Operation Armageddon - die Welt am Rande des Atomkrieges. Über die Kubakrise 1962


Scientific Essay, 2001

31 Pages


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Inhalt

1. Einleitung

2. Vorgeschichte

3. Gründe für die Raketenstationierung

4. Die Raketenstationierung

5. Die Krise: Entdeckung der Raketen

6. Die Blockade: Tage zwischen Krieg und Frieden

7. Der Schwarze Samstag: Die Welt am Abgrund

8. Lösung der Krise

9. Resümee

1. Einleitung

„It shall be the policy of this nation to regard any nuclear missile launched from Cuba against any nation to the Western Hemisphere as an attack by the Soviet Union on the United States, requiring a full retailatory response upon the Soviet Union.“ (1)

Dieser Satz, ausgesprochen am 22.Oktober 1962 vom US-Präsidenten John F.Kennedy, markiert den rhetorischen Auftakt zur wohl heißesten Krise in der Geschichte des Kalten Krieges, nämlich der Kubakrise. Der Konflikt, in den USA als „Cuban missile crisis“ und in der sowjetischen Lesart als „Caribbean crisis“ bekannt, gilt als „the first direct nuclear confrontation in history“ (2) bzw. als „the world‘s first armed confrontation between two nuclear superpowers“ (3). In der Tat kam die Menschheit niemals zuvor und niemals danach einem atomar geführten Dritten Weltkrieg näher als in den Tagen zwischen dem 22. und dem 28.Oktober des genannten Jahres.

Es soll nun zunächst geschildert werden, wie es zur Kubakrise kam. Die politischen, militärischen und psychologischen Begleitumstände auf Seiten der USA, der Sowjetunion und Kubas werden dargestellt. Dann stehen die entscheidenden „Dreizehn Tage“ (4) im Mittelpunkt, in denen die Krise eskalierte. Anhand der „Presidential Recordings“ -Tonbandprotokolle von Sitzungen des Krisenstabes ExComm (Executive Commitee) - wird deutlich, welche Konzepte es auf Seiten der USA gab, die Krise zu managen und welche Differenzen dabei zu Tage traten. Die schließlich ergriffenen Maßnahmen zwischen dem 22. und 28.10. waren zwangsläufig mit großen Risiken verbunden. Erst heute - in Kenntnis neuester Veröffentlichungen über damalige Geheimpläne und brisante militärische Zwischenfälle - lässt sich einschätzen, wie nah die Welt vor dem Atomkrieg stand. Es waren nur Stunden, teilweise Minuten, falls irgendein verantwortlicher Kommandeur die Nerven verloren hätte. (5)

2. Vorgeschichte

Alles begann am 8. Januar 1959. Rebellen um Fidel Castro und Ernesto Che Guevara marschierten in der kubanischen Hauptstadt Havanna ein und wurden von einer großen Menschenmenge bejubelt. Diese Menschen fühlten sich befreit vom vorherigen Regime des kubanischen Diktators Fulgencio Battista. Der von den USA unterstützte und zuletzt fallen gelassene Battista war acht Tage zuvor nach einem Generalstreik von der Zuckerinsel geflohen. Castro bildete eine Revolutionsregierung, in der verschiedene oppositionelle Gruppen, darunter auch Kommunisten, vertreten waren. Damals war noch nicht voraus zu sehen, dass die kubanische Revolution in einen Konflikt der Supermächte am Rande eines Atomkriegs münden würde. Castros Politik war in den ersten Monaten moderat. Es gab Agrar- und Sozialreformen und US-Companies, die viel Land auf Kuba besaßen, wurden besteuert, ohne bereits die Eigentumsverhältnisse an sich zu hinterfragen (6). In liberalen Kreisen der USA genoss Castro sogar ein gewisses Ansehen. Für einen Kommunisten hielt man ihn nicht (7). Allerdings reagierte die republikanische Eisenhower-Regierung argwöhnisch gegenüber den revolutionären Umwälzungen. So bat Castro Washington vergeblich um Darlehen für das wirtschaftlich von den USA abhängige Kuba. Eisenhower fürchtete, dieses Geld würde in Waffen investiert, um Aufstände in anderen lateinamerikanischen Staaten zu schüren (8).

