Über die Widersprüchlichkeit der Sozialen Arbeit im aktivierenden Sozialstaat


Bachelorarbeit, 2012

48 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Über den aktivierenden Sozialstaat
2.1 Über den Begriff „aktivierender Sozialstaat“
2.2 Über die Transformation zum aktivierenden Sozialstaat
2.2.1 Über ökonomische Gründe
2.2.2 Über politische Gründe
2.2.2.1 Über die deutsche Unterschichtsdebatte
2.2.2.2 Über den Neoliberalismus
2.3 Über die Grundzüge des aktivierenden Sozialstaates
2.3.1 Über die Aktivierung des Arbeitsmarktes
2.3.2 Über die Aktivierung der Bürger
2.3.2.1 zu mehr bürgerschaftlichem Engagement
2.3.2.2 zur eigenverantwortlichen Integration in den Arbeitsmarkt
2.3.2.3 zwischen Befähigung und Zwang
2.3.3 Über die Aktivierung der Verwaltung
2.3.4 Über die Aktivierungslogik der aktivierenden Sozialen Arbeit
2.4 Über den Bürger im aktivierenden Sozialstaat

3. Über die Soziale Arbeit im aktivierenden Sozialstaat
3.1 Über die Soziale Arbeit
3.1.1 und das Ende des „sozialpädagogischen Jahrhunderts“
3.1.2 als personenbezogene Dienstleistung
3.1.3 und die Verbreitung der Aktivierungslogik
3.1.4 und ihre Anerkennung
3.2 Über den Wandel der Funktion
3.3 Über den Wandel der Struktur
3.4 Über den Wandel der Professionalisierung

4. Fazit – Über die Widersprüchlichkeit der Sozialen Arbeit im aktivierenden Sozialstaat

5. Literaturverzeichnis

Vorwort

In Essays wie „Über die Grausamkeit“ oder „Über die Pedanterie“ beschreibt Montaigne, sich selbst als einen alternden Mann beschreibend, seine Sicht über die Gesellschaft und die Welt. Seine Werke sind nur Versuche, Essays, und somit für damalige Verhältnisse wenig wissenschaftlich. Dennoch schuf er gerade dadurch, nicht nur eine neue Literaturkategorie, sondern auch die Anfänge der modernen Pädagogik. In Erinnerung an Montaigne, stellvertretend für alle anderen Klassiker der Pädagogik, die mir die Pädagogik als eine praktische Kunst der Tugenderziehung näher brachten, widme ich meine Arbeit.

Doch ich danke nicht nur den Philosophen und Pädagogen, die mich mit ihren Texten durch das Studium begleitet haben. Der Dank gilt ebenso den Dozenten, die diesen Weg begleitet haben: Herr Brüggen für seine lehrreiche Grundlagenvorlesung, Herr Ragutt für seine anregenden Diskussionen, Frau Heite für ihre verständnisvolle Betreuung und Frau Stracke für ihre hilfreiche Beratung. Weiterhin möchte ich meinem besten Freund und Mentoren Daniel Brauer danken, ohne den ich oft den Kontakt zum Wesentlichen verloren hätte.

Das Wesentliche, also das Motiv meines Studiums, war für mich, wie bei vielen anderen auch, anderen Menschen zu helfen. Doch um dies tun zu können, wusste ich kurz vor dem Ende des Studiums, immer noch zu wenig. Dank der großzügigen Finanzierung durch meine Familie war ich in der glücklichen Lage, mir etwas Zeit nehmen zu dürfen, um mich schließlich interessegeleitet und kritisch schließlich der Gegenwart der Sozialen Arbeit zu widmen.

1. Einleitung

Widersprüche sind Zustände, die sich gegenseitig logisch ausschließen, wie z.B. kaltes Feuer oder Hassliebe[1]. Die Logik lehrt uns mit dem Satz vom Widerspruch, dass zwei sich widersprechende Aussa­gen nicht zeitgleich zutreffen können. Dennoch sind sie fester Bestandteil des menschlichen Lebens, wie im folgenden Zitat deutlich wird: "Das Mögliche eingeschlossen im Unmöglichen: in die­sem lebendigen Widerspruch liegt die Pointe der menschlichen Existenz" (Holthusen 1951, S. 135).

Ebenso wie der Mensch, ist auch die Soziale Arbeit[2] von Widersprüchen geprägt (vgl. Thiersch 2004, S. 36). Diese Widersprüchlichkeit ist nicht charakteristisch für die Soziale Arbeit, stellt jedoch die Professionellen immer wieder vor neue Herausforderungen (vgl. ebd.). Stets müssen adäquate Stra­tegien zur Bewältigung von Widersprüchen gefunden werden. Je nach der jeweiligen Richtung der gesellschaftlichen Entwicklungen, müssen diese immer wieder erneut an die neuen Erfordernisse angepasst werden. So wie die Gesellschaft ist also dementsprechend auch die Soziale Arbeit stets im Wandel.

Die deutsche Gesellschaft ist in den letzten Jahren einem enormen Wandel unterzogen worden. Durch Globalisierung, Finanzmisere, stetig steigender Staatsverschuldung, hoher Arbeitslosigkeit und anderen Problemen, sah der Staat enormen Handlungsbedarf. Auf die Empfehlungen der Europäischen Union in der Lissabon-Erklärung hin, Deutschland zu einem „aktiven und dynamischen Wohlfahrtsstaat“ zu modernisieren, wurde in Deutschland ab 2003 die „Agenda 2010“ eingeführt. Diese begründete maßgeblich die Transformation vom versorgenden Wohlfahrtsstaat zum aktivie­renden Sozialstaat. Die Pfeiler des aktivierenden Sozialstaates sind die Aktivierung des Arbeitsmark­tes, der öffentlichen Verwaltung und der Bürger. Durch diese Aktivierungen, die Flexibilisierung der Arbeitswelt und die steigende soziale Unsicherheit verändert sich die Gesellschaft.

