht werden, die energetischen Beweo gungen im Innern der Musik mit allgemeinen psychischen Funktionen zu verknupfen, die uber den spezifischen musika­lischen Kontext hinausweisen und Zusammenhange mit allgemeinen Lebensbereichen ergeben.

[...]


1 Rakusa, Ilma: MehrMeer. Erinnerungspassagen. GrazoWien2009, S.181

2,,Wo sind wir, wenn wir Musik horen?“ in: Sloterdijk, Peter: Weltfremdheit. Frankfurt/M. 1993, S. 301 ff.

3 Brief vom 5. Dezember 1927

4 Freud, Sigmund (1930): Das Unbehagen in derKultur. (Einleitung). Frankfurt/M. 2001

5 Fox, Matthew/Sheldrake, Rupert: EngeloDie kosmische Intelligenz. Munchen 1998

6 Vgl. z.B. Hugo v. St. Viktor (1097o1141)

7 Das „Es“ bildet in Freuds Strukturmodell vom Seelischen (1923) den Unterbau: ,,EsoIcho Uberich“. Siehe dazu Groddeck, G.: Das Buch vom Es. Psychoanalytische Schriften an eine Freundin. Frankfurt/M. 2004

8 Groddeck, Georg: Psychoanalytische Schriften zurLiteratur undKunst. Frankfurt/M. 1978, S. 247

9 C. G. Jung meinte in der Musik das Kreisen der Archetypen zu vernehmen.

10 Reich, Wilhelm (1933): Charakteranalyse. Koln 1989, S. 474

11 Ernst Kurth hat seine wissenschaftliche und praktische Ausbildung als Dirigent bei Guido Adler beziehungsweise Gustav Mahler absolviert und spater an der Universitat in Bern gelebt und gewirkt.

12 Ich beziehe mich hier auf die Psychologie des Focusing, die vom Philosophen und Psychotherapeuten Eugene T. Gendlin, dem Nachfolger von Carl Rogers, formuliert wurde. Naheres siehe S. 15.

13 In der Musikgeschichte spielt die Idee von der absoluten Musik, die das Ideal einer Musik hochhalt, die absolut frei ist von nichtomusikalischen Einflussen und Vorgaben o frei auch von solchen der Natur und des Menschen o eine nachhaltige Rolle. In ihrem Namen wurden zum Beispiel musikoanthropologische Fragestellung innerhalb der Musikwissenschaft lange Zeiten ausgeklammert.

14 Kurth, Ernst: Bruckner Bd 1. Berlin 1925, S. 1

15 Kurth, Ernst: Musikpsychologie. Berlin 1931, S. 3. Leider ist das Werk weitgehend in Vergessenheit geraten.

16 Ubrigens entstehen diese Gedanken in Anlehnung an den Schweizer Philosophen Paul Haberlin (1878o1960).

17 Kurth, Ernst: Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners ,,Tristan“. Bern 1920; 3. Aufl., Berlin 1922, S. 9

18 ebda S. 1

19 Gendlin, Eugene T. : Focusing. Reinbek 1998

20 Poltner, Gunther: Sprache derMusik. In: ders. (Hg.): Phanomenologie der Kunst, Frankfurt/M. 2000, S.

21 Reich, W.: a.a.o., S. 475

22 Werner, Heinz: „Intermodale Qualitaten (Synasthesien)“, 9. Kap., in: Handbuch der Psychologie, I. Bd., I. Halbband. Gottingen 1966 und ders.: Einfuhrung in die Entwicklungspsychologie. Munchen 1959 (Erstausgabe 1926?)

23 Werner, Heinz: Intermodale Qualitaten... S. 298

24 Siehe beispielsweise: Schmitz, Hermann: Der unerschopfliche Gegenstand. Grundzuge der Philosophie. Bonn 1990

25 Siehe dazu auch: Bohme, Gernot: Atmosphdre. Essays zur neuen Asthetik. Frankfurt/M.

26 Seidl, Mathes: Fluidum Musik. Die korperliche Wirklichkeit der Tone. Neuried b/Munchen 2005, S. 49

27 So lasst sich E.T.A. Hoffmanns Bezeichnung der Musikinstrumente als ,,lebendigotote Dinger“ verstehen.

28 Fur diese subtilen Krafte hat der Philosoph Hermann Schmitz den Begriff,,Bewegungso suggestion“ gefunden. (s. dazu Derunerschopfliche Gegenstand...z. Bsp. S. 140o142)

29 Reich, W.: a.a.o., S. 473

Ende der Leseprobe aus 119 Seiten

Details

Titel
Das Innenleben der Musik
Untertitel
Eine musikpsychologische Studie
Autor
Jahr
2011
Seiten
119
Katalognummer
V310030
ISBN (eBook)
9783668095953
ISBN (Buch)
9783668095960
Dateigröße
5617 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Psychologie, Musik, Leopold Szondi Focusing
Arbeit zitieren
Mathes Seidl (Autor:in), 2011, Das Innenleben der Musik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/310030

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