Bei der sowjetischen Führung dagegen wuchs das Interesse, Castro zu unterstützen. Man wusste, dass der kubanische Wirtschaftsminister Che Guevara und der Verteidigungsminister Raul Castro (ein Bruder Fidels) Kommunisten waren. Und die mindestens teilweise marxistischen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt zu fördern, das lag ganz auf der Linie der Politik des sowjetischen Ministerpräsidenten und Ersten Sekretärs des ZK der KPdSU Nikita Sergejewitsch Chrustschow (9). So kam es zu einem ersten Besuch des Chrustschow-Stellvertreters Anastas I.Mikoyan in Kuba am 4.Februar 1960. Ein sowjetisch-kubanisches Handelsabkommen wurde unterzeichnet. Damit kam eine folgenreiche Dynamik in Gang. Im Mai 1960 nahm Kuba offiziell diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion auf. Die USA antworteten mit einem Handelsembargo gegen den Karibikstaat. Sie stoppten die Lieferung von Öl ebenso wie den Import von kubanischem Zucker. Die UdSSR half sofort. Die Sowjets verpflichteten sich zum Kauf von 700 000 Tonnen Zucker jährlich und sowjetische Tanker versorgten Kuba mit Erdöl. Esso, Texaco und Shell weigerten sich jedoch, das sowjetische Öl in Kuba zu verarbeiten. Kurzerhand verstaatlichte Castro die Raffinerien. Als weitere Antwort auf das US-Embargo verstaatlichte Castro außerdem entgegen vorheriger Versprechungen amerikanische Gewerbebetriebe und Landbesitz auf Kuba im Wert von 850 Million Dollar. Am 2.Januar 1961 schließlich brachen die USA die diplomatischen Beziehungen zu Kuba ab. Kuba, früher der „Hinterhof der USA“, war inzwischen vollends abhängig geworden von der Sowjetunion. In den USA indes wuchs die Angst vor einem Vorposten des Kreml direkt vor ihrer Haustür.

Am 19.Januar 1961 - einen Tag vor der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten John F.Kennedy - unterrichtete der scheidende Präsident Eisenhower seinen Nachfolger über geheime Pläne der CIA bezüglich Kuba. Im Dschungel von Guatemala wurden seit Monaten exil-kubanische Guerillakämpfer ausgebildet, auf Kuba zu landen und eine Revolte gegen Castro auszulösen. Kennedy billigte dieses Vorhaben, solange eine direkte Beteiligung der USA vermieden werden konnte. (10) Der Sicherheitsberater des neuen Präsidenten, McGeorge Bundy, beteuerte, der CIA-Coup sei „a remarkable job of reframing the landing plan so as to make it unspectacular and quiet, and plausibly Cuban in its essentials.“ (11). Das Gegenteil geschah. Die Landung in der Schweinebucht, die Invasion von 1500 mangelhaft ausgerüsteten Exilkubanern auf ausrangierten Schiffen an der kubanischen Küste am 17.April, sie verlief chaotisch und geriet zum Fiasko für die USA. Castro setzte aus der Sowjetunion importierte Panzer gegen die Invasoren ein. Über hundert Exil-Kubaner starben, nur vierzehn überlebten. Eine Revolte gegen Castro gab es nicht. Stattdessen wurde offenkundig, dass die CIA diese Invasion geplant hatte. Fidel Castro sprach davon, dass „the United States sponsered the attack because it cannot forgive us for achieving a socialist revolution under their noses.“ (12). Es war das erste Mal, dass Castro sich selbst offen zum Marxismus-Leninismus bekannte. Die umfassende Sowjetisierung Kubas begann endgültig.