Im Zuge dieses Aktivierungssprozesses hat sich auch die Soziale Arbeit in ihrer Funktion, ihrer Struktur und der Professionalisierung gewandelt. Während die Zahl der Hilfsbedürftigen und die durch eben jene Krisen hervorgerufenen Komplexität der Fälle zunehmen (vgl. Seithe 2010, S. 98), wurde durch den aktivierenden Sozialstaat eine Ökonomisierung[3] der Sozialen Arbeit eingeleitet. Im Zuge dessen wurden marktliche Instrumente wie Kontraktmanagement und Budgetierung, sowie der Wettbewerb untereinander implementiert. Dies an sich ist schon widersprüchlich, da die Soziale Ar­beit "gerade als Antwort auf die Verwerfungen und Nebenwirkungen einer Marktgesellschaft ent­standen" ist (Galuske 2007, S. 22). Damit werden „grundlegende Vorausset­zungen und Basisorientierungen“ (Hering/Münchmeier 2000, S. 227) der Sozialen Arbeit in Frage gestellt, die während des sogenannten „sozialpädagogischen Jahrhunderts“ (Galuske 2008, S. 9) erarbeitet wur­den. Die „vertrauten Denk- und Interpretationsfiguren, an denen sich die Soziale Arbeit über fast 130 Jahre ausrichten und ihr Funktionsbild bestimmen konnte“ (Hering/ Münchmeier 2000, S. 22), wurden damit aufgelöst (vgl. ebd.), so dass Galuske sogar so weit geht, das „Ende des sozialpädagogischen Jahrhunderts“ (Galuske 2007)[4] einzuläuten.

Mit dem Ende des „sozialpädagogischen Jahrhunderts“ wird auch offenbar, dass „jene Widersprüche wieder neu aufbrechen, die ihre Geschichte von Anfang an begleitet haben“ (Hering/ Münchmeier 2000, S. 227). Damit meinen Hering/Münchmeier z.B. den „Widerspruch zwischen sozialpädagogischer Ausrichtung und sozialpolitischer Inpflichtnahme“ (ebd.), sowie den „Konflikt zwischen fachlichen Erfordernissen und finanzpolitischen Rahmenbedingungen“ (ebd.), sowie „die alte Diskussion um Erziehung und Integration versus Strafe und Ausgrenzung“ (ebd.). Die Existenz von Widersprüchen gehört zur Profession und zum Menschsein dazu. Die Aufgabe der Sozialen Arbeit dabei ist, wie schon gesagt, stets neue Bewältigungsstrategien für diese Widersprüche zu finden (vgl. Thiersch 2004, S. 36). Die Frage ist also, ob die Soziale Arbeit noch in der Lage sein wird, adäquate Lösungsstrate­gien zur Bewältigung dieser Widersprüche zu finden oder ob diese Widersprüche zu groß sind und sich schließlich das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit ändern wird.

Die vorliegende Bachelorarbeit soll zunächst die Sozialen Arbeit im aktivierenden Sozialstaat und ihren Wandel beschreiben, die Widersprüche darlegen und anschließend versuchen, diese Frage im Ansatz zu beantworten. Dazu werden zunächst die Transformation zum aktivierenden Sozialstaat und die Gründe dafür erläutert. Dann werden die Grundzüge anhand der Aktivierung des Arbeitsmarktes, der öffentlichen Verwaltung und der Bürger dargestellt. Das Kapitel abschließen wird ein Blick auf die Bürger, bei dem die Notwendigkeit einer professionellen Sozialen Arbeit deutlich gemacht werden soll. Ausgehend von dem Gesagten soll anschließend die Sozialen Arbeit im aktivierenden Sozialstaat dargestellt werden. Dazu muss zunächst etwas über die Profession selbst gesagt werden, da es keine einheitliche Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit gibt. Nach einem kurzen Resümee über die Wandlung der Sozialen Arbeit, wird zunächst versucht zu erklären, warum das Aktvierungsparadigma in der Sozialen Arbeit so schnell Fuß fassen konnte. Außerdem wird auf das Anerkennungsproblem der Profession eingegangen. Der nächste Punkt dieses Kapitels dient der Beschreibung des Wandels von Funktion, Struktur und Profession der Sozialen Arbeit. Die Modernisierung der Sozialen Arbeit hat u.a. zwei neue Konzepte der Sozialen Arbeit hervorgebracht: die Soziale Arbeit als Dienstleistung und die Soziale Arbeit als Aktivierungsagentur. Dabei folgt die Soziale Arbeit als Aktivierungsagentur z.B. den Erwartungen des aktivierenden Staates, welcher sich als oberstes Ziel gesetzt hat, „der wirtschaftlichen Verselbstständigung und Betätigung seiner Bürger [zu, I.B.] dienen“ (Dahme/Wohlfahrt 2005a, S. 1). Schließlich wird ein Fazit über die Widersprüchlichkeit der Sozialen Arbeit im aktivierenden Sozialstaat gezogen.