In Moskau wurden zur gleichen Zeit kubanische Fahnen gehisst. Studenten und Arbeiter trugen Banner mit der Aufschrift „Viva Cuba“ (13). Für Chrustschow war Castro ein „moderner Lenin“, der nun jede erdenkliche Unterstützung bekam. Kuba wurde mit weiteren sowjetischen Panzern und Artellerie beliefert. Instruktoren aus dem Ostblock trainierten die kubanischen Soldaten in der Bedienung der Waffen. Chrustschow war fest davon überzeugt, dass die USA eine weitere, größere Invasion planten, diesmal mit eigenen Truppen. (14)

Für Kennedy war die Niederlage in der Schweinebucht eine Peinlichkeit und ein Zeichen der Schwäche. Auf dem Wiener Gipfeltreffen zwischen Kennedy und Chrustschow am 3.Juni 1961 musste Kennedy das Unternehmen Schweinebucht als Fehler eingestehen. Chrustschow wiederum gab sich selbstbewusst und tönte, die Vereinigten Staaten befänden sich auf der falschen Seite der Geschichte (15). Kommunistische Erfolge in Laos und Vietnam sowie der erste Weltraumflug des sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin (12.April) schienen das zusätzlich zu bestätigen. Der nächste offensive Schritt des Ostblocks in diesem „roten Jahr“ 1961 war dann die Berliner Mauer am 13.August.

Kennedy sah einen Zusammenhang zwischen dem harschen Vorgehen der Sowjets - insbesondere in Berlin – und seiner gezeigten Schwäche bezüglich Kuba. Deswegen sollte der Druck auf Castro wieder erhöht werden. Gedacht war an verdeckte Sabotageaktionen. (16) So begann im November die „Operation Mongoose“. Verantwortlich war Justizminister Robert F.Kennedy, der jüngere Bruder des Präsidenten. In Sachen Kuba war Robert Kennedy ein Hardliner. Er hielt sich nicht an die Direktive, die Aktionen möglichst klein zu halten. Ab Januar 1962 wurde Miami (90 Meilen von Kuba entfernt) zur größten CIA-Basis ausgebaut mit 600 Offizieren und 3000 Exilkubanern (die sogenannte „Task Force W“), mit eigener Flotte und eigener Air Force. In Zusammenarbeit mit der Mafia wurden abenteuerliche und skurrile Attentatsversuche auf Castro unternommen (vergiftetes Essen und Trinken, explodierende Zigarren, ein mit Tuberkulosebazillen infizierter Taucheranzug und eine seltene Muschel, gefüllt mit Explosivstoffen). (17) Eine verprellte deutsche Ex-Geliebte wurde angeheuert, Castro zu erschießen, aber als sie die Waffe bereits auf ihn richtete, konnte sie es doch nicht. Parallel zu diesen Einzelkommandos gab es „Contingency plans“ des Pentagons für Luft- und Bodenangriffe mit US-Streitkräften. Sie wurden ab März in großen „amphibischen Manövern“ im Karibischen Meer durchgespielt. Zu diesen „War Games“ zählten etwa Lantphibex 1-62 bei Vieques (Puerto Rico) und „Quick Kick“ mit 79 Schiffen, 300 Flugzeugen und 40 000 US-Soldaten, insgesamt „die größten Kriegsspiele in der Militärgeschichte der USA“ (O-Ton Pentagon). (18) Wenngleich US-Verteidigungsminister Robert S.McNamara behauptet, es habe nie die Intention einer Invasion auf Kuba gegeben (19), musste doch die UdSSR den Eindruck gewinnen, sie stehe kurz bevor.

3. Gründe für die Raketenstationierung

Hiermit ist die Diskussion eingeleitet, welche Gründe nun vorrangig dazu führten, dass die Sowjetunion nach den konventionellen Panzern, Gewehren und Geschützen plötzlich Atomraketen nach Kuba verfrachtete, wissend, dass dies einen weltweiten Nuklearkrieg heraufbeschwören konnte.

In der neueren Literatur werden hierfür drei wesentliche Gründe genannt:

1.) um Kuba vor einer Invasion zu schützen
2.) um eine strategische Überlegenheit der USA (Zahl der Interkontinentalraketen) zumindest psychologisch auszugleichen und
3.) um innenpolitische Vorhaben Chrustschows (Agrarreformen) besser finanzieren zu können und Chrustschow innenpolitisch Autorität zu verschaffen.

Zu 1.) Die geheimen und offenen Drohungen der USA gegen Kuba wurden bereits dargestellt. Ebenso die politische Strategie der UdSSR, linke Befreiungsbewegungen in der blockfreien Welt zu unterstützen. Folgerichtig behauptet Chrustschow in seinen Memoiren, der einzige Grund der Raketenstationierung sei es gewesen, die Unabhängigkeit Kubas zu bewahren und eine Invasion der USA zu verhindern. Man wollte, so Chrustschow, dass Kuba sozialistisch und revolutionär blieb und dem progressiven Castro-System eine Chance geben, zu arbeiten. Dies sei angesichts der militärischen Übermacht der USA gegenüber Kuba nur mit Raketen möglich gewesen. (20) Bernd Greiner, der die Kubakrise untersucht hat, beruft sich auf die Memoiren und argumentiert mit Chrustschow, dass der Schutz Kubas vordergründig gewesen sei (21). Nun sind die Memoiren allerdings alles andere als eine sichere Quelle. Denn autobiographische Literatur ist an sich schon sehr anfällig für Selbststilisierungen, Selbstrechtfertigungen und Mythenbildungen, hier aber noch besonders verstärkt durch den Kontext des Kalten Krieges. Gewiss: Kuba war ein Prestigeobjekt für die UdSSR. Besonders nachdem Castro sich nach der Schweinebucht-Invasion offen zum Marxismus-Leninismus bekannte und Kuba sowjetisierte, wurde Kuba geradezu zum Musterbeispiel sowjetischer Dritte-Welt-Politik, die anfangs von China so kritisiert worden war. Eine Aufgabe Kubas wäre ein nicht wieder gut zu machender Rückschlag im Machtkampf mit China um die Führungsrolle im Weltkommunismus gewesen sowie ein fatales Signal für andere Befreiungsbewegungen in Lateinamerika. (22) So musste Kuba also wirksam geholfen werden. Dies war auf jeden Fall ein Grund für die Aufstellung der Raketen. Fraglich ist, ob es der Hauptgrund war. Dies ist ein anhaltender Streit auch in den Konferenzen von ehemals Beteiligten seit 1987 im Geiste von Glasnost. In jüngster Zeit rückte dabei der Schutz Kubas in den Vordergrund der Argumentation. So behauptet der US-Historiker Paterson 1990, ohne den amerikanischen Wunsch, Castro-Kuba zu isolieren, zu zerstören, hätte es keine Krise gegeben. Auch Hershberg argumentiert 1992, Kuba und die UdSSR hätten gerechtfertigt an eine bevorstehende Invasion glauben können, ohne dass dem tatsächlich so war. (23) Aber man sollte sich nicht voreilig festlegen. Es gibt noch andere wichtige Gründe für die Raketenstationierung.