2. Über den aktivierenden Sozialstaat

Die letzen zwanzig Jahre waren geprägt von einer anhaltenden Krisenwelle. Davon waren und sind noch immer u.a. die Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung sowie die Sozialhilfe betroffen (vgl. Galuske 2004, S. 1). Die Diskussionen um den viel zu teuren Wohlfahrtsstaat, die in der Öffentlichkeit geschürte Angst vor der Verschuldung Deutschlands und die Problematik des demographischen Wandels drängten auf eine schnelle Problemlösung. Mit dem sogenannten „dritten Weg“, als Mittelweg zwischen einem Laissez-faire Liberalismus und dem Sozialismus, der von Anthony Giddens theoretisch ausformuliert wurde, setzten Bill Clinton und Tony Blair schließlich für die USA und England einen neuen Wegweiser für das neue Jahrtausend (vgl. ebd.). Auch die Europäische Union beschäftigte sich mit den Problemen und verabschiedete schließlich mit der Lissabon-Erklärung vom März 2000 ein Papier, das zu einer umfassenden Modernisierung der Sozialsysteme aller Mitgliedstaaten aufrief und einen „aktiven und dynamischen Wohlfahrtsstaat“ einfordert. Zur Einlösung dieser Forderung nutzte die deutsche Politik die Idee des „dritten Weges“ und integrierten sie in das Konzept der Agenda 2010. Diese Agenda, bzw. alle mit ihr in Verbindung stehenden Reformen, wie z.B. die vier Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt[5] oder die Riester-Rente, können als Inbegriff der neuen sozialstaatlichen Philosophie bezeichnet werden, die in Deutschland den Namen „aktivierender Sozialstaat“ trägt.

Doch was kann man sich schließlich unter diesem Begriff vorstellen? Diese Frage soll zunächst einmal geklärt werden, bevor in einem nächsten Schritt etwas über die Transformation gesagt wird. Hierbei wird zuerst der versorgende Wohlfahrtsstaat als Vorläufer des aktivierenden Sozialstaates vorgestellt, um anschließend etwas über die ökonomischen und die politischen Gründe für die Transformation zu sagen. Als nächstes werden die Grundzüge des aktivierenden Sozialstaates anhand der Analyseebenen Aktivierung der Arbeitsmarktpolitik, der Verwaltung und der Bürger charakterisiert.

2.1 Über den Begriff „aktivierender Sozialstaat“

„Aktivierender Sozialstaat“ – will man diesen Begriff definieren, so stößt man unmittelbar auf eine „tendenziell[e] Konturlosigkeit der Aktivierungsperspektive“ (Dollinger/Raithel 2006, S. 8). Über Parteien- und Ländergrenzen hinweg wurde das Aktivierungsparadigma in unterschiedlichste Kontexte und Professionsbezüge eingebunden. Dementsprechend gibt es eine Vielzahl von teilweise unreflektiert eingesetzten und sich widersprechenden Konzepten, was ein aktivierender Sozialstaat ist.

In einer Studie des Arbeitskreises „Bürgergesellschaft und Aktivierender Staat“ der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) wurde 2002 eine konzeptionelle Begründung des Begriffes versucht. Laut dieser Konzeption vereint der aktivierende Sozialstaat eine effizienzorientierte Reform der öffentlichen Verwaltung mit einer neuen „Verantwortungsteilung zwischen Gesellschaft und Staat“ (FES 2002, S. 4). Es gehe eben nicht um einen Rückzug des Sozialstaates, sondern um eine neue Verteilung der Verantwortung (vgl. ebd., S. 28.). Diese müsse neu organisiert werden, da durch steigende Arbeitslosigkeit, nachlassendem Wirtschaftswachstum und anderen globalen Problemen, ein Festhalten an einem versorgenden Sozialstaat zum Staatsversagen führen würde (vgl. ebd., S. 8). Dieses Konzept fußt auf der Prämisse, der Staat sei in seiner alten Form (versorgender Wohlfahrtsstaat) reformresistent, könne finanziell nicht mehr für alle Staatsaufgaben aufkommen und wäre schließlich selbst das Problem (vgl. ebd., S. 27f.). Dem könne nur mit einer umfassenden Staatsreform begegnet werden, welche die Gesellschaft mit in die Verantwortung nimmt, um die Handlungsfähigkeit des Staates zu erhalten (vgl. ebd., S. 28). Zu diesem Zweck wurden nach und nach Bestrebungen verfolgt, die einer Reform bzw. Aktivierung der öffentlichen Verwaltungen, des Arbeitsmarktes und der Bürger dienen sollen. Was das im Einzelnen bedeutet, wird im Abschnitt 2.3 dargelegt.

Neben dem Begriff des aktivierenden Sozialstaates wird der Begriff des Sozialinvestitionsstaates synonym verwendet. Dieser wird laut Olk von folgenden Merkmalen charakterisiert: Der erste Punkt betrifft die politische Ebene, auf der die Sozialpolitik in die Dienste der Wirtschaftspolitik tritt (vgl. Olk 2009, S. 27). Alle sozialpolitischen Entscheidungen müssen demnach unterstützende Funktionen für die Wirtschaft einnehmen. Desweiteren werden den Bürgern Unterstützungsleistungen nur noch gewährt, wenn dadurch zukünftig wirtschaftliche Erträge erwirtschaftet werden können (vgl. ebd.). Dabei ist fraglich, nach welchen Kriterien der wirtschaftliche Profit errechnet werden soll und ab wann die Investition als nicht mehr lohnend betrachtet wird. Nicht durch Umverteilung von monetären Hilfsleistungen, sondern durch eine gerechte Umverteilung von Bildungschancen wird die Inklusion der Bürger angestrebt (vgl. ebd.). Durch die verstärkte Investition in Bildung, Erziehung und Familie und damit in die Produktivität der Bürger (vgl. Seithe 2010, S. 170), bzw. in die (Re-)Produktion von Humankapital, sollen die Bürger in die Lage versetzt werden eigenständig für ihre selbstbestimmte Integration in den Arbeitsmarkt zu sorgen. Dabei steht jedoch nicht die Vollbeschäftigung im Fokus, sondern die Beschäftigungsfähigkeit[6] (employability) (vgl. Olk 2009, S. 26). Desweiteren wird, dem neuen Selbstverständnis des unternehmerischen Staates entsprechend, ökonomische Rationalität in alle Bereiche implementiert. Nur auf diesem Wege könne die Effizienz gesteigert werden (vgl. ebd.).