Zu 2.) 1957 begann ein neues Kapitel in der Technologie des Kalten Krieges. Vor den USA gelang den Sowjets der erste erfolgreiche Test einer Interkontinentalrakete (Intercontinental Ballistic Missile, ICBM), die fähig war, einen Atomsprengkopf zu tragen. Im selben Jahr wurde der sowjetische Satellit Sputnik I ins All geschossen, für den Westen der so genannte „Sputnik-Schock“. Nun waren die USA erstmals direkt verwundbar durch einen sowjetischen Angriff, ohne über eine entsprechende Gegenwehr zu verfügen. Das Gefühl der „strategischen Unterlegenheit“ in Form eines „Missile Gap“, einer „Raketenlücke“, war in den folgenden drei Jahren bestimmend für das Handeln der Militärs und der Politiker in den USA. Unterstützt wurde dieses Gefühl durch die kriegerische Rhetorik eines wechselhaften und unberechenbaren Chrustschow, der 1959 sagte, sowjetische Fabriken würden Raketen produzieren „wie Würstchen“ (24). Noch Ende 1960 vermutete der US-National Intelligence Estimate 35 bis 150 sowjetische ICBMs, in Wirklichkeit waren es aber zu diesem Zeitpunkt nur 4 SS-6-ICBMs. Das Potential der USA betrug derweil - durch ein großes Aufrüstungsprogramm forciert - 27 Atlas-D-ICBMs und 48 Polaris-Raketen. Und das Arsenal des Schreckens wuchs weiter zu Gunsten der USA. 1962 hatten die USA 200 landgestützte Interkontinentalraketen und 144 Polaris-Raketen, die UdSSR hingegen nur 20 bis maximal 35 ICBMs. Dies entsprach einer strategischen Überlegenheit von 17 zu 1 zu Gunsten der USA. (25) Also eine enorme Schieflage im „Gleichgewicht des Schreckens“. So lange diese Tatsache jedoch niemand öffentlich machte - nur die Geheimdienste wussten davon - blieb das „psychologische Gleichgewicht“, die „psychological equality“, mühsam gewahrt. Noch immer schienen USA und UdSSR gleichberechtigte Supermächte zu sein, ja, die UdSSR sogar scheinbar stärker wegen der Erfolge im Weltraum (26). Die sowjetische Führung nutzte diesen psychologischen Vorteil für eine aggressive Politik, unter anderem in Berlin (Berliner Mauer). Um diesen Vorteil zunichte zu machen, verkündete der Deputy Secretary of Defense, Roswell Gilpatric, am 21.Oktober 1961 öffentlich die enorme Unterlegenheit der UdSSR bei den Atomraketen. Dieses Datum ist sehr wichtig für die spätere Kubakrise. Denn nun war alles offen gelegt, nun war der Kreml mit der harten Realität konfrontiert, konnte nicht mehr bluffen. Ein Gleichziehen mit den USA bei den Interkontinentalraketen war vollkommen unmöglich aufgrund der Kosten. Untätig bleiben konnte man aber auch nicht. Chrustschow fürchtete ernsthaft, die US-Militärs könnten die günstige Situation der Überlegenheit für einen atomaren Erstschlag nutzen. Bestärkt wurde er in dieser Befürchtung durch amerikanische Mittelstreckenraketen der Typen Jupiter und Thor, die in der Türkei ganz offen aufgestellt waren. In ihrer Verwundbarkeit durch die ungeschützte Aufstellung konnten sie eigentlich nur für einen Erstschlag benutzt werden. (27) Die USA waren in dieser Weise bislang nicht bedroht, denn es gab keine sowjetischen Stützpunkte in unmittelbarer Nähe. Aber es gab inzwischen ein sozialistisches Kuba und dort stationierte Mittelstreckenraketen wären in der Lage, in wenigen Minuten Miami, New York oder Chicago zu treffen. Diese MRBMs (Medium Range Ballistic Missiles) mit der Fähigkeit, Atomsprengköpfe zu tragen, hatte die UdSSR in größerer Zahl, mehr als ICBMs. Die 36 SS-4-MRBMs und zusätzliche SS-5- IRBMs (Intermediate Range Ballistic Missiles) würden die nukleare Schlagkraft gegen die USA auf einen Schlag verdoppeln (28) – dies wäre noch längst kein Gleichgewicht, aber ein psychologischer Gewinn. Vielleicht konnte man sie nutzen für bilaterale Verhandlungen mit einer gleichberechtigten Sowjetunion über die Raketen in der Türkei oder als Faustpfand bei neuen Forderungen bezüglich Berlin (29). So sagte Chrustschow im Mai 1962 zu seinen engsten Vertrauten, man solle die Amerikaner spüren lassen, wie es sei, von feindlichen Nuklearbasen umgeben zu sein (30).

Dieser Lesart zufolge war nicht der Schutz Kubas der Hauptgrund für die Aufstellung sowjetischer Atomraketen, sondern eine möglichst effiziente und billige Veränderung der geostrategischen Lage zu Gunsten der UdSSR. Das Ziel war demnach nicht die Stützung des Castro-Regimes um jeden Preis, sondern ein psychologischer Machtgewinn der Sowjetunion für verschiedene Forderungen gegenüber den USA. (31) Diese Interpretation scheint sehr plausibel aufgrund der enormen Überlegenheit der USA bezüglich der Raketen und Stützpunkte, insbesondere nach deren Offenlegung durch Roswell Gilpatric.

Zu 3.) Wie schon dargestellt war es psychologisch effektvoller, an die 40 Mittelstreckenraketen nach Kuba zu transportieren, als 200 zusätzliche Interkontinentalraketen für Stützpunkte in der Sowjetunion zu bauen – und es war natürlich billiger. Mit dem eingesparten Geld könnte Chrustschow wichtige innen- und wirtschaftspolitische Reformvorhaben finanzieren. Schon 1958 hatte der Ministerpräsident angekündigt, die Konsumgüterindustrie auszubauen und den Lebensstandard der Sowjetbürger so zu erhöhen, dass die kommunistische Supermacht 1970 die USA im Wohlstand überholen werde. Das war eine kühne Vision. Hinzu kam ein teures Neulandprogramm. In Sibirien und im Kasachstan sollte Brachland großflächig kultiviert werden, was wegen des ungünstigen Klimas erfolglos blieb. Die vergleichsweise billigen Kubaraketen sollten für diese Programme neue Gelder frei machen beziehungsweise sie überhaupt erst ermöglichen, was Chrustschow in seiner Machtposition nach innen zweifellos gestärkt hätte. Lebow spekuliert jedenfalls, dass die Rettung der Agrarreformen für Chrustschow höchste Priorität hatte (32).

[...]


(1) „Es wird die Politik dieser Nation sein, jede von Kuba aus gegen irgendeine Nation in der westlichen Hemisphäre gestartete Nuklearrakete als einen Angriff der Sowjetunion auf die Vereinigten Staaten zu betrachten, welcher einen Vergeltungsschlag in voller Stärke auf die Sowjetunion erfordert.“ US-Präsident John F.Kennedy in der Fernsehansprache am 22.10.1962

(2) Howard Thrivers, Three Crises in American Foreign Affairs and a continuing revolution. Carbondale, Edwardsville 1972, S. 85 (zit.Thrivers)

(3) Theodore C.Sorensen, Kennedy vindicated, in: Robert A.Divine, The Cuban Missile Crisis. The Continuing Debate. New York 1988, S.197-202, hier S.198 (zit.Divine / Sorensen)

(4) so der Titel eines Buches von Robert F.Kennedy, Dreizehn Tage. Die Verhinderung des Dritten Weltkriegs durch die Brüder Kennedy. deutsch von: Irene Muehlon, Bern, München, Wien 1969 (zit.Kennedy) ; außerdem ist „Thirteen Days“ auch der Titel eines Films über die Kubakrise mit Kevin Costner, Kinostart in Deutschland am 22.3.2001

(5) seit der Öffnung der UdSSR unter Gorbatschow (Glasnost) sind zahlreiche bislang unter Verschluss gehaltene Quellen zur Kubakrise zugänglich geworden. Es handelt sich im Einzelnen: auf Seiten der USA um freigegebene Dokumente des National Security Council, des State und des Defense Departements sowie der CIA und um Transkripte der Excomm-Tape-Recordings ; auf Seiten der UdSSR u.a. um die Korrespondenz Chrustschow – Castro und die Aufzeichnung des Telefonverkehrs zwischen der sowjetischen Botschaft in Washington und dem Kreml ; auf Seiten Kubas um so genannte militia reports und Auszüge aus einem sowjetisch-kubanischen Vertragsentwurf vor der Raketenstationierung – Auch im Zuge der „oral history“ und auf amerikanisch-sowjetischen Seminaren der Sloan Foundation wurden viele neue Erkenntnisse gewonnen.