Im Konzept des Sozialinvestitionsstaates wird deutlich, dass der aktivierende Sozialstaat sich nicht mehr als Absicherung gegen soziale Risiken, sondern als Investor in Humankapital versteht. Der Übergang vom versorgenden Wohlfahrtsstaat zum sozialinvestiven und aktivierenden Sozialstaat ist also vor allen Dingen von diesem Paradigmenwechsel geprägt. Doch durch die Verlagerung des sozialstaatlichen Engagements auf die Investition wird die Frage nach denen, die trotz Investition in Bildung ihren Lebensunterhalt nicht alleine bestreiten können, systematisch ausgeblendet.

2.2 Über die Transformation zum aktivierenden Sozialstaat

Der „Vorläufer“ des aktivierenden Sozialstaates wird als versorgender Wohlfahrtsstaat, bzw. je nach Zusammenhang auch als keynesianischer[7] oder konsumtiver[8] Wohlfahrtsstaat, bezeichnet. Um die Bedeutung der Transformation besser einordnen zu können, soll zunächst dieser Vorläufer vorgestellt werden.

Seine Ursprünge gehen auf die von Bismarck eingeführten Sozialversicherungen zurück (vgl. Butterwegge 2006, S. 41). Mit diesem Schritt wurde die Zukunft auch für Menschen ohne Eigentum planbar und sorgte somit für soziale Sicherheit (vgl. Castel 2007, S. 49). Durch die Versicherungen wurden Arbeiter in die Lage versetzt „soziales Eigentum“ und damit soziale Sicherheit zu erwerben (ebd., S. 42), wobei besonders die Rente von Bedeutung war.[9] Jedoch ist das von Bismarck eingeführte Sozialversicherungssystem eng an Arbeit geknüpft und verliert somit in Zeiten großer Arbeitslosigkeit ihre Funktion.

Der Wohlfahrtsstaat war jedoch „kein Geschenk wohlwollender Eliten an das Volk […], sondern das Nebenprodukt von Kompromissen, die in zähen kollektiven Kämpfen errungen worden sind" (Reisch 2009, S. 224). Vor allem der Druck durch kollektive Vertretungsinstanzen wie z.B. Gewerkschaften war von Bedeutung für den Ausbau des Wohlfahrtsstaates (vgl. ebd., S. 48ff.). Aber ohne das Wirtschaftswachstum, welches im Zeitraum der 1950er und 1970er Jahre in Deutschland für Wirtschaftsaufschwung sorgte, wäre ein Ausbau des Wohlfahrtsstaates nicht möglich gewesen (vgl. Castel 2007, S. 48). Der „klassische“ Wohlfahrtsstaat bedurfte außerdem noch verschiedener Transformationsphasen und einem umfassenden Um- und Ausbau der Sozialgesetzgebung, um die heute bekannte Form anzunehmen (vgl. Butterwegge 2006, S. 64). Desweiteren war die Systemkonkurrenz zum Sozialismus nach dem zweiten Weltkrieg von konstitutiver Bedeutung. Der äußere Druck zwang praktisch die politischen Entscheidungsträger zur Zügelung der Marktwirtschaft (vgl. ebd., S. 63). Dementsprechend diente die Soziale Arbeit „als Antwort auf die Verwerfungen und Nebenwirkungen einer Marktgesellschaft“ (Galuske 2007, S. 22) und folgte somit der Prämisse, dass die Marktgesellschaft soziale Risiken und Kosten produziere, die durch die Soziale Arbeit aufgefangen werden müsse. Aus diesem Grund werden den Bürgern im versorgenden Wohlfahrtsstaat soziale und finanzielle Unterstützung im Falle einer Notlage gesetzlich zugesichert. Die Sozialleistungen dienen der gesellschaftlichen Teilhabe und sozialen Integration (vgl. Dahme/Otto/Trube/Wohlfahrt 2003, S. 9), sowie der Reduktion von sozialen Risiken.

Das Konzept des versorgenden Wohlfahrtsstaates steht in einem großen Gegensatz zu dem des aktivierenden Sozialstaates, wie in Abschnitt 2.3 dargelegt wird. Warum und wie es zu dieser Transformation kam, soll im Folgenden erläutert werden. Dabei werden ökonomische, sowie politische Gründe angeführt. Weitere Gründe, die in der Geschichte der Profession, des Staates und der Gesellschaft zu suchen sind, müssen aufgrund des geringen Umfanges der vorliegenden Bachelorarbeit außer Betracht gelassen werden.

2.2.1 Über ökonomische Gründe

Zur Legitimation der enormen Einschnitte im sozialen Bereich werden stets ökonomische Gründe angegeben (vgl. u.a. Punkt 2): Globalisierung, Weltwirtschaftskrise oder demografischer Wandel - diese und andere Krisensymptome sind letztlich jedoch mehr oder weniger vorgeschobene Gründe. Stephan Lessenich (2000) bezeichnet dieses Phänomen auch als „ritualisierte Krisendiskurse“ (ders., S. 67). Sie werden gezielt von jenen Akteuren erzeugt und dramatisiert, die Interesse an der Schwächung des Wohlfahrtsstaates haben (vgl. Butterwegge 2006, S. 75). Die Widersprüchlichkeit an dieser Tatsache wird von Galuske (2007) deutlich gemacht, wenn er schreibt:

„Das Klagen deutscher Politikerinnen und Politiker über die engen Finanzen der öffentlichen Haushalte und den daraus resultierenden Sparzwängen und die Notwendigkeit von mehr Selbstverantwortung der Bürger gleicht dem Klagen über eine Selbstverstümmelung, die offensichtlich - schaut man sich die neuesten politischen Initiativen an - pathologisch ist und keine Grenzen kennt" (ders., S. 14).

Das Dilemma der leeren Kassen liege ebenfalls, in der Privatisierung der sozialen Kosten (vgl. ebd.). Während der Beitrag der Unternehmer zur sozialen Sicherung im Zeitraum von 1970 bis 2003 von 31% auf 15% sank (vgl. Bofinger 2006, S. 52f.), wuchs die Belastung der Privathaushalte zwischen 1960 und 1998 von 21,5% auf über 31% (vgl. Institut der Deutschen Wirtschaft Köln 2000, S. 92). Dementsprechend folgenschwer wirkte sich die steigende Arbeitslosigkeit, aber auch der Anstieg der Sozialquote[10] (in den 1990er Jahren von 30% auf 33,5%) (vgl. Seithe 2011, S. 97) auf die öffentlichen Kassen aus.

Obwohl die Finanzmisere der öffentlichen Kassen demnach hausgemacht ist, werden soziale Probleme also nicht mehr als politischer Auftrag wahrgenommen, sondern privatisiert (vgl. Galuske 2007, S. 14). Dabei seien Globalisierung und Liberalisierung der Märkte die Folgen einer bewussten politischen Entscheidung (vgl. Galuske 2007, S. 12): „Ohne politische Entscheidungen gibt es keinen Freihandel und keine Globalisierung. Globalisierung ist das Ergebnis einer bewussten politischen Gestaltung von Wirtschaftsräumen im Zeichen der Deregulierung und Liberalisierung“ (Boxberger/Klimenta 1998, S. 60).

2.2.2 Über politische Gründe

Wenn also politische Entscheidungen für die Transformation verantwortlich sind, dann müssen zumindest die wichtigsten kurz beleuchtet werden. Die Anfänge des Transformationsprozesses liegen, so Butterwegge, schon vor der Globalisierung oder der weltweiten Finanzkrise. Bereits Mitte der 1970er Jahre findet er erste Hinweise auf eine beginnende Restrukturierung und Demontierung des Sozialstaates (vgl. Butterwegge 2006, S. 9). Interessant ist dabei, dass zu dieser Zeit der Ausbau des Wohlfahrtsstaates gerade erst abgeschlossen war (vgl. ebd., S. 64), bzw. durch den Kanzlerwechsel im April/Mai 1974 von Willy Brandt zu Helmut Schmidt beendet wurde (vgl. ebd., S. 73). Seit diesem Wechsel folgte eine bis heute andauernde Phase der wirtschaftlichen Stagnation (vgl. ebd.), die u.a. eine starke Kritik am Wohlfahrtsstaat auslöste, die aus unterschiedlichen Lagern (Neoliberalismus, Kommunitarismus und Feminismus) geführt wurde (vgl. ebd., S. 76). Die Idee des Neoliberalismus nimmt hierbei die wohl bedeutendste Stellung ein. Neben dieser generellen Sozialstaatskritik, wurde außerdem noch eine zumeist medial geführte öffentliche Debatte über die „Neue Unterschicht“ geführt (vgl. ebd., S. 75). Beide Strömungen sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden, da diese Ideen sich im Weiteren oft wiederfinden lassen.

2.2.2.1 Über die deutsche Unterschichtsdebatte

Die Unterschichtsdebatte ist kein deutsches Phänomen. Bereits in den 1980er Jahren entfachte in England unter der Thatcherregierung eine Unterschichtsde­batte (vgl. Heite et al. 2007, S. 55). In Deutschland drang die Unterschichtsdebatte erst später in die öffentliche Diskussion und diente der ideologischen Legitimation der Einführung der Hartz-Gesetze (vgl. Knopp 2007, S. 33). Den Beginn machten ab 2002 die Zeitschriften „Spiegel“ und „Stern“ mit verschiedenen Berichten wie z.B. „Wer hier lebt, hat verloren“ (Stern, 46/2002) oder „Das wahre Elend“ (Stern, 52/2004). Mit dem Erscheinen von „Ge­neration Reform", Paul Noltes „programmatischen Erweckungsschrift“ (Chassé 2009, S. 11), kam eine Meinung eines renommierten Sozialhistorikers hinzu, welche auch schnell in die Publikationsliste der Bundeszentrale für politische Bildung aufgenommen wurde. Die Unterschichtsdebatte hat, wie oben schon erwähnt eine legitimatorische Funktion für den Umbau des Sozialstaates und soll daher im Folgenden etwas näher beleuchtet werden, da sie we­sentlicher Einflussfaktor auf das soziale und politische Klima Deutschlands der letzten Jahre ist, „ in dem sie einseitig auf die Unzulänglichkeit von Menschen in benachteiligten Lebensverhältnissen abhebt" (Knopp 2007, S. 33).