(6) Richard Crockatt, The fifty years war. The United States and the Soviet Union in world politics 1941-1991, London 1995, S.195 (zit.Crockatt)

(7) Michael R.Beschloss: The Crisis Years. Kennedy and Khrushchev 1960-1963 New York 1991, S.96 : „His brother Raul and his colleague Che Guevara were known Marxist-Leninists, but Castro himself had always held back from such open commitment.“ (zit.Beschloss)

(8) Beschloss S.96

(9) Schon auf dem XX.Parteitag der KPdSU 1956 vertrat Chrustschow die Ansicht, man müsse „nicht westliche“ Staaten der Dritten Welt durch Hilfs- und Handelsangebote „auf eine Linie bringen“, die in den sozialistischen Block mündet ; entsprechend gab es Wirtschaftshilfen und Offerten an Staaten wie Ägypten, Indien und Indonesien.

(10) Jeremy Isaacs und Taylor Downing, Der Kalte Krieg, deutsch von Markus Schurr u.a. München, Zürich 1999, S.188 (zit.Isaacs)

(11) Beschloss S.106 : „eine bemerkenswerte Arbeit, den Landeplan so zu entwickeln, dass er unspektakulär und still vonstatten geht und im Wesentlichen glaubhaft kubanisch.“

(12) Beschloss S.118

(13) Beschloss S.120

(14) Richard Ned Lebow, Janice Gross Stein, We all lost the Cold War, Princeton 1994, S.28f. (zit.Lebow)

(15) Isaacs S.190

(16) Lebow S.24

(17) Lebow S.25

(18) Lebow S.26

(19) Lebow S.27

(20) Khrushchev, Nikita Sergejewitsch „Khrushchev Remembers“, Boston 1970-1974, S.509-514 (zit.Chrustschow)

(21) Bernd Greiner, Kuba-Krise. 13 Tage im Oktober: Analyse, Dokumente, Zeitzeugen, Nördlingen 1988, S.20 (zit.Greiner)

(22) Siehe dazu Lebow S.29

(23) Crockatt S.162f.

(24) Lebow S.34

(25) Lebow S.35

(26) „Auf die Frage, was man wohl auf dem Mond finden werde, antwortete ein hochrangiger Angehöriger der US-Luftwaffe: ‚die Russen‘.“, Isaacs S.159

(27) Lebow S.40-46 ; auch William R.Tompson „Khrushchev: a political life, Basingstoke 1995, S.247 : bei einem Bulgarien-Besuch im Mai 1962 stand Chrustschow am Strand

von Varna, als sein Verteidigungsminister Marschall Rodion J.Malinovsky ihn darauf hinwies, am anderen Ufer des Schwarzen Meeres seien Raketen gegen sowjetische Städte gerichtet (zit.Tompson)

(28) Lebow S.38

(29) Martin McCauley: Khrushchev and Khrushchevism, Bloomington 1987, S.226 (zit.McCauley) ; Tompson S.248 ; dagegen Lebow S.62: einen Tausch Berlin gegen Kuba, vorgeschlagen vom stellvertretenden sowjetischen Außenminister Vasiliy A.Kuznetsov, habe Chrustschow barsch abgelehnt

(30) Lebow S.48 : „...so they can feel what its like to live in the nuclear gun sites.“

(31) Thrivers S.68 : „The Soviets responded, not for Cuban purposes, but for their own.“

(32) Lebow S.61

Excerpt out of 31 pages

Details

Title
Operation Armageddon - die Welt am Rande des Atomkrieges. Über die Kubakrise 1962
Course
Freie wissenschaftliche Arbeit.
Author
Year
2001
Pages
31
Catalog Number
V3101
ISBN (eBook)
9783638118729
ISBN (Book)
9783656058458
File size
606 KB
Language
German
Notes
Der Autor ist freier Historiker mit Universitätsabschluss. Private Arbeit, wissenschaftlich recherchiert und aufbereitet.
Keywords
Operation, Armageddon, Welt, Rande, Atomkrieges, Kubakrise, Freie, Arbeit
Quote paper
Joachim Kohnen (Author), 2001, Operation Armageddon - die Welt am Rande des Atomkrieges. Über die Kubakrise 1962, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/3101

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