Die „neue Unterschicht“ Deutschlands, so die einhellige, von den Medien produzierte Meinung (vgl. Kessl 2005, S. 37), sei „[d]equalifiziert, verarmt, isoliert, demotiviert und konsumabhän­gig“ (Chassé 2009, S. 12) und zeichne sich durch ihre „Einstellungen und Mentalitäten, ja die gesamte Lebensweise“ (ebd.) aus. Sie seien also nicht nur dumm, faul, unsozial und kaufsüchtig, sondern sollen eine eigenständige „Kultur der Armut“ (ebd.) hervorge­bracht haben. Armut wird demnach nicht mit dem unzureichenden ökonomischen Kapital der Unterschicht, sondern mit ihrer Kultur, der „Unterschichtskultur“, begründet, deren Verelendung ohnehin nicht mit Geld abzuwenden sei (vgl. Galuske 2008, S. 10). Dieser kulturalisti­sche Aspekt wird zudem durch Fatalismus ergänzt, wird also als „naturgegeben und unabänderbar“ (Chassé 2009, S. 12) betrachtet.

Nolte (2006) macht den konsumtiven Sozialstaat verantwortlich, mit seiner Politik der "fürsorgliche Vernachlässigung" (ders., S. 138) die Unterschichtskultur erst hervorgebracht zu haben. Dementsprechend sei es nun in der staatlichen Verantwortung, das Volk zu erziehen (vgl. Galuske 2008, S. 10). Im Zuge der stark medial geführten, „halb auf journalistischen, halb auf wissenschaftlichen Mythen aufbauende“ (vgl. Heite et al. 2007, S. 58) Unterschichtsdebatte gehe es vornehmlich darum, „das Scheitern einer angeblich zu nachsichtigen Kontroll- und zu großzügigen Sozialpolitik zu verdeutlichen und AdressatInnen dieser Politik zu diskredi­tieren“ (ebd.).

Die deutsche Unterschichtsdebatte hat, wie oben bereits angeführt, Einfluss auf die Politik. Besonders offensichtlich wird dieser Einfluss an Bericht vom Arbeitsmarkt, der den Titel „Vorrang für die Anständigen - gegen Missbrauch, Abzocke und Selbstbedienung im Sozialstaat“ trägt. In diesem Bericht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit wird Sozialbetrug als „besonders verwerflich“ eingestuft (BMWA 2005, S. 10), da diese Befriedigung von Bedürfnissen auf Kosten anderer, wie bei einem Parasiten, nicht von der Natur bestimmt ist, sondern „vom Willen des Einzelnen gesteuert“ (ebd.) wird. Dabei wird die Rhetorik auf ganz perfide Art und Weise eingesetzt, um Sozialbetrüger als noch weniger wert einzustufen, als Tiere oder Pflanzen.[11]

2.2.2.2 Über den Neoliberalismus

Der Neoliberalismus ist eine Doktrin, die bereits seit dem Ende der 1930er Jahre von deutschen, österreichischen und amerikanischen Ökonomen unterschiedlicher Schulen entwickelt wurde (vgl. Schulmeister 2006, S. 153). Als federführende Wissenschaftler sind dabei u.a. Friedrich von Hayek, Walter Eucken und Milton Friedman zu nennen. Heute jedoch findet sich keine ökonomische Denkschule, die sich selbst als neoliberal bezeichnen würde (vgl. Willke 2003, S. 13). Es finden sich dafür unzählige Anhänger einer markt- und wettbewerbsorientierten oder liberalen Theorie (vgl. ebd.).

Die Denkschulen der späten 1930er Jahren hatten sich zum Ziel gesetzt, den durch die Weltwirtschaftskrise in Misskredit geratenen Kapitalismus gegen den auf dem Keynesianismus fußenden Wohlfahrtsstaat, der zur Stabilisierung der Wirtschaft und des Staates nach der Weltwirtschaftskrise eingeführt wurde, zu verteidigen (vgl. Schulmeister 2006, S. 153). Dies geschah vornehmlich mittels Kritik, demzufolge der Wohlfahrtsstaat zu teuer, zu bürokratisch und schließlich selbst das Problem wäre. Diese Art von Kritik kann demnach auf den Neoliberalismus zurückgeführt werden.

Die Durchsetzung der neoliberalen Idee ist paradoxerweise eng mit dem Erfolg des Wohlfahrtsstaates verknüpft (vgl. ebd., S. 155). Nachdem 1960 die Vollbeschäftigung erreicht war, hatten die Gewerkschaften genügend Macht, um bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Gleichzeitig stieg jedoch die Inflation und das Wirtschaftswachstum ließ nach, wodurch die Einnahmen und Renditen der Firmenbesitzer und Rentiers schrumpften und deren Unzufriedenheit stetig stieg (vgl. ebd.). Auch die neuen explosionsartig auftauchenden Möglichkeiten eines deregulierten globalisierten Marktes und dessen kurzfristiger Erfolg, legitimierten die neoliberale Idee. Doch nur aus der Möglichkeit heraus kann sich keine Ideologie durchsetzen und neue Paradigmen begründen. Es bedarf auch der Notwendigkeit. Diese war laut Willke gegeben, da es keine ernstzunehmende Konkurrenz gab (vgl. Willke 2003, S. 16). Der keynesianische Wohlfahrtsstaat, als einzige erstzunehmende Konkurrenz neben dem Sozialismus, wurde durch die starke Kritik, die nicht nur vom Neoliberalismus, sondern auch aus den eigenen Reihen hervorgebracht wurde, stark geschwächt und gab damit den Weg frei für eine Implementierung der neoliberalen Logik.

Der zentrale Eckpfeiler des Neoliberalismus ist das Konzept der „unsichtbaren Hand“, welche ohne staatliche Eingriffe für eine natürliche Regulierung des Marktes sorgen soll (vgl. Schulmeister 2006, S. 158). Der Widerspruch zwischen individuellem Egoismus und sozialer Verantwortung ist dabei dem Neoliberalismus fremd (ebd.). Moralische Werte und Emotionen werden als Motivation komplett ausgeblendet. Nur die Maximierung der subjektiv wirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Funktion ist als Motivation von Bedeutung (ebd.). Das heißt also (laut neoliberaler Idee): solange jeder für sich nach dem Besten strebe, würde von „unsichtbarer Hand“ ein natürlicher Ausgleich geschaffen werden. Die neoliberale Ideologie umfasst außerdem die Überzeugung, dass „eine ‚gute Gesellschaft‘ keine Frage guter Menschen, sondern eine Frage der guten Verfassung“ sei (Willke 2003, S. 28).

Der Neoliberalismus wird von Willke nicht als Ideologie verstanden, sondern vielmehr als „Parole und Schimpfwort für ein wirtschaftspolitisches Projekt, das mehr Markt, mehr Wettbewerb und mehr individuelle Freiheit […] durch weniger Staat und weniger Regulierung“ verwirklichen will (Willke 2003, S. 28) und somit alle schlechten Eigenschaften des Kapitalismus zu vereinen scheint. Durch diese Beschreibung wird der Eindruck erweckt, dass es sich beim Neoliberalismus um so etwas wie ein modernes Monster[12] handelt. Es wurde von „den Bankern“ oder „den Politikern“ heraufbeschworen und ist so übel, wie man sich ein kapitalistisches Monster nur vorstellen kann. Es kennt keine Moral, sondern nur die harten Regeln des Marktes. Es lockt mit großen Gewinnen, die durch die „unsichtbare Hand“ vom Makel der Sünde befreit wurden. Durch dieses Bild wird natürlich auch klarer, warum niemand in der Lage zu sein scheint, dieses „Monster“ aufzuhalten. In den alten Märchen waren schließlich stets nur die mutigsten Helden in der Lage gegen das Böse zu kämpfen. Doch natürlich befinden wir uns nicht im Märchen und der Neoliberalismus ist auch kein Monster, sondern eine von Menschen geschaffene Idee, die von neuen Ideen abgelöst werden kann.

Abschließend zu diesem Thema soll festgehalten werden, dass der Neoliberalismus eine marktfixierte Ideologie ist, die sich so sehr auf marktliche Themen beschränkt, dass er den Menschen als soziales Wesen nicht in den Blick nimmt (vgl. Schulmeister 2006, S. 158). Wichtige menschliche Motivatoren wie Emotionen und Moral werden im Neoliberalismus außen vor gelassen. Nur Konkurrenz und Egoismus werden als die treibende Kräfte und effiziente Voraussetzung für ein optimales Marktverhalten angesehen (vgl. Willke 2003, S. 28). Der Neoliberalismus schließt somit systematisch jegliche Form der Solidarität aus und macht den Menschen zu Konkurrenten und Egoisten.

2.3 Über die Grundzüge des aktivierenden Sozialstaates

Die Transformation vom versorgenden Wohlfahrtsstaat zum aktivierenden Sozialstaat hat, einen sehr komplexen Hintergrund, der im Rahmen dieser Arbeit nur angeschnitten werden kann. Es soll festgehalten werden, dass die verbreiteten Begründungen für die Notwendigkeit eines aktivierenden Sozialstaates, wie z.B. Finanzkrise, Globalisierung und der schwerfällige und bürokratische Wohlfahrtsstaat zumeist als Polemik enttarnt werden können. Dabei sind die Prämissen, wie z.B. die Leere der öffentlichen Kassen nicht von der Hand zu weisen, nur die Konklusionen bleiben fragwürdig.

Im Folgenden sollen nun die Grundzüge des aktivierenden Sozialstaates anhand dieser drei Arbeitsfelder beschrieben werden: Aktivierung des Arbeitsmarktes, der öffentlichen Verwaltung, als auch der Bürger.

2.3.1 Über die Aktivierung des Arbeitsmarktes

Der Arbeitsmarkt wird aktuell durch verstärkte Flexibilisierungs- und Deregulierungsmaß­nahmen, wie z.B. dem Abbau von Beschäftigungshindernissen, darunter u.a. Arbeit­nehmerschutzrechte, zu hohe Unternehmens- und Gewinnbesteuerung, sowie zu hohen Sozialabgaben und Löhnen, aktiviert (vgl. Galuske 2007, S. 19). Dies soll zu mehr Arbeitsplätzen führen. Jedoch führte es bisher nur zu einer Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse: Zweitjobs, befristete Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit, geringfügige Beschäftigung, etc. (Seithe 2010, S. 67). Besonders interessant ist dabei die Gruppe von Arbeitnehmern, die trotz Arbeitsverhältnis Unterstützung in Form von Arbeitslosengeld (kurz: ALG II)[13] beantragen müssen - dies sind 43% der ALG II-Empfänger (vgl. ebd., S. 66). Zu diesen Arbeitnehmern gehören z.B. auch Leiharbeiter. Ihre Arbeitsverhältnisse wurden eindrücklich vom Autoren Mark Breitscheidel in der Reportage „Leiharbeit Undercover“ gezeigt, für die er ein Jahr lang das Leben eines Leiharbeiters führte (27.10.2008, ZDF)[14]. In diesem Beitrag „erlebte Breitscheidel eine Art modernes Sklavenhaltertum“ (Seithe 2010, S. 67), bei der „Arbeit möglicherweise nicht mehr dazu ausreicht, das blanke Überleben zu sichern“ (ebd.).

In Anbetracht dieser Verhältnisse könnte man vorsichtig bilanzieren, dass der Staat seine Verantwortung der Aktivierung des Arbeitsmarktes möglicherweise auf dem Papier erfolgreich eingelöst hat. Doch die praktische Umsetzung und die daraus ergebenen Folgen, sind wie der „Vater des Leiharbeitsboom“ Wolfgang Clement sagt, schlicht „unakzeptabel“ (Wolfgang Clement, zit. n. „Leiharbeit Undercover“).

Die Ursachenforschung aufgrund der hohen Arbeitslosenzahlen steht zudem auch nicht auf der politischen Agenda, da der Grund für Arbeitslosigkeit „individuelles Versagen der vom Arbeitsmarkt Ausgeschlossenen [ist, die; I.B.] […]durch eine konditionale Programmatik (sozialrechtlich festgeschrieben im Fordern und Fördern des SGB II[15] ) überwunden werden“ soll (Dahme/Wohlfahrt 2011, S. 40). Zudem weise, so Beck (2005), der Arbeitsmarkt in modernen Arbeitsgesellschaften eine dauerhafte Arbeitsplatzlücke auf (ders., S. 49). Egal wie fleißig, qualifiziert, motiviert oder gebildet die Bürger sind, sie können trotzdem zu jenen 6,3 Millionen (Stand 2004) gehören, die in der Wirtschaft nicht benötigt werden (vgl. Galuske 2008, S. 24).

[...]


[1] Hierbei handelt es sich um genau zu sein um ein Oxymoron in Form eines Contradictio in adiecto, also einem Substantiv und einem Adjektiv, welche sich aufeinander widersprechend beziehen.

[2] Im Folgenden wird nicht zwischen Sozialer Arbeit, Sozialarbeit und Sozialpädagogik unterschieden. Soziale Arbeit wird als Oberbegriff verwendet.

[3] Ökonomisierung meint "einen Prozess der betriebswirtschaftlichen Umstrukturierung bzw. Neusteuerung der Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe. Der zentrale Fokus diese Ökonomisierungsprozesses gilt einer Reduzierung des Einsatzes der Mittel und zielt auf eine Privatisierung des Feldes" (Kessl 2002, S. 1117).

[4] Zitiert nach dem Titel des Beitrages „Nach dem Ende des sozialpädagogischen Jahrhunderts“.

[5] Die sogenannten Hartz-Gesetze. Diese traten zwischen dem 01.01.2003 und dem 01.01.2005 in Kraft.

[6] Beschäftigungsfähigkeit meint die reine Befähigung zu arbeiten, also frei zu sein von hindernden Aspekten wie Krankheit, Qualifizierungsmängel oder psychosozial hindernde Umstände. Dieser Begriff unterstreicht die Selbstverantwortlichkeit der Bürger.

[7] Diese Bezeichnung bezieht sich auf John Maynard Keynes, einem britischen Ökonomen.

[8] Auf Konsum ausgelegt. Das Gegenteil von investiv.

[9] Sie wurde ursprünglich nur für die ärmsten Arbeiter konzipiert, da man davon ausging, dass alle Besitzenden selbst für ihre Rente sorgen könnten.

[10] Anteil am Bruttoinlandsprodukt, der für soziale Zwecke ausgegeben wird.

[11] "Biologen verwenden für ‚Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen - ihren Wirten – leben‘, übereinstimmend die Bezeichnung ‚Parasiten‘. Natürlich ist es völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen. Schließlich ist Sozialbetrug nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des Einzelnen gesteuert. Wer den Grundstock seines Haushaltseinkommens bei der Arbeitsagentur oder der für das Arbeitslosengeld II zuständigen Behörde kassiert und im Hauptberuf oder nebenher schwarzarbeitet, handelt deshalb besonders verwerflich" (BMWA 2005, S. 10).

[12] Willke nennt es auch das „Marktmonster“, welches „Traditionen, Kulturen und Menschlichkeit“ untergrabe (Willke 2003, S. 16).

[13] Arbeitslosengeld II können alle erwerbsfähigen leistungsberechtigten Personen im Alter von 15 Jahren (zwischen 65 und 67 Jahren) beantragen. Personen die nicht erwerbsfähig sind, können Sozialgeld beantragen (vgl. Bundesagentur für Arbeit. Online unter: http://www.arbeitsagentur.de/Navigation/zentral/Buerger/Arbeitslos/Grundsicherung/Alg-II-Sozialgeld/Alg-II-Sozialgeld-Nav.html#d1.7. Download vom 03.03.2012).

[14] Online verfügbar unter http://video.google.com/videoplay?docid=1864112343318250430. Zuletzt geprüft am 21.01.2012.

[15] Das zweite Buch des Sozialgesetzbuches regelt die Grundsicherung für Arbeitssuchende.

Ende der Leseprobe aus 48 Seiten

Details

Titel
Über die Widersprüchlichkeit der Sozialen Arbeit im aktivierenden Sozialstaat
Hochschule
Universität Münster  (Institut für Erziehungswissenschaften)
Note
1,7
Autor
Jahr
2012
Seiten
48
Katalognummer
V310177
ISBN (eBook)
9783668086692
ISBN (Buch)
9783668086708
Dateigröße
841 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozialstaat, Soziale Arbeit, aktivierender Sozialstaat, Agenda 2010, Wandel der Sozialen Arbeit, Gesellschaftskritik, Ökonomisierung der Sozialen Arbeit, Ökonomisierung
Arbeit zitieren
B.A. Ilka Bengs (Autor:in), 2012, Über die Widersprüchlichkeit der Sozialen Arbeit im aktivierenden Sozialstaat, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/310177

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